Ich wollte frei sein - Vera Lengsfeld - E-Book

Ich wollte frei sein E-Book

Vera Lengsfeld

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Beschreibung

Stasi-Tochter, Dissidentin, Politikerin: Drei Leben sind es, die Vera Lengsfeld in sich vereint. Als Tochter eines Stasi-Offiziers wird sie ganz im Sinne des SED-Regimes erzogen. Doch früh schleichen sich bei ihr Zweifel am System ein. Als junge Erwachsene zieht sie die Konsequenz und engagiert sich in der Bürgerrechtsbewegung, wofür sie mit Berufsverbot, Verhaftung und letztlich Ausweisung bestraft wird. Nach dem Fall der Mauer kehrt die Dissidentin Lengsfeld in ihre Heimat zurück und startet ihre Karriere als Politikerin und Verfechterin freiheitlicher Demokratie. Umso schmerzlicher trifft sie die Nachricht, dass ausgerechnet ihr Ehemann sie jahrelang bespitzelt haben soll. Eine Biografie voller Brüche - und doch geradlinig. Komplett überarbeitete Neuauflage von "Von nun an ging's bergauf. Mein Weg zur Freiheit"

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Seitenzahl: 446

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VERA LENGSFELD

Ich wollte frei sein

Die Mauer, die Stasi,die Revolution

Mit 19 Abbildungen

HERBiG

Bildnachweis Alle Abbildungen aus dem Archiv der Autorin, außer Bild 12: Thomas Grimm Alle Zitate aus den Stasiakten sind den Vera Lengsfeld betreffenden Operativvorgängen »Virus« und »Heuchler« entnommen.

Für meine Söhne und Enkel

Besuchen Sie uns im Internet unter

www.herbig-verlag.de

© für die Originalausgabe: 2011 F.A. Herbig

Inhalt

Vorwort

Jugend im realen Sozialismus

Kindheit und Jugend in Berlin

Reise in die Sowjetunion

Erste Zweifel am System

»Informantin Lengsfeld«

Studium in Leipzig

Wieder in Berlin

In Dissidentenkreisen

Ein Brief an Erich Honecker

»Überspitzungen«

Parteiverfahren

»Friedenskreis Pankow«

Staatssicherheit

Parteiausschluss

Kirche und Opposition

Reise in den Westen

Kirche von unten

Luxemburg-Demo

Verhaftung

Verhandlungen

Ausreise

Volkskammer und Bundestag

Ossietzky-Affäre

Cambridge

Die Droge Freiheit

Mauerfall

In der letzten Volkskammer

Im Bundestag

Die Stasiakten

Konsequenzen

Nachwort

Lesetipp

Vorwort

Ich bin ein Mauerkind. Ich kam auf die Welt, als Deutschland noch geteilt und ein Stück sozialistisch war. Ich habe die erste Hälfte meines Lebens in einer geschlossenen Gesellschaft verbracht, aus der es kaum ein Entrinnen gab, nachdem die Grenze dichtgemacht worden war. Das hat nicht nur mich, sondern Generationen geprägt. Jeder DDR-Bürger musste sich zur Mauer verhalten, sein Leben innerhalb der von ihr gesteckten Grenzen, also im Sozialismus, einrichten. Die Reaktionen darauf waren vielfältig: Wut, Trauer, Rebellion, Akzeptanz, Apologie, Anpassung, Resignation, in den unterschiedlichsten Mischungen. Eine Gewissheit war allen gemeinsam: Die Mauer würde noch Jahrzehnte der bestimmende Faktor für alle Insassen des größten Gefängnisses der Welt bleiben.

Wer diesen Gedanken nicht ertragen konnte, versuchte zu fliehen. Wer die Flucht nicht wagte, suchte sich eine Nische, in der Hoffnung, dort die Mauer ignorieren zu können. Wer sich nicht mit einem Nischendasein abfinden wollte, musste kämpfen. Ich gehöre zu den Kämpfern. Ich wollte frei sein. Wenigstens so frei, wie es unter den Umständen möglich war.

Die Umstände waren betonhart. Meine Generation wuchs auf, ohne eine offene Gesellschaft kennengelernt zu haben. Die Welt draußen schien weiter entfernt zu sein als der Mond, den man in wolkenfreien Nächten zuverlässig erleben konnte. Die Welt außerhalb der Mauer war für uns nicht erfahrbar. Der Sozialismus und die Mauer schienen alternativlos zu sein.

Doch die Machthaber wussten von Anfang an, dass die »sozialistische Menschengemeinschaft« nur mit Druck und Zwang zusammengehalten werden konnte. Sie schufen sich mit der Staatssicherheit als »Schild und Schwert« einen der mächtigsten Unterdrückungsapparate der Welt. Die Stasi ließ die Bevölkerung nicht nur bespitzeln und scheute dabei nicht davor zurück, Ehepaare, Eltern und Kinder, Freunde und Nachbarn aufeinanderzuhetzen. Sie entwickelte in »Zersetzungsplänen« Szenarien, wie missliebige Personen »unschädlich« gemacht werden konnten. In manchen Fällen gingen die Planungen bis hin zum Mord.

Die Stasi war neben der Mauer der wichtigste Garant für die Existenz der DDR. Sie galt als der erfolgreichste Geheimdienst der Welt. Mit ihrer Hilfe sollte Ruhe hergestellt und gesichert werden. Doch der äußere Schein trog. Unter der befriedeten Oberfläche hat es in der DDR-Gesellschaft immer gebrodelt. Es gab Opposition gegen diesen Staat seit er gegründet worden war. Zu Beginn durch isolierte kleine Zirkel, die den Sozialismus verbessern wollten, später, in den Siebzigerjahren durch offene Diskussionen auf literarischen Veranstaltungen in Kulturhäusern und Jugendklubs, schließlich in den Achtzigerjahren, durch die kirchlichen Oppositionsgruppen.

Am Ende war das wöchentliche »Montagsgebet« in der Nikolaikirche der Ausgangspunkt für die Montagsdemonstrationen, die sich von Leipzig aus wie ein Flächenbrand über die ganze DDR ausbreiteten und innerhalb von wenigen Wochen die Mauer zum Einsturz und schließlich die DDR zum Verschwinden brachten. Die Bürgerrechtsbewegung der DDR machte die Revolution, die den Deutschen niemand zugetraut hatte.

Bekanntlich war das erst der Anfang. Nach der DDR kollabierte der größte Teil des kommunistischen Systems. Eine bis an die Zähne atomar bewaffnete Macht trat fast widerstandslos von der historischen Bühne, hinterließ eine grundlegend veränderte Welt und die Frage, was für eine Gesellschaft es eigentlich gewesen ist, die 40 Jahre lang die Welt und das Schicksal der in ihr lebenden Menschen prägte.

Ich erzähle vom Leben in der DDR, wie ich es erlebt habe. Wie aus der Tochter eines Stasioffiziers eine Widerstandskämpferin gegen das System werden konnte und warum wir am Ende siegreich waren. Ich beantworte die Frage, warum die DDR ein Unrechtsstaat war und dennoch nach dem Fall der Mauer als Schimäre wie Phönix aus der Asche steigen konnte, als angebliche Alternative zu den Fehlern und Mängeln in der offenen Gesellschaft.

Die notorische Behauptung aller DDR-Nostalgiker lautet: »Es war nicht alles schlecht in der DDR.« Das stimmt. Denn es gab uns Bürgerrechtler. Wir waren das Beste, was die DDR je zu bieten hatte. Überzeugen Sie sich selbst!

Jugend im realen Sozialismus

Als ich am 4. Mai 1952 in Sondershausen/Thüringen zur Welt kam, war ich für das Leben, das mich erwartete, bestens gerüstet. Ich hatte schon im Mutterleib erfahren, dass man selbst in scheinbar aussichtslosen Situationen nicht aufgeben darf.

Während meine Mutter mit mir schwanger war, erkrankte mein Vater lebensgefährlich an Wirbelsäulentuberkulose. Eine Operation, die ihn retten sollte, ging schief. Er starb den klinischen Tod, wurde wiederbelebt und zum Sterben in eine Besenkammer geschoben. Meine Mutter fand ihn dort, setzte durch, dass er wieder Medikamente bekam und weiter behandelt wurde. Obwohl mein Vater nach ärztlicher Prognose für den Rest seines Lebens an sein Gipsbett gefesselt bleiben sollte, gelang es ihm mithilfe meiner Mutter, seine Rückenmuskeln so zu trainieren, dass er schließlich wieder gehen und ein normales Leben führen konnte.

Ich habe wenig von der kühlen Eleganz meiner Mutter, umso mehr von der unbändigen Lebenslust meines Vaters, den starken Willen der Männer meiner Familie, der die Anlage zum Unglück, der sich bei den Frauen findet, dämpft.

Meine Eltern hatten kaum Neigung, sich mit mir abzugeben. Sie bezogen endlich ihre erste eigene Wohnung und genossen ihr neu gewonnenes Leben. Für mich war das ein Glück, denn ich kam in die Obhut meiner Großmutter Ella. So wuchs ich die ersten knapp sechs Jahre meines Leben als behütetes, verhätscheltes Kind in einem riesigen verwunschenen Garten auf, mit einer Großmutter, die all ihre Liebe großzügig an ihre Enkel verschwendete. Dass mein Großvater Franz sich in meine Großmutter Frieda verguckt hat, wird verständlich, wenn man ihr Bild sieht. Sie hatte unglaublich lange schwarze Haare, die sie zu Zöpfen geflochten und kunstvoll aufgesteckt trug, dunkle lebhafte Augen und einen Porzellanteint. Sie waren sich ein Leben lang treu. Ob sie auch glücklich waren, bezweifle ich manchmal. Mein Großvater war zu kühl, zu zurückhaltend für ihr warmherziges Temperament. Sie hatten immer wieder mit der Armut zu kämpfen und mussten oft, bedingt durch den Beruf meines Großvaters als Bergmann, voneinander getrennt leben.

Der war der Tradition seiner Familie treu geblieben. Etwas anderes als das Bergwerk ist für ihn nie infrage gekommen. In den Zwanzigerjahren musste er sich und seine Familie allerdings durch Gelegenheitsjobs ernähren, weil er als Bergmann keine Arbeit fand. In dieser Zeit hat die kleine Familie oft gehungert. Kurz nach der Machtergreifung der Nazis bekam mein Großvater endlich Arbeit; ein ausscheidender Bergmann bestimmte ihn zu seinem Nachfolger. Der Preis dafür war allerdings sein Eintritt in die NSDAP. Er war über zehn Jahre nicht in der Grube gewesen, wurde aber schon 1936 Sieger des Reichswettbewerbes der Bergleute. Das sagenhafte Preisgeld von 10 000 Reichsmark nutzte er, um mit über 30 Jahren noch ein Studium an der Bergakademie Freiberg aufzunehmen.

Gleich nach dem Studium wurde er Werkleiter des Bergwerkes von Bochnia, im damals sogenannten Generalgouvernement. Zum ersten Mal ging es der Familie auch materiell gut. Meine Mutter hatte sogar ein Reitpferd und erfreute sich an langen Ausritten mit Freunden. Später, in der DDR, war an Reiten für sie nicht mehr zu denken.

Als Leiter des Bergwerkes war mein Großvater auch für die dort beschäftigten Zwangsarbeiter verantwortlich. Zumindest, solange sie in der Grube arbeiteten, im Lager unterstanden sie natürlich der SS. Er setzte in regelrechten Kampfbesäufnissen mit dem Hauptscharführer durch, dass die Zwangsarbeiter anständige Betten und das gleiche Essen wie ihre deutschen Kollegen bekamen.

Einmal hätten sie auf dem Bahnhof eine Deportation beobachtet, erzählte mein Großvater. Als ein SS-Mann einen kleinen Jungen verprügelte, weil er nicht schnell genug einstieg, schritt mein Großvater ein. Er schrie den SS-Mann an und es kam zu einem kurzen Handgemenge, das mein Großvater für sich entschied. Den Stock, den er dem SS-Mann abgenommen hatte, bewahrte er in seinem Büro auf, wo er auch blieb, als mein Großvater es zwei Jahre später fluchtartig verlassen musste. Irgendwelche Folgen hat der Vorfall nicht gehabt, was für mich ein Beispiel dafür ist, dass der Handlungsspielraum, den jeder hat, meistens größer ist, als man glaubt. Was er tat, blieb den Polen nicht verborgen. Noch nach Jahrzehnten bekam mein Großvater Post aus Bochnia. Man schickte ihm Fotos vom »Gerberwald«, den er angelegt hatte. Mein Großvater hat nicht nur Spuren hinterlassen, er hat auch Vertrauen gewonnen. Als die Wehrmacht Bochnia räumen musste, war mein Großvater unter den Letzten, die die Stadt verließen. Seine Familie hatte er längst nach Thüringen geschickt, wo sie ein Bergwerkshaus besaßen, in dem sie Anfang der Dreißigerjahre schon gewohnt hatten. »Wir treffen uns in Sondershausen!«, war die Parole, die ausgegeben worden war. Er konnte nicht mehr sicher sein, ob auch er Thüringen erreichen würde: die Wehrmacht in vollem Rückzug, Transportmöglichkeiten sehr eingeschränkt – wahrscheinlich würde er von der Roten Armee eingeholt werden. Da tauchte am Abend vor der Abreise ein polnischer Bergmann auf, um ihm Lebwohl zu sagen. Als Abschiedsgeschenk überreichte er einen Geleitbrief der polnischen Partisanen, abgefasst in Polnisch und Russisch, den mein Großvater präsentieren sollte, wenn er in Schwierigkeiten geriete. Ein zweischneidiges Geschenk, denn was auf der einen Seite sein Leben retten konnte, würde auf der anderen Seite bei Entdeckung seinen sicheren Tod bedeuten. Ich bedauere sehr, nie die Gelegenheit gehabt zu haben, meinen Großvater nach den Einzelheiten seines abenteuerlichen Fluchtweges befragen zu können. Natürlich hat er auch nie etwas aufgeschrieben. So ist ein Stück Familiengeschichte für immer verloren. Warum sich die Familie meiner Mutter in Sondershausen traf, aber in der Rhön wohnte, als die Amerikaner im Juni 1945 abzogen, kann nur damit zu tun haben, dass mein Großvater zum Schacht in Springen geschickt wurde.

Jedenfalls war der Hausrat fast unversehrt in der Rhön gelandet, einschließlich des Klaviers meiner Mutter, das mühsam durch das enge Treppenhaus in den ersten Stock gehievt wurde. Als die Amerikaner abzogen und die Sowjets einrücken sollten, wurde in diesem Klavier der Familienschmuck versenkt und später einfach vergessen, als man dann beim Auszug das Klavier stehen ließ. Ich kann nur hoffen, dass ihn jemand gefunden hat, der es wert gewesen ist. Das Klavierspiel hat meine Mutter offenbar aufgegeben, als das Instrument zurückgelassen wurde. Als ich viele Jahre später den Wunsch äußerte, Klavier spielen zu lernen, lehnten meine Eltern dies ab mit der Begründung, es handle sich um ein veraltetes bürgerliches Instrument. Folgerichtig hat meine Mutter, solange sie lebte, nie zugegeben, dass sie konnte, was ich so gern gelernt hätte.

Außer meiner Großmutter wohnte noch die jüngste Tante Edda im Haus, zweieinhalb Jahre später kam meine Schwester Evelyn dazu. Diese Frauenidylle wurde nur an den Wochenenden unterbrochen, wenn mein Großvater nach Hause kam. Er war inzwischen Leiter eines Gipswerkes im Harz und schlief während der Woche in einem Kabuff neben seinem Büro.

Natürlich hatten wir Tiere: Hühner, dazu Kaninchen, Katzen, Hunde, zeitweilig sogar ein Schwein, das aber nicht mehr ersetzt wurde, als es gegessen war. Sonntagvormittags wurde ich fein gemacht, mit meinem besten Kleid, und zu meinen Eltern geschickt, die ganz in der Nähe wohnten. Ich ging gern zu ihnen, denn mir gefiel das große Aquarium mit den Goldfischen, das im Wohnzimmer stand. Leider kam ich eines Tages gerade dann, als das Aquarium mit einem singenden Ton barst, das Wasser den Fußboden überschwemmte und die Goldfische auf dem Teppich zappelten. Die Goldfische verschwanden, das Aquarium wurde zu meinem Bedauern nie wieder ersetzt. Sonntagnachmittags kamen meine Eltern dann zum Kaffee trinken und es wurde ausgiebig über die Ereignisse der Woche geplaudert.

Kindheit und Jugend in Berlin

Ich erinnere mich genau an den Nachmittag, an dem angekündigt wurde, dass meine Eltern nach Berlin gehen und meine Schwester und mich mitnehmen würden. Wir jubelten, denn es schien ein riesengroßes Abenteuer zu werden. Eines Tages im Februar 1958 war es dann so weit. Unser Handgepäck wurde im F8 verstaut, dessen stolze Besitzer meine Eltern inzwischen waren, meine Schwester und ich kamen auf den Rücksitz und dann fuhr ich zum ersten Mal die Strecke Sondershausen – Berlin, die ich seither so häufig wie keine andere in meinem Leben gefahren bin. Nach sechs Stunden kamen wir in Berlin-Lichtenberg an. Der Schock, den ich erlebte, ist mir heute noch gegenwärtig. Ich sah mich von ungeheuer hohen Häusern umstellt, fand alles unbeschreiblich grau und schmutzig. Noch Monate später hatte ich die Vorstellung, in einer Stadt ohne Bäume und Tiere zu leben. Vor allem fehlten mir die Vögel, die mich in Sondershausen jeden Morgen mit ihrem Gezwitscher geweckt hatten. So saß ich eines Tages am Fenster meines Zimmers und warf Klopapierblätter in die Luft, die mir die Vögel ersetzen sollten. Eine empörte Nachbarin hatte gar kein Verständnis für meine Bedürfnisse und sorgte dafür, dass meine Mutter mir strikt verbot, noch einmal eigenmächtig für die Belebung der Steinwüste sorgen zu wollen. Das Haus in Lichtenberg, das wir beziehen sollten, war gerade fertiggebaut worden. Es war Teil eines Ensembles, das für Armeeangehörige errichtet worden war. Der Boden war schlammig und voller Pfützen. Springend versuchten wir einigermaßen trockenen Fußes unseren Hauseingang zu erreichen. Herumstehende Kinder kommentierten unsere Bemühungen mit Bemerkungen, die ich nicht verstand. Unsere Wohnung war im dritten Stock, hatte drei Zimmer, eine kleine Küche, einen Balkon und ein Bad, was mir als unglaublicher Luxus erschien. Im großelterlichen Haus mussten wir Wasser in Eimern herbeischleppen, wobei ich mich immer mit einer Milchkanne beteiligte, in einem großen Topf erwärmen und konnten dann in einer Zinkbadewanne baden. Nun kam warmes Wasser aus der Wand, die Wohnung hatte auch keine Öfen. Das Zimmer, das meine Schwester und ich bekamen, war das kleinste in der Wohnung, aber es war das erste eigene Zimmer, das wir besaßen. Der große Vorteil meiner neuen Lebensumstände waren die vielen Spielgefährten. Alle Familien, die in die neuen Blocks einzogen, hatten Kinder in etwa dem gleichen Alter. In jeder Wohnung wohnten mindestens zwei Kinder – ein wunderbares Potenzial für Bandenspiele aller Art. Was uns zusätzlich zusammenschweißte, war der Umstand, dass die Kinder der alteingesessenen Familien auf der anderen Seite des Platzes nicht mit uns spielten. Sie benutzten nicht einmal den großen Spielplatz in der Mitte des Platzes, der angelegt wurde, nachdem die letzten Bauarbeiten beendet waren. Wir machten uns keine Gedanken darüber, sondern hatten aneinander genug. Bald beherrschten wir den ganzen Platz und mit unseren Rollschuhen auch die umliegenden Straßen.

Ich kam später doch mit einem Mädchen von der anderen Straßenseite in Kontakt. Das war, als ich ab der dritten Klasse eine Russisch-Spezialschule in Berlin-Karlshorst besuchte. Ich musste jeden Morgen bis zum U-Bahnhof Stalinallee laufen, von dort bis U-Bahnhof Lichtenberg fahren und dann die Straßenbahn nehmen. Mein Vater fuhr mit der S-Bahn nach Berlin-Schöneweide, wo er in der Schnellerstraße im Ministerium für Verteidigung Dienst tat. Es ergab sich, dass wir bald den Weg gemeinsam mit Vater und Tochter aus dem Haus gegenüber zurücklegten. Beide fuhren nach Westberlin. Der Vater zur Arbeit, das Mädchen zur Schule. Was sie mir vom Unterricht in ihrer Schule erzählte, fand ich unglaublich reaktionär: nur Mädchen in der Klasse, Religionsunterricht, Hauswirtschaft. Warum tat sie sich so etwas an? Es gab dort keine Pioniere, keinen Hort und keine Arbeitsgemeinschaften. Was machte sie nachmittags? Und wieso fuhr sie freiwillig nach Westberlin, das doch eine Verbrecherhochburg war und wo man auf Schritt und Tritt Gefahr lief, von früheren Kriegstreibern ermordet zu werden?

Meine Eltern fuhren nie nach Westberlin und so blieb viel Raum für meine Fantasien. Natürlich kam ich manchmal ins Grübeln, wenn mir beim Steckbildertauschen die »Glitzernden« und »Echt-Lack«-Steckbilder von »drüben« unter die Augen kamen. Ich begehrte diese Bildchen, die im Westen wohl Stammbuchbilder hießen, heftig und tauschte mir nach und nach viele ein. Obwohl ich für ein »Glitzerndes« zehn Oststeckbilder hergeben musste. Das war in etwa der Kurs, den die DDR am Ende ihrer Tage bei ihrem Geld erreichte.

Eines Tages wartete ich vergeblich auf meine Schulgefährtin. Auch ihr Vater kam nicht. Sollten sie beide krank sein? Sie blieben für immer weg. Nach ein paar Tagen fand ich beim Nachhausekommen auf der Straße Möbel, Geschirr, Bücher. Da wusste ich, dass sie »abgehauen« waren. Ich nahm mir ein paar Bücher aus dem Haufen. Meine umfangreiche Kinderbibliothek stammte zum Teil von solchen Gelegenheiten. Es war damals üblich, den Hausrat von »Abgehauenen« einfach an den Straßenrand zu stellen. Kurze Zeit später war das Entsorgungsproblem gelöst. In meiner Klasse kamen solche »Abgänge« nicht vor. Die Eltern meiner Klassenkameraden waren alle in der SED, mit Ausnahme des Vaters von unserem Klassensternchen Monika, der im Vorstand der Bauernpartei war, was mir sehr exotisch vorkam.

Der Schulalltag war streng geregelt, regelmäßige Fahnenappelle, die ich besonders hasste, wenn sie vor der ersten Stunde stattfanden. Bei diesen Appellen wurde ritualisiert der DDR die Treue geschworen und gelobt, den Aufbau des Sozialismus mit ganzer Kraft zu unterstützen. Bevor die Reden losgingen, musste jede Klasse Meldung machen. Dabei mussten wir stillstehen und die Augen nach links richten, bis die Meldung beendet war und wir uns »rühren« durften. Beim Flaggenhissen waren wieder Stillstehen und Pioniergruß angesagt. Das Ganze zog sich oft über eine halbe Stunde hin, was im Winter besonders unangenehm war. Bei den Appellen erfuhren wir von den Sputniks, die von der UdSSR ins All geschickt wurden, von den Machenschaften der Klassenfeinde, stets verbunden mit Mahnungen zur Wachsamkeit, und von den Ergüssen der Partei- und Staatsführung. Auch der Unterricht wurde immer mit Stillstehen und einer Meldung begonnen. Natürlich wurden wir auch hier indoktriniert, wobei ich aber keinen Lehrer als besonders eifrig in Erinnerung habe. Als wir noch jünger waren, verstanden wir oft nicht, was mit gewissen Floskeln eigentlich gemeint war. So malte einmal meine Freundin Gabi nach einer Belehrung, dass wir den RIAS-Enten, gemeint waren die Nachrichten des Rundfunks im amerikanischen Sektor, auf keinen Fall auf den Leim gehen sollten, einen hübschen Teich mit Seerosen und niedlichen Entchen und schrieb eine Verpflichtung dazu, Entchen niemals etwas zu tun. Unsere Pionierpflichten sahen wir eher als Spiel an, bei den theoretischen Nachmittagen trieben wir allerlei Blödsinn, um der Langeweile zu entgehen. Dabei waren wir durchaus klassenbewusst: Unsere Spiele organisierten wir als »RMT« (»Rot-Mädchen-Trupp«) und »RJT« (»Rot-Jungen-Trupp«) gegen eine bedauernswerte Minderheit, die es nicht einmal zu einem revolutionären Namen brachte. Sie löste sich auch bald auf und ließ nur uns übrig, was das baldige Ende von »RMT« und »RJT« bedeutete: Denn als der Feind abhandengekommen war, hatte niemand mehr Lust, sich vor der Schule in Reih und Glied aufzustellen und als geschlossene Formation in die Klasse zu marschieren.

Einmal allerdings gab es eine starke Erschütterung. Als ich morgens am U-Bahnhof Stalinallee ankam, waren die Stationsschilder abmontiert. Im Zimmer der Freundschaftspionierleiterin war das Stalinbild verschwunden. Einen Appell gab es nicht, aber auf Nachfrage erklärten unsere Lehrer, es hätte sich nunmehr herausgestellt, dass Stalin ein Verbrecher gewesen sei. Genaueres erfuhren wir nicht. Wir kannten die legendäre Reiterarmee des Marschalls Budjonnyj aus Filmen und aus Büchern. Nach unserer Vorstellung war die Oktoberrevolution ein spannendes Ereignis, der Beginn von aufregenden Kämpfen der guten Roten gegen die bösen Weißen, wobei die Roten immer edel und hilfreich waren, manchmal den schurkischen Weißen zum Opfer fielen, meistens aber siegreich blieben. Und nun war der legendäre Führer der Roten, der verehrte Staatsmann des Sowjetparadieses ein Schurke? Ich entschied mich nach kurzem Nachdenken dafür, Vertrauen zu den Erwachsenen zu haben, auch wenn ich längst nicht alles von ihrer geheimnisvollen Welt verstand.

Als ich ein paar Tage später nach Hause kam, fand ich meine ratlose Mutter vor dem Bücherregal im Wohnzimmer. Sie hatte alle roten und blauen Lederbände mit dem Golddruck herausgenommen und sortierte sie in solche, die wegmussten, und solche, die bleiben konnten. Bleiben konnten Marx, Engels und Lenin, Stalin musste weg. Ein Problem bildeten die Bände mit den vier Köpfen. Wogen die »Klassiker« schwerer oder der neue Paria? Schließlich entschloss sich meine Mutter, auf Nummer sicher zu gehen, und sortierte auch diese Bände aus. Ich musste die Bücher in das Heizhaus schaffen, wohin wir immer unser Altpapier brachten. An diesem Tag sah ich, dass dort bereits Bücher brannten. Der Heizer erzählte nur, dass eben meine Freundin Gabi da gewesen sei. Auf dem Rückweg sah ich den Sohn des ZK-Mitgliedes Schumann mit einem Sack auf den Schultern zum Heizhaus gehen. Vor der Haustür traf ich meine Mutter, die sich gedämpft mit Frau Schumann unterhielt. Sie gestanden sich, beide bei Stalins Tod geweint zu haben, und wussten nun nicht recht weiter.

Mit der Zeit schwanden die Zweifel meiner Eltern und Lehrer an der Sowjetunion wieder. Nicht zuletzt trug eine spektakuläre Kette von Siegen der UdSSR im Wettkampf um den Kosmos dazu bei.

Gagarin gab uns allen das Gefühl der Überlegenheit. Uns war klar, dass wir in einer Mangelgesellschaft lebten. Butter gab es nur auf Zuteilung, Eier, Zwiebeln und Äpfel waren so selten, dass ich extra geschickt wurde, wenn das Gerücht aufkam, dass es sie im HO-Geschäft gerade zu kaufen gab.

In Westberlin gab es alles im Überfluss. Doch dafür lebten die Menschen dort auf dem absteigenden Ast und uns gehörte die Zukunft. Wenn ich im Pionierchor »Mit uns zieht die neue Zeit« sang, war ich zutiefst von der Wahrheit dieser Textzeile überzeugt. Unser Chorleiter, der im Krieg sein linkes Auge verloren hatte, wusste, dass schon die Hitlerjugend dieses Lied bei ihren Märschen auf den Lippen hatte, sagte es uns aber nicht. Er hätte damit am antifaschistischen Mythos des Arbeiter-und-Bauern-Staates gerüttelt, was er selbstverständlich nicht wagte. Die Ruinen ausgebombter Häuser, die es in meiner Kindheit in Berlin noch gab, die Fassaden mancher Häuserzeilen, die von Einschusslöchern aus Maschinenpistolen gezeichnet waren, erinnerten uns an die Vergangenheit, der man knapp, aber glücklich entronnen war. Mängel waren noch nicht überwundene Kriegsfolgen, die bald beseitigt sein würden. In der Tat ging es in meiner Familie und in den Familien unseres Blocks bergauf. Wenige Jahre nach unserer Ankunft in Berlin hatte mein Vater unseren alten F8, der liebevoll »Fridolin« genannt wurde und den noch eine Brockenhexe, Souvenir aus seiner Grenzschutzzeit, beschützte, gegen einen blau-weißen Moskwitsch eingetauscht. Das Auto war riesig, wir liebten es von der ersten Stunde an. Aber das sentimentale Verhältnis, das wir zum alten »Fridolin« gehabt hatten, wollte sich nicht mehr einstellen. Von nun ab blieben alle Autos namenlos. Wir waren die Ersten im Block, die ein brandneues Auto hatten. Das weckte Neidgefühle, und nun begann ein Konkurrenzkampf, wer denn als Erster die Statussymbole glücklichen sozialistischen Lebens eroberte: neue Möbel, einen Fernseher, einen Kühlschrank, eine Waschmaschine, das Wochenendgrundstück, die nächste Beförderung, schließlich die Orden.

Meistens schlug meine Familie die anderen um Längen. Meine Eltern, die beide große Armut kennengelernt hatten, setzten erheblichen Ehrgeiz daran, sich zu beweisen, dass sie den mageren Zeiten entronnen waren. Es war ein Fest, als die schweren dunklen Fünfzigerjahre-Möbel, mit denen wir eingezogen waren, gegen neue ausgetauscht wurden. Meine Mutter hatte ein beträchtliches Talent, auf dem Mangelmarkt ausgesucht elegante Stücke zu ergattern: helle Vollholzmöbel im leichten sachlichen Stil der Moderne. Jedes neue Stück wurde gebührend gefeiert. Die elementare Freude meiner Eltern über ihre Anschaffungen übertrug sich auf uns Kinder. Jede Errungenschaft der volkseigenen Industrie, die in unsere Wohnung Einzug hielt, war ein Beweis dafür, dass wir eines Tages, gemäß dem Motto unseres Staatsratsvorsitzenden und Ersten Sekretärs der SED Walter Ulbricht, den Westen überholen würden, ohne ihn je einholen zu müssen.

Gegen Ende der Sechzigerjahre entspannte sich auch die Lebensmittellage: Die Butterrationierung wurde aufgehoben, Eier und Zwiebeln gehörten zum Standardangebot und Äpfel gab es nun fast immer. Abgesehen davon, dass sich die Versorgungslage stetig verbesserte, waren wir dem Kapitalismus souverän überlegen, denn wir hatten die »sozialistische Menschengemeinschaft«. Ich erlebte sie vor allem in der Form unserer Hausgemeinschaft. Wir teilten uns nicht nur die Arbeit bei der Säuberung des Treppenhauses und bei der Pflege der Vorgärten, wir machten auch freiwillige Aufbaustunden, »Subbotnik« genannt, weil sie am Sonnabendnachmittag, später mit Einführung des arbeitsfreien Wochenendes am Sonnabendvormittag stattfanden. Wir verschönerten unermüdlich unser Wohnumfeld, und tatsächlich war nach ein paar Jahren unser einst so leerer Platz wirkungsvoll bepflanzt – bis viele Jahre später die Anpflanzung dem neuen Bedarf an Parkplätzen weichen musste. Aber ich hatte noch das Privileg, in einer grünen Oase zu wohnen.

Die Hausgemeinschaft feierte auch zusammen – nicht nur zu Silvester, wo alle Wohnungen allen offen standen. In den früheren Jahren unternahmen wir sogar gemeinsame Ausflüge mit einem gemieteten Bus, mit Picknick und Besichtigung landschaftlicher und historischer Besonderheiten. Ein glücklicheres und harmonischeres Zusammenleben aller Hausbewohner schien kaum vorstellbar. Wie dünn die Schicht der Harmonie war, bekamen meine Eltern wegen ihrer ältesten Tochter ab und zu drastisch zu spüren. In den Ferien 1964 war mir für fleißige Mitarbeit im »Freundschaftsrat« der Pioniere in unserer Schule ein Aufenthalt in der »Pionierrepublik Wilhelm Pieck« in Brandenburg gewährt worden. Diese »Pionierrepublik« war ein straff organisiertes, internationales Ferienlager, in das auch Mitglieder der kommunistischen Parteien Westeuropas ihre Kinder zur Erholung schickten. Meinem Lagertagebuch, das wir damals alle führen mussten, entnehme ich, wie wenig der streng eingeteilte Tagesablauf – Wecken, Frühsport, Frühstück, Beschäftigung (z. B. Bohnen pflücken auf den benachbarten Feldern), Mittagsruhe, Wanderung oder organisiertes Spiel, dann individuelle Freizeit – mir gefiel und wie trickreich ich versuchte, dem Zwang immer wieder zu entgehen. Aber eines genoss ich: den Umgang mit den vielen Kindern aus anderen Ländern. Ich schloss schnell Freundschaft mit den Franzosen, den Westberlinern, den Holländern, aber besonders mit einer Norwegerin, mit der ich, so oft es ging, zusammen war.

Wieder zu Hause, begann ich eine rege Korrespondenz mit meinen neuen Freunden. Bald fiel es aufmerksamen Hausbewohnern auf, dass ich ungewöhnlich viel Post bekam und die Umschläge so anders als die in der DDR üblichen aussahen. Ein wachsamer Genosse passte kurzerhand den Briefträger ab und hatte den Beweis. Ich stand mit dem Klassenfeind in Verbindung. Meine Eltern wurden vor die Hausgemeinschaftsleitung geladen und erlebten die erste inquisitorische Befragung zu den Machenschaften ihrer Tochter, der noch viele folgen sollten. Diese Erste endete glimpflich. Es konnte schließlich nichts Unrechtes sein, wenn ich Briefe mit Kindern wechselte, die offiziell von unserer Regierung in die DDR eingeladen worden waren, auch wenn sie im feindlichen Ausland lebten. Schließlich handelte es sich um die Sprösslinge vertrauenswürdiger Kampfgefährten.

Von da an wusste ich, dass ich mich in Acht nehmen musste. Schon ein Jahr später hatte ich allen Grund, vorsichtig zu sein. Es begann die Zeit der Beatmusik, die auch die DDR im Sturm eroberte. Meines Wissens ist niemals der Anteil von Beat und Rock an der Unterminierung des sozialistischen Systems untersucht worden. Er dürfte erheblich gewesen sein. Die Kommunisten hatten jedenfalls die subversive Kraft westlicher Rhythmen immer instinktiv erahnt und – beim Tango angefangen – verbissen bekämpft. Allerdings auf die Dauer erfolglos. Bei den Beatles erlag unsere »Partei- und Staatsführung« anfangs dem Irrtum, dass die Musik von Jungs aus den Liverpooler Slums, also englischen Abkömmlingen der revolutionären Kraft des Proletariats, für den Sozialismus vorteilhaft, jedenfalls ungefährlich sei. Deshalb wurden die ersten Songs der Beatles noch von »Amiga«, der staatlichen Schallplattenfabrik der DDR, herausgebracht. Damit ließ man einen Geist aus der Flasche, den man nie wieder loswurde. Es half wenig, dass bald keine Platten mit westlicher Beatmusik mehr produziert und sie im DDR-Rundfunk nicht mehr gespielt wurde. Die Jugend, einschließlich staatsbraver SED-Elternkinder wie ich, wich auf das Westradio aus. In der Klasse hörten alle RIAS und wir tauschten uns offen darüber aus. Bald war unser »Kollektiv« wieder gespalten, diesmal in Anhänger der Beatles und in Stones-Fans. Ich war die erste »Stones-Käthe« der Schule und trug mein blondes glattes Haar als schulterlangen Pilzkopf, um den mich alle Jungs beneideten. Die hatten es schwer, denn sie mussten sich jeden Zentimeter Haarlänge erkämpfen. Immer wieder wurden Jungs nach Hause geschickt, weil ihre Haare für den Besuch einer sozialistischen Schule zu lang waren. Die Lehrlinge hatten es besser. In den Betrieben wurden lange Haare in der Regel toleriert und so liefen die Jungarbeiter stolz und von den Schülern beneidet mit langen Zottelmähnen herum. Nur vor gelegentlichen Razzien der Volkspolizei mussten sie auf der Hut sein, denn es kam immer wieder vor, dass Langhaarige von der Straße weggefangen und auf dem Volkspolizeirevier zwangsgeschoren wurden. Probleme machten auch die in Mode gekommenen Schlaghosen – selbstverständlich waren weite Hosenbeine in der Schule verboten. Andererseits waren sie das, was jeder Junge für unverzichtbar hielt, um »fetzig« zu sein. Also wurden Knöpfe und Kettchen am Hosenbein befestigt, um die vorgeschriebene Enge zu erzeugen, wenn es unabdingbar war, und um die geliebte Weite zu haben, wenn man sich frei bewegen konnte. Natürlich wollten die Jungs mit ihren Bands die heiß geliebten Westtitel spielen. Da es für Funktionärskinder ohne Westverwandtschaft schwierig war, an die Texte zu kommen, verlegte ich mich bald darauf, Texte nach Gehör mitzuschreiben. Wo ich das Gesungene nicht genau verstand, musste ich raten oder erfinden, und bald entwickelte ich ein beträchtliches Geschick in der Ergänzung von Texten, die immerhin wirkten, als könnten sie im Original so geschrieben worden sein. Gesungen wurde nach Gehör, und fertig war der Titel.

Jugendweihe, Vera Lengsfeld: 3. Reihe, 1. von links, 1966

Abgesehen von dem Ärger mit Haaren, Beat und Hosen war die sozialistische Welt zur Zeit meiner Jugendweihe noch in Ordnung. Das Buch Weltall – Erde – Mensch, das Generationen von Jugendweihlingen in der DDR überreicht bekamen, zeigt in meiner Ausgabe noch ein gigantisches Atomkraftwerk, das bald das ganze Land mit Unmengen an Energie versorgen würde. Es prognostizierte für das Jahr 2000 Laufbänder in den sozialistischen Städten und individuelle Flugmobile, mit denen man seine Wohnung in einem Riesenhochhaus erreichen konnte. Selbstverständlich würde es alles im Überfluss geben. Davon war die Wirklichkeit noch weit entfernt. Bei meinem Jugendweihe-Essen im »Haus des Lehrers« gab es Steak mit Büchsenspargel, der, in der besten Spargelzeit Ende April, am Rande eines der besten Spargelanbaugebiete Deutschlands, das aber fast ausschließlich den Westen belieferte, für uns der Gipfel der erreichbaren kulinarischen Genüsse war. Übertroffen höchstens noch von Büchsenananas, die das abschließende Eis begleitete. Dafür hatte ich nicht nur ein Jugendweihe-Kleid, sondern gleich drei, ein von der Schneiderin genähtes, ein Lurex-Kostüm, das ich bei einem Einkaufsfeldzug mit meiner Mutter neben einem Schaumgummi-Mantel erstand – beide der allerletzte Schrei –, und ein selbst genähtes Kleid von meiner Patentante, die nicht sicher gewesen war, ob wir im Konsum-Kaufhaus etwas Passendes finden würden, und die eines ihrer kostbaren Burda-Schnittmuster aus dem Westen für mich verschwendet hatte. Überhaupt hatte meine Mutter wieder bewiesen, dass sie weder Zeit noch Mühe noch dunkle Kanäle scheute, um ihre Tochter auszustatten. Ich fand unter meinen Geschenken einen der hoch begehrten Nylonmäntel, die es nur im Westen gab, weil die volkseigene Industrie an einer vergleichbaren Produktion scheiterte. Wie meine Mutter das gemacht hatte, habe ich nie erfahren. Fragen wäre zwecklos gewesen, aber es kam mir gar nicht in den Sinn zu fragen, weil mich die Freude über das Geschenk ganz ausfüllte.

Abgesehen von den Geschenken war die Jugendweihe ein Fest der Erwachsenen, bei dem sich die »Hauptperson« möglichst bald unauffällig verdrückte: So lief ich, während meine Eltern mit Freunden und Verwandten feierten, mit meiner Clique durch die Straßen und hörte Westradio. Das hätte der Festredner vom Vormittag, der uns zu sozialistischen Persönlichkeiten, die sich nun in der Welt der Erwachsenen beim Aufbau des Sozialismus bewähren mussten, ganz sicher missbilligt. Auf dem Jugendweihe-Foto der Klasse, das am nächsten Tag in der Schule gemacht wurde, tragen alle ihre Jugendweihe-Sachen und sind schick frisiert, mit einer Ausnahme: Unser Klassenrüpel, Peter Schönherr, trug Alltagskluft. Er demonstrierte damit seine Unangepasstheit. Das hatte ihn schon den Platz an der Oberschule gekostet und führte zu weiteren Problemen. Es gab das Gerücht, dass er und sein Freund Alex von der Schule verwiesen werden sollten. Angeblich aus Leistungsgründen, aber jeder wusste, dass das nicht stimmte. Ich hatte keine Sympathien für Schönherr. Trotzdem fand ich es ungerecht, dass er aus »Leistungsgründen« von der Schule verwiesen werden sollte, denn ein Junge, dessen Vater Mitglied der Bezirksparteileitung und später Kandidat des Politbüros war, hatte mit Abstand die schlechtesten Noten in der Klasse, war jedoch nicht versetzungsgefährdet. Ich schrieb in mein Tagebuch, dass es nicht sein könne, dass jemand bevorzugt würde, nur weil sein Vater ein hohes Tier in der Partei sei. Heute bin ich sehr erleichtert über den Beweis, dass ich schon gegen Privilegien für Parteibonzen war, als es mir noch ganz fern lag, das System infrage zu stellen.

Ab der neunten Klasse kam ich in die Zweite Erweiterte Oberschule in Berlin-Mitte. Früher hatte sie Gymnasium zum Grauen Kloster geheißen, bis der Abiturjahrgang, zu dem u. a. der spätere RAF-Terrorist Jan Carl Raspe und der Sohn des berühmten DDR-Wissenschaftlers Jürgen Kuczynski, Thomas, gehörten, durch ständige Proteste in der Schulpause und danach durchsetzten, dass die Schule ihren »reaktionären« Namen ablegte. Das eigentliche Schulgebäude neben der Klosterkirche war in einer Bombennacht im Winter 1944/45 zerstört worden, sodass die Schule ins Gebäude der ehemaligen »Hausvogtei« verlegt wurde, einst ein Gefängnis. Auf diese Weise lernte ich die alte Gefängnisarchitektur kennen und fühlte mich Jahre später, als ich in den alten Knast auf dem Stasihauptgelände in der Magdalenenstraße gebracht worden war, an meine Schule erinnert.

In Berlin-Mitte war man an der Grenze. Im Jahre 1966 war das Gebiet der Leipziger Straße noch ein Wildacker, auf dem Hasen hoppelten. Vom Schulhof und von den oberen Fenstern der Westseite unseres Schulgebäudes konnte man bis zur Mauer sehen. Auf der anderen Seite stand das Springer-Hochhaus, damals als einsamer Fels in der Brandung. Auf dem Dach war eine Riesenkamera montiert, die permanent das Geschehen in Ostberlin zu filmen schien. Im Herbst, wenn es früher dunkel wurde, konnte ich die Leuchtschrift verfolgen, mit der die täglichen Nachrichten in den Osten gesandt wurden.

Im Herbst 1969 sollte das Springer-Hochhaus eine überragende Rolle spielen. In der Jugendsendung des RIAS, Treffpunkt, hatte der Moderator bei der Ankündigung eines Stones-Titels gescherzt, dass es toll wäre, wenn die Stones am 20. Jahrestag der DDR auf dem Dach des Springer-Hochhauses spielen würden. Obwohl der verantwortliche Redakteur sofort dafür sorgte, dass in der Sendung mehrmals darauf hingewiesen wurde, dass es sich um einen Scherz gehandelt habe, war das entstandene Gerücht hartnäckig und durchschlagend. Aus allen Teilen der Republik machten sich Jugendliche auf nach Berlin, um dem Ereignis beizuwohnen. Viele wurden schon abgefangen, als sie die Züge besteigen wollten, noch mehr wurden aus dem Zug geholt. Aber Hunderte kamen an und versuchten sich in Berlin irgendwie nach Mitte durchzuschlagen. Wer so naiv gewesen war, die U- oder S-Bahnen zu besteigen, wurde von der Transportpolizei, die aus der ganzen DDR nach Berlin geholt worden war, mitgenommen. Ein Teil der aufgegriffenen Jugendlichen kam in die Ruine der Klosterkirche, wo sie tage- und nächtelang ohne Dach über dem Kopf und ohne sanitäre Einrichtungen verharren mussten. Wer es irgendwie bis zur Leipziger Straße geschafft hatte, wurde dort abgefangen und in die Baugruben getrieben, die bereits für die zukünftigen Hochhäuser ausgehoben worden waren. Auch dort mussten die Festgenommenen tagelang warten, bis man sie schließlich laufen ließ. Studenten oder Oberschüler wurden in der Regel relegiert. Angeblich sollen auch die Söhne eines hohen Parteifunktionärs unter denjenigen gewesen sein, die in den Baugruben festgehalten wurden. Der Funktionär war über das Schicksal seiner Söhne genauso im Ungewissen wie alle anderen Eltern. Für die Mitschüler der Jungen hatte das den Vorteil, dass an ihrer Schule niemand relegiert wurde. Unsere Schule, die gewissermaßen einen Logenplatz für die Ereignisse darstellte, war in den entscheidenden Tagen für uns gesperrt – angeblich zur Einquartierung von FDJlern, die aus Betrieben der ganzen Republik für die Feierlichkeiten des Jahrestages nach Berlin geholt worden waren. Es gelang uns auch nicht, die Zerberusse, die unsere Schultür bewachten, zu überreden, uns mal eben in unsere Klasse zu lassen, von wo wir uns einen guten Überblick über die Sachlage erhofften. Selbst der Sportplatz unserer Schule, der normalerweise von der Straße aus zugänglich war, war durch einen Bauzaun abgesperrt worden. Immerhin konnte man von der Straße aus das Dach des Springer-Hochhauses sehen. Es sah so aus wie immer; nichts deutete darauf hin, dass dort Vorbereitungen für ein Konzert getroffen wurden.

Natürlich kamen die Rolling Stones nicht. Alle Mühe und Aufregung waren umsonst gewesen, selten ist so viel für nichts riskiert worden. Jahrzehnte später traf ich in der Gedenkstätte im ehemaligen Stasigefängnis Hohenschönhausen Charly Rau, der damals wegen dieses Konzertbesuches erstmals verhaftet wurde und dem diese Verhaftung später als »Rückfalltäter« 17 Jahre DDR-Knast einbrachte.

Wenn ein Gerücht eine solch magische Kraft entfalten konnte – was bedeutete das für die Stabilität des Systems? Diese Frage ist damals meines Wissens nicht gestellt worden. Die »Mauer-muss-weg!«-Rufe, die 20 Jahre später bei dem legendären Konzert vor dem Reichstag am Brandenburger Tor zu hören waren, gab es 1969 noch nicht. Ob die Rolling Stones jemals von dem Aufruhr erfahren haben, den sie damals in Ostberlin verursachten und der die ganze DDR erschütterte?

Die Jahrestagsfeiern 1969 wurden jedenfalls mit besonderem Nachdruck zelebriert. Nicht nur, weil die DDR 20 Jahre alt wurde, sondern weil sie zu zeigen hatte, dass die Folgen der gewaltsamen Niederschlagung des Versuchs, in der ČSSR einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zu errichten, überwunden waren. Die »Freie Deutsche Jugend« hatte rund um die Uhr Einsatz: zum Jubeln, Demonstrieren und öffentlichen Amüsieren. Es sollte der Eindruck erweckt werden, das Volk feiere seinen Staat. Im April hatte es eine Volksabstimmung über die Verfassung gegeben, in der das Recht auf Ausreise, das vorher wenigstens noch verfassungstheoretisch existiert hatte, gestrichen worden war. Bürgerliche Rechte und Freiheiten sollten in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft keinen Platz mehr haben. Erstmals mussten die DDR-Bürger nicht einfach nur den Wahlzettel falten und in die Urne werfen. Sie mussten Ja oder Nein ankreuzen. Der Ablauf vom Empfang des Zettels bis zur Stimmabgabe war so organisiert, dass man an einem von Wahlhelfern besetzten Tisch vorbeigeleitet wurde. Wer die entfernt in einer Ecke stehende Wahlkabine besuchen wollte, konnte das nur, indem er sichtbar aus der Reihe ausscherte. Trotzdem mussten mehr Nein-Stimmen zugegeben werden, als bei Wahlen allgemein üblich waren.

Dass diese Verfassung auf so viel Widerstand stieß, wunderte mich damals. Wir waren wochenlang im Einsatz gewesen, um die Verfassungskampagne zu unterstützen, zuletzt am Tag der Abstimmung. Wir hatten in der Schule viel über die »Weiterentwicklungen« des neuen Grundrechts gesprochen, die Ausreiseproblematik allerdings nicht berührt. Ich glaubte ernsthaft, dass mit dem Volk der DDR diskutiert worden sei und dass Änderungsvorschläge angenommen worden seien. Das jedoch passte nicht zu der hohen Zahl der Ablehnungen.

Als ich dann ein halbes Jahr später mit meinen Freundinnen den 20. Jahrestag absichern half, war ich längst nicht mehr so blauäugig. Vor einem Jahr hatten wir den Prager Frühling erlebt und in seiner ganzen Tragweite zwar nicht begriffen, aber gespürt, dass sich etwas ereignet hatte, das die Grundfesten des Systems erschütterte. Wieso musste man dem Sozialismus ein menschliches Antlitz verpassen, wenn er sich sowieso zur besten aller Welten entwickelte? Dass sich Menschen im August 1968 den sowjetischen Panzern mit bloßen Leibern entgegengeworfen hatten, war uns nicht verborgen geblieben. Die DDR-Medien versuchten, das Phänomen mit fanatischer Aufhetzung zu erklären. Die Sowjetunion hätte handeln müssen, denn die westlichen Truppen wären kurz davor gewesen, die ČSSR »aufzurollen«. Die Intellektuellen glaubten das noch eher als die Vertreter der angeblich herrschenden Arbeiterklasse. Die Lehrlinge und jungen Arbeiter, mit denen wir heftig diskutierten, fanden den Einmarsch der Sowjets infam und die Erklärungen eine bloße Propaganda.

Am 20. Jahrestag der DDR, Berlin Alexanderplatz, rechts Vera Lengsfeld, links Freundin Nadja, 1969

An unserer Schule gab es mehrere Schüler, die nicht bereit waren, die offizielle Lesart so ohne Weiteres zu akzeptieren. Es gab erhebliche Diskussionen um die Verhaftung und bevorstehende Verurteilung unserer Mitschülerinnen Erika Berthold und Rosita Huntzinger, die den Mut gehabt hatten, gemeinsam mit anderen Jugendlichen öffentlich zu protestieren. Erika war Tochter eines Parteifunktionärs. In der Klasse der beiden Mädchen wurde tatsächlich ihre Freilassung gefordert und verlangt, dass sie an die Schule zurückkehren dürften. Man wolle sich auch intensiv um sie kümmern und vor zukünftigen Abwegen bewahren. Ob die Direktorin, wie versprochen, das Gesuch tatsächlich weiterleitete, ist ungewiss. Klar wurde dagegen bald, dass eine Art Schauprozess gegen die Jugendlichen vorbereitet wurde, der sich vor allem auch gegen den Regimekritiker Robert Havemann richten sollte. Er sei der geistige Anstifter seiner Söhne und ihrer Freunde gewesen, ihn träfe die Schuld an diesen »Verbrechen«. Es wurde tatsächlich als Verbrechen betrachtet, Flugblätter verfasst und verbreitet zu haben. Paragraf 27 der neuen Verfassung, der zusicherte, dass jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik das Recht habe, seine Meinung frei und öffentlich zu äußern, wurde so schon im Jahr seines In-Kraft-Tretens ad absurdum geführt. Daran hatte sich auch 20 Jahre später nichts geändert, als ich vom Recht auf freie Meinungsäußerung öffentlich Gebrauch machen wollte. Die DDR-Machthaber dachten gar nicht daran, sich an ihre eigenen Gesetze zu halten.

Dass bloße Willkür das herrschende Prinzip im realen Sozialismus war, wird von vielen bis heute nicht begriffen. Im Herbst 1969 war ich noch lange nicht so weit, das alles zu durchschauen, es hatten sich aber erhebliche Zweifel in mein intaktes Weltbild eingeschlichen, die sich fortan immer mehr verstärkten. Je mehr sich mein Aktionskreis erweiterte, desto stärker wurde ich damit konfrontiert, dass die sozialistische Wirklichkeit, an die ich glaubte, nicht mit der Realität übereinstimmte. Bisher hatte ich mich in einem homogenen Umfeld bewegt. Die Eltern meiner Freunde und Klassenkameraden wohnten in Wohnungen mit ähnlichen Standards und verfügten über den gleichen bescheidenen Luxus. Nun lernte ich ganz andere Teile der Stadt kennen. In Prenzlauer Berg sah ich die verkommenen Hinterhäuser mit Toiletten auf der halben Treppe und einem Waschbecken in der Küche. Ich traf Jugendliche, die weniger behütet aufgewachsen waren als ich und Erfahrungen mit Polizei und Jugendwerkhöfen hatten. Eine eigene Welt lernte ich in meiner Lehre kennen. Mein Jahrgang war der letzte, der neben dem Abitur noch eine Berufsausbildung machen musste. Das war in der DDR nach sowjetischem Vorbild eingeführt worden, um die Intellektuellen von vornherein mit der Praxis bekannt zu machen. Wir gingen von Montag bis Donnerstag, später von Montag bis Freitag in die Schule und am Freitag und Sonnabend in die Berufsschule oder in den Betrieb. Ich hatte mich für den Kochberuf entschieden.

Ich bekam einerseits eine klassische Kochausbildung, was die Grundtechniken dieses Berufes betrifft. Ich lernte, alles ohne hinzusehen in jede Form zu schneiden, Geflügel und Fisch fachgerecht auszunehmen und zu dressieren, bekam Küchenfranzösisch beigebracht und lernte in der Theorie die Herstellung der großen klassischen Gerichte Europas kennen. In der Praxis mussten uns unsere Lehrausbilder beibringen, wie die DDR-Variante dieser oder jener Gerichte aussah oder warum es nahezu unmöglich war, eine Speise hier herzustellen, weil entscheidende Zutaten fehlten. Gewürze waren Mangelware. Als ein Koch sich einmal ein Säckchen weißen Pfeffer aus dem Westen kommen ließ, war das ein Grund für neidvolle Gespräche unter den Kollegen und die Ehrgeizigeren schickten uns Lehrlinge los, um dem Glücklichen ein bisschen von seinem Schatz abzuschwatzen. Es gab damals nicht viele gute Restaurants in Ostberlin. Ich lernte sie fast alle kennen. Am bemerkenswertesten war das Hotel Adlon, das sich in den Überresten des ehemaligen weltberühmten Hotels in der Nähe des Brandenburger Tores befand. Der Wirtschaftshof grenzte direkt an die Mauer. Bei schönem Wetter setzten wir uns zum Gemüseputzen nach draußen und bewarfen die Grenzsoldaten auf beiden Seiten mit Kartoffelschalen. Wenn der junge Küchenchef im Adlon zufrieden mit uns war, überließ er uns den Schlüssel zum Gemüsekeller; von dort kamen wir in die unterirdischen Säle und Gänge, die das Adlon mit den umliegenden Gebäuden verbunden hatte. Es wurde gemunkelt, dass es auch einen Gang nach Westberlin gab, den das Personal des Adlon benutzte. Einmal kamen wir an eine Tür, die verhältnismäßig neu aussah. Wir wähnten uns schon in Westberlin und drehten lieber um. Wenige Jahre später wurde das Adlon geschlossen, weil eine zweite Mauer gebaut wurde, um das Grenzgebiet tiefer zu staffeln.

Später bin ich dem Westen noch ein zweites Mal unterirdisch nahe gekommen. Wenn wir aus der Schule kamen und die U-Bahn Richtung Alexanderplatz gerade abgefahren war, fuhren wir aus Langeweile mit dem Gegenzug bis zum Thälmannplatz, von wo er dann in der Regel nach kurzem Aufenthalt zurückfuhr. Einmal fuhr der Zug aber weiter in Richtung Westen und hielt am Potsdamer Platz. Der Bahnsteig wies alle Anzeichen von Verlassenheit und Verwahrlosung auf. Es gab nur eine Art Notbeleuchtung, die uns die Umgebung mühsam erkennen ließ. Das Zugpersonal war nirgends zu sehen. Wir liefen zum nächstgelegenen Ausgang, der aber mit einem Gitter geschlossen war. Wir gerieten in Panik: Wenn nun Grenzer auftauchten und uns wegen versuchter Republikflucht erschossen? Der U-Bahnhof war eindeutig in Westberlin. Aber gehörte die U-Bahn wie die S-Bahn dem Osten? Ich glaube, wir liefen dann den Weg auf den Schienen zurück und gelangten am Thälmannplatz wieder in die U-Bahn.

Meine nächste klare Erinnerung ist, wie meine Freundin und ich zitternd in der U-Bahn saßen und nicht fassen konnten, was mit uns geschehen war.

Die Mauer rückte immer mehr in den Mittelpunkt meiner Betrachtungen. Jahrelang hatte ich sie kaum zur Kenntnis genommen. Als sie errichtet wurde, war ich neun Jahre alt und in den Ferien bei meinen Großeltern. An der Nachricht interessierte mich vor allem, was sie für meinen Vater bedeutete. Da er nie über seine Arbeit sprach, hatte ich auch die Urlaubssperre nicht mitbekommen, die seit Wochen über ihn verhängt war. Als ich Anfang September nach Berlin zurückkam, hatte sich alles normalisiert. Unsere Familie hatte Westberlin nie betreten, mit einer Ausnahme, von der meine Mutter erst in späteren Jahren erzählte. Als meine kleine Schwester krank war und im Klinikum Berlin-Buch lag, was eine stundenlange Fahrt um Westberlin herum bedeutete, fuhr sie mit mir einmal, als die Zeit knapp war, über Gesundbrunnen, wo man in den Zug direkt nach Buch steigen konnte. Ich entdeckte eine Eisbude auf dem Bahnsteig und wollte unbedingt ein Eis, was meine Mutter mir verwehrte, ohne mir den wahren Grund – fehlendes Westgeld – sagen zu können. Ich quengelte, sie hatte noch wochenlang Angst, ich könnte irgendeinem Nachbar etwas über die Fahrt erzählen, was meine Eltern in Schwierigkeiten gebracht hätte, denn sie hatten unterschreiben müssen, unter keinen Umständen das Territorium des Klassenfeindes zu betreten.

Von Westberlin hatte ich keine Vorstellung, lange Zeit spürte ich kaum, dass ich in einer Halbstadt lebte. Als ich im Sommer 1969 beim Fernsehfunk in Adlershof arbeitete, mit der Tochter eines bekannten Sportreporters, zeigte die mir beim Nachhausefahren die Silhouette von Gropiusstadt und sagte, dass sie davon träume, dort zu wohnen. Dass ihr Traumviertel, von einem renommierten Architekten entworfen, ein Slum war, konnte sie nicht ahnen. Mich überraschten solche Sehnsüchte, aber ich fand sie faszinierend und fuhr seitdem diese Strecke nie ohne Richtung Westen auf die ferne Skyline zu starren. Trotzdem spielte Westberlin oder der Westen Deutschlands für mich keine Rolle. Die Rede von den Brüdern und Schwestern fand ich albern, mir fehlten die entsprechenden Gefühle vollkommen. Wenn ich über unser Eingesperrtsein nachdachte, das ich langsam als Problem empfand, dann schmerzte es mich, Paris, London, Wien und Rom nicht sehen zu dürfen. München oder Köln standen nicht auf meiner Wunschliste.

Meine erste große Reise machte ich mit 15 Jahren nach Budapest und an den Plattensee. Heute staune ich, mit welcher Selbstverständlichkeit mich meine Eltern damals einfach losfahren ließen. Im Jahre 1967 waren Privatreisen ins Ausland für DDR-Bürger noch ganz unüblich. Man fuhr im Allgemeinen mit dem Staatlichen Reisebüro. Dazu musste man 18 sein, und auch mit Jugendtourist war ein Mindestalter von 16 verlangt. Über meine vielen Brieffreundschaften, die ich in alle Himmelsrichtungen pflegte, war es mir gelungen, eine Einladung an den Balaton zu erhalten. Auch in Budapest hatten meine Freundin Sigrid und ich eine Adresse, die wir ansteuern konnten. Die nötigsten Papiere für die Reise zusammenzubekommen, dauerte mehr als ein Vierteljahr. Wir brauchten nicht nur ein Visum für Ungarn, sondern auch ein Transitvisum für die ČSSR. Erst dann konnten wir die Fahrkarten kaufen.

In Ungarn beeindruckte mich die relative Freiheit, die die Jugend dort genoss. Während wir heimlich Westradio hören mussten, um uns über die neuesten Hits auf dem Laufenden zu halten, war in Budapest im Park der Jugend am Gellertberg eine große Tafel aufgestellt mit der aktuellen Reihenfolge der Tophits. Schallplatten mit den neuesten Titeln waren frei zu kaufen. Allerdings hatten wir von der Volkspolizei einen Merkzettel mitbekommen, dass die Einfuhr ausländischer Tanzmusik in die DDR verboten sei. Wir verzichteten also schweren Herzens darauf, uns mit den begehrten Scheiben einzudecken. Es gab zahlreiche Jugendklubs und sogar in unserem Dorf am Balaton spielte jeden Abend eine Beatband, passend zu ihrem Äußeren »The woodmen« genannt. Mit langen Haaren schienen die Jungs keine Probleme zu haben, sie orientierten sich an der neuesten Mode statt an polizeilichen Vorgaben. In zahlreichen Privatgeschäften gab es schicke Kleidung, tolle Taschen, jede Menge Accessoires. In den Lebensmittelläden sahen wir den ersten Kaviar unseres Lebens und in der Markthalle von Budapest den ersten Hummer. Nach den drei Wochen fiel es mir schwer, in den heimatlichen Mief zurückzukehren. Ungarn wurde das Land meiner Träume. Ich begann, Ungarisch zu lernen, und konzentrierte meine ganze Kraft darauf, wieder hinfahren zu dürfen. Leider sollte das drei Jahre dauern.

Reise in die Sowjetunion

Erst einmal musste ich auf Wunsch meiner Eltern die Sowjetunion kennenlernen. In den Februarferien 1969 fuhr unsere ganze Familie nach Moskau und Leningrad. Ich wäre lieber in Berlin geblieben, aber meine Eltern waren unerbittlich. Wir fuhren mit dem Zug von Berlin nach Moskau. Obwohl wir aus dem befreundeten sozialistischen Ausland kamen, wurden alle Passagiere an der sowjetischen Grenze aus dem Zug geholt und alle Abteile gefilzt. Vorher hatten wir auf die strenge Frage der Gesundheitsoffizierin verneint, dass wir Obst oder Gemüse mitführten. Jetzt wurde alles entdeckt, was nicht abgeliefert worden war, und konfisziert. Soldaten mit Hunden suchten unter dem Zug nach verborgenen Waffen. Kurz zuvor hatte ein Attentat in Moskau stattgefunden, dessen nähere Umstände nicht bekannt waren, nur, dass es ein Geistesgestörter verübt haben sollte. Ich fragte mich, ob die Kontrollen immer so streng waren oder ob die Schärfe etwas mit dem Attentat zu tun hatte.

In Brest-Litowsk hatten wir drei Stunden Aufenthalt, die ich nutzte, um mich umzuschauen. Mein erster Eindruck von der Sowjetunion schockierte mich. Das Bahnhofsgebäude war im berühmten Zuckerbäckerstil gebaut und voller Menschen, die in den schmuddeligen Warteräumen und den beiden Restaurants standen, saßen und lagen. Die Männer trugen dicke Jacken, Tschapkas und Schaftstiefel – so wie unsere Bauern im Winter auf dem Feld. Die Frauen waren fast alle in Pelzmäntel gekleidet, die sie mit dicken, blumengemusterten Strickstrümpfen und Stiefeletten kombinierten. Die etwas Eleganteren trugen Dederon-Strümpfe mit blumengemusterten Wollkniestrümpfen darüber. Nur die Kinder fand ich niedlich: Sie waren so dick angezogen, dass sie wie Kügelchen aussahen. Um den Bahnhof herum standen unzählige Bretterbuden, in denen teure und schlechte Waren angeboten wurden. Mit einer Ausnahme: Die in jeder dritten Bude angebotenen Bücher waren sehr billig. In den Bahnhofsvorplatz mündeten ein paar schlecht gepflasterte Straßen. Die Häuser der Umgebung waren alle unverputzt. Unter dem grauen Einerlei fiel mir ein altes, etwas baufällig wirkendes Holzhaus auf, das die 4. Apotheke der Stadt beherbergte. In traditioneller Holzarchitektur gebaut, war es einmal schön gewesen. Nun sah es genauso trostlos aus wie seine Umgebung. In der Ferne machte ich eine graue Gruppe von Zwiebeltürmen aus, die wie eine triste Karikatur der Basilius-Kathedrale in Moskau wirkten.

Ich hatte mir fest vorgenommen, nach dem Motto zu handeln, das ich meinem Reisetagebuch für meine Freundin vorangestellt hatte: I’ll take it easy. Beim Anblick von Brest-Litowsk ahnte ich, dass mir das nicht leichtfallen würde.

Moskau empfing mich mit 20 Grad Kälte und vermittelte den gleichen Grundeindruck wie Brest-Litowsk: Der gleiche Grauschleier über allem, die gleichen Bretterbuden, die Unmengen von Menschen, die alle irgendwie gleich gekleidet waren. Nur selten sah man modern gekleidete Jungen und Mädchen. Dafür stanken alle förmlich nach Parfüm. Die Stadt machte trotz ihrer gigantischen Ausmaße den Eindruck einer kleinen Provinzstadt. Außerhalb der Stalin’schen Prachtstraßen herrschten niedrige Steinhäuser und enge Straßen vor. Die Geschäfte waren eng, meist ohne Schaufenster, und wenn sie eines hatten, war es wie in den Fünfzigerjahren dekoriert. Das Angebot war ausgesprochen schlecht, Kleidung und Schuhe von einer Hässlichkeit, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Dafür traf man auf Schritt und Tritt auf Losungen wie »Ruhm unserer sowjetischen Heimat«, »Ruhm der Partei«, »Es lebe die Sowjetrepublik«, als selbst gemaltes Plakat oder Transparent, als Poster, sogar als Leuchtreklame auf den hohen Häusern oder über den Toren. Restaurants, Kneipen, Cafés schienen unbekannt zu sein. Später erfuhren wir, dass es doch welche gab, das Café Prag, in dem sich die Dissidenten trafen, und ein Jugendcafé für 100 Personen – in einer Stadt von sechs Millionen Einwohnern! Wo hielten sich die Moskauer auf? Anscheinend im Freien, und zwar bei jeder Temperatur.

Die Wohnungsmiete betrug vier bis 13 Kopeken pro Quadratmeter, Flur, Bad und Küche waren mietfrei. Allerdings handelte es sich überwiegend um sogenannte Gemeinschaftswohnungen, in denen eine Familie ein Zimmer bewohnte und sich Bad, Flur und Küche mit den anderen Familien teilte. Wohngemeinschaften, wie sie im Westen gerade entdeckt wurden, waren in Moskau gang und gäbe. In Moskau hätten die Kommunarden ihre Toilettentür nicht auszuhängen brauchen: Sie wäre sowieso nicht verschließbar gewesen. Der Kontrast zwischen dem kommunistischen Protz auf der einen Seite und dem Alltagsleben auf der anderen konnte nicht größer sein. Dieser Unterschied wurde nur relativiert, wenn man auf die Reste des alten Russland stieß, die immer Schönheit und Reichtum ausstrahlten.