Nur ein Wort von Dir - Julia Whelan - E-Book
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Nur ein Wort von Dir E-Book

Julia Whelan

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Beschreibung

Kann man sich in einen Menschen verlieben, wenn man nur seine Stimme kennt?

Ihr Leben lang hat Sewanee von der großen Karriere in Hollywood geträumt. Doch ein tragischer Schicksalsschlag machte alles zunichte. Als Hörbuchsprecherin arbeitet sie nun abseits des Scheinwerferlichts, im Dunkeln. Ihr Leben verläuft endlich wieder in geraden Bahnen – bis sie das Jobangebot ihres Lebens erhält: Zusammen mit Brock McNight, dem geheimnisumwobenen Star-Erzähler, soll sie eine prickelnde Liebesgeschichte einsprechen. Obwohl sie ihren Glauben an die Liebe selbst längst verloren hat, sagt sie nach einigem Zögern zu. Und unter dem Schutz der Anonymität – denn sie kennt von Brock nichts als seine Stimme – spürt sie, wie zwischen ihnen eine zarte Verbindung wächst. Doch kann man sich in jemanden verlieben, den man noch nie gesehen hat?

Slowburn-Romance mit großen Gefühlen und einer Prise Spice: der unvergessliche Roman von Bestsellerautorin Julia Whelan endlich im Taschenbuch

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Seitenzahl: 509

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Julia Whelan ist Bestsellerautorin, Schauspielerin und preisgekrönte Hörbuchsprecherin. Ihr erster Roman Mein Jahr mit Dir war ein riesiger Erfolg und stand monatelang auch auf der deutschen Bestsellerliste. Als leidenschaftliche Teetrinkerin braucht Julia beim Schreiben immer eine Tasse Tee neben sich – und hat sogar eine offizielle Ausbildung zur Tee-Spezialistin absolviert. Sie lebt in Kalifornien.

Außerdem von Julia Whelan lieferbar:

Mein Jahr mit Dir

www.penguin-verlag.de

JULIA WHELAN

Nur ein Wort von Dir

ROMAN

Aus dem Englischen von Veronika Dünninger

Die Originalausgabe erschien 2022unter dem TitelThank You For Listening bei Avon, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung.

Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2022 der Originalausgabe by Five / Twelve Productions

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Covergestaltung: Favoritbuero

Coverabbildungen: © Travellaggio / shutterstock, © Lidi Di / shutterstock, © goldnetz / shutterstock

E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-28727-6V003

www.penguin-verlag.de

Für jene, die wir geliebt haben.Vor allem Partner.Vor allem meinen.

ERSTER TEIL

Alle große Literatur ist eine von zwei Erzählungen: Ein Mann geht auf eine Reise, oder ein Fremder kommt in die Stadt.

Leo Tolstoi

Prologe sind wie Flirten, oft angebracht und geeignet. Aber manchmal muss man den Leser einfach gegen die Wand drücken und ihm die Zunge in den Hals stecken.

June French,USAToday-Bestsellerautorin, in Cosmopolitan

Kapitel 1 

Eine Frau geht auf eine Reise

Es wurde heißer und würde sich nicht wieder abkühlen. Nicht diesmal. Sie konnte es in seinen Augen sehen. Seine Pupillen pochten. Der Gentleman der letzten drei Wochen war verschwunden. Jetzt war er alles andere als ein Gentleman. Er war nur noch ein Mann.

Ihre Blicke waren miteinander verschränkt. Er hob die Hand und drückte sie flach gegen ihre weiße Seidenbluse. Ihr Herz schnappte danach. Er küsste sie heiß und nass, dann umfasste er ihre Hüften und hob sie vor sich hoch. Sie schrie verblüfft auf, als er sie …

»Möchten Sie etwas trinken?«

… auf seiner Crêpe-de-Chine-Couch auf den Rücken warf.

»Ma’am?«

»Wir sollten das nicht tun«, knurrte er. »Du bist meine Praktikantin. Und Großvater besteht darauf, dass ich Caroline heirate.«

»Möchten Sie etwas trinken?«

Der genervte Ton drang dann doch zu ihr durch, und Sewanee Chester, Fensterplatzpassagierin, riss hektisch ihre Noise-Cancelling-Kopfhörer herunter, als hätten sie Feuer gefangen. »Was? Entschuldigung! Was?«

»Möchten Sie etwas trinken?«

»Äh. Nur ein Wasser, bitte.«

»Eis?«

»Äh, ohne … bitte.«

Sie klappte ihr Tablett herunter, und die Flugbegleiterin reichte ihr das Wasser. Bevor Sewanee sich bedanken konnte, beugte sich die Frau, die am Gang saß, zu ihrer Tochter auf dem Mittelplatz und fragte mit dieser piepsigen, vor Liebe triefenden Stimme, die im Allgemeinen für Haustiere oder Kinder reserviert ist: »Möchtest du etwas triiiiinken?«

»Saft!«

»Was für einen Saaaaaaft?«

Sewanee setzte sich ihre Kopfhörer wieder auf und stellte fest, dass sie das Hörbuch nicht angehalten hatte. Die Bluse war jetzt herunter. Sie seufzte, hielt es an, loggte sich in das In-flight-WLAN ein und schrieb Mark eine SMS.

Guten Morgen. Ich hasse dich.

Sie drückte auf Senden und trank ihr Wasser.

Zwanzig Sekunden später antwortete er:

Ich habe dir eins von denen mit den guten Rezensionen gegeben!

SEWANEE:

Seine Pupillen pochen, Mark. Seine PUPILLEN.

Während Mark tippte (es dauerte ewig, aber er ging auf die siebzig zu, sie ließ es ihm durchgehen), trank Sewanee.

MARK:

Sei kein Snob. Nicht jeder von uns hat einen Englischprof zum Vater, Süße.

SEWANEE:

Das hier hat nichts mit Snobismus zu tun. ODER meinem Vater. Das hier hat mit ANATOMIE zu tun.

Mark ignorierte das.

MARK:

Bin dir wirklich dankbar, dass du einspringst.

SEWANEE:

Für dich doch immer. Wie gehts dem Fuß?

MARK:

Noch immer gebrochen. Wie gehts dir?

SEWANEE:

Ich will den Titel der Podiumsdiskussion ändern.

MARK:

Was ist denn falsch an: Vorgetäuscht: Liebe und Sex beim Sprechen von Romance-Büchern?

SEWANEE:

Ich habe mir gedacht … Das Sprechen von Romance-Büchern: Wir machen es mit dem Mund.

Sie trank ihr Wasser aus, lehnte dazu den Kopf weit zurück. Ein Eiswürfel entwischte ihr, Wasser rann an ihrem Hals hinunter und auf ihr Shirt.

»Du hast gekleckert!«

Sewanee lächelte das Kind angespannt an, während sie ihren Becher in die runde Ausbuchtung in der Ecke des Tabletts stellte. Hatte diese winzige Vertiefung je verhindert, dass Becher bei einer Turbulenz umkippten? Sie wollte die Zahlen dazu.

MARK:

Ich weiß, wie du dich mit Romance füllst, aber du schaffst das schon. Bitte nimm es einfach ernst.

SEWANEE:

*fühlst.

Über die Lautsprecher verkündete ein Flugbegleiter: »Ladys und Gentlemen, ich weiß, wir haben eben erst den Service beendet, aber wir werden in wenigen Minuten mit dem Landeanflug auf Las Vegas beginnen. Wir möchten Sie daher bitten, alle elektronischen Geräte jetzt auszuschalten …«

Sewanee sah auf ihr Handy. Mark hatte aufgehört zu tippen.

MARK:

Die Fans flippen aus. Du solltest die Facebook-Gruppen Seen. Du hast keine Ahnung.

SEWANEE:

*sehen. Wir haben doch über diese Sache geredet. Ich habs kapiert.

MARK:

verdammte Autokorrektur! Das hier ist die BiblioCon! 50 000 Teilnehmer, und bei euch im Romance-Pavillon werden mindestens ein Drittel davon sein.

»Ma’am, Sie müssen bitte Ihr Tablett hochklappen.«

Sewanee tat es.

»Und Sie müssen Ihre Rückenlehne senkrecht stellen.«

»Sie geht nicht hoch.« Sewanee tippte weiter in ihr Handy.

Die Flugbegleiterin streckte einen Arm über Mutter und Kind aus, um Sewanees Rückenlehne nach vorn zu ziehen. Das kleine Mädchen wandte sich für einen Moment um, um ihr zu helfen, dann riss sie ihre klebrigen Hände in die Luft, gab sich geschlagen. »Sie geht nicht hoch!«

»Danke«, murmelte Sewanee.

»Gerne«, erwiderte die Kleine.

SEWANEE:

Mark, ich habe doch gesagt, ich habs kapiert. Groß! Riesig! Du kriegst ein Buch, und du kriegst ein Buch, und du kriegst ein Buch!

MARK:

Und vergiss nicht, dich zu amüsieren, Oprah. Vegas, Baby! LOL.

Sewanee rief ihre E-Mails auf und sah noch einmal auf die überwältigende Anzahl von BiblioCon-Events. Sie suchte die Romance-Programme raus und überflog Autorengespräche, Signierstunden, Empfänge und eine stille Charity-Auktion. Sie lachte laut über eine hervorgehobene Veranstaltung: Dinner mit einem männlichen Covermodel. Dann ging sie die Fülle der Podiumsdiskussionen durch: Gekreuzte Schwerter: Wie man M/M-Romance schreibt, wenn man selbst kein Schwert hat. Historische Kleider und wie man sie ablegt. Und natürlich ihre eigene Podiumsdiskussion zu Hörbuchproduktion, die Mark – ihr Mentor, Boss und Vermieter – selbst moderieren würde, wenn ihm nicht vor zwei Tagen sein Wagen über den Fuß gerollt wäre. Dieser rote Karmann Ghia, Sal, war die einzige längerfristige Beziehung, die Mark hatte, seit er darin vor fünfzehn Jahren nach dem Tod seines Partners Julio aus Chicago geflohen war.

Sie war gern bereit gewesen, ihn auf der BiblioCon zu vertreten, aber es gab zwei Probleme. Vielleicht drei. Auch wenn sie im Grunde Marks Mädchen für alles war und ihm half, das Aufnahmestudio zu führen, das er in seinem Haus in den Hollywood Hills betrieb, wofür sie im Gegenzug in seinem Gästehaus am Hang wohnen durfte, war sie keine Hörbuchproduzentin wie Mark; sie war Sprecherin. Das zweite Problem war, dass sie eine Sprecherin war, die keine Romance sprach. Am Anfang, als sie ihre ersten Erfahrungen gesammelt hatte, hatte sie es getan, und zwar wie so viele Sprecher unter einem Pseudonym, aber sobald ihre Karriere abhob, hatte sie die Romance aufgegeben. Schließlich war sie nicht einmal Fan des Genres.

Sie gehörte nicht in den Romance-Pavillon.

Sie überflog noch einmal die Infos, die Mark ihr weitergeleitet hatte. Bis zum nächsten Tag hatte sie frei. Dann ging es los mit der Podiumsdiskussion am Vormittag und für den Rest des Tages Standbetreuung im Kongresssaal, wo sie die Fragen von Autoren zur Hörbuchproduktion zu beantworten hatte. Am Sonntagnachmittag dann der Rückflug. Leichte achtundvierzig Stunden. Außerdem würde ihre beste Freundin in Vegas sein, weil sie auch dazu verdonnert worden war, an dem Kongress teilzunehmen. Wenn auch aus völlig anderen Gründen.

»Bist du eine Piratin?«

Sewanee zuckte zusammen, wandte sich zu dem kleinen Mädchen um und stellte fest, dass sie sie anstarrte.

Die Mutter zuckte ebenfalls zusammen. »Hannah!«

»Sie sieht aus wie eine Piratin.«

Die Mutter drückte ihr Kind zu einer Umarmung an sich. »Sie müssen ihr verzeihen. Sie ist vier.«

»Ich bin fast fünf!« Am Busen der Mutter klang Hannah, als würde sie in ein Kissen protestieren.

»Schon gut.« Sewanee schenkte ihr ein nachsichtiges Lächeln. »Nein, ich bin keine Piratin.«

Hannah wand sich aus dem Würgegriff ihrer Mutter und drehte sich ganz zu Sewanee um. »Aber du hast eine Augenklappe.«

»Hannah.« Schärfer diesmal. Nach den Erziehungsmaßstäben von Los Angeles war das streng. Sie wandte sich zu ihrer Tochter um, rutschte zur Sitzkante vor, schnallte sich los und hockte sich genau vor ihr Kind und auf seine Augenhöhe, wie sie es vermutlich in einem Eltern-Coaching gelernt hatte. Ein lehrreicher Moment stand bevor. »Wir stellen Fremden keine persönlichen Fragen, Schatz. Du bist sehr, sehr schlau, und ich weiß deine Neugier zu schätzen, aber wir respektieren die Privatsphäre der Leute, okay?« Die schrille Piepsstimme war wieder da.

Hannah wandte sich unbeirrt an Sewanee. »Aber warum hast du die denn?«

Ihre Mutter drehte die Kleine zu sich herum. »Weißt du, Schnucki, genau das ist eine persönliche Frage, oder?«

»Nenn mich nicht Schnucki, das habe ich dir doch gesagt. Ich hasse das.«

»Entschuldige.«

Hannah wandte sich zappelnd wieder zu Sewanee um. »Bist du verletzt?«

Noch ein verzweifelter Versuch. »Hannah!« Aber Sewanee war Fragen dieser Art gewohnt und fand es fast schon erfrischend, dass sie diesmal nicht von einem Betrunkenen in einer Bar kamen.

»Nein. Nicht mehr.«

»Aber wenn du nicht verletzt bist, warum hast du denn dann …?«

Irgendwann stieß auch Sewanees Geduld an ihre Grenzen. »Ich würde ja sehr gern noch länger mit dir plaudern«, sagte sie, während sie auf die Bluetooth-Kopfhörer um ihren Hals klopfte, »aber ich muss mit meiner Arbeit fertig werden.« Sie sah die Mutter an, um elterliche Unterstützung flehend.

»Oh, natürlich! Vier ist einfach so ein neugieriges Alter …«

»Fünf!«

Sewanee schüttelte den Kopf. »Schon gut. Es ist nur so, ich habe eine Deadline, und wenn ich mir das hier nicht fertig anhöre, könnte es passieren, dass ich mir einen neuen Job suchen muss.«

Es mochte an ihrem Impro-Hintergrund liegen, der Schauspielausbildung, einer Kindheit, die in Geschichten gelebt wurde, aber wenn Sewanee eins konnte, dann lügen. Vor sich selbst ebenso wie vor allen anderen. Sie steckte sich die Kopfhörer wieder in die Ohren und drückte auf ihrem Handy auf Play. Kein Ton. Sie drehte die Lautstärke höher. Noch immer nichts. Sie drehte sie ganz auf.

Am Rande ihres Blickfelds sah sie, wie die Mutter Hannah die Hände über die Ohren legte, sie an ihre dürre Brust zog und Sewanee aus geweiteten Augen anstarrte.

Nein.

Hilfe, nein.

Sie riss die Kopfhörer eben noch rechtzeitig herunter, um bei voller Lautstärke zu hören:

»Er drückte ihre Beine auseinander, spreizte sie, bot ihre geheimste Stelle seinen pochenden Augen dar. Schon jetzt pulsierte, glitzerte ihr üppiges …«

Sewanee tippte so heftig auf den Pausenbutton ein, dass das Telefon zu Boden fiel. Sie tastete hektisch danach, während das Hörbuch weiterlief:

»›Sag es‹, knurrte er. ›Ich will hören, wie du es sagst.‹ Er leckte sie einmal rasch, neckend. Sie stöhnte auf. ›Sag, du willst meinen …‹«

Das Telefon war unter Hannahs baumelnde Disneyprinzessinnen-Leuchtsneakers gerutscht. Sewanee schnappte es sich, richtete sich auf und hielt das Hörbuch an … gleich nach dem Wort »Schwanz«.

Sie starrte auf das Handy, ignorierte den stechenden Blick, der sich in ihre Schläfe bohrte. Sie tat einen, wie sie hoffte, beiläufig klingenden Atemzug. Dann, als wäre nichts passiert (Leugnen war auch so eine Fähigkeit, die sie perfektioniert hatte), wandte sie sich ganz von Mutter und Kind ab und sah aus dem Fenster.

Sobald sie sich konzentrierte, sobald sie die Aussicht, die der Landeanflug bot, tatsächlich in sich aufnahm, kam sie zu dem Schluss, dass Las Vegas bei Tag eher schlaff aussah. Dieses ganze nächtliche Neon war wie Vegas-Viagra.

Sie setzte sich aufrecht hin. Wer reist denn auch mit einem Kind nach Las Vegas?, dachte sie. Tolle Erziehung. Sie kannte solche Mütter. Verdammt, sie hatte eine solche Mutter: sanft, übertrieben liebevoll. Sie war so erzogen worden, wie Hannah erzogen wurde. Westseite von L. A. (zu erkennen an den sehnigen Yoga-Armen der Mutter, ihren erstklassig gefärbten Haaren, ihrer überpflegten Haut), Schulen, in denen Gefühle erwünscht waren, Eltern, die das Beste für ihr Kind wollten, während sie gleichzeitig sicherstellten, dass ihr Kind das Beste war. Die sagen, dass du alles sein kannst, alles tun kannst, Träume wirklich wahr werden, du etwas Besonderes bist, du gesalbt bist. Sei einfach nett zu jedem, respektiere jeden, sag die Wahrheit, sei schön fleißig, und dann wird sich alles fügen. Du wirst glücklich und zufrieden bis ans Ende deiner Tage leben.

Viel Glück dabei, Hannah.

Denn so läuft es wirklich:

Eine umwerfend durchschnittliche Frau auf der falschen Seite der dreißig auf ihrem Weg nach Vegas, mit einer Augenklappe, auf einem kaputten Sitz, die sich einen Porno anhört.

Kapitel 2 

Die beste Freundin

Sewanee betrachtete sich in dem vergoldeten Spiegel im Aufzug des Venetian. Ungewaschene Haare, ausgebeulte Jeans, zerknautschtes T-Shirt, Hoodie mit nicht identifizierbarem Frühstücksfleck nahe dem Reißverschluss. Kein Wunder, dass die Frau, die ihr an der VIP-Lounge den Schlüssel ausgehändigt hatte, sie verwirrt gemustert hatte.

Als die Aufzugtüren in der fünfunddreißigsten Etage aufglitten, folgte sie der Ausschilderung nach rechts. An der Tür nahm sie ihren Rucksack ab (vorsichtig – ihre rechte Schulter war nach all der Zeit noch empfindlich) und stellte ihn auf ihren Rollkoffer. Sie öffnete die Tür mit der Schlüsselkarte.

Ein Marmorflur begrüßte sie. Sie schwebte ihn hinunter, vorbei an einer kleinen Toilette, die größer war als das Badezimmer in ihrem Haus. Auf der anderen Seite eine Miniküche/Bar, die das ganze Hotel hätte versorgen können. Schließlich stand sie mitten in einem tiefer gelegten, ultramodernen Marmorwohnzimmer mit deckenhohen Fenstern mit Blick über den Strip.

»Du hast es geschafft!«

Sie wandte sich nach links, blickte einen anderen langen Flur hinunter, wo die zweimal Golden-Globe-nominierte, einmal oscarnominierte Adaku Obi, L’Oréal-Werbemodel und UNICEF-Botschafterin, in einem Bademantel und barfuß zum Sprint auf sie ansetzte.

Bevor Sewanee reagieren konnte, hatte Adaku sich auf sie gestürzt und drückte sie in einer heftigen, allumfassenden Umarmung an sich. Adakus Umarmungen begannen immer mit einem kleinen Schwanken, gingen dann in meditative Stille über und endeten schließlich mit tiefen Yoga-Atemzügen. Die Frau wusste, wie man im Moment blieb. Selbst wenn es nur für einen Moment war.

Adaku lehnte sich zurück und lächelte breit. »Ist das nicht ein Wahnsinn?! Das ist gigantisch! Einfach irre!« Adaku hatte schon immer eine Neigung zu lautstarken Begeisterungsausbrüchen gehabt, und die hatten sich, wie Sewanee aufgefallen war, proportional zu ihrem Erfolg gesteigert. »Und rate, was das Beste ist! Du wirst nie drauf kommen, also werde ich’s dir sagen. Es gibt zwei Schlafzimmer!« Sie boxte Sewanee scherzhaft gegen die Schultern.

Sewanee boxte zurück. »Nur zwei?«

Adaku lachte schallend auf und schubste sie. »Zwei hab ich bis jetzt gefunden! Du musst bei mir wohnen!«

Sewanee ließ den Blick über die Weite des Raumes schweifen. »Mark hat meine Suite im Rio schon bezahlt.«

Adaku sah sie herausfordernd an. »Jaja, die Suiten im Rio kenne ich.«

Sewanee streckte lächelnd eine Hand nach Adaku aus. »Ich kann Mark nicht die Rechnung für ein Hotelzimmer zahlen lassen, das ich dann nicht nutze.«

»Wie viel ist es?«

Sewanee drückte Adakus Hand, schüttelte sie zur Bekräftigung. »Nein, nein, nein. Du weißt, dass ich das hasse.« Als sie Adakus zusammengekniffene Lippen sah, fügte sie hinzu: »Mach nicht so ein Gesicht.«

»Was für ein Gesicht?«

»Du weißt genau, was für ein Gesicht.«

»Ich weiß nicht, was …«

»Oh!« Sewanee ließ Adakus Hand los und trat ans Fenster. Verdammt. Die Aussicht war atemberaubend.

Adaku spielte die Hauptrolle in einem Film, der auf einem New York Times-Platz-eins-Bestseller des vergangenen Jahres basierte. Sie hatte auf der Hauptbühne ein Interview mit dem Autor, ein VIP-Meet-and-Greet, eine Autogrammstunde und irgendein internationales Presse-Event. Kein kleiner Romance-Pavillon für sie. Auf der BiblioCon war sie selbst das Hauptereignis.

In der Spiegelung des Fensters beobachtete Sewanee, wie Adaku von hinten an sie herantrat und die Arme ausbreitete, eine Königin, die sich an ihr Volk weit unten wandte. »Wir leben den Traum, Swan! Ich habe einen Tisch mit Gratisschampus im Club, eine Limousine in Bereitschaft und einen verdammten Butler, der mir rund um die Uhr zur Verfügung steht!«

Sewanee schwieg. Adaku, in einem weißen Vorort von Chicago aufgewachsen, dritte Tochter eines entzückenden, aber anspruchsvollen nigerianischen Arztehepaars, gestattete sich endlich zu genießen, was sie sich so hart erarbeitet hatte. Es hatte lange genug gedauert. Die Leute hatten sie schon für einen Star gehalten, bevor sie einer war. Als ob eine Nominierung als beste Nebendarstellerin mit Privatjet, Penthouse und Porsche daherkommen würde. Adaku hatte sich ebenerst ihr erstes Haus gekauft, einen Dreizimmerbungalow in Echo Park, dank des L’Oréal-Geldes. Das hier war das erste Mal, dass der rote Teppich so weit für sie ausgerollt worden war. Adaku Obi spielte die Hauptrolle in einem Film, und das Studio wollte sie glücklich machen.

Es war sehr verdient. Und ja, der Luxus machte Spaß. Aber Sewanee wollte zur Vorsicht mahnen. Sie ein bisschen bremsen. Ihr sagen, dass das Leben sich ohne Vorankündigung ändern konnte. Doch sie riss sich zusammen und verwendete stattdessen einen Schachzug aus Adakus eigenem Repertoire: Wenn sie nicht sagen konnte, was sie wollte, wechselte sie das Thema. »Entschuldigung, warum trinken wir nicht schon längst Champagner?«

Adaku bellte ihr unverwechselbares Lachen und drückte Sewanees Schultern. »Weil er noch in diesem schicken Sub-Zero-Kühlschrank rumsteht!« Während sie davonhuschte, rief sie über die Schulter: »Sie haben mir Cristal gegeben!«

Sewanee wandte sich wieder zum Fenster um und schüttelte sich innerlich einmal kräftig. Sie freute sich aufrichtig für ihre Freundin. Dass es ihr nicht gut ging, hatte nichts mit Adaku zu tun. Adaku war nicht das Problem.

Sie hörte das Plopp des Korkens, das gluckernde Geräusch des Einschenkens und das vornehme, leise Trippeln von Adakus nackten Ballerinafüßen auf dem Marmor hinter sich.

Sie wandte sich vom Fenster ab, und Adaku reichte ihr das Glas, sah Sewanee dabei scharf in die Augen. »Auf unseren wahr gewordenen Traum!«

Sewanee stieß mit ihr an und nahm einen großen Schluck von dem besten Champagner, den sie je getrunken hatte.

»Okay! Was wollen wir unternehmen? Ich habe dieses Dinner, von dem ich dir erzählt habe, aber bis dahin bin ich frei. Lass uns Party machen.« Da sie alles über ihre beste Freundin wusste, wusste Sewanee auch, dass Adaku – selbst wenn jeder, der sich in Adakus Wirbelwind-Gegenwart wiederfand, das Gegenteil schwören würde – noch nie mit Kokain in Kontakt gekommen war.

»Was immer du willst! Ich kann nicht vor drei einchecken, das heißt …«

Adaku verdrehte die Augen, und Sewanee konnte sehen, wie sie ein neues Argument dafür, das Rio sausen zu lassen, fand, und beeilte sich zu sagen: »Ich muss heute Abend ein bisschen arbeiten, also lass uns Spaß haben, aber nicht zu viel. Morgen Abend bin ich dann mit vollem Einsatz dabei. Apropos Einsatz, ich habe fünfhundert Dollar mitgebracht, und ich werde sie auf Rot oder Schwarz setzen. Hab mich noch nicht entschieden, was von beidem. Wer weiß, vielleicht habe ich ja Glück.«

»Oh, du wirst Glück haben, wenn ich ein Wort mitzureden habe! Es ist viel zu lange her.« Adaku erhob wieder ihr Glas. Sewanee stieß kichernd mit ihr an, und dann sagten sie beide gleichzeitig, mühelos und unbeschwert: »Ich liebe dich, Süße.« Sie schlürften ihren Schampus, dessen Perlen sich auf Swans Zunge wie Knallbrause anfühlten, und auf einmal war sie zufrieden. So war es immer in Adakus Gegenwart.

Adaku stellte ihr Glas auf einem Beistelltisch ab, der, wie Sewanee fand, eine Skulptur hätte sein können, und klatschte in die Hände. »Also! Ich habe in zehn Minuten ein Telefoninterview, das sollte nicht länger als eine halbe Stunde dauern – zumindest hat mein Publicity-Manager mir das versprochen –, und dann legen wir los!« Sie füllte Sewanees Glas auf, während sie sagte: »Nimm das, geh und chill im Spa …« – sie zeigte einen anderen langen Flur hinunter – »… mach dich schön …« – sie musterte Swan von Kopf bis Fuß – »… und bring dich in Stimmung für die Paaaaarty!« Bei diesem letzten Wort wirbelte sie aus dem Zimmer wie Stevie Nicks, sodass der Champagner aus ihrem Glas schwappte und auf den Marmor spritzte.

Sewanee lächelte und ging den anderen Flur hinunter. An der Tür zum Badezimmer blieb sie wie angewurzelt stehen.

Oh, okay. Es war tatsächlich ein Spa. Es gab einen Dampfraum, eine Sauna und einen Massagetisch, in der Mitte thronte eine japanische Badewanne. Sie wusste nicht, was sie zuerst ausprobieren sollte. Die Wanne lockte sie, also zog sie sich aus – Augenklappe und alles – und ließ sich in das perfekt temperierte Wasser gleiten.

Während sie sich entspannte, wanderten ihre Gedanken zurück zu dem Studioapartment in Washington Heights, das sie sich während des Studiums mit Adaku geteilt hatte. Wenn mal wieder die Heizung streikte, hatten sie sich unter Decken zusammengekuschelt und das »Wenn wir berühmt sind«-Spiel gespielt. Die Schauspielschule hatte sie ausgelaugt, finanziell und emotional, aber sie hatten eine unerschöpfliche Quelle von Optimismus gehabt, wie sie sich nur aus Jugend und Unerfahrenheit speisen kann. Wenn wir berühmt sind, werden wir jeden Abend Sushi essen. Wenn wir berühmt sind, werden uns die Leute auf der Straße anhalten und sagen, wie sehr sie unsere Arbeit lieben. Wenn wir berühmt sind, werden wir eine zuverlässige Heizung haben. Wenn wir berühmt sind.

Nicht du. Nicht ich. Wir.

Damals hatte Sewanee nicht gewusst, wie rasch ein Traum zu etwas werden konnte, das dich verhöhnt und dir ins Gesicht lacht.

Wie sich herausstellte, war Vegas bei Tag doch nicht so schlaff, wie Sewanee gedacht hatte. Sie und Adaku hatten bereits einen Schaufensterbummel gemacht, und jetzt saßen sie gemütlich in zwei Clubsesseln in einer edlen Bar irgendwo in den noblen Eingeweiden des Venetian und schlürften irgendetwas Teures – Kostenloses, aber Teures. Nachdem Adaku eine Cocktailserviette mit »Für Roy, alles Gute, Adaku« signiert hatte, hatte ihr eifriger Kellner sie von ihren Wodka Sodas zu irgendetwas Süßem, das mit Goldflocken bestäubt war, hochgestuft. »Müssen wir uns Sorgen wegen einer Schwermetallvergiftung machen?«, hatte Sewanee gewitzelt, als er weg war. Adaku hatte an dem Drink geschnuppert, geschwärmt: »Das wäre doch mal ein Abgang!«, und einen Schluck genommen. Und Sewanee tat es ihr gleich.

»Wie gehts BlahBlah?«, erkundigte sich Adaku.

»Ach, du kennst sie ja«, seufzte Sewanee. »Körperlich geht es ihr gut. Geistig, na ja. Hast du Memento gesehen?«

Adaku verzog das Gesicht. »Ist sie …? Weiß sie noch, wer du bist?«

»Ja, ich habe angefangen, ihr meine Hörbücher mitzubringen, und ich glaube, meine Stimme zu hören, wenn ich nicht da bin, hilft ihr, sich an mich zu erinnern, wenn ich sie besuche.«

»Erstaunlich. Und was ist mit deinem Dad?«

»An ihn erinnert sie sich auch. Leider.«

Adaku kicherte. »Ich habe gemeint, wie geht es dem alten Bademantel?«

Sewanee lachte schallend, sie stellten ihre leeren Gläser ab, und Roy tauchte auf, als hätte er in den Kulissen auf sein Stichwort gewartet. »Alles in Ordnung bei Ihnen? Oder brauchen wir noch ein bisschen mehr Gold?«

»Mein Barmann-Zauberer!«, flirtete Adaku. »Abrakadabra, bitte!« Sie hielt die beiden leeren Gläser hoch.

»Ihr Wunsch ist mir Befehl.« Roy nahm ihr die Gläser ab. »Bin gleich wieder da.« Er machte ein Wusch-Geräusch, während er ging.

»Gibt es eigentlich irgendetwas, wozu du einen Mann nicht bringen kannst?«, staunte Sewanee.

»Sich binden?« Sewanee lachte, und Adaku scannte den Raum.

»Apropos Männer, datest du im Moment irgendwen?«

Sewanee sah sie nicht an, als sie antwortete. »Nein.«

»Dann los! Wir sind in Vegas!« Adaku beugte sich mit einem verschwörerischen Grinsen zu ihr vor. »Was in Vegas passiert, bleibt in …«

»Nur wenn du verhütest.« Adaku kicherte. Sewanee krächzte. »Ich glaube, ich habe eine Goldflocke in die Kehle gekriegt.«

In diesem Augenblick tauchte Roy wieder auf, machte das Wusch-Geräusch, und Sewanee unterdrückte ihr Krächzen.

»Und da ist er wieder!«, rief Adaku. »Der sagenhafte Roy!«

»Was kann ich für die Damen noch aus dem Hut zaubern?«, fragte er mit einem Vegas-Grinsen.

Adaku fing Sewanees Blick auf. Ein lautloser Wortwechsel folgte. Wie wärs mit ihm?, fragte Adaku. Sewanee neigte fast unmerklich das Kinn. Nein.

Adaku ignorierte sie und wandte sich an Roy. »Übrigens, das hier ist meine beste Freundin, Sewanee.«

»Shauney?«

»Nein, SWAH-nee.«

Sewanee wand sich innerlich. »Nennen Sie mich einfach Swan. Wie der Schwan.«

»Dann ist das hier wohl der Tisch mit den coolen Namen, was?« Er winkte einmal kurz, wie ein Scheibenwischer. »Und, Swaaaan, sind Sie auch jemand?«

»Oh, ja.« Sie räusperte sich. »Sind wir das nicht alle?«

»Ha!« Er richtete zwei Finger wie eine Pistole auf sie, machte »Peng, peng« und fügte hinzu: »Ich habe gemeint, sind Sie auch berühmt?«

Adaku beugte sich vor. »Sie ist die größte lebende Hörbuchsprecherin auf dem Planeten!«

Sewanee hob eine Hand. »Das ist nicht …«

»Hörbücher?« Roys Augenbrauen schossen hoch. »Oh, Mann, das ist so was von mein Ding! Haben Sie irgendwas gemacht, das ich gehört haben könnte?«

Sie nippte an ihrem Cocktail und stellte fest, dass das Geheimnis, wie man Goldflocken aus der Kehle kriegt, offenbar noch mehr Goldflocken waren.

In der Zwischenzeit sagte Adaku: »Sie haben sie gehört, glauben Sie mir. Sie macht so ziemlich jedes große Buch! Sie hat jeden Preis gewonnen, den man gewinnen kann! Haben Sie Diese Hügel gehört?« Sewanee musste Adaku Anerkennung dafür zollen, wie sie diesen Typen einschätzte. Wenn es irgendein Buch gab, das sie gesprochen hatte und das er vermutlich gehört hatte, würde es dieser hypermaskulinisierte Western-Bestseller des vergangenen Jahres sein. Butch Cassidy und Sundance Kid, aus der Perspektive einer Frau erzählt.

Er leuchtete auf wie ein Spielautomat. »Mann! Mann! Das Buch war der Hammer! Das waren Sie?«

Sie zeigte mit einer unbeholfenen Geste auf sich.

Roy beäugte Sewanee, sah sie mit neuen Augen. »Sie waren eine Wucht! Moment mal, kennen Sie dann auch den Typen, der Butch und Sundance gespielt hat? Haben Sie das zusammen aufgenommen?«

Adaku und Sewanee sahen sich an und dann zurück zu Roy. »Welcher Typ?«, fragte Adaku.

»Der Typ! Der Typ, der die Typen gesprochen hat.«

Adaku und Sewanee sahen sich wieder an. »Das war kein Typ«, sagte Adaku.

»Nein, der Butch-und-Sundance-Typ-Typ.«

»Ohhhh, dieser Typ. Ja, das war kein Typ.« Adaku genoss das hier ein bisschen zu sehr.

»Wer war kein Typ?«

»Der Typ, der das gelesen hat.«

»War kein Typ?«

»Nein.«

Sewanee ging dazwischen, bevor Adaku bei Roy einen Kurzschluss auslösen konnte. »Was sie zu sagen versucht, ist, dass ich das gesprochen habe.«

Roy verdaute das einen Moment. Einen ausgedehnten Moment. Er kniff die Augen zusammen. »Oh, verstehe.« Dann fragte er: »Also, wer war der Typ?«

Sewanee überlegte, ob sie sich einfach einen Namen ausdenken und das Thema beenden sollte. Die in ihren Drink kichernde Adaku war an dem Punkt keine Hilfe. Sie würde einen letzten Versuch unternehmen. »Roy?« Ihr Ton war der einer Kindergärtnerin. »Der Typ? Die Typen? Waren ich.«

Roy warf den Kopf zurück. »Nicht auch Sie? Der Typ …«

»Roy?« Derselbe Ton. Er sah sie wieder an. »Als ich Diese Hügel aufgenommen habe … Die haben mich die ganzen Stimmen machen lassen. Einschließlich Butch und Sundance.«

Schweigen. »Die ganzen Stimmen?«

»Die ganzen Stimmen«, wiederholte Sewanee.

Roy wurde still. Dann legte er den Kopf schräg. Er sah aus wie ein Labrador, der Platz machen soll.

Sie senkte ihre Stimme zu einem Ort, der ihr inzwischen zur zweiten Natur geworden war. »›Eines Tages, Butch, wirst du sterben, und dann wirst du erkennen, dass du nie wirklich gelebt hast.‹«

Roy starrte sie an.

Sewanee nahm einen Schluck von ihrem Drink und wartete.

Schließlich: »Mann.«

Adaku schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Umwerfend, was?!«

Ihre Begeisterung riss Roy aus seiner Verwirrung. Jetzt war er von Ehrfurcht ergriffen. »Wie machen Sie das?«

Sewanee winkte ihn zu sich heran und sagte leise und geheimnisvoll: »Behalten Sie es für sich, klar?«

Er sah aus, als hätte man ihm gestattet, hinter einen Vorhang zu blicken und etwas Unerhörtes zu sehen. Er wackelte langsam mit dem Kopf. »Okaaaaay. Total.« Er zwinkerte wissend und kehrte zurück zu seinem Posten an der Bar.

Adaku ließ sich einen Moment Zeit. Dann zuckte sie die Schultern. »Okay, der jedenfalls nicht!«

»Noch eine Karte!«

Sie waren an einem Blackjack-Tisch gelandet. Adaku spielte. Sewanee sah zu.

Der Croupier deckte die nächste Karte auf. »Einundzwanzig.«

»Wums!« Adaku zog Sewanee auf den Platz neben sich. »Komm schon! Spiel!« Sie schob ihr einen Stapel Fünfundzwanzig-Dollar-Jetons hin und sagte zu dem Dealer: »Sie spielt.«

»Nicht mit deinem Geld.«

»Schscht. Zehn Minuten! Zehn kleine Minuten! Ich habe eine Glückssträhne. Und dann gehen wir dein Rouletterad suchen.«

»Ich muss die Vorarbeit für …«

»Die Bücher laufen dir nicht davon, Swan.«

Der Croupier sagte: »Kartentausch, die Damen. Es wird ein paar Minuten dauern.«

Erleichtert lehnte sich Sewanee zurück und spürte, wie sich zwei Typen von hinten an sie heranpirschten.

»’tschuldigung?« Der größere der beiden tippte Adaku auf die Schulter.

Sewanee sah, wie Adaku vor der Berührung zurückwich, selbst während sie sich mit ihrem standardmäßigen »Ja, ich bins«-Lächeln zu ihnen umwandte. »Hi!«

»Heilige Scheiße. Sie sind es! Wir waren uns nicht sicher.«

»Ich war mir sicher«, warf sein kleinerer Begleiter ein. »Acura Oboe!«

Sewanee seufzte hörbar und bekam prompt Adakus Fuß gegen das Schienbein.

Adaku lächelte breit. »Adaku Obi.«

»Ja.« Der Größere schnippte mit den Fingern. »Ich bin Chuck. Und diese Platzverschwendung hier ist Jimbo.«

Chuck hatte ein glasiges Glitzern in den Augen, das Sewanee nicht gefiel. Er starrte Adaku noch immer an. »Unter uns, Sie erinnern mich total an diese …« Er wandte sich zu seinem Freund um. »Jimbo, erinnerst du dich noch an Sheniqua?«

Jimbo schnaubte spöttisch. »Und ob ich mich an Sheniqua erinnere.«

Sewanee würde sich nie daran gewöhnen: die Dinge, die manche Männer glaubten, sagen zu dürfen. Der magische Kellner Roy war harmlos. Aber diese beiden? Diese beiden bedeuteten Ärger. Während Sewanee überlegte, ob sie dazwischengehen sollte, ordnete sie ihre Akzente ein. Ostküste. Nicht New York, nicht die Boroughs. Eindeutig nicht Boston. Jersey. Vermutlich die Küstenregion.

»Also, hey.« Chuck ließ eine Hand auf Adakus Stuhllehne fallen und beugte sich über sie. »Verstehen Sie mich nicht falsch, aber mögen Sie weiße Typen?«

Sewanee stand auf. »Das wars …«, begann sie, und Adaku sagte leise und scharf: »Nicht.«

Chuck hob zwei fleischige Hände. »Ich mein ja nur!«

Jimbo kicherte. »Wir hatten ein bisschen zu viel von ein bisschen zu viel, falls Sie wissen, was ich meine.« Sie klatschten sich ungeschickt ab.

Es hatte einmal ein Zeitfenster gegeben, wusste Sewanee, ein kleines Zeitfenster vor ein paar Jahren, als es unterhaltsam gewesen war, erkannt zu werden. Jetzt fühlte es sich nach Überwachung an.

Adaku suchte den Blick des Croupiers. Mehr war nicht nötig.

Chuck, nichts ahnend, trat noch einen Schritt näher auf Adaku zu. »Du bist etwas Besonderes. Hast dieses gewisse Etwas. Du funkelst. Richtig aprodisierend und so.«

»Aphrodisierend«, sagte Sewanee mit dieser geübten Stimme, die, so leise sie auch war, dafür sorgte, dass die Leute zuhörten. »Es heißt aphrodisierend.«

Chuck sah sie zum ersten Mal an, verblüfft, sie dort zu sehen. »Das habe ich doch gesagt.«

»Nein, Sie haben aprodisierend gesagt. Es heißt aphrodisierend.«

»Na und?«

»Aphrodisierend ist ein Wort. Aprodisierend ist keins.«

Chuck nahm eine theatralische Pose ein – als würde er nachdenken, einen stummeligen Finger an sein stoppeliges Kinn gelegt. Er wandte sich an seinen Kumpel. »Hey, Jimbo, ist ›Bitch‹ ein Wort?« Er sah zurück zu Sewanee. »Habe ich das richtig gesagt?«

Während die zwei lachten, tauchten zwei große Männer auf. Einer von ihnen nahm Chuck beim Ellenbogen. »Gentlemen, wenn Sie bitte mit uns mitkommen würden.« Es gab Protestbekundungen: Wir haben es nicht böse gemeint; hatten nur ein bisschen Spaß; was für eine Art, seine Fans zu behandeln; du bist keine heiße Nummer, weißt du. Aber sie wurden bereits zum nächstgelegenen Ausgang eskortiert.

Sewanee setzte sich wieder. Sie und Adaku sahen sich an und sagten gleichzeitig: »Okay, der jedenfalls nicht!« Sie tauschten ein wehmütiges Lächeln, als Chuck einen letzten Schuss über die Schulter abfeuerte.

»Hey, Bitch, wir sehen uns später im Treasure Island!«

Adaku hatte darauf bestanden, Sewanee in der Limousine zum Rio zu bringen. Sie hatte in ihr Zimmer im vierten Stock eingecheckt, die Vorhänge zurückgezogen, die eine herrliche Aussicht auf ein Parkhaus freigaben, sich eine Tasse Tee gemacht, den Golf Channel eingeschaltet – ihre bevorzugte Quelle für Hintergrundgeräusche – und gearbeitet. Als Erstes ging sie die Fragen durch, die Mark ihr für die Podiumsdiskussion morgen Vormittag gegeben hatte.

Dann begann sie mit der Vorarbeit für ein Buch, das sie in ein paar Wochen aufnehmen würde: Sie erstellte Wörterlisten und fand die korrekten Aussprachen, identifizierte den emotionalen Bogen der Geschichte, setzte Atempunkte in syntaktisch herausfordernden Passagen, skizzierte Beziehungen zwischen den Figuren und entwickelte Stimmen und Akzente. Buchvorarbeit war für sie so wichtig geworden, wie es früher Proben für ein Stück waren oder Recherchen zu einer Figur vor dem Dreh. Aber Sewanee Chester hatte seit sieben Jahren nicht mehr auf einer Bühne oder vor einer Kamera gestanden.

Nach ein paar Stunden lehnte sie sich zurück, spürte, dass sie hungrig war, und spielte geistesabwesend mit dem Gummiband der Augenklappe über ihrem rechten Ohr, als wäre es eine Haarlocke. In der ersten Zeit hatte sie sie jedes Mal abgenommen, wenn sie allein war. Inzwischen war sie einfach ein Teil von ihr. Sewanee griff zum Telefon und gönnte sich Roomservice.

Dann tat sie etwas, was sie hasste: Sie ging auf Facebook.

Sie hatte ihre Aktivität da nach dem Unfall auslaufen lassen. Erst zu viele Mitleidsposts und dann, scheinbar über Nacht, nicht mehr genug. Während Leute Fotos von ihren Verlobungen und Hochzeiten, ersten Hunden, ersten Häusern, ersten Kindern und jetzt zweiten Kindern posteten, war das letzte Bild, bei dem sie getaggt worden war, eines aus dem Krankenhaus gewesen. Adaku an ihrer Seite, beide mit frech erhobenen Daumen. So war sie in der Zeit erstarrt.

Aber dann war Mark gekommen und hatte gesagt: Romance-Hörbuchfans flippen aus, du solltest die Facebook-Gruppen sehen.

Sie ging auf die Seite von Dixie Barton, einer befreundeten Hörbuchsprecherin, die mit Romance Karriere gemacht hatte und am nächsten Tag bei der Podiumsdiskussion dabei sein würde. Ihr richtiger Name war Alice Dunlop. Sie hatte das Pseudonym Dixie Barton gewählt, weil diese in den 1940er-Jahren eine berühmte Burlesque-Tänzerin gewesen war. Sewanee sah sich die Gruppen an, denen »Dixie« angehörte:

Romance Rosies.

Midnight Riders.

Alles über Romance.

Sie klickte die mit den meisten Mitgliedern – zwanzigtausend?! – an und glitt in eine andere Dimension.

Es gab mindestens fünfzig Posts pro Tag; einige kündigten Neuerscheinungen an (»Buch 14 von Heiß wie Holly kommt heute raus! Her damit!«), andere bekundeten ihre Liebe zu einem bestimmten Buch oder Sprecher (»Manchmal höre ich Joe Kincaids Stimme in meinen Träumen«), und einige baten um Empfehlungen (»Weiß irgendjemand ein witziges M/M/F-Dreier-Buch? Muss WITZIG sein«). Autoren waren Mitglieder dieser Gruppe und auch Sprecher. Aber hauptsächlich waren es die Fans.

Fans, die, wie Sewanee feststellte, während sie die Seite durchscrollte, ein Buch pro Tag hören konnten. Fans, die Filmchen über ihre Lieblingssprecher machten. Fans, die ungeduldig auf das nächste Buch eines Sprechers warteten.

Sewanee wusste, wie beliebt Romance-Bücher waren, aber sie wunderte sich, zu sehen, dass Sprecher ihre eigene Followergemeinde hatten. Die Fans liebten die Frauen … aber sie vergötterten die Männer, von denen einer, Brock McNight, so was wie der König der Sprecher war. Die Kommentare machten es offensichtlich. »Eure Hoheit!« und »Unser liebstes Einhorn« und »Brock McNight! Ich will, dass du mir diese Passage vorliest, während ich dir einen blase!«.

Na dann, viel Spaß.

Sewanee wusste, dass Brock McNight unmöglich sein richtiger Name sein konnte. Die Freizügigkeit dieser Bücher war für viele Sprecher – wie auch die Autoren selbst – ein Grund, ein Pseudonym zu verwenden. Jeder, jede hatte seine oder ihre eigenen Gründe dafür, aber wie ein Bund von Magiern waren sie alle auf Geheimhaltung eingeschworen. Ein Post am Anfang der Seite drohte an, dass jeder Hörer, der einen Sprecher ohne dessen Zustimmung »outete«, aus der Gruppe geworfen würde.

Gut so.

Es war Mark gewesen, der Sewanee damals vorgeschlagen hatte, Hörbücher zu sprechen. Sie hatten zufällig in einem Blackbox-Theater mit dreißig Plätzen nebeneinandergesessen bei einem Theaterprojekt eines gemeinsamen Freundes und schienen die einzigen beiden Leute im Publikum zu sein, die nicht beeindruckt von der zähen Soße auf der Bühne waren. Nach einem zweiminütigen Gespräch über Hörbücher während der Pause gab Mark ihr seine Karte, sagte, sie würde mit Indie-Romance anfangen müssen und solle sich einen Decknamen suchen. Sie wählte den Klassiker: Unter Verwendung eines allseits beliebten Algorithmus kombinierte sie ihr erstes Haustier (Sarah, ein schwarzer Labrador, so treu wie dumm) mit der Straße, in der sie aufgewachsen war (Westholme, eine halbe Meile vom UCLA-Campus entfernt, wo ihr Vater unterrichtete). Sarah Westholme klang realistisch. Manche Sprecher machten es genau umgekehrt. Fluffy Foxtrot. Dick Long. Und im Fall eines sehr schwulen, sehr lässigen Sprechers, den sie verehrte und der ausschließlich queere Erotica aufnahm, Lindsey Graham. »Soll der Dreckskerl mich doch verklagen, wenn er sich traut.«

Die Indie-Romance im Hörbuchbereich war so stark gewachsen, seit sie sich »zur Ruhe gesetzt« hatte, dass Sewanee sich sicher war, dass Sarah Westholme in Vergessenheit geraten war. Aber sie gab ihr altes Pseudonym trotzdem in die Suchleiste der Facebook-Gruppe ein, nur um zu sehen, ob sie noch existierte.

Und ob sie noch existierte. Sie war ein Mysterium. Die große Unbekannte der Romance. Die Posts verrieten es ihr.

Warum spricht sie keine Hörbücher mehr?

Was ist mit ihr passiert??

Sie war mein absoluter Liebling, warum nur ist sie weg ???

Niemand macht die Männerstimmen so wie sie! Schattengänger?! Es gibt nichts Besseres als SW, die June French liest!

Schattengänger war die letzte Romance-Serie, die sie gemacht hatte, und sie hatte sie geliebt. Aber das war schließlich auch June French. Was gab es da nicht zu lieben? In den Neunzigern war June eine Romance-Kultautorin gewesen, hatte dazu beigetragen, das Genre zu definieren. Als die Schattengänger-Serie, von Sarah Westholme gesprochen, als Hörbuch herauskam, war sie durch die Decke gegangen.

June war die eine Autorin, bei der es Sewanee leidgetan hatte, dass sie aufgehört hatte, Romance zu sprechen. Sie hatten gut zusammengearbeitet, hatten sich interessante, intime E-Mails geschrieben und wären im wirklichen Leben vermutlich Freundinnen gewesen. Sie erinnerte sich, June sogar erzählt zu haben, was ihr zugestoßen war, warum sie nicht mehr vor der Kamera auftrat. Als sie vor ein paar Wochen hörte, dass June gestorben war – eine Schockwelle, die durch die Hörbuch-Community ging –, war sie traurig gewesen.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie zusammenzucken. Für einen Moment – einen kurzen, aber trotzdem! – sah sie sich selbst in einem June-French-Roman. Was für ein Abenteuer könnte auf der anderen Seite der Tür auf sie warten?

Ach ja, richtig. Essen.

Sie klappte den Laptop zu, sprang auf und rückte ihre Augenklappe zurecht, bevor sie einem Mann die Tür öffnete, der es niemals auf das Cover eines Romance-Buchs schaffen würde, und das nicht nur, weil seine beste Zeit dreißig Jahre zurücklag. Er rollte das Essen in ihr Zimmer, sie unterschrieb die Rechnung, gab ihm ein großzügiges Trinkgeld und schloss die Tür.

Sie nahm den Deckel von dem Teller und fand kalte Pommes, ein altes Brötchen, einen noch älteren Burger und eine Garnierung, die wahrscheinlich von einem anderen Dinner stammte.

Die Fantasie war vorbei. Die Wirklichkeit war wieder da.

Kapitel 3 

Der Einsatz

Am nächsten Morgen, während Sewanee sich für eine Lippenstiftfarbe zu entscheiden versuchte, starrte sie in den Badezimmerspiegel. Egal, wie sehr sie sich an den Anblick ihres Gesichts ohne die Augenklappe gewöhnt hatte, sie starrte es jedes Mal an, als wäre es das erste Mal, und jedes Mal mit der Hoffnung, es wäre das letzte Mal.

Die Stelle, wo einmal ihr rechtes Auge gewesen war, sah aus wie verbrannt, aber das war nur der Effekt von zu wenig Haut für zu viel Oberfläche. Die lange gezackte Narbe verlief von der Mitte ihrer rechten Augenbraue über den höchsten Punkt ihres Wangenknochens nach unten. Wie die Mündung eines Flusses schob sie sich in die Bucht ihrer Wangenmulde.

Sie sah wieder hinunter auf den Lippenstift. Leuchtend rot. Sei mutig.

Ihr Handy, das neben ihr auf dem Waschtisch lag, klingelte.

Sie warf einen Blick auf die Anzeige: Seasons. Die Einrichtung, in der ihre Großmutter lebte. Egal, wie oft sie im Laufe der Jahre Seasons auf dem Display gesehen hatte, ihr Magen hatte sich jedes Mal zusammengekrampft. In den letzten Monaten hatte sich die Verkrampfung parallel zu Blahs geistigem Zustand verschlimmert. Sie ging ran.

»Sewanee?«, fragte die vertraute Stimme.

»Hallo, Amanda. Ist alles okay?«

»Nicht wirklich, wir hatten einen kleinen Zwischenfall.«

Sewanee wandte sich um, lehnte sich gegen den Waschtisch. Sie stellte sich die energiegeladene, fähige Amanda hinter dem Schreibtisch in ihrem winzigen Büro vor, vermutlich mit einem Weihnachtspullover über der Stuhllehne, in den wuscheligen grauschwarzen Haaren ein Rentiergeweih-Haarreifen. »Was ist passiert?«

»Es tut mir leid, Sie damit zu belästigen. Wir haben versucht, Ihren Vater zu erreichen, aber er ruft nicht zurück.«

Typisch. »Schon gut, was ist passiert?«

»Na ja«, seufzte sie, »BlahBlah hat gestern Nacht ihr Zimmer verlassen.« Selbst die Pflegekräfte hatten den Spitznamen ihrer Großmutter übernommen. Barbara hatte nie »Grandma« oder »Nana« oder irgendetwas anderes, das »nach alter Frau klang«, genannt werden wollen. Aber die kleine Sewanee konnte Barbara nun mal nicht aussprechen. Das Beste, was sie zustande brachte, war BlahBlah. Sewanees Vater war der Ansicht gewesen, das passe perfekt zu seiner redseligen Mutter, also blieb der Spitzname hängen. »Einer unserer Pfleger hat sie heute Morgen um halb drei im Gemeinschaftsraum gefunden. Sie dachte, sie wäre in einem Hotel in Tennessee und würde sich für ihren Debütantinnenball fertig machen. Sie dachte, der Pfleger wäre ihr Begleiter.«

Sewanee schloss ihr Auge. »Wie geht es ihr heute Morgen?«

»Sie erinnert sich an nichts. War beim Frühstück ihr übliches quirliges Selbst.«

»Okay.« Sewanee atmete aus, legte den Kopf zurück. »Das ist doch gut. Oder?«

»Ja, aber die Sache ist die, wir mussten sie für den Rest der Nacht einschließen, zu ihrer eigenen Sicherheit. Ihr Zustand ist vorangeschritten und verlangt, dass wir über künftige Pflegeerfordernisse nachdenken.«

»Was heißt das?«

»Wir glauben, dass wir sie irgendwann in naher Zukunft auf unsere Demenzstation verlegen müssen.«

Sewanee hatte die große verschlossene Tür gesehen. Sie erinnerte sich lebhaft an das Schild mit der roten Aufschrift: DEMENZSTATION. TÜRSTÄNDIGGESCHLOSSENHALTEN. Die Tür ging von dem Flur ab, der zur Bar führte. Ja, das Seasons hatte eine Bar. Und einen Yoga-Raum. Die Einrichtung sah wie ein Hollywood-Studiogelände mit einer Kulisse des Fünfzigerjahre-Amerikas aus: Der Hauptflur war die Main Street, auf dem kleinen Markt gab es einen Tresen mit einem Getränkespender und eine Jukebox. Diese Disneyfizierung des Verfalls ging Sewanee gegen den Strich. Aber Blah war glücklich in der Kulisse. Und da das Heim in Burbank lag, gleich gegenüber den Warner Bros. Studios und neben dem Smoke House Restaurant, war es voll mit ehemaligen Filmleuten wie ihrer Großmutter.

Das war der Grund, weshalb Blah sich dafür entschieden hatte, nachdem ihre Schwester Bitsy, bei der sie bis dahin gelebt hatte, gestorben war. Das war ihre Sippe, und dort gehörte sie hin.

Während andere Heime mit ihren Bewohnern ins Einkaufszentrum oder ins Museum fuhren, bestanden die Ausflüge des Seasons aus Kinoabenden auf dem Hollywood-Forever-Friedhof, um Filmklassiker unter freiem Himmel zu sehen (»und um alte Freunde zu besuchen«, wie ihre Großmutter gern witzelte). Sie gingen zu Sitcom- und Talkshow-Aufzeichnungen. Sie hatten freitagabends eine Happy Hour, die für die Allgemeinheit offen war, und Swan kam zu den meisten davon und trank mit Blah und deren Freundinnen einen Martini.

Als sie das Seasons vor vier Jahren das erste Mal besichtigt hatten, hatte Amanda ihnen versichert, falls und wenn die Zeit für eine Verlegung auf die Demenzstation kam, würde Blah nicht von der Welt isoliert sein, an der sie sich erfreut hatte; sie würde immer noch an den Aktivitäten des betreuten Wohnens teilnehmen, wenn sie wollte. Wenn sie konnte. Sowohl Sewanee als auch Blah hatten das damals beiseitegewischt. Beide hatten sie nie ernsthaft die Möglichkeit in Betracht gezogen, BlahBlah – die schwatzhafte, gackernde, aufgeweckte, schnodderige, quirlige BlahBlah – könnte hinter verschlossenen Türen rund um die Uhr überwacht werden müssen.

»Soll ich es weiter bei Ihrem Vater versuchen?«, fragte Amanda.

»Nein, das wird nicht nötig sein. Ich werde ihn schon erreichen.«

»Okay. Bitte sagen Sie ihm, dass er mich anrufen soll.«

»Auf jeden Fall. Danke, Amanda.«

Sewanee beendete das Gespräch und rief die Nummer ihres Vaters auf. Sie hielt einen Moment inne, seufzte und wählte.

»Sewanee, ich habe keine Zeit zu plaudern, ist alles okay?«

»Es geht mir gut.« Nicht dass er wirklich fragte. Und nicht dass er wirklich keine Zeit hatte. Was es Sewanee unmöglich machte, ihn nicht ein bisschen zu provozieren, indem sie sagte: »Ich wollte nur ein langes und offenes Gespräch über unsere Hoffnungen und Träume führen, Dad.« Sarkasmus war ihre beste Angriffsstrategie gegen seinen sturen Selbstschutz, und sie beherrschte sie meisterhaft.

»Gibt es etwas, was ich für dich tun kann?«

»Ja. Wenn die betreute Wohneinrichtung deiner Mutter anruft, will ich, dass du abnimmst.«

Eine winzige Pause. »Ist alles okay?«, fragte er noch einmal. Der Tonfall ging ihr auf die Nerven. Mit Tonfall kannte sie sich aus. Es war ihr Beruf, sich mit Tonfall auszukennen. Seiner war abgelenkt, ungeduldig. Aber – und das regte sie maßlos auf – fast hoffnungsvoll, dass tatsächlich nicht alles okay war. Ihr drehte sich der Magen um.

»Nein.« Sie schluckte. »Gestern Nacht gab es einen Zwischenfall, nichts Ernstes, aber das hat Amanda veranlasst, mir zu sagen – dir zu sagen –, dass Blah auf die Demenzstation verlegt werden muss. Also muss Amanda mit dir reden.«

»Warum?«

Sewanee schwieg einen Moment. »Warum? Um alles zu besprechen?«

»Ihre Hoffnungen und Träume?«

Sewanee ging nicht auf den Seitenhieb ein, und Henry legte nicht nach. Als das Schweigen sich allzu lange hinzog, sagte Sewanee: »Ich habe vor, sie am Montag zu besuchen, zum Lunch.« Noch immer nichts. »Wie wärs, wenn wir uns dort treffen?« Ohne das Geräusch seines Schluckens – Kaffee, nahm Sewanee an –, hätte sie gedacht, die Verbindung sei abgebrochen. »Dad?«

Ein leises Kichern. »Das ist nicht nötig. Geh du nur zu deinem Lunch, und ihr Ladys klärt das alles, und wir sprechen uns danach.«

»Okay. Ich rufe dich am Montagabend an.« Mehr Schweigen. »Willst du nicht wenigstens wissen, was passiert ist …?«

»Swan, wir sprechen uns am Montag. Ich muss jetzt Schluss machen.« Er legte auf.

Ihren BiblioCon-Ausweis um den Hals, sprintete Sewanee durch den riesigen Kongresssaal wie ein Runningback in Richtung Endzone. Die Anzahl der Teilnehmer war erstaunlich. Für eine Frau, die einen Großteil ihres Arbeitslebens unter Kopfhörern verbrachte, eine Frau, die mehr als alles andere absolute Stille schätzte, war das Umgebungsgeräusch im Saal genug, um sie die Schultern hochziehen zu lassen.

Ihr Handy vibrierte in ihrer Tasche, einmal nur, eine Nachricht.

ADAKU:

Bist du da?

SEWANEE:

Ja. Auf dem Weg zur Podiumsdiskussion.

ADAKU:

Komm für eine Sekunde zum Green Room.

SEWANEE:

Es gibt einen Green Room??

ADAKU:

Nordwestliche Ecke.

SEWANEE:

Wer bin ich, Magellan?

ADAKU:

Neben dem Starbucks. Unter dem Plakat von mir.

Sewanee ließ den Blick durch den Saal schweifen. Sie fand das Plakat für den Film Girl in the Middle – eine Stop-Action-Nahaufnahme von Adakus Gesicht – und schlängelte sich hinüber. Sie schrieb rasch:

Hab nur 10 Min.

ADAKU:

Brauch nur 2.

Nachdem sie die Tür gefunden hatte und der Hüne, der den Raum bewachte, ihren Ausweis mit dem Namensschild abgeglichen hatte, das um ihren Hals baumelte, wurde sie in den exklusiven Aufenthaltsbereich geführt, wo Adaku auf sie wartete, einen To-go-Kaffeebecher in der ausgestreckten Hand.

»Du Liebe«, sagte Sewanee und nahm ihn entgegen.

Wortlos nahm Adaku ihre Hand und zog sie den Flur hinunter zur Damentoilette. Sie überprüfte rasch die beiden Kabinen, vergewisserte sich, dass sie leer waren, zog Sewanee in eine Kabine und verriegelte die Tür.

»Was ist los, hast du jemanden umgebracht?«, fragte Sewanee und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. Adaku fuchtelte mit den Händen, außerstande zu sprechen. Jetzt war Sewanee doch alarmiert. »Ist es etwas Gutes oder Schlechtes?«

Etwas wie ein Jaulen entfuhr Adaku. »Es ist etwas Gutes, Swan. Es ist wahnsinnig gut. In-N-Out-gut.«

Sewanee wusste, wenn Adaku ein letzter Wunsch gewährt werden würde, dann wäre es der Double-Double von diesem Burgerladen. Adaku flimmerte wie eine Glühbirne. Sewanee begann, ebenfalls zu flimmern. »Was ist denn los? Erzähl schon!«

Adaku knetete die Hände. »Dieses Lysistrata im Dschungel-Projekt, von dem ich dir erzählt habe?« Sewanee nickte. »Ich habe einen Meilenstein erreicht. Den ganz großen.«

»Den ganz großen?«

Adakus Kinn bebte. »Unseren ganz großen.«

Sewanee würde sich später damit trösten können, dass ihr erster Impuls, ihr Instinkt, ein Glücksgefühl und kein eifersüchtiger Stich gewesen war. Ihr Lächeln war echt, der Schrei, der aus ihr hervorbrach, war aufrichtig, die Tränen, die folgten, waren Tränen der Freude. Sie kicherten, und sie weinten, und nach einem gewissen Punkt ließ sich unmöglich sagen, was was war in diesem Emotionscocktail. Sewanee schlang die Arme um ihre Freundin, die einzig wahre, die ihr noch geblieben war, das Beständigste in ihrem Leben, und spürte Adakus Herz schnell an ihrem eigenen schlagen.

»Eine Million Dollar«, flüsterte Adaku zitternd. »Eine Million gottverdammte Dollar.«

»Du hast es geschafft!«, kreischte Sewanee.

Adaku lehnte sich zurück und nahm Sewanees entstelltes Gesicht sanft in die Hände. »Wir haben es geschafft! In dieser beschissenen Pizzabude in der 181st …«

»Du wagst es, die Erinnerung an Tony’s zu beschmutzen?«

Adakus Tränen benetzten ihre lächelnden Lippen. »Bei unserem 2,99-Dollar-Special, zwei Stück Pizza und eine Cola, haben wir es einander versprochen. Eine von uns würde eine coole Million machen, bevor sie fünfunddreißig ist.«

Sewanee zog Adaku wieder an sich, spürte, wie die Tränen das Lachen vertrieben und ihre Kehle sich zuschnürte. »Du hast es geschafft. Du …« Sie boxte Adaku gegen die Schulter. Scherzhaft, da war sie sich sicher. »Gott, ich bin so stolz auf dich!«

Adaku wischte sich übers Gesicht. »Ich meine, nach Steuern und Provisionen sind es ungefähr vierhunderttausend Dollar, aber …«

»Ach, ist doch egal.«

Sie sahen sich einen stillen Moment an. Adakus Augen trübten sich ein. Ihre Miene wurde ernst. »Wir wissen beide, dass du das hier vor einer Ewigkeit gekriegt hättest. Wenn dieser Scheißpr…«

»Du gewinnst, ich gewinne, wir gewinnen, schon vergessen?«

»Aber es ist unfair …«

»Nicht«, befahl Sewanee und umfasste Adakus Schultern. »Du kriegst eine Million Dollar dafür bezahlt, dass du die Hauptrolle in einem Film spielst.«

Adakus Lächeln kehrte zurück. »Ich habe eben den Anruf bekommen, und du bist die einzige Person, mit der ich das teilen will. Ich bin so froh, dass du hier bist!«

Sewanee trat einen Schritt zurück und hob die Hände wie eine Wahrsagerin. »Ich sehe … Ich sehe Unmengen von Champagner in unserer Zukunft.« Adaku lachte. »Aber in diesem Moment sind deine zwei Minuten um, und ich werde zu spät kommen.«

Adaku stürzte vor. »Natürlich, natürlich! Entschuldige.« Sie entriegelte die Tür. »Was willst du heute Abend unternehmen? Ich habe mir gedacht …«

»Was immer du willst!«

»Kann ich dich überreden, in einen Club zu gehen? Der Flaschenservice …«

»Ja, alles, was du willst, Süße, ich muss los!«

Adaku riss die Tür auf. »Na hau schon ab! Du wirst zu spät kommen! Wie oft muss ich dir das noch sagen?«

Sewanee lachte, drückte fest Adakus Arm und schoss los.

Während sie den Flur hinuntereilte, spürte sie, wie sich ihr Kiefer verkrampfte. Als sie den Kongresssaal wieder betrat, spürte sie, wie sich ihre Brust zuschnürte, und auf dem Weg zum Romance-Pavillon hämmerte ein einziges Wort in ihrem Kopf. Warum. In einer Endlosschleife. Warum. Warum. Warum.

So schnell konnte ihr Gemütszustand umschlagen. Dieser gefährliche, unsichtbare Sog war die eine Sache in diesem Leben, die ihr noch immer Angst machte, die sie sich fragen ließ, ob es falsch gewesen war, die Medikamente nach dem ersten Jahr abzusetzen, die Therapie aufzugeben. Das hier war nicht gut. Es katapultierte sie sieben Jahre zurück, und sie lag wieder in diesem Krankenhausbett und fragte sich, warum man sich überhaupt die Mühe gemacht hatte, sie zu retten.

Der Saal war zum Bersten voll mit Autoren und Fans. Sie hockten auf den Stufen, lehnten an den Wänden, saßen förmlich aufeinander. Die handverlesenen Teilnehmer der Podiumsdiskussion – kluge, talentierte Leute – hatten den Saal in ihren Bann gezogen. Da war Alice Dunlop, auch bekannt als Dixie Barton; Mildred Prim, eine an der Royal Academy of Dramatic Art ausgebildete siebzigjährige Britin, die seit der Highlander-Serie, die sie die letzten zwanzig Jahre gesprochen hatte, eine riesige Fangemeinde hatte; und Ron Studman. Ron war einer der wenigen Romance-Sprecher, die es genossen, gesehen zu werden, denn er wollte die Leute wissen lassen, dass man selbst im fortgeschrittenen Alter, mit einem immer dickeren Bauchumfang und immer lichterem Haar, ein Sexsymbol sein konnte, wenn man das Zeug dazu hatte. Das Zeug war in seinem Fall die Stimme, und die Fans liebten ihn dafür.

Im Moment fraß das Publikum Ron aus der Hand. Anzügliche Rufe von einer Gruppe Frauen in der ersten Reihe wurden laut, als er die Stimme anschlug, die man meisten mit ihm in Verbindung brachte: die des sexy irischen Vampirs Seamus.

Sewanee hatte alles abgefragt, worum Mark sie gebeten hatte. Was glauben Sie, warum Hörbücher im Moment boomen? Wie bereiten Sie sich darauf vor, ein Buch aufzunehmen? Was ist die beste Herangehensweise, um eine Sexszene zu sprechen? Außerdem war noch einmal in aller Deutlichkeit gesagt worden, warum Leute, die das Pseudonym eines Sprechers outen, öffentlich gestreckt und gevierteilt werden sollten. Es war Zeit, zum Ende zu kommen, also stellte sie eine Frage, die den Podiumsteilnehmern eine letzte Gelegenheit zu glänzen geben würde. Warum sind Romance-Bücher sobeliebt? Während die Teilnehmer der Reihe nach antworteten, stieg Sewanees Stimmung. Sie hatte ihren Job gut gemacht. Mark würde glücklich sein und die Organisatoren zufrieden. Sie freute sich auf den bevorstehenden Abend mit Adaku, die es verdient hatte, gefeiert zu werden, die jedes gottverdammte bisschen Erfolg, das sie genoss, verdient hatte.

Ron war als letzter Podiumsteilnehmer mit seiner Antwort dran, und da er Ron war, enttäuschte er nicht. »Frauen sind dabei, das volle Ausmaß ihrer Lust zu entdecken. Scham gehört der Vergangenheit an! Ein Happy End ist möglich. Es sitzt vielleicht sogar genau vor Ihren Augen!« Dann zwinkerte er ins Publikum.

»Also dann«, sagte Sewanee, an den Saal gewandt. »Ich danke den Podiumsteilnehmern für die Einblicke, die sie uns in ihre Arbeit gewährt haben. Wir haben noch ein paar Minuten Zeit, und ich möchte die Diskussion gern für Fragen aus dem Publikum öffnen.«

Eine der Frauen in der ersten Reihe sprang auf und bat Ron, ihr Dekolleté zu signieren. Gejohle ringsum. Ron kam der Bitte nach.

Eine Frau ein paar Reihen weiter hinten stand auf und nahm das Mikrofon. »Hi. Ich denke, ich spreche für uns alle, wenn ich frage: Wer ist Brock McNight?« Die Menge klatschte. »Im Ernst! Wir müssen es wissen.«

Ron machte eine Geste, als würde er seine Lippen mit einem Reißverschluss zuziehen, und die anderen Podiumsteilnehmer schüttelten den Kopf.

Die nächste Frage betraf ebenfalls Brock McNight. Und die übernächste. Dann sagte Sewanee: »Irgendwelche Fragen ohne Brock-McNight-Bezug?«

Jemand hatte eine Frage an Sewanee: »Sprechen Sie selbst auch Romance?«

»Nein.« Ihr wurde bewusst, dass ihre Antwort schärfer geklungen hatte als beabsichtigt. Sie strahlte und zeigte zum Podium. »Das überlasse ich den Fachleuten.«

»Sewanee macht die ganzen harten Bücher«, warf Ron ein. »Die, die niemand sonst anfassen kann. Fantasy mit dreihundert Figuren, Kriegssagas mit zwanzig verschiedenen Akzenten, die Klassiker, literarische Schwergewichte. Je länger, desto besser, je dicker, desto besser.«

»Lang und dick ist immer gut«, witzelte Sewanee, und das Publikum lachte. Sie hatte vor langer Zeit gelernt, dass man es lachend zurücklassen musste; BlahBlah hatte ihr das beigebracht. »Okay, wie wärs mit noch einer Runde Applaus für unser wundervolles …«

Sewanee bemerkte, wie eine junge Frau mit blonden, gewellten Haaren aufstand und ihr Sommerkleid glatt strich. Sie rief: »Entschuldigung, Leute! Ganz schnell noch eine kurze Frage?«

Sewanee sah auf die Uhr an der hinteren Wand, während das Saalmikrofon zu der Frau schwenkte.

»Vielen Dank«, sagte die Frau. »Und vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, zu kommen und mit uns zu reden.« Sie hatte einen ausgeprägten Südstaaten-Akzent. So ausgeprägt, dass Sewanee sich für einen Moment fragte, ob er Fake war. Hoch, näselnd und am Satzende noch mal ansteigend. »Ähm, meine Frage lautet: Was ist der beste Weg, um in die Branche zu kommen?«

»Ich kann Ihnen mehr Informationen am Stand geben«, antwortete Sewanee, »aber sobald Sie einen Entwurf Ihres Buchs fertig haben, sollten Sie sich überlegen, eine Hörbuchfassung …«

»Oh, nein!«, kicherte die Frau. »Ich bin keine Autorin. Ich bin Schauspielerin?«

Sewanee stockte, ihr Gehirn setzte aus.

Ron übernahm das Ruder. »Na ja, das Erste und Wichtigste ist«, sagte er, beugte sich über das Mikrofon und wechselte zur Stimme des irischen Vampirs, »dass Sie sich nach der Podiumsdiskussion an Seamus wenden.«

»Ron«, schalt ihn Sewanee, »Seamus sollte sich schämen!« Das Publikum lachte. »Okay, Leute, vielen Dank für …«

»Ich meine, ich lese gern.« Das Mädchen steckte sich eine Haarsträhne hinters Ohr und fuhr fort: »Und ich besuche Schauspielkurse in L. A.?« Hilfe, das war so ein Fall von als Frage getarntem Geschwafel. »Und, na ja, ich weiß nicht, es scheint einfach der perfekte Job für mich zu sein …«

Wieder bewahrte einer der Podiumsteilnehmer Sewanee davor, antworten zu müssen. »Nun ja«, begann Mildred, »ich sage den Leuten immer, wenn man denkt, dieser Job könnte zu einem passen, sollte man sich am besten in einen fensterlosen Raum setzen und ein Buch laut lesen, bei jedem Versprecher innehalten und noch einmal am Satzanfang beginnen. Machen Sie das acht Stunden lang, dann schauen wir, ob Sie immer noch denken, dass es der perfekte Job für Sie ist.«

Das Publikum kicherte. Sewanee dankte Mildred im Stillen für den Realitätscheck.

»Ihnen allen zuzuhören, hat mir klargemacht«, fuhr das Mädchen unbeirrt fort, »Romance zu sprechen, wäre genau das Richtige für mich!«

Sewanees morbide Neugier gewann die Oberhand, als würde sie auf dem Freeway abbremsen, um langsam an einem Autounfall vorbeizufahren. »Warum?«

»Wenn ich meine schauspielerischen Fähigkeiten und das alles einbringe, könnte ich den Leuten Hoffnung geben?«

»Inwiefern?«

»Mit … mit dem, was ich eben gesagt habe? Mit dem Aufnehmen von Romance-Büchern? Wie wunderbar wäre es, der Welt aufzuzeigen, dass Liebe immer einen Weg finden wird, dass alles gut werden wird, dass wir wirklich ein Happy End haben können?«

Sewanee nahm sich zusammen, versuchte, nicht herablassend zu klingen. »Das wäre wunderbar, wenn es wahr wäre, aber … vermutlich belassen wir es am besten dabei.«

Das Mädchen zog eine entzückende Schmollmiene. »Klingt, als ob hier jemand ein bisschen was von dieser Hoffnung gebrauchen könnte?!«

Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

»Ich habe Hoffnung. Echte Hoffnung, keine falsche Hoffnung. Romance-Bücher sind eine wundervolle Flucht, aber …« Sewanee hielt einen winzigen Moment inne, aber sie konnte sich nicht beherrschen und sprach es dann einfach aus: »Hören Sie, wenn Sie den Leuten etwas geben wollen, dann geben Sie ihnen die Wahrheit. Seien Sie offen und ehrlich zu ihnen. Romance-Bücher sind nicht das richtige Leben, Liebe ist kein gottgegebenes Recht, und ein Happy End ist Schwachsinn.«

Jemand am hinteren Ende des Saals winkte hektisch, eine Frau in einem T-Shirt mit dem Logo des Kongresses und einem Klemmbrett in der Hand. Sie klopfte auf eine Art, die Sewanee als komödiantisch empfand, auf ihr Handgelenk. Was den Bann brach.

Sie sah in die schweigende Menge, während sich das, was sie soeben gesagt hatte, wie erstickende Asche aus einem Vulkan über das Publikum senkte.

Scheiße.

Sie sammelte sich kurz. »Das habe ich vorhin im Kongresssaal jemanden sagen hören, und ich konnte es nicht glauben. Ich meine, wir wissen es doch wirklich besser, oder? Ist ein Happy End totaler Schwachsinn?«

»Nein!«

Sie hatte die Zuhörer wieder eingefangen. »Es tut mir leid, meine Damen und Herren, ich glaube, man hat Sie drüben im Snob-Pavillon nicht gehört! Ist ein Happy End Schwachsinn?!«

Eine schallende, den Saal ausfüllende Antwort: »NEIN!!!« Das Publikum jubelte und klatschte.

Noch ein Blah-ismus? Bring das Publikum auf deine Seite.

Über den Applaus hinweg rief Sewanee: »Vielen Dank nochmals an unser Podium, und denken Sie dran, wir werden in der nächsten Stunde an Stand 2186 signieren! Ich wünsche Ihnen einen tollen Tag!«