Psychiatrische Krisenintervention - Manuel Rupp - E-Book

Psychiatrische Krisenintervention E-Book

Manuel Rupp

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Beschreibung

Krisen und Notfälle erfordern ein frühzeitiges und planvolles Handeln vonseiten der Helfenden. Wie psychiatrisch Tätige außerordentliche Situationen meistern können, beschreibt dieses Buch anhand vieler Fallbeispiele. Gerade aggressives oder suizidales Verhalten verlangt von dem einen auf den anderen Moment ein entschiedenes Vorgehen, das bei den Betroffenen für Entlastung sorgt. Es wird gezeigt, wie und an welcher Stelle Helfende ihre Energie und Fachkompetenz wirkungsvoll einbringen können und wie die Zusammenarbeit mit anderen Diensten, bis hin zur Polizei, gelingen kann. Checklisten und praxiserprobte Anregungen erleichtern es, in schwierigen Situationen die Übersicht zu behalten und die eigene Sicherheit nicht aus den Augen zu verlieren. Auch die Selbsthilfe und weiterführende Angebote werden in den Blick genommen, denn bei allen Herausforderungen gilt: Krisen bieten Chancen – doch man muss wissen, wie sie wahrgenommen werden können.

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Seitenzahl: 166

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PraxisWissen

Manuel Rupp

Psychiatrische Krisenintervention

MANUEL RUPP, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Systemischer Therapeut und Supervisor, Coach, Leiter von Seminaren im ganzen deutschen Sprachraum zu den Themen »Psychiatrische Krankheitslehre«, »Krisenintervention«, »Suizidprävention«, »Gewaltprävention«, »Umgang mit Systemsprengern«, »Burnout-Prävention« etc., Lehrbeauftragter in der ärztlichen Weiterbildung und an Fachhochschulen. Kontakt: [email protected]

Die Reihe PraxisWissen wird herausgegeben von: Michaela Amering, Ilse Eichenbrenner, Michael Eink, Caroline Gurtner, Klaus Obert, Wulf Rössler und Tobias Teismann

Manuel Rupp

Psychiatrische Krisenintervention

PraxisWissen 2

Neuausgabe 2018

ISBN-Print 978-3-88414-649-1

ISBN-PDF 978-3-88414-943-0

ISBN-ePub 978-3-88414-947-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Psychiatrie Verlag GmbH, Köln 2018

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden.

Lektorat: Uwe Britten, Eisenach

Umschlagkonzeption und -gestaltung: studio goe, Düsseldorf

Typografiekonzeption und Satz: Iga Bielejec, Nierstein

Inhalt

Cover

Titel

Zum Autor

Impressum

Mit Sensibilität und Entschlossenheit – die Erstbegegnung mit Menschen in psychischer Not

Krisen und Krisenbewältigung verstehen

Krisen als Zeichen von Veränderungsprozessen

Unterscheidung von »Krise« und »Notfall«

Wie kommt es zur Krise?

Was geschieht unter einer überfordernden Belastung?

Bewältigung einer Krise

Was eine Krisenintervention bewirken kann

Aktive Interventionen

Gewusst, wann und wie – methodisches Vorgehen

Drehbuch: die fünf Phasen einer Intervention

1. Phase: Verbinden

2. Phase: Vorbereiten

3. Phase: Verstehen

4. Phase: Verändern

5. Phase: Verabschieden

»Schlüsselsyndrome«: Vorgehen je nach anfänglichem Erscheinungsbild

Setting: Rahmenbedingungen für lösbare Aufgaben schaffen

Beurteilung: von der Triage bis zur Evaluation

Kommunikation: zuhören und moderieren

Im Fokus: schützen und Neues wagen

Maßnahmen: Mittel der Entlastung und Bewältigung

Vernetzung

Psychohygiene

Entlastung

Medikamente

Time-out

Vorgehen bei akuter Aggression und Gewalt

Selbst- und Fremdgefährdung einschätzen

Vorgehen bei Suizidalität

Vorgehen bei Drohung und Gewalt

Nachbearbeitung eines Gewaltvorfalls

Die Betreuung von Opfern

Nachbesprechung mit dem Täter

Vorgehen bei wahnhaftem Verhalten

Umgang mit schwer kommunikationsgestörten Klienten

Klinikeinweisung und Zwangsmaßnahmen

Vorgehen bei kommunikationsfähigen Klienten in Krisen

Einzelberatung

Paar- und Familiengespräche

Umgang mit »schwierigen« Personen

Selbsthilfe für Helferinnen und Helfer

Eigenen Krisen und Burn-out vorbeugen!

Sich Überforderung eingestehen!

Multiprofessionelle Zusammenarbeit fördern!

Neubeginn und Perspektiveneröffnung – Verabschiedung nach der Notfall- und Krisenintervention

Literatur

Mit Sensibilitätund Entschlossenheit –die Erstbegegnungmit Menschenin psychischer Not

Spätabends im Wohnzimmer. Der Vater, Michael, Mitarbeiter der städtischen Krisenambulanz und aktuell im Bereitschaftsdienst, hilft seiner Tochter bei den Hausaufgaben. Das Telefon klingelt. Eine Frauenstimme mittleren Alters bittet um Hilfe. Es ist die Mutter eines 18-Jährigen, der sich seit Wochen in seinem Zimmer einschließt, Unverständliches murmelt, sich mitten in der Nacht rasch aus dem Kühlschrank etwas zu essen holt, tagsüber schläft und jeden Kontakt verweigert. Die Anruferin meldet sich aus der Nachbarwohnung ihres Zuhauses, da sie befürchtet, ihr Sohn könnte aggressiv werden, wenn er merkt, was sie unternimmt. Sie macht sich große Sorgen um den Gesundheitszustand ihres einzigen Kindes: »Thomas ist verwirrt und für gutes Zureden unzugänglich. Für uns alle ist das kaum mehr auszuhalten. Mein Mann hat ihn heute Abend konfrontiert. Thomi ist völlig ausgerastet, hat seinen eigenen Papa angegriffen und sein Zimmer verwüstet. Wir haben Angst. Angst um unsern Sohn, den wir so nicht mehr kennen. Wir haben aber auch Angst um uns selbst. Ich kann nachts kein Auge mehr zutun. Mein Mann schläft auf dem Sofa und ist am Ende seiner Kraft. Helfen Sie meinem Sohn, bitte! Und nur ja keine Polizei! Das habe ich meinem Sohn versprochen!« Die Anruferin weint. Sie fühlt sich offensichtlich hin- und hergerissen zwischen der Angst, ihren Sohn »zu verraten«, und großer Sorge um ihn und die Familie.

In dieser nicht ungewöhnlichen Szene lassen sich wesentliche Elemente einer Erstbegegnung zwischen Hilfesuchenden und Hilfeleistenden erkennen. Wenn professionelle Hilfe angefordert wird, sind frühere Problembewältigungsversuche im privaten Umfeld gescheitert. Manchmal schon seit einigen Tagen oder gar Wochen. Es ist deshalb nicht mehr nur der Patient in akuter Not, sondern auch seine Angehörigen sind völlig erschöpft und die bisherigen Betreuer ratlos. Zugleich signalisiert ein Alarm außerhalb der üblichen Sprechzeiten dringenden Handlungsbedarf.

Auf der anderen Seite ist der Mitarbeiter der städtischen Krisenambulanz von einem Moment auf den andern im Telefonkontakt mit einer notleidenden Person, die er nicht kennt und die möglicherweise nicht einmal der »eigentliche« Patient ist, sondern eine Angehörige oder Nachbarin, Kollegin oder Zufallsbekannte. Er muss mit einer konflikthaften Auftragslage rechnen und aufgrund unvollständiger und nicht genau überprüfbarer Informationen möglichst rasch entscheiden und handeln. Deshalb hat Michael seine Familie auf derartige Unterbrechungen des Alltags vorbereitet. Dennoch hat er bei jedem Anruf Herzklopfen, das sich aber legt, sobald er aktiv in Beziehung treten kann.

Was ist der Reihe nach zu tun? Michael beginnt, sich innerlich auf diese neue Situation einzustellen. Seine Tochter ahnt, dass ihr Vater wohl jetzt für Stunden wegmuss. So macht sie nun ihre Hausaufgaben allein. Sie kennt das schon und weiß von früheren Einsätzen, dass ihr Vater sein Material bereitgestellt hat und sich gleich mit seiner Kollegin Maria für den Einsatz absprechen wird. Die Tochter staunt, wie rasch und zugleich ruhig er handelt, voll auf diesen Notfall konzentriert. Das war nicht immer so, und zwar besonders, als er früher noch allein unterwegs war und über weniger praktische Erfahrungen verfügte. Doch jetzt wird er vor dem Einsatz seine Kollegin treffen, um die belastete Familie gemeinsam zuhause aufzusuchen.

Inzwischen entscheiden und handeln sie im Team und können sich gegenseitig unterstützen. Ungeübte Helfer könnten bei der plötzlichen Konfrontation mit einer Notfallsituation selbst in einen Strudel von Hast und Verwirrung geraten. In überstürztem Handeln würden sie die Übersicht verlieren und sich und andere durch unbedachte Aktionen gefährden. Deshalb geht bei einer professionellen Notfall- oder Krisenintervention dem eigentlichen Einsatz eine methodische Vorbereitung voraus. Wie bei medizinischen Notfällen auch, gibt es bewährte Prinzipien der Hilfe.

Im Unterschied zu somatischen, medizinischen Notfällen steht ein Helfer in psychiatrischen Krisen mitten in einem ihm unbekannten, mitbetroffenen Beziehungsnetz. Sein Einsatz wirkt deeskalierend weniger durch Medikamente, sondern durch Kommunikation und entschiedene Moderation des Zusammenwirkens aller Beteiligter. Der psychiatrische Krisenhelfer ist konfrontiert mit heftigen Gefühlen von Angst, Wut, Verzweiflung und Verwirrung bis hin zum Wahn – Ausdruck aller Schattierungen von Ohnmacht. Er begegnet Menschen in einem Moment subjektiver Aussichtslosigkeit oder gar Sinnlosigkeit. Das erfordert ein hohes Maß an Gelassenheit durch ein planvolles Vorgehen.

Die Haltung und die Methoden, die in diesem Buch dargestellt werden, ermöglichen den professionellen Helferinnen und Helfern, ihre Energie und Fachkompetenz konstruktiv und wirkungsvoll einzubringen, ohne sich zu gefährden, die Übersicht zu verlieren oder sich zu erschöpfen. Damit kann die Gefahr, die bei einem psychosozialen Gleichgewichtsverlust droht, abgewendet und die Chance, die in Krisen schlummert, wahrgenommen werden. Durch sofortige und gezielte Entlastung entstehen wieder innere Spielräume, um sich von aussichtslosen Zielsetzungen zu verabschieden. Dies gibt Platz für neue und realistische Perspektiven. Damit werden verschüttete Entwicklungskräfte wieder freigelegt. Diese ersten mutigen Schritte auf neuen Wegen mitzuerleben, das fasziniert Michael. Das fasziniert aber auch uns alle, die wir in diesen Settings arbeiten.

Krisen und Krisen- bewältigung verstehen

Krisen als Zeichen von Veränderungsprozessen

Krisen sind ein Zeichen von Lebendigkeit. Dieses Lebendigsein ist herausfordernd, anstrengend, manchmal erschöpfend. Und doch sind die meisten Krisen Folgen ganz normaler Übergänge im Leben und wir überstehen sie gut, wenn auch nicht ohne Mühen. Menschen in Krisen werden erst dann zu einem psychotherapeutischen oder psychiatrischen Problem, wenn außerordentlich schwere Belastungen oder schockierende Erlebnisse, die sich vom Alltäglichen unterscheiden, den Einzelnen und sein Bezugssystem erschüttern. Doch auch solche Krisen werden von vielen in der Regel ohne schwere psychische Folgeschäden überstanden.

Anders sieht es bei Personen aus, die eingeschränkte Kompetenzen und Ressourcen zur Verfügung haben: Menschen mit beeinträchtigter Sozialisation, vorbestehenden psychischen Störungen sowie in sozialer Not, in Armut oder auf der Flucht. Darüber hinaus gibt es eine Grauzone, in der die Betroffenen zwar die Krise gesundheitlich einigermaßen intakt überstehen, jedoch an Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden einbüßen. Die professionelle Krisenintervention soll dazu beitragen, dass auch solche Menschen bei außerordentlichen Herausforderungen psychisch keinen Schaden nehmen und sozial nicht absteigen. Insofern ist professionelle Krisenintervention ein Teil unserer auf Ausgleich und Gerechtigkeit bedachten Gesundheitskultur.

Erstaunlich, dass die psychiatrische Krisenintervention außerhalb der Klinik im deutschen Sprachraum erst in den letzten zwei Jahrzehnten aus einem Nischendasein treten konnte. Erstaunlich deshalb, weil eine kompetente Intervention eine erhebliche prognostische Bedeutung hat in Bezug auf die Weiterentwicklung von Gesundheit und sozialer Integration.

Die professionelle Tätigkeit im Rahmen psychiatrischer Kriseninterventionen kann sehr befriedigend sein. Auf kaum einem Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie sind derart rasche psychische Fortschritte möglich wie in diesem Wirkungsbereich. Deshalb ist es auf den ersten Blick schwer nachvollziehbar, dass die außerstationäre Notfall- und Krisenintervention lange Zeit als der »unreine« Fall der Psychotherapie galt. Eine gewisse Scheu, sich mit diesem Gebiet fachlich auseinanderzusetzen, entstand vermutlich auch dadurch, dass es für alle in diesem Bereich Tätigen notwendig ist, den Blickwinkel in Richtung anderer Methoden zu öffnen. Ein weiterer Grund für die Vernachlässigung dieser Disziplin war wohl, dass in der Notfall- und Krisenintervention das geschützte Setting einer regelmäßig getakteten Sprechstunde verlassen werden muss.

Vieles, was uns in der Krisenintervention heute selbstverständlich ist, musste denn auch von Pionieren dieser Disziplin erst erkämpft werden. So hat schon Mitte der Vierzigerjahre E. Erich LINDEMANN entdeckt, dass mit zeitlich befristeten Interventionen sehr wohl ein beträchtlicher Effekt erzielt werden kann. Besonders erforscht wurde bereits früh die Suizidprävention. Im deutschen Sprachraum war Erwin Ringel ein Pionier, der 1948 ein Suizidverhütungszentrum in Wien gründete. Wichtige Einflüsse kamen in den Siebzigerjahren vom Kriseninterventionsspezialisten Gernot SONNECK (2000), ebenfalls aus Wien. Bis in die Neunzigerjahre war jedoch eine systematisierte Methodik der psychiatrischen Krisenintervention auf die stationäre Psychiatrie beschränkt. Erst nach 1990 wurde im deutschen Sprachraum die Methodik der außerstationären Notfall- und Krisenintervention systematisch dargestellt (siehe RUPP 1996).

In der Zwischenzeit hat eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren nicht nur die psychiatrischen, sondern auch die notfallpsychologischen Aspekte akut traumatisierter Menschen beleuchtet (LASOGGA & GASCH 2007). So zeichnen sich immer mehr Grundlinien einer multimethodischen Interventionskunst ab, die sich allgemein zu bewähren beginnt. Methodischer Purismus führt in der Krise zum Scheitern der Hilfe. Die Krisenintervention ist auch schon längst nicht mehr bloß ein Tätigkeitsbereich der Medizin und Psychiatrie. Entsprechend kristallisierte sich eine multidisziplinäre Vorgehensweise heraus, die zunehmend als »Methodik der Notfall- und Krisenintervention« bezeichnet werden kann.

Unterscheidung von »Krise« und »Notfall«

In einer psychischen Krise tritt eine Situation erhöhter Anspannung seelischer und körperlicher Energie auf, um eine ungewohnte Beanspruchung zu bewältigen. Eine Krise kann gemeistert werden, ohne dass das psychische Gleichgewicht verloren geht. Gemäß diesem Begriffsverständnis handelt es sich bei »Krise« um einen Oberbegriff.

Um Eskalationsstufen der bio-psycho-sozialen Beanspruchung zu unterscheiden, werden in diesem Buch die beiden Begriffe »Krise« und »Notfall« trennscharf verwendet. Bei einer »Krise« bestehen demnach noch Kommunikationsfähigkeit und Kooperationsbereitschaft, wenngleich das psychische Gleichgewicht sehr labil ist. Beim »Notfall« ist die Gefährdung bereits derart eskaliert, dass weder von Kommunikationsfähigkeit noch von Kooperationsbereitschaft ausgegangen werden kann: Das psychische Gleichgewicht ist verloren gegangen (siehe Abbildung 1).

ABBILDUNG 1

Gefährdung, Interventionsart, Kommunikationsfähigkeit

Ausmaß der Gefährdung und Belastbarkeit

Interventionsart und Methoden

Kommunikationsfähigkeit

Selbst-/Fremdgefährdung

Verlust des psychischen Gleichgewichts

Notfallintervention

Direktive Intervention, evtl. Zwang

Nicht kommunikationsfähig

Unberechenbar, unzuverlässig, nicht kooperativ

Psychisches Gleichgewicht gefährdet

Vermindert belastbar

Krisenintervention

Beratung in flexiblem Setting

Kommunikationsfähig

Bereit und fähig zur Übernahme von Verantwortung

Belastbar

Psychotherapie

Reguläres Setting

Kommunikationsfähig

»KRISE«   Bei der Krise nach der hier verwendeten Definition sind die Betroffenen in der Lage, Vereinbarungen mit dem Krisenhelfer zu treffen; Vereinbarungen, die mindestens bis zum nächsten Betreuungskontakt verlässlich erscheinen. Somit besteht keine unmittelbare Selbst- oder Fremdgefährdung, jedoch weiterhin ein Risiko, das psychische Gleichgewicht zu verlieren, doch wieder in eine Notfallsituation zu geraten und krank zu werden oder das Umfeld derart zu belasten, dass dort Schaden entstehen kann. Deshalb ist eine rasche Intervention im Rahmen eines Settings notwendig, das auf die Belastbarkeit der Betroffenen und die vorhandenen Ressourcen abgestimmt ist. Die Krisenintervention im Rahmen eines oder mehrerer Kontakte dauert so lange, bis die Krise bewältigt ist. Das ist dann der Fall, wenn die Betroffenen mindestens wieder das psychische Gleichgewicht von vor der Krisenentwicklung erreicht haben.

»NOTFALL«   Beim Notfall besteht das ernste Risiko einer akuten Selbst- und / oder Fremdgefährdung. Die Helfenden können bei einem Notfall nicht mehr davon ausgehen, dass die Betroffenen zur Krisenbewältigung fähig sind, notwendige Entscheidungen treffen und diese auch umsetzen können. Hier muss sofort Hilfe geleistet werden, unter bestimmten rechtlichen Voraussetzungen sogar gegen den Willen der Betroffenen. Der Notfall hat höchste Betreuungspriorität. Alle übrigen Aufgaben sind zurückzustellen. Und die Notfallintervention ist erst beendet, wenn keine akute Gefährdung mehr besteht. Die Notfallintervention kann in eine Krisenintervention übergehen, sobald keine akute Selbst- und Fremdgefährdung mehr besteht und die Betreffenden in der Lage und bereit sind, Vereinbarungen mit dem Krisenhelfer einzuhalten.

Wenn in einer Krisen- oder Notfallsituation professionelle Hilfe angefordert wird, muss davon ausgegangen werden, dass die bisherigen Ressourcen im Umfeld des Klienten stark beansprucht oder gar erschöpft sind. Deshalb ist in diesen Situationen anzunehmen, dass nicht nur Einzelne, sondern das gesamte soziale Umfeld Unterstützung brauchen. Bei einer Notfallsituation ist das sogar immer der Fall.

Wie kommt es zur Krise?

Zu psychosozialen Krisen kommt es bei einem Missverhältnis von persönlichen Belastungen versus Ressourcen. Krisen sind gleichwohl »normale« Durchgangsstadien in einer Biografie. Krisenhafte Entwicklungen bedürfen erst dann professioneller Intervention, wenn die Betreffenden die anstehenden Herausforderungen nicht mehr eigenständig oder mit den Mitteln ihres privaten Umfelds bewältigen können.

Anlass für derartige Entwicklungen sind in der Regel außerordentliche äußere Belastungssituationen. Dies können unerwartete Alltagsbelastungen sein (etwa die anhaltende Erkrankung eines Kindes bei berufstätigen Eltern) oder ein erschütterndes oder schreckliches Erlebnis (Traumatisierung durch Unfälle etc.), das die Betroffenen zutiefst schockiert und zu heftigen, überflutenden seelischen Reaktionen führt.

Auch verhältnismäßig geringe Zusatzbelastungen können dann zu einer krisenhaften Entwicklung führen, wenn dies Menschen betrifft, die an sich bereits über eine nur eingeschränkte Belastbarkeit verfügen. Besonders gefährdet sind deshalb Personen mit vorbestehenden, insbesondere psychischen Erkrankungen. Diese Krisen werden »Rückfälle« genannt. Rückfälle gehören bei dieser Klientengruppe zu einem normalen Verlauf einer chronischen gesundheitlichen Problematik. Rückfälle bedeuten demnach nicht automatisch ein Versagen des Klienten oder der Helfer.

Auslöser für Rückfälle sind:

Zusätzliche, schicksalhafte äußere Belastungen,

wobei im Unterschied zu gesunden Menschen bereits kleine Sorgen oder auch Veränderungen des üblichen Alltagsablaufs ausreichen, um das psychische Gleichgewicht zu gefährden; oder es sind entwicklungsbedingte Belastungen, zum Beispiel bei Heranwachsenden die Beanspruchung durch die biopsychischen Veränderungen während der Adoleszenz.

Deshalb ist bei Langzeitklienten die psychosoziale Entlastung besonders wichtig.

Primäre Verschlechterung der Krankheit

durch das Fortschreiten eines Krankheitsprozesses (bei einem Hirntumor, einer Alzheimerdemenz, einer schweren hormonellen Störung etc.).

Deshalb ist bei Fehlen einer äußeren Belastung beziehungsweise einer zuverlässigen Medikamenteneinnahme stets ein Arzt beizuziehen, um den Grund dieser Verschlechterung abzuklären.

Sekundäre Verschlechterung einer Krankheit

wegen Veränderung der Medikamentenwirkung, Verminderung der Wirksamkeit von Medikamenten durch eine Magen-Darm-Erkrankung oder wegen einer ungünstigen Wechselwirkung mit anderen Medikamenten, Weglassen einer unbedingt notwendigen Medikation bei einem Psychosekranken.

Deshalb hat die Überwachung der Medikamenteneinnahme bei gefährdeten Klienten eine hohe Priorität.

Problemverstärkendes Verhalten eines Klienten,

zum Beispiel Alkoholtrinken eines Suchtkranken oder auch fehlende Krankheitseinsicht bei einem psychotischen Menschen, der sich jeder Mitarbeit verschließt.

Deshalb ist Motivationsarbeit und Mitverantwortung des Klienten in jeder freiwilligen Betreuung unverzichtbar.

Diese möglichen Auslöser zu kennen ist für alle Betreuerinnen und Betreuer wichtig, denn sie begleiten die Klienten im Alltag und haben so eher die Möglichkeit, frühzeitig gegenzusteuern.

Es können jedoch auch Personen leichter von kritischen Beanspruchungen überfordert werden, wenn sie aufgrund eines Ressourcenmangels über verminderte Problembewältigungsmöglichkeiten verfügen (Menschen in sozialer und finanzieller Not, Migranten).

Krisen können zudem ausgelöst werden durch eine innere Umorientierung, wie dies im Rahmen der Adoleszenz, jedoch auch im Rahmen einer intensiven Psychotherapie geschehen kann.

Meistens sind Beziehungskonflikte oder äußere Belastungen Auslöser von Krisen.

Was geschieht unter einer überfordernden Belastung?

Bei Menschen, die professionelle Hilfe suchen, ist in der Regel – wie im Eingangskapitel dargestellt – bereits vor der Krise eine grenzwertige Belastung eingetreten. Durch ein zusätzliches Ereignis entsteht eine zunehmend ungelöste Problematik, was vorerst zu einer normalen emotionalen Reaktion (Ärger, Wut, Angst, Sorgen etc.) führt. Diese Gefühle signalisieren einen Änderungsbedarf in der aktuellen Lebenssituation.

Es ist jedoch möglich, dass der Betroffene in diesen Gefühlen von Unbehagen keine Belastung als Auslöser und damit keinen Änderungsbedarf erkennt. Das Unbehagen wird auf diese Weise als ein Unbehagen ohne eigentlichen Grund wahrgenommen. Das ist deshalb ein ungünstiger Fall, weil daraus keine aktive Problembewältigung erwächst. Die Krise wird lediglich als gesundheitliche Krise wahrgenommen, die daraufhin angesichts der fehlenden Problemlösung zunimmt.

Im günstigen Fall kann die betroffene Person dem Unwohlsein eine äußere Ursache zuordnen; die auslösende Belastung oder Situationsänderung wird identifiziert. Die betroffene Person bemerkt nicht nur, dass ein Problem entstanden ist, das gelöst werden muss, sondern das Unbehagen veranlasst die Person auch, das Problem zu lösen. Über die Stressreaktion werden zusätzliche psychophysische Kräfte mobilisiert, um die wahrgenommene Problematik zu bewältigen. Falls die betreffende Person über entsprechende Bewältigungskompetenzen verfügt und bereit ist, Prioritäten kurzfristig umzustellen, und falls zudem geeignete Ressourcen zur Verfügung stehen, gelingt in der Regel eine Überwindung der Krise.

ABBILDUNG 2

Problemlösung: ein Weg zu Wohlbefinden und Gesundheit

PROBLEMLÖSUNG   Dabei gibt es unterschiedliche Bewältigungsstrategien: Die Variante »Problemlösung« setzt direkt bei der erkannten Problematik an und verändert die Methode der Problembewältigung durch eine qualitativ andere Vorgehensweise. Diese Strategie erfordert eine angemessene Situationswahrnehmung, gedankliche Einsicht in Zusammenhänge, soziale Kompetenz sowie Ressourcen im Umfeld. Dies ist die optimale Variante.

BEISPIEL

Einer Angestellten in einer Handelsfirma wird der Aufgabenbereich einer erkrankten Mitarbeiterin übertragen. Sie spürt schnell, dass sie die neue Arbeitsmenge überfordert. Schlafstörungen treten auf. Nach einer kurzen Phase der Verunsicherung darüber, ob sie selbst zu wenig leistungsfähig sei, vereinbart sie einen Termin mit ihrem Vorgesetzten. Sie drückt ihre Sorgen aus. Dies führt zu dem Ergebnis, dass neue Arbeitsprioritäten aufgestellt werden und dass sie einen Teil der Aufgaben an eine neu eingestellte Teilzeitkraft delegieren kann.

ERHÖHTER ENERGIEEINSATZ   Die Bewältigungsstrategie »Vorübergehend erhöhter Energieeinsatz« hat zum Ziel, die höhere psychische und körperliche Beanspruchung durch einen Sondereinsatz der Kräfte durchzustehen. Die Krise soll durch eine quantitativ andere Vorgehensweise gelöst werden. Dies setzt voraus, dass der erhöhte Energieeinsatz tatsächlich reicht, um das Problem zu lösen, beziehungsweise die außerordentliche Belastung nur vorübergehender Art ist und eine Erholungsphase angeschlossen werden kann.

BEISPIEL

Das zweijährige Kind eines Paares erkrankt an Dreitagefieber und hat vorübergehend Schlafstörungen; die Eltern stehen abwechselnd in der Nacht auf, das Kind erholt sich rasch, und am Wochenende lassen sich die Eltern abwechselnd ausschlafen. Der vorübergehend erhöhte Energieaufwand kann so kompensiert werden, eine psychische und beziehungsmäßige Destabilisierung wird damit abgewendet.

ENTSPANNUNG   Die Strategie »Entspannungstechnik« setzt bei der persönlichen Belastbarkeit an. Es geht dann darum, sich mit speziellen Methoden psychologisch gegenüber einem übermäßig starken Beanspruchungsgefühl abzuschirmen.

BEISPIEL

Ein Student bereitet sich auf die Abschlussprüfung vor; der Termin rückt näher und der Fleißige beginnt vor Lampenfieber schlecht zu schlafen, obschon er sich im Vergleich zu anderen sehr gut vorbereitet hat. Er lernt die Methode des autogenen Trainings und kann damit eine Daueralarmierung seiner Psyche unterbrechen.

ZIELVERÄNDERUNG   Eine weitere Möglichkeit ist die Variante »Veränderung von Anspruch und Zielsetzung«, insbesondere wenn neue Belastungssituationen als gegeben zu betrachten sind.

BEISPIEL

Ein Elternpaar, beide Mitte dreißig, Physiotherapeuten in einer orthopädischen Klinik, beabsichtigten bald nach der Geburt ihres zweiten Kindes, ihre Berufstätigkeit in reduziertem Rahmen weiterzuführen. Das Neugeborene hat jedoch eine Fehlbildung der Nieren und muss aufwendig betreut werden. Sie ändern ihre ursprünglichen Pläne: Der Vater verzichtet auf einen Karriereschritt und reduziert sein Pensum zusätzlich. Die Mutter legt eine längere Babypause ein. Wenn sie wieder berufstätig sein wird, wird ihr Mann ein halbes Jahr mit der Arbeit aussetzen. Sie nehmen einen Kredit bei seinen Eltern auf, um den finanziellen Engpass gut zu überstehen. Durch die Verabschiedung von ursprünglichen Zielsetzungen beugen sie einer psychophysischen Erschöpfung und meist in diesem Zusammenhang auftretenden Beziehungsschwierigkeiten vor.

Auch bei der Verarbeitung von Schicksalsschlägen wie Trauer um nahe Angehörige ist ein Abschied von früheren Zielsetzungen, Bedürfnissen etc. notwendig, um sich während einer Phase des Trauerns neu zu orientieren. Dadurch ergeben sich neue Perspektiven und die Gefahr der Entwicklung einer Depression ist gebannt.

Wenn diese Bewältigungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen, weil entsprechende Kompetenzen und äußere Ressourcen nicht vorhanden sind beziehungsweise nicht wahrgenommen werden oder eine geringe Belastungstoleranz besteht, dann können unterschiedliche Entwicklungen beobachtet werden. Um ein zunehmendes Unbehagen zu ertragen, entwickeln manche Personen psychologische Notlösungen (Verdrängen, Verleugnen, Verschieben, Somatisieren etc.). Anstelle des Wohlbefindens durch Problemlösung tritt die Abwesenheit des Unbehagens durch Verschieben der Aufmerksamkeit beziehungsweise durch Vermeidungsverhalten. Nicht das Problem wird bewältigt, sondern das ursprüngliche Unbehagen wird neutralisiert oder durch ein anderes, geringeres Übel ersetzt.

BEISPIEL