Notizen von unterwegs - Vera Lengsfeld - E-Book

Notizen von unterwegs E-Book

Vera Lengsfeld

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Beschreibung

Von den traumhaften Pulverstränden Kubas zu den Gletschern der Antarktis; von den Häuserschluchten des Big Apple zu den Weiten der sibirischen Tundra und Taiga. Vera Lengsfeld ist in viel gereist und stehts hielt sie die Augenblicke fest und spürte den Geschichten ihrer Reisezeile nach - den schönen wie auch den grausamen. Die Reiseberichte in diesem Büchlein erzählen von Bemerkenswertem aus aller Welt und geben einen ganz persönlichen Rückblick auf die vergangene Dekade.

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Für meine Söhne und Enkelkinder

INHALT

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Vorwort: Hinter den Fassaden des Alltäglichen

Vera Lengsfeld ist in ihrem Leben weit gereist. Ihre Notizen von unterwegs hat sie zu kurzen, prägnanten Reiseberichten kompiliert, die tagebuchartig festhalten, wo sie war, was sie gesehen und gehört hat, und gelegentlich, doch nie dominierend, was sie darüber denkt. So berichtet sie von Reisen in alle Himmelsrichtungen, nach Argentinien, Litauen, Israel, China, Rumänien, Spanien, Zypern, Estland, Kuba, Deutschland, Polen, Chile oder Sibirien, auch in Gegenden, über die sonst kaum etwas Vernünftiges zu erfahren ist wie das quasi-autonome Gebiet Transnistrien.

Die Autorin gibt keine unnötigen Erklärungen ab, warum sie sich an diesem oder jenem Ort aufhielt, teilt über sich nur das Nötige mit und vermeidet die bei anderen Reiseautoren üblichen Abschweifungen in eigene Reflexionen und Weltgedanken. Gegenstand ihres Berichts ist immer der besuchte Ort. Den versucht sie, soweit möglich, zu Fuß zu erkunden. So, „auf Augenhöhe“, in direktem vis à vis, begegnet sie dem Unbekannten, das sie fernen Orts erwartet, stellt sich ihm mit Neugier und Offenheit, mit einem jugendlich wirkenden Interesse an den Problemlösungen anderer.

Wie genau sie die Atmosphäre einer Stadt oder Landschaft einzufangen weiß, kann ich dort nachvollziehen, wo sie mir bekannte Orte besucht, etwa Petrosawodsk in Karelien. Genau so habe ich selbst diese weltferne Gegend in Erinnerung. Ihre Neugier geht in die Tiefe, oft schmerzhaft, auf Kosten der Idyllik des Reisens. Ihrerseits früh mit Geschichte konfrontiert, erweist sie sich als unerschrockene Spurensucherin, versessen auf das Historische hinter den Fassaden des Alltäglichen.

In Moskau sieht sie die Schönheit des rekonstruierten alten Arbat, doch sie wirft auch einen Blick auf das Hotel Lux, in dem in den dreißiger Jahren, zur Zeit der „Großen Säuberung“, die emigrierten Ausländer wohnten und in hypnotischer Starre warteten, bis die Männer in den Ledermänteln kamen, meist im Morgengrauen, und sie abholten. Gleich nebenan ist die Lubjanka, das Gefängnis der sowjetischen Staatssicherheit, in der abgeurteilt, nach Sibirien verschickt, nicht selten auch gleich hingerichtet wurde. Vera Lengsfeld, kundig in der Literatur des Schreckens, erkennt das Dom na Nabereshnoj, das „Haus an der Uferstraße“, dessen Insassen, Funktionäre und hohe Offiziere, fast alle den Weg in die Lager gingen. Zugleich ist sie imstande, die grandiose Ausstrahlung der alten russischen Metropole zu beschreiben, die den Schatten standhält, die eine wechselvolle, nicht selten tragische Geschichte auf sie wirft.

Die meisten Orte, die sie besucht hat, befinden sich in einem rapiden, manchmal radikalen Wandel. So dass es an sich verdienstvoll ist, den Jetzt-Zustand gewissenhaft zu beschreiben, weil er zum Zeitpunkt der Niederschrift schon aufgehört hat zu bestehen und womöglich nur in Lengsfelds Notizen überdauert. Das gilt für die Wunden und Krater des Krieges auf dem Balkan nach dem Zerfall Jugoslawiens, für die Foltermale Rumäniens, das bunte Elend Kubas der späten Castro-Zeit. Novosibirsk nennt sie in diesem Nebeneinander von alt und neu, von gestriger Misere und sich abzeichnendem Aufschwung eine „Patchworkstadt“. Das Wort trifft in dieser Zeit schneller Veränderung auf manchen der besuchten Orte zu. Sogar Ushuaia auf Feuerland, am Rand der bewohnbaren Welt, kurz vor dem Übergang ins ewige Eis, hat sich verwandelt: aus der ehemaligen argentinischen Strafkolonie von achthundert Seelen wurde, wie die Reisende festhält, binnen weniger Jahrzehnte „eine boomende Stadt mit 60 000 Einwohnern.“

Viele historische Details, die Vera Lengsfeld recherchiert und repetiert, waren mir unbekannt, und jetzt davon zu erfahren, macht dieses Buch für mich zur spannenden Lektüre. Weil sich im Historischen immer die Geheimnisse des Heutigen verbergen, über die nachzudenken wir sanft genötigt werden. Ich wusste bisher wenig oder nichts über Beijings Stadtentwicklung, über die strukturellen Probleme chinesischer Mega-Metropolen, oder über Kuba, wo ich nie war. Oder über die Wechselfälle in der Geschichte der Insel Helgoland. Oder die Tragödie der Stadt Warschau, die von den Nazis „zu neunzig Prozent dem Erdboden gleich gemacht“ wurde.

Doch das Unheimliche, Bedrohliche kann auch mitten im Frieden geschehen, in einer westlichen Demokratie. Bei einem Besuch in Madrid beobachtet Vera Lengsfeld die Diskrepanz zwischen Medienbild und Wirklichkeit, die neue, heimliche Art der Desinformation: „Als ich am anderen Morgen die Nachrichten im Fernsehen anschaue, stelle ich fest, dass die Zahl der Teilnehmer des Protestzuges absurd niedrig angegeben wurde. Sechshundert sollen es nur gewesen sein, wo ich mehrere Tausend an dieser Kreuzung gesehen habe (…) Arroganz der Macht? Auf die Dauer werden sie damit nicht durchkommen.“

Arroganz und Schwäche westlicher Politik entgehen ihr nicht, vor allem nicht die Zeichen einer verfehlten, antiquierten Außenpolitik der europäischen Staaten: „Die Türkei denkt nicht daran, die griechische Stadt Famagusta zurückzugeben, wie sie sich verpflichtet hat. Sie kann darauf vertrauen, dass die EU von ihr die Vertragserfüllung nicht einfordert.“ Und sie ahnt die Folgen dieser schwachen Politik: „Ich werde das beklemmende Gefühl nicht los, dass unsere Reise in die Vergangenheit des Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien eine Zeitreise in die Zukunft Europas ist.“

Vera Lengsfeld ist eine Frau mit großer Lebenserfahrung und politischem Gespür. Wie ihre Reise-Impressionen zeigen, ist sie weit in der Welt herum gekommen. Dabei bodenständig geblieben mit ihrem Hanggrundstück voller Obstbäume, das sie von ihrer Großmutter in Thüringen geerbt hat. Einmal bin ich mit ihr in der Wüste gewandert und habe ihre unglaubliche Ausdauer erlebt. Die sie auch anderswo zeigt, zum Beispiel in ihrem Eintreten für demokratische Freiheiten. Sie erkletterte die Sandhügel und Felsen der Negev-Wüste schneller als jeder andere. Training, sagte sie. Denn sie muss, um ihre Obstbäume zu ernten, ständig hügelauf und -ab laufen. Reisen ist nur eine Seite ihre Lebens. Und sie ist davon nicht, wie viele andere, konfus, „für alles offen“ und meinungslos geworden. Vera ist auf ihren weiten Fahrten durch die Welt ein Mensch geblieben, der ein Zuhause hat, eine klare Orientierung.

Chaim Noll

Reise in die Antarktis

19. März 2007

Wer in die Antarktis möchte, muss zuerst nach Chile oder Argentinien reisen. Ich flog nach den undurchschaubaren Regeln der Billiganbieter erst über Island und Grönland nach Newark, um dann über Houston nach Buenos Aires zu gelangen. Die Bewohner der Hauptstadt Argentiniens stammen wie im ganzen Land zu 80% von Immigranten ab

- und zwar von erfolgreich Integrierten. Drei Immigrationswellen aus Deutschland haben das Land geprägt: Wirtschaftsflüchtlinge der zwanziger Jahre, den Nazis entkommene Juden und Kommunisten und schließlich Nazis, denen nach der Niederlage ihres Regimes der Boden unter den Füßen zu heiß wurde. Wie zuvorkommend Fremde hier behandelt werden, erlebte ich schon bei meinem ersten Kneipenbesuch. Der Ober brachte mir zum bestellten Gin Tonic eine kleine Platte mit Leckereien, weil ich neu war. Die Männer am Nebentisch schickten mir einen Willkommensdrink, als sich mein Glas geleert hatte, als wäre ich zwanzig.

Als er das zweite Mal an meinen Tisch kam, stellte sich Daniel vor und erzählte, dass er von Deutschen der ersten und zweiten Einwanderungswelle abstamme. Er war über das Geschehen im Land seiner Eltern gut informiert und empfahl mir, mich in Argentinien niederzulassen, wenn ich genug vom neurotischen Deutschland hätte. Sein Land sei viel entspannter und auf einem guten Weg. Am nächsten Morgen flog ich nach Ushuaia - der südlichsten Stadt der Welt. In den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts befanden sich hier nur ein Dorf mit 800 Einwohnern und eine Strafkolonie. Als damals ganz in der Nähe ein Passagierschiff in Seenot geriet und evakuiert werden musste, fanden sich im Dorf nicht genügend Betten für die 1200 Passagiere. Die Bewohner räumten kurzerhand das Gefängnis und brachten die Schiffbrüchigen in den Zellen unter. Dieser Pragmatismus prägt die die Stadt bis heute.

In den Siebzigern erklärte die Regierung den Ort zum Freihafen und befreite ihn von allen Steuern. Damals lebten hier 1200 Menschen. Dreißig Jahre später ist Ushuaia eine boomende Stadt mit 60000 Einwohnern, Tendenz immer noch steigend. Die Zugezogenen bauen ihre Häuser ohne Genehmigung auf staatliches Land, dafür aber mit einer schlittenähnlichen Unterkonstruktion versehen. Beansprucht der Staat das Land für ein Bauvorhaben, schieben die Eigentümer das Haus einfach weiter. In jüngster Zeit siedelte sich wegen der Steuerprivilegien vor allem elektronische Industrie an. Zusätzlich kam der Tourismus in Schwung. Über 50000 Besucher ziehen im antarktischen Sommer durch die Stadt. Als ich mich einschiffte, verließ gerade die Yacht von Bill Gates den Hafen. Auf seinem Weg nach Kap Horn hatte Gates in seiner südlichsten Konzern-Dependance nach dem Rechten geschaut. Wer nicht geschäftlich hier ist, kann den südlichsten Nationalpark der Welt besuchen. In den vierziger Jahren hatten die Häftlinge der Strafkolonie ganze Hänge vollständig abgeholzt. Dadurch entstanden riesige Sukzessionsflächen, die auf denen jetzt Südbuchen wachsen.

Weil die Nationalparkgründer anfangs das Gefühl hatten, ihren Gästen mehr bieten zu müssen, als die karge Natur Patagoniens, importierten sie Biber und Hasen. Was den Touristen spitze Entzückensschreie entlockt, ist für die Nationalparkbetreiber längst zum Problem geworden: Die Nager haben sich rasant vermehrt und richten viel Schaden an. Die Verantwortlichen diskutieren schon über Maßnahmen zur Populationskontrolle. Immerhin hat man aus dem Debakel gelernt. Inzwischen dürfen weder Tiere noch Pflanzen, weder Samen noch Früchte nach Patagonien eingeführt werden, um das empfindliche Ökosystem nicht weiter zu stören.

20. März 2007

Die Drakepassage ist die einsamste und gefährlichste Wasserstraße der Welt. Hier treffen sich Atlantik und Pazifik. Hier verläuft die sogenannte antarktische Konvergenz, die Grenze des antarktischen zirkumpolaren Wasserrings, der Atlantik, Pazifik und Indischen Ozean zu einem globalen System verbindet. Es herrschen ganzjährig heftige Winde. Diese Winde trieben den Entdecker Francis Drake auf seiner Weltumsegelung 1577 weit in den Süden und so befuhr er unfreiwillig als Erster die nach ihm benannte Wasserstraße zwischen Südamerika und den noch zu entdeckenden Südkontinent.

Es vergingen fast dreihundert Jahre, ehe der britische Kaufmann William Smith auf seinem Schiff - wieder durch einen Sturm weit nach Süden getrieben - die dem antarktischen Festland vorgelagerten Südshetlandinseln entdeckte. Als er jedoch den britischen Behörden von seiner Entdeckung berichtete, brachte ihm das keine Anerkennung ein, sondern die Degradierung zum Lotsen auf seinem eigenen Schiff. Woran man sieht, dass auch in früheren Jahrhunderten abweichende Meinungen oft Feindseligkeit hervorriefen.

Smith ließ sich davon nicht von seinen Forschungen abbringen. Unter seinem neuen Kapitän Bransfield suchte er weiter nach dem unbekannten Südland und entdeckte es schließlich. Auf der Rückkehr begegneten sie den russischen Schiffen Vostok und Mirnyi des baltendeutschen Kapitäns Thaddeus von Bellingshausen, der am 27.01.1820 als erster Mensch das antarktische Festland gesichtet hatte. Das wurde allerdings erst in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bekannt, als die Angaben Bellingshausens, der sich als russischer Offizier an den Julianischen Kalender gehalten hatte, in den Gregorianischen Kalender übersetzt wurden. Wegen eben dieser Kalenderdifferenz spricht man von der Oktoberrevolution genannt, obwohl sie im November stattfand.

Die Südshetlandinseln geben einen Vorgeschmack auf die spektakuläre antarktische Küste, mit ihren Gletschern und felsigen Bergen. Auf Half Moon Island sehen wir die erste Pinguinkolonie. Hier sind Zügelpinguine beheimatet. Sie wirken so zerbrechlich, es erscheint, dass sie beim Verschwinden der Dinosaurier vor 60 Millionen Jahren schon genauso dastanden. Sie waren schon fertig, als die Evolution gerade begann, die Voraussetzungen für die Entstehung der Menschen zu schaffen.

Wir müssen unsere Landung leider nach kurzer Zeit abbrechen. Eigentlich ist noch Sommer, aber der Herbst macht sich in diesem Jahr ungewöhnlich früh bemerkbar, mit Schneestürmen und Kälte. Die Wellen werden binnen kurzem so hoch, dass sie die Rückkehr zum Schiff für Stunden unmöglich machen könnten. Wenn das Wasser nicht so bewegt wäre, würde sich eine Eisdecke bilden, die in der unglaublichen Geschwindigkeit von 48 qkm/min entsteht. Auf der Weiterfahrt zum Lemairekanal flaut der Wind ab und wir können werden Zeugen dieses Phänomens. Seefahrer entdeckten den Lemairekanal schon 1873, doch es dauerte noch 25 Jahre bis das erste Schiff ihn durchquerte.

Die Passage ist schwierig, denn der 11 km lange Kanal hat nur eine Breite von 1,6 km, ist von steil aufragenden Felswänden begrenzt und voller Untiefen. Als wir uns seiner Einfahrt nähern, liegt ein Band von Eisschollen davor, wie ein Polizeikordon, als ob uns die Natur davor warnen wollte, in ihn einzufahren. Zusätzlich behindert dichter Nebel die Sicht. Aber unser Schiff tastet sich so vorsichtig durch die Hindernisse, dass wir am Ende der Durchfahrt mit Sonnenschein und klarer Sicht belohnt werden.

Unser Ziel ist die ukrainische Forschungsstation Vernadskiy. Ursprünglich errichteten die Briten sie auf der Galindezinsel und benannten sie nach Faraday. Hier entdeckten Wissenschaftler 1982 erstmals das Ozonloch. Im Jahr der Unabhängigkeit der Ukraine übergab Großbritannien die Station an den jungen Staat. Die Ukrainer halten die Tradition ihrer Vorgänger aufrecht und widmen sich vor allem der Klimaforschung. Ihre Ergebnisse sind überraschend.

21. März 2007

Die ukrainischen Klimaforscher auf der Vernadskiy-Station müssen es wissen: Für langfristige Wetterprognosen muss man sich gut in polarer Meteorologie auskennen, denn die Pole sind maßgeblich für das Wetter in beiden Hemisphären.

Es herrscht ein ständiger kalter Luftstrom von den Polen zum Äquator. Oberhalb davon kehrt ein warmer Gegenstrom in die Polargebiete zurück. Dieser ständige Austausch hinterlässt seit Jahrmillionen Rückstände im ewigen Eis. Da die Antarktis eines der reinsten Gebiete der Erde ist, kann man an den aus anderen Weltgegenden hereingetragenen Verschmutzungen gut die erdgeschichtliche Klimaentwicklung ablesen. Die seit mehreren Jahrzehnten vorgenommenen Kerneisbohrungen ergeben ein eindeutiges Bild: Das Erdklima ist im Laufe der geologischen Zeitalter der Erde keineswegs konstant geblieben.

Die Klimaaufzeichnungen zeigen, dass Eiszeiten regelmäßig vorkommen und etwa 90 000 Jahre dauern. Ihnen folgt eine schnelle Erwärmung. Diese Veränderungen vollziehen sich im Zusammenhang mit der relativen Bewegung der Erde zur Sonne. Diese Bewegung reguliert die Energie, die der Planet im Laufe der Jahrtausende von der Sonne empfängt. Es handelt sich hierbei um eine natürliche Fluktuation. Kein Wunder, dass die Ergebnisse der Kernbohrungen in der aktuellen Klimadiskussion praktisch keine Rolle spielen. Sie stützen die These der menschengemachten Klimakatastrophe nicht gerade. Natürlich kann man an den Eismessungen auch feststellen, dass in den letzten 200 Jahren der CO2- Gehalt der Luft angestiegen ist. Jedoch hat es ähnliche Zunahmen auch in anderen Jahrtausenden gegeben. Ganz ohne menschliche Einwirkung. Die Beschaffenheit der Antarktis ist davon unberührt geblieben. Nichts deutet darauf hin, dass es zu einem Abschmelzen ihrer Gletscher kommen könnte. Natürlich gibt es immer wieder spektakuläre Abbrüche des Schelfeises. Aber die haben nichts mit einer Erwärmung der Luft zu tun. Die 650 km breite Eisbarriere vor der Antarktis, die auf dem Festland bis an die Königin-Maud-Berge heranreicht, ist ein riesiger Gletscher, der alle an den Atlantik grenzenden Küstenstaaten bedecken könnte. Das Wasser fließt ständig in Richtung Meer ab und wird zusätzlich von den massiven Eisflüssen aus den Bergpässen des polaren Plateaus nach vorn geschoben. Irgendwann wölben sich die Küstenränder über dem Meer und große Teile der Eismassen brechen unter den Gezeiten, den ständigen heftigen Stürmen und ihrem eigenen Gewicht los und bilden die Eisbergflotten in den Ozeanzugängen von Antarktika. Solche Abbrüche können bis zu hundert Kilometer lang sein.

Von unserem Schiff aus sichten wir immerhin Eisberge von fünf Kilometer Länge. Einmal tut uns unser Kapitän den Gefallen und umrundet ein besonders schönes Exemplar von 1,5 Kilometer Länge und 800 Meter Breite. Die 30 Meter hohen Wände des Eisberges sind von helltürkiser Farbe, die von dunkeltürkisen Adern durchzogen ist. Von unserem Schiff aus sichten wir immerhin Eisberge von fünf Kilometer Länge. Einmal tut uns unser Kapitän den Gefallen und umrundet ein besonders schönes Exemplar von 1,5 Kilometer Länge und 800 Meter Breite. Die 30 Meter hohen Wände des Eisberges sind von helltürkiser Farbe, die von dunkeltürkisen Adern durchzogen ist. Dabei bewegt er sich mit ruhiger Kraft, begleitet von dem Knistern ungebändigter Naturgewalten. Unser Schiff ist seit Tagen allein im Südozean. Eine Insel der Zivilisation inmitten der Wildnis. Eine äußerst verwundbare Insel, die wenig Schutz bietet, wenn die Gewalten, von denen wir umgeben sind, entfesselt würden. In einer solchen Umgebung erscheint der Glaube an die politische Steuerbarkeit des Weltklimas besonders vermessen. Weder die polaren Wetterfronten noch die Eisbergflotillen werden sich von politischen Beschlüssen lenken lassen.

22. März 2007

Auf der Winterinsel befindet sich die ehemalige britische Forschungsstation Base F. Heute ist sie ein von den Ukrainern der benachbarten Vernadskiy-Station betreutes Museum. Hier begegne ich zum ersten Mal den politischen Ansprüchen auf antarktisches Gebiet: „British Crown Land“ steht auf einem verwitterten Schild hinter dem Haus. Im entlegensten Teil der Welt, wirkt das nur noch absurd. In den vierziger und fünfziger Jahren mussten hier stationierte Forscher und Militärs bis zu fünf Jahre am Stück ausharren. Ob sie sich wirklich heimischer gefühlt haben, weil der Boden unter ihren Füßen zum Besitz der Krone erklärt worden war? Es war in den Entdeckerjahren durchaus üblich, das Land um eine neu errichtete Forschungsstation zum Hoheitsgebiet des Staates zu erklären, der die Station betrieb. Außerdem leiteten die Staaten Gebietsansprüche auf die Territorien ab, die ihre Forscher entdeckten. Zu wirklichen Auseinandersetzungen kam es jedoch nur zwischen Chile und Argentinien, die sich als Anliegerstaaten der Antarktis betrachten und teilweise dieselben Gebiete beanspruchen. Um ihre Ansprüche zu untermauern, gingen beide Staaten Anfang der neunziger Jahre dazu über, auf ihre Forschungsstationen nur junge Ehepaare zu schicken. Im langen antarktischen Winter gezeugten Kinder, die auf der Station zur Welt kommen würden, sollten als Argument für die Gebietsansprüche dienen.

Tatsächlich sind einige Kinder in der Antarktis zur Welt gekommen. Man gab diese Praxis aber bald wieder auf; weniger, weil den Politikern der Zynismus ihrer Kampagne aufgefallen wäre, sondern weil sie einfach zu viel Geld verschlang. Heute ist die argentinische Station nur noch sporadisch besetzt.

Im Kalten Krieg gab es parallel zum Wettlauf der Systeme in das Weltall einen Wettlauf in die Antarktis. Diesmal gingen die Amerikaner als Sieger hervor und errichteten ihre Forschungsstation auf dem Südpol. Die Sowjets wollten im Gegenzug den magnetischen Südpol besetzen. Das erwies sich als unmöglich, weil der magnetische Pol im Jahr etwa elf Kilometer driftet. Also machten die Genossen sich in Motorschlitten auf zum sogenannten Pol der Unzugänglichkeit, dem von den Ozeanen am weitesten entfernten Punkt der Antarktis. Hier errichteten sie eine Forschungsstation, die aber nach kurzer Zeit wieder aufgegeben werden musste. Seitdem wachte eine Leninbüste in der grimmig kalten Einsamkeit, während der Staat, den er gegründet hatte, sich aus der Weltgeschichte verabschiedete. Ein kanadisches Forschungsteam hat sie Anfang diesen Jahres wiederentdeckt.

Immerhin hatte der Wettlauf der Systeme zum Südpol ein Gutes: beide Seiten realisierten, dass sie sich eine weitere Front im Kalten Krieg nicht leisten konnten. Es kam erst zum Internationalen Geophysikalischen Jahr, in dem 1957/58 in bisher beispielloser internationaler Zusammenarbeit mehr als fünfzig Ländern auf einen Schlag mehr als sechzig Forschungsstationen auf dem antarktischen Festland und den antarktischen Inseln errichteten. Da diese Stationen auf Territorien entstanden, die zum Teil von mehreren Staaten beanspruchten, musste man, um Streitigkeiten zu vermeiden, sich an einen Tisch setzen. Heraus kam 1959 der Antarktisvertrag, in dem die Unterzeichner erklärten, dass die Frage der Territorialansprüche unlösbar sei und deshalb alle Ansprüche für die Dauer der Gültigkeit dieses Vertrages ruhen. Dies könnte als erster Schritt hin zu einer terra communis, dem gemeinsamen Besitz der Antarktis sein, zumal der Vertrag verlängert und durch neue Unterzeichnerstaaten erweitert wurde. Allerdings gibt es nach wie vor alte und neue Besitzansprüche, die besonders lateinamerikanischer Staaten aufrechterhalten werden für den Tag, an dem der Antarktisvertrag außer Kraft treten sollte. Woran man sieht, dass politische Vernunft sich nie ein für alle Mal durchsetzt, sondern immer wieder eingefordert werden muss.

23. März 2007

Wir verlassen das Antarktische Festland und nehmen Kurs auf die legendäre Elefanteninsel. Für alle Antarktisenthusiasten ist diese beeindruckende Felseninsel eine Legende und ein ähnlicher Wallfahrtsort wie Kap Horn für die Seeleute. Hier landeten die 22 Mitglieder der berühmten Imperial Trans-Antarktik Expedition von Sir Ernest Shackleton. Die Männer hatten zuvor den Winter auf dem Packeis verbracht, nachdem ihr Schiff, die „Endurance“, erst vom Eis eingeschlossen und schließlich zerdrückt worden war. Die Männer mussten drei verbleibende Rettungsboote im Frühling erst über das Eis bis zum offenen Meer ziehen, ehe sie in See stechen konnten. Als die Mannschaft die Elefanteninsel erreichte, realisierten sie, dass eine Weiterfahrt aller drei Boote unmöglich war. Also entschloss sich Shackleton mit fünf Begleitern und einem umgebauten Boot die 800 Seemeilen (1280 km) bis Südgeorgien zurückzulegen und von der dortigen Walfangstation Stromness ein Schiff zu Hilfe zu holen. Sie mussten bei Windstärke 8-9 starten und eines der rauesten Meere der Welt überqueren. Sie landeten tatsächlich in Südgeorgien, aber auf der falschen Seite. Den Männern fehlte die Kraft, in einer weiteren Woche die Insel zu umrunden.

Also entschloss sich Shackleton zum vorher nie gewagten Versuch, die südgeorgischen Berge zu überqueren - ohne alle Bergsteigerausrüstung. Sie schafften das Unmögliche und er-reichten die heute verlassene Walfangstation. Shackleton war durch die Strapazen so gezeichnet, dass ihn die Walfänger erst nicht erkannten. Dann dauerte es durch mehrere unglückliche Umstände fast vier Monate, bis Shackleton in Kapitän Louis Pardo, dem Kommandanten der „Yelcho“, einen Mann fand, der trotz der Untermotorisierung seines Schiffes und fehlender Genehmigung seiner Regierung bereit war, zur Elefanteninsel zu fahren, um die Männer zu retten.

Shackletons legendärer Ruf gründet sich auf die Tatsache, dass er in einer Zeit, wo die Nationen Europas täglich tausende junger Menschen an den Fronten verheizten, nicht bereit war, auch nur ein einziges Leben dem Ziel der Expeditionen zu opfern. Er hätte der erste Mensch am Südpol sein können. Weil er aber wusste, dass nicht alle drei Begleiter lebend zurückkehren würden, drehte er nur 180 km vor seinem Ziel um. Der Rettung seiner Männer auf den Elefanteninseln opferte er seine Gesundheit. Sein Körper hat sich nie wieder von den erlittenen Strapazen erholt. Er starb bei seiner nächsten Expedition in Stromness, wo er auch begraben wurde. Anfang dieses Jahrhunderts griffen Management-Berater Shackletons Methoden der Menschenführung und Mitarbeitermotivation auf. Ein Buch über seine Führungskunst avancierte zum Bestseller.

Unser Schiff folgt der legendären Route Shackletons von der Elefanteninsel nach Südgeorgien. Zufällig haben wir ähnliche Wetterbedingungen, über 48 Stunden bei Windstärke 8-9. Das Schiff stampft und rollt. Das Deck ist für Passagiere gesperrt. Die meisten liegen seekrank auf ihren Kabinen. Ich betrachte die bis zu zwölf Meter hohen Wellen und versuche ich mir vorzustellen, wie sich eine Überfahrt bei diesem Wetter in einem kleinen Boot anfühlt, praktisch unter freiem Himmel, nur von einer Plane vor der hereinbrechenden See geschützt. Meine Fantasie versagt. Ende der Neunziger wollte der Abenteurer Arved Fuchs auf der nachgebauten „James Caird“, wie Shackletons Rettungsboot damals hieß, dieselbe Strecke zurücklegen. Weil aber Windstärke (8-9) herrschte, so wie damals bei Shackleton, verzichtete er schließlich darauf - obwohl ungleich besser ausgerüstet, weil mit passender Kleidung und GPS versehen. Man kann darin ein Symbol unserer Zeit sehen.

27. März 2007

Kurz bevor wir die Falklandinseln erreichen, lässt der Sturm nach. Das ist wichtig, denn an der schwierigen Einfahrt nach Port Stanley sind schon mehrere Passagierschiffe gescheitert. Bei vielen Passagieren gelang es nicht, sie aus den sinkenden Schiffen zu retten. Dabei scheint das Land greifbar nahe. Unser Schiff hat zum Glück keinerlei Probleme. Uns hält nach der Anlandung eher die Hafenbehörde auf. Schließlich dürfen wir raus und haben nach drei stürmischen Tagen auf See wieder festen Boden unter den Füßen.

Wir verzichten auf den Shuttle-Service und laufen stattdessen in die Stadt. Sobald wir die ersten Häuser von Stanley erreichen, machen wir eine interessante Beobachtung. Ganze Viertel scheinen in letzter Zeit erbaut worden zu sein. Keines der Häuser hat einen angelegten Garten. Das kann bei den Briten nur heißen, dass dafür noch keine Zeit war. Tatsächlich entdecken wir zwischen den schon bewohnten Häusern immer wieder erschlossene aber noch unbebaute Grundstücke. Es sieht nach aktiver Siedlungspolitik der britischen Regierung aus. Tatsächlich erfahre ich später, dass die Grundstücke für je 100 000 Pfund vom Staat erschlossen und für 5.000 Pfund an Neusiedler verkauft wurden. Warum dieser Aufwand?

Die Falklandinseln haben eine wechselvolle Geschichte zwischen den Machtansprüchen von England, Frankreich, Spanien und Argentinien erlebt. Seit 1833 befanden sich die Inseln endgültig unter britischer Hoheit. Allerdings verloren die Falklands hundert Jahre später, nach der Eröffnung des Panamakanals ihre Bedeutung als Station an der einzigen Handelsroute zwischen Atlantik und Pazifik. Prompt gerieten sie in Vergessenheit und wurden auch im Mutterland immer mehr als Belastung empfunden. Von daher wollten die Briten dem Vorhaben der UNO zustimmen, die Falklands an Argentinien zu übergeben. Überraschend beschloss die argentinische Militärjunta Anfang der achtziger Jahre, sich gewaltsam zu nehmen, was ihr über kurz oder lang ohnehin zugefallen wäre. In einer Nacht-, und Nebelaktion besetzten sie 1982 die Inseln. Noch überraschender war, dass die britische Regierungschefin Thatcher sich zur Rückeroberung entschloss. Selbst ihr Freund Reagan konnte nicht verstehen, warum Maggie die paar „barren rocks“ nicht einfach gehen ließ. Vielleicht hatte Thatcher ähnliche Beweggründe wie die Portugiesen beim Streit um den Vertrag von Tordesillas: Im Zeitalter der Entdeckungen zog Papst Alexander VI in der Mitte des Atlantischen Ozeans eine Linie. Alle Entdeckungen östlich dieser Linie sollten Portugal gehören, alle westlich davon den Spaniern. Die Portugiesen protestierten solange, bis der Papst die Linie verschob. Das zehn Jahre später entdeckte Brasilien fiel nun Portugal zu.

Unbemerkt von der Öffentlichkeit hatte Exon Mobile 1981 um die Falklands herum Probebohrungen auf der Suche nach Öl aufgenommen. In Zeiten billigen Öls interessierte man sich nicht sonderlich für die Ergebnisse. Als die Bohrungen Ende der neunziger Jahre wieder aufgenommen wurden und man auf die zweitergiebigste Ölquelle der Welt stieß, sah das ganz anders aus.

Seitdem haben vier große Erdölkonzerne Bohrlizenzen erhalten. Wie es scheint hat Thatchers entschlossener Gegenangriff nicht nur der argentinischen Militärjunta den Todesstoß versetzt, sondern auch der westlichen Welt bedeutende Ölvorkommen gesichert, die sich nicht im Einflussgebiet von Diktatoren befinden. Es ist kaum anzunehmen, dass der Zeitgeist ihr dieses Verdienst anrechnen wird.

Die argentinischen Militärs haben auf den Falklands grausame Spuren hinterlassen. Rings um Stanley befinden sich mehr als 30 000 Landminen einer besonders heimtückischen Art. Sie sind aus Plastik gefertigt und sind deshalb für Minensuchgeräte unsichtbar. Etliche Minen sind durch die Bodenbewegungen gewandert und teilweise ins Meer gelangt. Die betroffenen Gebiete sind großräumig abgesperrt. Schilder trösten die Besucher mit dem Hinweis, dass sich Fauna und Flora der Sperrzonen wenigstens ungestört entwickeln könnten. Ich habe keine Freude an diesem Argument, denn es klingt fatal danach, als wäre die Erde ohne den Menschen besser dran. Dabei ist mir im Anbetracht der traumhaft schönen Yorkbucht klar, dass die Schönheiten der Welt vor allem einen Wert haben, weil Menschen sie betrachten und genießen können.

Wunderbares Israel

31. Oktober 2007

Reisen nach Israel sind etwas Besonderes, das wird spätestens am Frankfurter Flughafen klar. Vor dem Schalter von El- Al staut sich eine lange Menschenschlange. Alle Passagiere müssen durch eine spezielle Sicherheitskontrolle. Bei mir ist sie allerdings ziemlich kurz. Die blutjunge Kontrolleurin findet beim Blättern in meinem Pass einen ungewöhnlichen Stempel. Sie bekommt sofort glänzende Augen: „Oh, sie waren in der Antarktis!“ Das macht mich unverdächtig. Sie hat keine Fragen mehr an mich. Ich muss nicht mal meinen Koffer öffnen.

Die Maschine steht auf äußerster Außenposition, bewacht von einem Panzerwagen. Als wir zur Startbahn rollen, fährt der Panzerwagen mit. Später sehe ich auf der anderen Seite noch einen Zweiten. Erst als das Flugzeug abhebt, fahren sie zurück. Ein bisschen Krieg, mitten im Frieden.

Bei unserer Landung in Tel Aviv ist es schon dunkel. Wir fahren gleich weiter zum See Genezareth, durch die geschichtsträchtige Sharon-Ebene, vorbei an Nazareth, dem Berg Tabor und Yardenit, der Taufstelle Johannes des Täufers. Unser Ziel ist der Kibbuz Deganya Bet, unsere Heimstatt für die nächsten drei Tage. Der Kibbuz wurde bereits 1920 als einer der ersten im Jordantal gegründet. Sein Name ist abgeleitet von einer der sieben biblischen Pflanzen, mit denen das Land Israel gesegnet ist, dem Korn. Auch heute spielt Landwirtschaft noch eine wichtige Rolle, auch wenn es längst nicht mehr die alleinige Lebensgrundlage der Gemeinschaft ist. Die Sicherheitsanlagen, hinter denen sich der Kibbuz bis vor wenigen Jahrzehnten verschanzen musste, weisen inzwischen deutliche Verfallsspuren auf. Auf der Zufahrtsstraße steht rechts ein ausgebrannter syrischer Panzer. Bis hierher hatten es die Syrer im Krieg 1948 geschafft. Heute ist das einstmals so tödliche Fahrzeug mit den Ketten tief im Sand versunken und hat alles Bedrohliche verloren.

Der Kibbuz sieht ziemlich verschlissen aus, als hätte er seine besten Tage längst hinter sich. So ist es auch. Die Geschichte der Kibbuzim beweist, dass die sozialistische Idee auf Dauer nicht funktioniert, selbst wenn sie auf Freiwilligkeit beruht. Das Beste an diesem Sozialismus ist, dass man ihm jederzeit den Rücken kehren kann. Wer geblieben ist, hat sich offenbar auf ein beschauliches Leben in eher bescheidenen Verhältnissen eingerichtet. Man bekommt schmackhaftes Essen im nüchternen Speisesaal, für die Kinder gibt es Krippe und Kindergarten, die mit allem möbliert sind, was anderswo überflüssig geworden ist. Die Wäsche gibt man morgens in der Wäscherei ab, abends bekommt man sie gebügelt und gefaltet zurück. Wer das nicht will, kann die Waschmaschine vor der Haustür nutzen. In die kleinen Räume im Haus passt das Gerät nicht hinein. Die Touristen leben mitten unter den Kibbuzniks, denn die Gästezimmer liegen direkt im Wohnviertel. Wer hierher kommt, lässt sich vom einfachen Ambiente nicht schrecken, sondern schätzt die preiswerte Nähe des Sees Genezareth.

Hier ist biblisches Land. Am Morgen fahren wir als erstes zum Ort der Bergpredigt. Davon gibt es mehrere. Unser Guide Chajim führt uns vor, warum er fest daran glaubt, dass wir am Richtigen sind. Unterhalb des Plateaus, auf dem Jesus gestanden haben soll, liegt ein Feld, das gut tausenden Menschen Platz bietet. Von hier aus wirkt die Anhöhe wie eine natürliche Bühne. Chajim hat einmal die Probe aufs Exempel gemacht und von hier zu einer Gruppe von hundert Personen gesprochen. Jedes seiner Worte war gut zu hören. Ich darf meinen Reisegefährten am historischen Ort die Bergpredigt vortragen. Es ist der Bibeltext, den ich am häufigsten gelesen habe, vor allem in den achtziger Jahren, als wir die Worte der Staatsmacht der DDR entgegenhielten. In dieser Umgebung wirkt der Text, als läse ich ihn zum ersten Mal.

Wir wandern eine kleine Weile durch die Gluthitze Galiläas. Das Land und der See zu unseren Füßen sehen aus wie zu Jesus Zeiten - von ein paar modernen Eiterpickeln abgesehen. Wir erreichen einen Ort, der einen atemberaubenden Ausblick bietet. Hier ist allmählich eine Art Volkskirche entstanden. Erst hat ein Mann, der dies zu seinem Lieblingsmeditationsort erkoren hatte, Schatten spendende Bäume gepflanzt, die heute ein großes Laubdach bilden. Andere haben Steine zum Sitzen im Kreis angeordnet. Schließlich kam ein Altar dazu und neuestens ein in Stein gehauenes Heiligenbildnis. Nicht weit von dieser Stelle hat ein Benediktinermönch eine Höhle aus biblischen Zeiten wiederentdeckt. Inzwischen ist sie frei gelegt und passenderweise mit einem Christusdorn bewachsen. Sobald man darin sitzt, weiß man, warum im sonnendurchglühten Galiläa solche kühlen Zufluchtsstätten lebensnotwendig waren.

An unseren nächsten Stationen, Kapernaum, wo Jesus zeitweilig lebte, und Tabgha, dem Ort der wunderbaren Brotvermehrung, treffen wir erstmals auf die zahlreichen Ausgrabungen, um die sich Israel so verdient gemacht hat. In Kapernaum haben die Archäologen nicht nur das Haus des Petrus freigelegt, sondern ganze Wohnviertel, die Kirche und die prächtige Synagoge. Für die Wohlhabenheit seiner ehemaligen Bewohner spricht, dass sie diese Synagoge nicht aus preiswertem örtlichen, dunklen Basalt, sondern aus hellem, eigens herangeschafften Sandstein errichtet haben. Als die Moslems Galiläa später eroberten, benutzten sie den Vorraum der Kirche als Spielsaal. Auf den Boden eingeritzt finden sich ein Mühle-Spiel und zwei Brettspiele, die die Nomaden noch heute spielen.

In Tabgha besichtigen wir ein wiederentdecktes Mosaik aus Jesus Zeiten. Eigentlich war es schon Ende des 19. Jahrhunderts von Benediktinermönchen gefunden worden. Unter der damaligen muslimischen Herrschaft bedeutete solch ein Fund, der vom vormuslimischen Leben in der Region zeugte, die Todesstrafe. Also verbargen die Mönche ihre Entdeckung, und fertigten lediglich eine geheime Aufzeichnung darüber an. Erst 1932 wurde das Mosaik freigelegt und später mit einer hübschen Basilika überbaut. Die Mosaiken bilden die Fauna und Flora der Region und des Nildeltas ab. Der bekannteste Teil zeigt die Symbole der wunderbaren Brotvermehrung: zwei Fische und einen Brotkorb. Man schaut mit Rührung und Faszination auf diese naiven Arbeiten längst zu Staub zerfallener Künstler, die 1900 Jahre vergessen waren. Etwas von dem Leben dieser unbekannten Vorfahren teilt sich uns mit, als würde ein längst zerrissenes Band wieder geknüpft.

Als Abschluss dieses Tages fahren wir mit dem so genannten Jesus-Boot auf dem See. Der Kibbuz Ginosar, von dem wir ablegen, besitzt zwei Nachbauten von Booten aus Jesus Zeiten. Vom Wasser aus sehen wir alle Orte, die wir tagsüber besucht haben. Sogar die Höhle mit dem Christusdorn ist gut sichtbar, als wäre sie nicht fast zweitausend Jahre verborgen gewesen. Langsam weicht die gleißende Helligkeit der Sonne einer sanfteren Tönung.

Über die Golan-Höhen legt sich ein leuchtender, altrosafarbener Schleier. Die Berge sehen aus, als wäre noch nie etwas Böses von ihnen ausgegangen. Die Zeiten, in denen die Syrer von oben in das Land und auf den See geschossen haben, scheinen weiter zurück zu liegen als jene, in denen Jesus und seine Jünger hier umherwanderten.

Am nächsten Tag sollten wir erfahren, welche blutigen Kämpfe bis in die jüngste Zeit in dieser idyllischen Landschaft getobt haben.

02. November 2007

Auf dem Weg zu den Golanhöhen kommen wir am 1937 gegründeten Kibbuz En Gev vorbei. Der spätere Bürgermeister von Jerusalem Teddy Kollek lebte hier. Vor dem Sechstagekrieg 1967 lag der Kibbuz unter ständig wiederkehrendem Beschuss der Syrer. Mal waren die Menschen, die auf den Feldern die Ernte einbrachten, das Ziel, mal die Kinder auf dem Weg zur Schule. Anfangs brachte man die Kinder nach Beginn jeder Schießerei in die Bunker in Sicherheit, dann entschloss sich der Kibbuz, die Kinder dauerhaft im Bunker zu belassen.

Es gab mehrere Jahrgänge von „Bunkerkindern“, die wegen der ständigen Lebensgefahr nur selten ans Tageslicht durften. Erst mit der Eroberung der Golanhöhen durch Israel endete der Spuk. Israel annektierte die Golanhöhen. Das hatte nicht nur positive Folgen für die Sicherheit der Bewohner am Nordufer des Sees Genezareth, sondern das Land erhielt seine vergessene Geschichte zurück. Schon 1968 fand eine gründliche Erforschung der Umwelt und der Archäologie der Golanhöhen durch die Jewish Agency und die Naturschutzbehörde statt. Dabei entdeckte Yitzhaki Gal die alte Festungsstadt Gamla, die am Jüdischen Aufstand gegen die Römer im Jahre 66 beteiligt war. Unter dem Kommando von Josephus Flavius widerstand die Stadt insgesamt drei Eroberungsversuchen. Schließlich fiel sie an Vespasian, der sie derart zerstören ließ, dass niemand sie je wiederaufgebaut hat. Für 1900 Jahre geriet der Ort in Vergessenheit, sodass man nicht mehr wusste, wo sich die Stadt befunden hatte. Gal fand sie nach gründlichem Studium der Schriften von Flavius und ließ sie frei legen. Die Große Synagoge der Stadt ist eine der ältesten in Israel.

Wer heute wie einst die Römer auf dem Berg steht und auf die Stadt herabblickt, kann sich nicht vorstellen, dass diese imposanten Gemäuer verschwunden gewesen waren. Heute kann man sogar die tausenden Steinkugeln bestaunen, die römische Legionäre hier einst abgefeuert haben, oder man findet eine der unzähligen Pfeilspitzen und Nägel, die beim Sturm auf die Mauern zum Einsatz gekommen sind.

Etwa eine halbe Stunde nach Gamla in Richtung Norden passieren wir eine ehemals syrischen Stadt. Hier lag das Hauptquartier der DDR-Offiziere, die Syrien in seinen Kriegen gegen Israel tatkräftig unterstützt haben. Da die Nationale Volksarmee der DDR teilweise von alten Wehrmachtskadern aufgebaut wurde, stellt sich die Frage, wie viele dieser „Berater“ schon zwanzig Jahre früher die Vernichtung von Juden unterstützt hatten. Heute ist dieses düstere Kapitel der DDR-Geschichte vergessen. Da die Vereinigung von NVA und Bundeswehr problemlos über die Bühne ging, steht zu befürchten, dass sich der eine oder andere „Berater“ noch im Dienst befindet.

Unser letztes Ziel an diesem Tag ist der Tel Dan-Naturpark. Das Quellgebiet des Dan ist eine der drei Quellen, aus denen sich der Jordan speist. Bis zum Sechstagekrieg war es die einzige Jordanquelle in israelischer Hand. Lange stritten sich die Naturschützer mit den Wasserversorgern, an welcher Stelle der Dan für die Wasserversorgung des Landes angezapft werden dürfte. Die Naturschützer setzten sich durch und das Quellgebiet blieb unbeeinträchtigt. Sehr zur Freude aller Besucher. Aber nicht nur die üppige Vegetation ist einen Ausflug wert, sondern wiederum die Ausgrabungen. Israelische Archäologen fanden unter der Leitung von Prof. Biran die alte Stadt Dan, deren Anfänge bis zum Jahr 5000 v.Chr. zurückreichen. Später wurde die Stadt unter dem Namen Laish bekannt. Hier findet sich mit dem Kanaanitischen Tor der Beweis, dass jüdische Baumeister schon 1500 Jahre vor den Römern die Kunst beherrschten, Rundbögen zu mauern. Die Stadt lag fünf Meter unter der Erde, heute kann man wieder durch einen Teil ihrer Straßen gehen oder wie einst der König am Israelischen Tor sitzen, um zu schauen, welche Besucher sich die Ehre geben.

Mehr als zwei Drittel der Stadt liegen noch unter einem Wäldchen verborgen. Die Israelis wollen den Archäologen der Zukunft genug zu hinterlassen; möglicherweise können diese mit verbesserten Ausgrabungsmethoden Erkenntnisse gewinnen, die uns heute noch verschlossen sind. Oberhalb von Dan haben Archäologen eine Große Opferstätte freigelegt, die bis in die Römische Zeit benutzt wurde. Wenn man dann dem Hinweisschild folgt, das eine schöne Aussicht verspricht, stößt man wieder auf die Schwierigkeiten, mit denen Israel seit seinem ersten Tag zu kämpfen hat. Auf halbem Wege muss man entscheiden, ob man den Aussichtspunkt über einen Waldweg, oder durch eine Schützengraben-, und Bunkeranlage erreichen will. Ich entscheide mich für zweiteres, laufe durch die Schützengräben, wie vor nicht allzu langer Zeit die Soldaten, die hier die Grenze vor den Syrern verteidigten. Im Bunker finde ich noch die Halterung für das MG, dahinter in einem kleinen Unterstand zwei Betonbetten für die Soldaten der Freiwache. Der Blick durch die Schießscharte ist atemberaubend. Alles sieht ganz friedlich aus. Nur wenn man genauer hinguckt, erspäht man den ausgebrannten syrischen Panzer, dessen Fahrt die Soldaten vermutlich von dieser Stelle aus gestoppt haben. Weiter hinten der Wachturm an der syrischen Grenze. Wie viel Mut und Entschlossenheit jeden Tag aufs Neue den Israelis abverlangt wird, um ihr Land zu verteidigen. Hier ist im Augenblick alles still, aber anderswo stehen Orte des Landes unter täglichem Raketenbeschuss der Hamas, ohne dass dies die Weltöffentlichkeit zur Kenntnis nimmt. Am nächsten Tag führt mir mein Besuch im Palästinensischen Autonomiegebiet drastisch vor Augen, wie weit der Frieden noch entfernt ist.

05. November 2007