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Die Ems-Chemie ist eines der bekanntesten Industrieunternehmen der Schweiz und der wichtigste private Arbeitgeber in Graubünden. Ursprünglich hiess sie Holzverzuckerungs A.G. und war ein Kind der Kriegswirtschaft. Mit öffentlichen Mitteln gebaut und betrieben, stellte sie Ersatztreibstoff aus Holzabfällen her. Als Benzinimporte nach dem Krieg den teuren Treibstoff überflüssig machten, räumte der Bund dem Emser Werk eine subventionierte Übergangsfrist ein. Bis 1955 musste es sich am Markt positionieren – oder dichtmachen. Die waghalsige Transformation zu einem rentablen Chemie-Unternehmen steht im Zentrum dieses Buches. Dank hartnäckiger Recherchen kann die Autorin zeigen, wie Firmengründer Werner Oswald mithilfe deutscher Berater und Spezialisten mit NS-Vergangenheit eine Kunstfaserproduktion aufbaute. Um neue Absatzmöglichkeiten für den Treibstoff zu schaffen, stieg er auch ins Waffengeschäft ein. Ingenieure aus Peenemünde, dem Geburtsort von Hitlers «Wunderwaffe» V2, entwickelten in Ems eine Rakete, andere konstruierten Zünder und Minen, während Schweizer Chemiker an einer Napalm-Variante tüftelten, die später in Kriegen in Burma, Indonesien und im Jemen eingesetzt wurde.
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Seitenzahl: 942
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Für meinen Sohn Julian Sarasin, der seine Mutter vier Jahre lang klaglos mit den Gespenstern der HOVAG geteilt hat.
Nylon und Napalm
Regula Bochsler
Institut für Kulturforschung Graubünden (Hg.)
Vorwort
Prolog: Tod eines Waffenhändlers
Familiengeschichten
Der «Kaiser von Luzern»
Bilder für Hitler, Bomben für Franco
Treibstoff (1936–1945)
«Eine patriotische Tat in ernster Stunde»
Gruppe Rigi
«Nit lugg lahn gwinnt»
Zwei Freunde
«Die HOVAG macht mir ernstliche Sorgen»
«Wohl spät, aber doch noch rechtzeitig»
Erbe des «Dritten Reichs» (1945–1949)
«We take the brain»
«Mineralöl-Fischer»
«Sarabande der erloschenen Menschen»
«Ein magischer Klang bei der Damenwelt»
«Intrigenversuche auf dem Patentgebiet»
«Ein ungetreuer Direktor»
Kunstfasern (1950–1955)
«Geheimsphäre in Ems»
«Ebenso schwierig wie heikel»
«Eine schweizerische Lösung»
«Parasitäre Erscheinungen»
«Der Kopf der ganzen Schieberkette»
«Grilon stricke, nüme flicke!»
Raketen (1946–1955)
«Der Herr von Peenemünde»
«All diese Dinge sind sehr schmutzig»
«Der zeit- und kostensparende Weg»
«Der gefährlichste Mann in Europa»
«Das missglückte Emser Experiment»
«Das Eingreifen hoher Persönlichkeiten»
«Unklarheiten fataler Art»
Napalm (1954–1955)
«Opalm übertrifft Napalm»
«In Gottesnamen, montieren wir eben ab»
«Vor einem Ausfuhrskandal?»
Politik (1954–1960)
Mit «grimmiger Sachlichkeit»
«Gott bewahre uns vor solchen Experimenten!»
Ernst Fischers «Kuckucksei»
«Atomforschung ist Zukunft»
«Ein düsterer Tag»
«Eine Kolonie der Industriekantone»
«Ein unfeines Sprengmanöver»
«Ems – ein Schweizer Wirtschaftswunder»
Waffengeschäfte (ab 1960)
«Nebelgeräte in der Dachstube»
«Das Ende eines Waffenhändlers»
Der «Saftladen» in Bonn
«Im Schatten und in aller Stille»
Präsident Nassers «Opal»
«Palmöl» und «Calypso»
Die «Chäpslifabrik»
Epilog: «Erfolg als Auftrag»
Anhang
Kurzbiografien
Abkürzungen
Anmerkungen
Archive
Bibliografie
Bildnachweis
Dank
«Das Faszinierende an der Geburtsstunde unserer Firma ist nicht, dass man dank vieler guter Voraussetzungen eine Idee verwirklichen konnte, sondern vielmehr, dass man trotz schlechter Voraussetzungen mit Willen und Tatkraft die Hindernisse überwunden hat, um ein grosses Ziel zu erreichen.» Christoph Blocher, 1981
Das Wohnzimmer war schon halb ausgeräumt, die Teppiche eingerollt, überall standen Umzugskisten. Bernd Schultze war kurz davor, nach Spanien auszuwandern. Doch wohin mit dem schriftlichen Nachlass seines Vaters? Wegwerfen? Ins Archiv geben? Aber in welches? Ich hatte über eine Freundin erfahren, dass er eine Fachperson suchte, um die historische Relevanz des Nachlasses einzuschätzen. Deshalb kam ich nun in den Genuss eines Kaffees und einer Kurzversion der Geschichte, wie seine Familie 1958 von der DDR ins Bündnerland gezogen war, wo sein Vater, der Chemiker Joachim Schultze, am Aufbau der Polyesterproduktion der Emser Werke mitwirkte und später unter Christoph Blocher zum Forschungsleiter avancierte.
Bernd Schultze hatte alle Hände voll zu tun, seine Zukunft zu organisieren, und deshalb wenig Zeit, über die Vergangenheit zu reden. Nach einer halben Stunde stiegen wir in den Keller hinunter, und da standen sie: zwei Metallkisten und eine verstaubte Archivschachtel, die zum Ausgangspunkt für eine mehrjährige Recherche werden sollten. Zurück im Büro inspizierte ich den Inhalt: Jahresberichte, Zeitungsartikel und Firmendokumente aus den Achtziger- und Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Nichts Weltbewegendes. Interessanter waren die Dokumente aus der Nachkriegszeit: Pläne von deutschen Chemieanlagen, eine Abhandlung mit dem Titel «Die Luftverteidigung», aus der eine unbekannte Hand den Verfasser herausgeschnitten hatte, ein überdimensionierter handgezeichneter Plan des Kampfflugzeugs P-16 der Flugzeugwerke Altenrhein, Messresultate von Raketenversuchen, Briefwechsel mit deutschen Spezialisten in Madrid und Kairo zum Thema Raketentreibstoff sowie ein Manuskript zur Firmengeschichte von Joachim Schultze. Dieses enthielt eine weitere Überraschung: Die Holzverzuckerungs AG, wie die Ems-Chemie ursprünglich hiess, hatte offenbar auch eine Napalm-Variante namens Opalm entwickelt.
Mir war einzig bekannt, dass die HOVAG, wie die Firma der Einfachheit halber meist genannt wurde, Ersatztreibstoff produzierte, mit dem das im Zweiten Weltkrieg streng rationierte Benzin gestreckt wurde. Von Raketen oder Napalm aus Ems hatte ich noch nie gehört. Weil auch das Internet keine Auskunft gab, suchte ich nach Fachliteratur. Die Ausbeute war mager: Ein Porträt des Firmengründers Werner Oswald, geschrieben im Auftrag eines seiner Söhne, war mehr Werbeschrift als historische Studie. Das Gleiche galt für die Firmengeschichte, die Christoph Blocher und seine Tochter Magdalena Martullo-Blocher 2011 zum siebzigjährigen Jubiläum herausgegeben hatten: keine Raketen, schon gar kein Napalm und bis auf einen Halbsatz auch keine deutschen Spezialisten, die wie Joachim Schultze in Ems neue Produktionszweige aufgebaut hatten.1
Ergiebiger war die Publikation «Tarnung, Transfer, Transit», eine der Einzelstudien der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK, auch Bergier-Kommission genannt), über die Schweiz «als Drehscheibe verdeckter Operationen». Hier stand zu lesen, dass deutsche Spezialisten ab 1947 eine Kunstfaserproduktion in Ems aufgebaut hatten und Werner Oswald drei Berater mit Nazi-Vergangenheit angestellt hatte: Ernst Fischer, einen ehemaligen hochdekorierten Wehrwirtschaftsführer und Vertrauten Görings, Heinrich Bütefisch, Wehrwirtschaftsführer und Verwaltungsrat des Chemiegiganten I.G.-Farben, sowie Johann Giesen, Chemiker und ehemals Direktor im I.G.-Farben-Werk Leuna. Während Fischer die Ausbeutung der Ölvorkommen in den besetzten Ländern organisiert hatte, waren Bütefisch und Giesen in Bau und Betrieb des Chemiewerks Auschwitz-Monowitz involviert gewesen, wo rund 25 000 Zwangsarbeiter aus dem nahe gelegenen Konzentrationslager den Tod fanden.2
Meine Neugierde war geweckt. Gleichzeitig wunderte ich mich, dass so wenig bekannt war über ein fast schon ikonisches Schweizer Unternehmen, das die Aktivdienstgeneration wegen des Ersatztreibstoffs und jüngere Generationen wegen des früheren Besitzers, Altbundesrat Christoph Blocher, kannten. Ihm brachte die Ems-Chemie das Vermögen ein, das ihm ermöglichte, als SVP-Parteichef wichtige politische Kampagnen mitzufinanzieren.
Die Emser Werke, 1941 mithilfe der öffentlichen Hand erbaut, produzierten Ersatztreibstoff, den der Volksmund «Emser Wasser» taufte. Dieses Kind der Kriegswirtschaft verlor seine Existenzberechtigung, als der Benzinimport nach Kriegsende wieder spielte. Um das Überleben der HOVAG zu sichern, räumte ihr der Bund eine zehnjährige subventionierte Übergangsfrist ein. Bis 1956 musste das Unternehmen neue Produkte entwickeln, um auf eigenen Füssen zu stehen – oder dichtmachen. 1955 kam der Bundesrat jedoch zum Schluss, die HOVAG sei noch nicht überlebensfähig, und das Parlament bewilligte weitere fünf Jahre Bundeshilfe. Darauf lancierten wirtschaftsliberale Kreise ein Referendum, und die Stimmbürger lehnten das Hilfspaket mit grossem Mehr ab. Zur Verblüffung der Zeitgenossen, die mit dem Ruin der HOVAG gerechnet hatten, stellte Oswald die Holzverzuckerung ein und führte das Unternehmen ohne Subventionen weiter. Nach seinem Tod 1979 wurde der Wert des Konzerns auf eine halbe Milliarde Franken geschätzt – und der neue starke Mann hiess Christoph Blocher.
Blochers erster Kontakt mit der Familie Oswald ging auf die Fünfzigerjahre zurück, als er mit einem der Oswald- Söhne die Schulbank in der Zürcher Privatschule Minerva drückte. Oswald wurde auf den jungen Mann aufmerksam, als er mit der Schulklasse die Emser Werke besuchte. Es war eine schicksalhafte Begegnung mit weitreichenden Folgen. «Als Student wurde der witterungsbegabte Christoph Blocher von einem andern gewittert, und das ergab die Zündung», schreibt Blochers Bruder Andreas. «Weil auch ich eine Zeitlang in [Oswalds] Haus verkehrte, bekam ich Gelegenheit, jene zündende Begegnung zu sehen oder vielmehr zu hören. Besagter Industrieller war eine hochgewachsene Erscheinung, hager und bleich, mit einer befehlerischen Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Abends sass der Mann in seinem unzugänglichen, reich ausgestatteten Arbeitszimmer im Lehnstuhl, neben sich aus seinen Sammlerschätzen ein edelsteinbesetztes Kreuz aus der Hauskapelle Rudolfs I. von Habsburg. Dort konnte ihn nur sprechen, wen er über eine Meldeanlage herbeizitierte. Zu wiederholten Malen verlangte er Christoph in die Audienz. In der Erinnerung höre ich durch die geschlossene Tür den dringlichen, fistelnden Ton des Magnaten, darauf die munter bellende Stimme meines Bruders, der da eifrig ruft: ‹Stimmt nicht, Herr Tokter! Hier irren Sie sich, Herr Tokter!› […] Der tyrannische Chef hatte jemanden gefunden, der ihm endlich widersprach.»3
Als Christoph Blocher 1969 sein Studium abschloss, bot ihm Oswald eine Stelle im Rechtsdienst der Emser Werke an. Der junge Jurist avancierte rasch zu seinem Vertrauten und besetzte Schlüsselpositionen.4 1983, vier Jahre nach Oswalds Tod, konnte Christoph Blocher das Unternehmen kaufen; zwanzig Jahre später, als er in den Bundesrat gewählt wurde, verkaufte er es seinen vier Kindern und übertrug die Leitung seiner Tochter Magdalena Martullo-Blocher. Sie steht heute einem Konzern mit fast 3000 Angestellten vor, der einen Jahresumsatz von mehr als zwei Milliarden Franken erzielt.
Ich wollte keine Geschichte der Ems-Chemie unter Christoph Blocher schreiben, sondern herausfinden, wie es Werner Oswald gelungen war, das kriegswirtschaftliche Treibstoffwerk zu einem selbsttragenden Chemiewerk umzubauen und auf welche Netzwerke er dabei zurückgreifen konnte. Anfang 2019 konnte ich dank dem Institut für Kulturforschung Graubünden (ikg) die Arbeit am vorliegenden Buch in Angriff nehmen. Ein Jahr später ersuchte ich Magdalena Martullo-Blocher um Zugang zum Firmenarchiv. Ich schlug vor, zuerst die Findmittel zu konsultieren, um anschliessend ein detailliertes Einsichtsgesuch zu stellen. Gleichzeitig bat ich um Einsicht in die Akten, welche die Bergier-Kommission konsultiert hatte, die dank einem Bundesbeschluss Zugang zu sonst streng verschlossenen Archiven von Privatunternehmen hatte und Arbeitskopien von ausgesuchten Dokumenten erstellen durfte. Nach der Publikation des Schlussberichts konnte die Ems-Chemie diese Kopien zurückfordern, doch das zehnseitige Aktenverzeichnis blieb im Bundesarchiv.5 Es listet unter anderem Protokolle von Verwaltungsratssitzungen, Verträge, Briefwechsel zwischen Oswald und seinen deutschen Beratern sowie Personalakten der deutschen Spezialisten samt Entnazifizierungsentscheiden auf – insgesamt 551 Seiten Akten sowie ein Verweis auf 131 Ordner, aus denen diese Dokumente stammten.
Dieser historische Schatz blieb für mich jedoch unerreichbar. Die Ems-Chemie lehnte mein Gesuch mit der Begründung ab: «Wir haben die Archivalien nochmals grob gesichtet. Darauf basierend müssen wir davon ausgehen, dass alle vorhandenen Archivalien bereits gründlich im Rahmen der Forschungsarbeiten der UEK (Bergier-Kommission) aufgearbeitet wurden und keine weiteren, noch nicht gesichteten Dokumente bei uns vorhanden sind. Eine erneute Sichtung derselben Archivalien für Ihr Forschungsprojekt würde deshalb keine neuen Erkenntnisse bringen.»6 Die Absage war – bis auf den Begriff «Forschungsprojekt» – identisch mit einer E-Mail an SRF-Redaktor Hansjürg Zumstein, der ebenfalls um Archivzugang gebeten hatte, und ergab fachlich wenig Sinn: Die Bergier-Kommission hatte zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg geforscht, mein Fokus lag auf der Geschichte eines einzelnen Unternehmens in der Nachkriegszeit. Zudem verwendete die UEK-Studie nur einen verschwindend kleinen Teil der Emser Akten und zitierte nur kurze Passagen. Mehr noch: Die Absage der Ems-Chemie setzte die von der UEK gesichteten Dokumente fälschlicherweise mit «allen vorhandenen Archivalien» gleich, was angesichts der 131 Ordner, auf die das Aktenverzeichnis verweist, wie ein schlechter Scherz anmutet. Doch alles Argumentieren war vergebens. Weder die Fürsprache des Instituts für Kulturforschung Graubünden noch ein zweites Gesuch von mir konnten die Türen des Firmenarchivs öffnen. Damit verhindert Martullo-Blocher eine kritische Überprüfung der offiziellen, von ihr und ihrem Vater abgesegneten Firmengeschichte. Ihr Entscheid hat eine durchaus ironische Note: Sie verunmöglicht damit, dass die Befunde der UEK überprüft werden können, obwohl die Kommission ihrem Vater ein Dorn im Auge war.
Die Ems-Chemie ist nicht das einzige Schweizer Privatunternehmen, das sein Archiv fest unter Verschluss hält, doch in ihrem Fall hat dies einen besonders schalen Nachgeschmack. Die HOVAG lebte 15 Jahre lang von der öffentlichen Hand und den Konsumenten, die das teure «Emser Wasser» kaufen mussten, weil es dem Importbenzin beigemischt wurde. Das bedeutet, dass die Dokumente, welche die Geschäfte der HOVAG vor dem Sommer 1956 dokumentieren, zwar von der öffentlichen Hand finanziert wurden, dass die Öffentlichkeit aber keine Möglichkeit hat, sich nachträglich ein Bild von der Verwendung dieser Gelder zu machen.
Die Informationspolitik der Ems-Chemie ist die konsequente Weiterführung von Oswalds geradezu legendärer Geheimniskrämerei: Jedes Jahr, wenn der Geschäftsbericht veröffentlicht wurde, kritisierte die Presse von links bis rechts, die HOVAG habe «die Schweigsamkeit zum Lebensstil ihrer Geschäftspolitik» erhoben.7 Sogar die wirtschaftsfreundliche Finanz und Wirtschaft mäkelte: «Wenn ein Privatbetrieb seine Forschung geheim hält, die er mit eigenen Mitteln finanziert, so ist dies in Ordnung. Wenn aber ein Betrieb wie Ems, der von der öffentlichen Hand lebt, seinem Geldgeber und Gönner keine Auskunft erteilen will, wirkt diese Haltung grotesk.»8 Teil von Oswalds «Geheimsphäre» war, dass er rings um die HOVAG einen raffiniert verschachtelten Konzern errichtete, der «juristisch und auch wirtschaftlich für den Aussenstehenden völlig undurchdringlich» war.9 Mitte der Fünfzigerjahre bestand dieser neben der HOVAG aus fünf Firmen: Die PATVAG baute die Werkanlagen und handelte mit Rohstoffen, Chemikalien und Waffen; die INVENTA lizenzierte das industrielle Knowhow aus Ems; die FIBRON besorgte die Herstellung und die GRILON den Verkauf der synthetischen Fasern; die Calanda SA entwickelte Raketen und Zünder (siehe Diagramm auf S. 16). Der Konzern lag nicht allein in Werner Oswalds Händen, er war Familiensache. Seine zwei Brüder Rudolf Oswald, ein Jurist, und Victor Oswald, ein in Madrid lebender Geschäftsmann und Waffenhändler mit besten Beziehungen zum Franco-Regime, hielten Verwaltungsratssitze und Stimmrechtsaktien.
Oswald stiess mit seiner Heimlichtuerei auch ihm wohlgesinnte Menschen vor den Kopf. «Er hat hinter jedem Menschen einen Nachrichtendienstler gesehen und hinter jedem Baum einen Agenten im Regenmantel», berichtete Bruno Saager, einst Verwaltungsrat der Emser Werke und Direktor der Schweizerischen Bankgesellschaft. «Seine Angst ist so weit gegangen, dass er selbst im Verwaltungsrat nichts erzählt hat. Auch die Bankenvertreter haben praktisch nichts erfahren. Er dachte immer, jemand wolle hinter seine Geheimnisse kommen. Das war geradezu krankhaft – aber ist ein ganz wesentlicher Zug an Werner Oswald.»10 Saager kam nicht auf die Idee, dass Oswalds Verhalten durchaus rational war, weil er, wie dieses Buch zeigt, einiges zu verstecken hatte – vor den Behörden, vor der Öffentlichkeit und sogar vor der Justiz.
Bernd Schultze ist überzeugt, dass im Firmenarchiv in Ems vieles nicht mehr greifbar ist. Im Herbst 2020 schrieb er mir: «Dann rief mich Mitte der 90er [Jahre] mein Vater an und erzählte mir von der Vernichtung historischer Dokumente und wie er Chris[toph Blocher] dabei ertappt hat, wie der spätabends schriftliche Unterlagen von vor 1960 schreddern wollte. Papa war Direktor Forschung und Entwicklung und sammelte zusammen, was von seiner Abteilung noch da war.» Zum Material, das er mir überlassen hatte, bemerkte Bernd Schultze: «Und ja, das, was du an wenigen Dokumenten bekommen hast, ist das, was mein Vater als wichtige Überbleibsel eingepackt und mitgenommen hat.»11 Viel war es nicht – aus der Zeit vor 1974 gerade einmal drei Dutzend Dokumente.
Es gibt keine Beweise, dass Christoph Blocher Akten aus dem Forschungsarchiv vernichtet hat und auch nicht, dass er, wie Bernd Schultze schrieb, «das Ausmisten selbst eigenhändig erledigt» hat. Aus diesem Grund wollte ich Blocher unbedingt dazu befragen. Ich hoffte auch, dass er sich an Erzählungen von Oswald über die Entwicklung der HOVAG nach dem Krieg erinnern würde. Er willigte nicht nur in ein Treffen ein; mit der Bemerkung, er sei in der fraglichen Zeit noch zur Schule gegangen und habe nichts zu verstecken, gab er mir auch ungefragt die Erlaubnis, das Gespräch aufzuzeichnen. Es fand im Sommer 2021 statt und dauerte mehr als zwei Stunden, war für meine Arbeit aber wenig ergiebig. Von den Raketen wusste Blocher nichts. Vom Emser Napalm will er erst 2020 erfahren haben. Die Anekdoten über seinen Ziehvater Oswald kannte ich bereits aus Markus Somms Blocher-Biografie. Zur Entwicklung der Zünder, die Blocher in den Achtzigerjahren Millionenumsätze und ein paar negative Schlagzeilen beschert hatten, machte er Angaben, die einer historischen Prüfung nicht standhalten.12
Als ich erwähnte, die Ems-Chemie verwehre mir den Zugang zum Firmenarchiv, meinte Blocher launig: «Ich weiss nöd, wie wiit mer eis händ.» Da eine gut informierte Quelle mir versichert hatte, das Archiv in Ems umfasse 180 Laufmeter Akten, hielt ich entgegen, es gebe sehr wohl ein Archiv. Blocher lenkte ein. Wenigstens ein bisschen: «Wir haben sicher noch so einen Raum, wo es Zeugs drin hat, aber das ist auf jeden Fall nicht sauber geordnet […], aber etwas kann ich Ihnen sagen: Wenn in diesem Archiv nicht mehr zu finden ist über die Ems-Chemie, als was die Bergier-Kommission herausbrachte … das war ja absolut harmloses Zeug.» Man kann als harmlos abtun, dass ein verurteilter Kriegsverbrecher und ein Vertrauter Görings den Firmenchef berieten. Für mich war es der Moment, Blocher zu fragen, ob er in den Neunzigerjahren, wie Bernd Schultze behauptete, eigenhändig Teile des Forschungsarchivs geschreddert hatte. «Ich kann mich nicht daran erinnern», meinte er. «Das heisst aber nicht, dass es nicht passiert ist. Auf alle Fälle war es für mich kein bleibendes Erlebnis.» Ungefragt versicherte er im Verlauf des Gesprächs weitere zwei Male, dass er sich an nichts erinnere, zweifelte aber auch die Wahrhaftigkeit seines ehemaligen Forschungsleiters an: «Das war für den ein schönes Erlebnis, aber er hatte ja keine Belege.» Auf das Thema Archivzugang wollte Blocher partout nicht eingehen. Lieber wetterte er über linke Historiker und die Bergier-Kommission, allen voran über ihr prominentes Mitglied Professor Jakob Tanner, über den er 1997 öffentlich gesagt hatte: «Ein Marxist gehört nicht in die Historikerkommission – schliesslich sitzt dort auch kein Nationalsozialist.»13
Ich bat Blocher, mir einen Kontakt zur Familie Oswald zu vermitteln. Er konnte oder wollte nicht weiterhelfen, prophezeite aber: «Die geben keine Auskunft.» Tatsächlich wollten die beiden Töchter, die ich ausfindig machte, zuerst nicht mit mir reden. Eine Enkelin, die ich um die Adresse von Werner Oswalds Söhnen bat, musste passen, da die Familie seit dem Verkauf der Emser Werke an Christoph Blocher so zerstritten ist, dass sie keinen Kontakt zu ihnen hatte. Das Manuskript war bereits abgeschlossen, als ein Zufall mich zu einem Enkel führte. Michael Oswald war äusserst hilfsbereit und vermittelte den Kontakt zu anderen Familienmitgliedern, die ihre Erinnerungen mit mir teilten. Christoph Oswald schickte mir zudem ein mehrseitiges «Lebensbild» seines Vaters, in dem er das «schmutzige Nazi-Gerede» der Medien kritisiert. Er findet kein «Naziverdächtiges Potential» in der Firmengeschichte, «auch dann nicht, wenn man’s krampfhaft sucht», sondern sieht in ihr «die vorsorgliche gütige Hand des himmlischen Vaters». Ihnen allen möchte ich danken für ihre Version der Familiengeschichte und die Fotos, die sie mir zur Verfügung gestellt haben.
Die Weigerung der Ems-Chemie, ihr Archiv zu öffnen, erschwerte zwar meine Arbeit, konnte das Projekt aber nicht verhindern. Drei Jahre lang spürte ich Zeitzeugen und Kinder ehemaliger Mitarbeiter auf – in Deutschland, Kanada, Österreich, in der Schweiz und sogar in meiner unmittelbaren Nachbarschaft in Zürich. Ich korrespondierte mit Archivarinnen und Wissenschaftlern in einem guten Dutzend Länder und durchforstete Fachliteratur, Autobiografien, wissenschaftliche Aufsätze und Tausende von Zeitungsartikeln in mehreren Sprachen. Meine wichtigste Quelle war das Schweizerische Bundesarchiv, denn solange die HOVAG subventioniert war, hatte der Bund ein Einsichts- und Kontrollrecht, das 13 Laufmeter Akten produzierte. Dazu kamen Dossiers der Bundesanwaltschaft, der Fremdenpolizei sowie des Militär- und Volkswirtschaftsdepartements. Weitere Dokumente fanden sich in Staatsarchiven, Stadtarchiven, Gemeindearchiven sowie in Nachlässen von Privatpersonen und Wirtschaftsverbänden im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich. In Deutschland waren es Akten im Bundesarchiv, insbesondere im Militärarchiv in Freiburg i. Br., in einzelnen Landesarchiven, im Institut für Zeitgeschichte in München sowie in den Firmenarchiven von Krupp-Thyssen, Bayer und dem Stinnes-Konzern; sie alle betreiben eine grosszügigere Archivpolitik als die Ems-Chemie.
Trotz dieser Menge an Material blieben Leerstellen, die sich mit öffentlich zugänglichen Dokumenten nicht füllen liessen. Das hat mich beim Schreiben manchmal zu Schlussfolgerungen bewogen, die mir zwingend erschienen, die ich aber nicht lückenlos belegen konnte. Damit die Leserinnen und Leser meine Indizienketten nachvollziehen und sich ein eigenes Bild machen können, habe ich die Quellen jeweils ausführlicher als üblich zitiert.
Dieses Buch fokussiert auf Werner Oswalds unternehmerische Strategien, die HOVAG in der Nachkriegszeit umzubauen und am Markt zu positionieren. Es handelt aber auch von den Voraussetzungen und den Auswirkungen dieser Transformation. Trotzdem ist es mehr als die Geschichte eines Schweizer Unternehmens und dessen Gründer. Da die HOVAG nur dank massiver Unterstützung der öffentlichen Hand gegründet, über Wasser gehalten und umgebaut werden konnte, war sie politischer Zankapfel, der zwei Dutzend Bundesratssitzungen, ein halbes Dutzend parlamentarische Eingaben, mehrere kantonale und eidgenössische Parlamentsdebatten sowie einen erbitterten Abstimmungskampf provozierte.
Als Unternehmer konnte sich Oswald auf ein fein gewirktes Geflecht familiärer, professioneller, politischer und militärischer Loyalitäten stützen. Zu diesem Netzwerk gehörten auch Männer, die Schweizer (Wirtschafts-)Geschichte geschrieben haben: Ernst Laur, der mächtige Präsident des Bauernverbands; Oberst Eugen Bircher, Gründer des Vaterländischen Verbands und BGB-Nationalrat; Nationalrat Andreas Gadient, Doyen der Demokratischen Partei Graubündens, Vater des Politikers Ulrich Gadient und Grossvater der Politikerin Brigitta Gadient; Max Iklé, Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung und Vater der ersten Bundesrätin Elisabeth Kopp; sowie Oswalds Dienstkamerad Paul Schaufelberger, ein Nachrichtendienstoffizier, der massgeblich bei der Schleusung deutscher Rüstungsspezialisten und Nazis nach Argentinien mitwirkte.14
Das «System HOVAG», wie es die Zeitgenossen nannten, lässt sich nicht vollständig rekonstruieren, denn es basierte auf informellen Kontakten. Anhand von Beispielen lässt sich jedoch zeigen, wie Oswald von Seilschaften profitierte. In diesen Geschichten spiegeln sich auch eine Zeit und ein Land, in dem Männer das Sagen hatten, bürgerliche Eliten die Politik dominierten, die Spitzen von Wirtschaft und Militär eng verzahnt waren und der Kalte Krieg als Rechtfertigung diente, um vieles unter den Teppich zu kehren. Als Sohn aus gutem Haus, als Unternehmer und Oberstleutnant war Oswald Nutzniesser einer Kultur des Wegschauens, die nationale und persönliche Vorteile oft höher gewichtete als politische und manchmal sogar rechtliche Bedenken. Wie gering diese waren, zeigt sich an der Wirtschaftsspionage der HOVAG und den Waffengeschäften der PATVAG. Dem Emser Napalm, so zeigt dieses Buch erstmals, fiel eine unbekannte Anzahl Menschen in Bürgerkriegen in Burma, Indonesien und im Jemen zum Opfer. Es war auch mitverantwortlich für ein tödliches Attentat auf einen deutschen Geschäftspartner.
Es ist Freitag, der 28. Juni 1961, kurz vor elf Uhr nachts, als Walter Heck den Blinker seines Autos stellt und die Ausfahrt Karlsruhe West nimmt. Er kann es kaum erwarten, endlich die Füsse hochzulegen. Sein Hausarzt, der ihm dringend zur Schonung geraten hat, würde wohl die Stirn in vorwurfsvolle Falten legen. Nicht zu Unrecht. Eine Woche wie diese wünscht Heck nicht einmal seinem ärgsten Feind.
Am Montag und Dienstag schlug sich Walter Heck mit säumigen Lieferanten und ungeduldigen Kunden herum und trauerte Fräulein Rössler nach, die vor zwei Monaten die Schreibmaschine zugedeckt und ihn im Stich gelassen hatte. Zwischendurch fuhr er nach Weingarten, einem trostlosen Industrievorort, wo seine Firma DIMEX in einer ehemaligen Farbenfabrik eingemietet ist. Sein neuer Vorarbeiter, ein lettischer Lastwagenfahrer, rapportierte von seiner ersten Dienstfahrt, und man konnte nur beten, dass seine Fahrkünste besser waren als sein Deutsch.
Am Mittwochmorgen hängte er in aller Herrgottsfrüh ein Jackett in den Opel Kadett und bretterte auf der Autobahn Richtung Süden, um die Aufträge entgegenzunehmen, über die man am Telefon besser nicht spricht. In Zürich parkierte er vor der PATVAG, die zum Konzern der Emser Werke gehört und einen Napalm-ähnlichen Brandkampfstoff namens Opalm vertreibt, der in Ems entwickelt wurde. Er ging mit Erwin Widmer, dem Direktor, die neuen Bestellungen durch, und fuhr anschliessend nach Erlenbach, wo er im «Goldenen Kreuz» ein Zimmer bezog. Nach dem Abendessen telefonierte er mit seinem Freund, dem Luzerner Waffenhändler Paul Schaufelberger, wurde aber das ungute Gefühl nicht los, dass das Gespräch abgehört wurde.
Am Donnerstagmorgen, als Walter Heck im Speisesaal vor einer Tasse Kaffee sass, wurde er ans Telefon gerufen. Es war seine Frau, und sie weinte. Letzte Nacht sei seine Mutter gestorben, er müsse schnellstens nach Hause kommen. Er sagte alle Besprechungen ab und raste nach Karlsruhe zurück. Im Büro, das sich im Dachstock über seiner Wohnung befand, erwartete ihn das nackte Chaos. Das Endlosband der Telex-Nachrichten hatte sich wie eine Schlange unter dem Gerät zusammengerollt, und auf dem Schreibtisch stapelten sich Briefe, Rechnungen und die Notizen seines Ältesten, der während Hecks Abwesenheit das Telefon gehütet hatte.
Bis tief in die Nacht hinein beantwortete er Briefe und verschickte verklausulierte Offerten in die halbe Welt, einzig unterbrochen von den Kindern und seiner Frau, die im Dachstock vorbeischauten, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Als er auf den Telex der IMEPA aus Lissabon stiess, hielt er einen kurzen Moment die Luft an. «ENTSPRECHEND UNSER ANRUF KAUFEN WIR 1030 EINHEITEN FLAWE KOMPLETT MIT ZUSATZ LADUNG ZU PREIS FOB DEUTSCHLAND 2215 DM.» Die Portugiesen hatten nicht nur das Geschäft bestätigt. Sie hatten es eilig. Zwei Stunden später hatten sie einen zweiten Telex geschickt: «SOFORT ANRUF FABRIK UND NACHRICHT AN UNS TELEX BESTÄTIGUNG PREIS FÜR IMEPA LISSABON STOP MARKE APPARAT IST DIMEX STOP WIR RESERVIEREN FÜR SIE FÜNF PROZENT FOB WIR ERWARTEN ANTWORT HEUTE». Heck wurde fast schwindlig: 1030 Flammenwerfer samt Opalm-Napalm-Füllung für die portugiesische Armee. Und weitere 4970 Geräte, falls die Generäle zufrieden waren. Als er im Kopf die Zahlen überschlug, kam er auf einen Nettogewinn von sechs Millionen Franken. Es war das Bombengeschäft, auf das er seit Jahren gewartet hatte.
Am Freitagvormittag fuhr er zum Flughafen Frankfurt, um den Waffenhändler Athanas Kefsisoff zu treffen, der das Portugal-Geschäft vermittelt hatte. Während er mit seinem Mitarbeiter Heinrich Gompf auf die Morgenmaschine aus Madrid wartete, überflog er die neuste Ausgabe des Spiegel. Die Titelgeschichte, «Ramsch für Angola», nahm den Amerikaner Samuel Cummings, den Besitzer der International Armament Corporation (INTERARMCO), ins Visier. Gemäss dem Nachrichtenmagazin war Cummings der «grösste Waffenhändler der Welt» und betrieb sein Geschäft «so solide, wie andere mit Seife oder Kaffee handeln». Die kolonialen Befreiungskriege seien eine Goldgrube für ihn. Seit die Befreiungsbewegung Angolas einen Guerillakrieg gegen die weissen Siedler führe, kaufe auch Portugal bei Cummings ein, und dieser habe trotz UNO-Waffenembargo mehrere seiner Leute beauftragt, ganz Westeuropa «nach Waffen für Angola abzufilzen».
Woher ein Reporter erfahren hatte, dass auch «wendige Fabrikanten wie der Karlsruher Flammenwerfer-Hersteller Walter Heck» Unterhändler nach Portugal geschickt hatten, war Heck ein Rätsel. Der Spiegel wusste sogar über seinen Schweizer Geschäftspartner Bescheid, über den es hiess: «Auch der ehemalige Schweizer Abwehrchef, Oberst Paul Schaufelberger, Hotelier in Luzern, mischt gern bei der kommerziellen Verwertung alten Rüstungsmaterials mit und kennt die Kanäle, auf denen sich neue und gebrauchte Waffen legal aus der Schweiz herausschaffen lassen.» Walter Heck fand den Bericht eine «Unverschämtheit», denn in seiner Branche war Diskretion oberstes Gebot. Nächste Woche, so nahm er sich vor, würde er seinen Anwalt anrufen.
Als über Lautsprecher angekündigt wurde, der Flug aus Madrid sei vier Stunden verspätet, arrangierte Heck auf die Schnelle ein Treffen mit einem Frankfurter Geschäftsmann. Dieser liess sich immer von seiner Ehefrau begleiten, denn er befürchtete, er könnte wie andere deutsche Waffenhändler samt seinem Mercedes in die Luft fliegen. «Entweder verbleibt sie im Wagen», würde er der Polizei erklären, «oder sie hält sich in unmittelbarer Nähe desselben auf und beobachtet diesen, und zwar aus reinen Sicherheitsgründen.» An diesem Nachmittag blieb die treu besorgte Gattin auf dem Parkplatz sitzen, während die Männer im Flughafenrestaurant um eine Ladung Flammenwerfer feilschten. Heck versprach, das Gerät am Sonntag, nach der Beerdigung seiner Mutter, in einer Kiesgrube am Stadtrand von Karlsruhe vorzuführen. Nach der Besprechung rief er aus einer stickigen Telefonkabine seine Frau an und bat sie, nicht auf ihn zu warten. Er werde wohl erst gegen Mitternacht heimkommen.
Es war halb acht Uhr, als Athanas Kefsisoffs Maschine endlich landete. Er entpuppte sich als Mann mit feinen Manieren, der aus Deutschland weggezogen war, weil er um sein Leben fürchtete. Heck konnte ihm nachfühlen. Sein Kollege Georg Puchert, der den algerischen Front nationale de libération mit Waffen beliefert hatte, war einem Sprengstoffattentat in der Frankfurter Innenstadt zum Opfer gefallen, das sämtliche Glasscheiben im Umkreis von siebzig Metern zertrümmert hatte. Seither spannte Heck abends «stets ein langes Haar von einer Garagentür zur anderen, um sicher zu sein, dass niemand nachts die Garage öffnet». Bis er mit Kefsisoff die Details der ersten Lieferung geklärt hatte, war es draussen bereits dunkel.
Als Walter Heck zu nachtschlafender Zeit den Blinker stellt und in die menschenleere Quartierstrasse einbiegt, ist er so müde, dass er ausnahmsweise vor seinem Wohnhaus parkiert. Er rappelt sich aus dem Sitz hoch und schliesst behutsam die Wagentüre, um die Nachbarn nicht zu stören. Dann fischt er seine Aktentasche vom Hintersitz. Kaum hat er sich wieder aufgerichtet, schnellt eine Gestalt aus dem Dunkeln, setzt ihm einen Pistolenlauf auf die Brust und feuert ab. Nach dem zweiten Schuss fällt Heck rücklings zu Boden. Er tastet nach einer Verletzung. Als er seine blutverschmierte Hand sieht, schreit er nach seiner Frau.
Der elfjährige Heiner, dessen Zimmer auf die Strasse geht, stürzt als Erster aus dem Haus und heult laut auf, als er die Blutlache neben dem Vater sieht.1 Von seinem Schrei geweckt, werfen sich die Nachbarn hastig Strickjacken über die Schlafanzüge und kommen in Pantoffeln angerannt. Als sie wissen wollen, wer geschossen hat, stöhnt Heck: «Tragt mich rein, ich will im Bett sterben, ich spüre, es geht zu Ende, verzeiht mir alle, ich war im Grunde ein anständiger Mensch.»
Kaum ist der Krankenwagen mit Blaulicht davongerast, sichert die Kriminalpolizei den Tatort. Ein Beamter findet eine Patronenhülse, ein anderer behändigt Hecks Aktentasche und Brieftasche, der dritte versiegelt das Büro. Inzwischen ist auch Hauptkommissar Fritz Rottenecker eingetroffen. Mehrere Anwohner haben im Verlauf des Abends zwei Unbekannte gesehen, die auf der Strasse herumlungerten. «Ich bekam es mit der Angst zu tun, da mich die beiden so komisch ansahen», gibt eine ältere Dame zu Protokoll, «ich habe deshalb schnell die Wagentüre abgeschlossen und mich in unser Haus begeben.» Eine genaue Beschreibung der Verdächtigen kann sie jedoch nicht geben. Auch Irmtraud Heck ist keine grosse Hilfe. Ihr Mann hat mit ihr nie über Geschäftliches gesprochen, sondern höchstens erklärt: «Sei froh, wenn ich dich immer verschone.» Trotzdem ist sie sicher, dass er nie «Drohbriefe oder gleichartige Telefonate» erhalten hat. Ihr Ältester ist besser informiert. Ihm hat der Vater anvertraut, «dass ihm von der ‹Roten Hand› gedroht worden sei».
Gertrud Rössler, Hecks ehemalige Sekretärin, die mitten in der Nacht aus dem Bett geholt wird, nennt drei Verdächtige: einen Jugoslawen, den Heck entliess, weil er ein «Säufer» war, den neuen lettischen Betriebsleiter, der in ihren Augen «eine undurchsichtige Rolle» spielt, und Erich Suczek, eine «äusserst zwielichtige Person», die Waffengeschäfte für Heck angebahnt habe und «wegen Spionage» längere Zeit im Gefängnis gesessen haben soll. Fräulein Rössler meint auch, als Hecks Vertrauter sei Dr. Gompf «über gewisse Zusammenhänge gut unterrichtet». Morgens um vier schellt der Kommissar Gompf aus den Federn. Dieser scheint «sehr erschüttert», erklärt aber, er könne unmöglich auf dem Kommissariat vorsprechen. Er fliege wegen dringender Geschäfte mit der Acht-Uhr-Maschine nach Lissabon.
Hecks Zustand ist kritisch. Eine Kugel hat seine Lunge durchbohrt und ist im Rückenmark stecken geblieben. Trotzdem will er mit der Polizei reden. Rottenecker trifft im Spital auf einen Mann Anfang fünfzig, der grosse Schmerzen und ein noch grösseres Mitteilungsbedürfnis hat, weil er sich «völlig im Klaren» ist, dass seine Tage gezählt sind. Es sei «alles sehr schnell gegangen», erinnert er sich, «er habe den Mann nur in Sekundenbruchteile auf sich zuspringen sehen, so dass er nicht sagen könne, wie der Mann ausgesehen hat».
Walter Heck stirbt eine Woche später auf dem Operationstisch. Als er auf dem Hauptfriedhof Karlsruhe begraben wird, fotografiert die Polizei alle Trauergäste und notiert die Nummern ihrer Autos. Sie zählt zehn Wagen aus dem Ausland. Einer stammt aus der Schweiz. Er gehört Erwin Widmer, dem Direktor der PATVAG.2
Werbung der Dietschibergbahn (um 1910)
Der soziale Aufstieg der Familie Oswald geht auf den Hufschmid und Söldner Leodegar Oswald zurück, der es zu einer eigenen Anwaltskanzlei brachte und seinen Nachfahren Grundstücke, Immobilien und ein gesundes Selbstbewusstsein vererbte.
Werner Leodegar Oswald wächst am Stadtrand von Luzern auf, in einer Villa mit Stuckdecken und Seeblick und einem Park mit säuberlich zurechtgestutzten Bäumen. Ihr Name, Villa Flora, erhebt keinerlei Anspruch auf Originalität, und die Privatstrasse, die zu ihr hinaufführt, heisst «Strasse von Dr. Oswald». Auch das ist nicht originell, benennt aber die Verhältnisse. Das Personal in der Villa wechselt häufig.1 Das beschert der Hausherrin viel Ärger, hat aber den Vorteil, dass die fünf Kinder ihre kleinen Herzen nicht an Bauern- und Handwerkertöchter hängen. So wächst Werner mit der beruhigenden Gewissheit auf, dass er zur rechten Zeit am rechten Ort zur Welt gekommen ist und Anspruch auf Bedienung und einen Platz an der Sonne hat.
Der Hausherr, Arthur Oswald, ein Anwalt und Politiker, gilt in der katholisch-konservativen Kleinstadt Luzern als «eigenwilliger Mensch» und trägt den Spitznamen «Kaiser von Luzern».2 Für Werner, weder der Erstgeborene noch das Nesthäkchen, ist es bestimmt nicht immer einfach, im Schatten eines Kaisers aufzuwachsen. Doch er sorgt für innerfamiliären Ausgleich und verleiht seiner Mutter Maria den Ehrentitel «Queen Mary».3 Das zeigt, dass er ihr von Herzen zugetan ist, zeugt aber auch von feinem Gespür für Hierarchien und dem Talent, sie zu unterlaufen – Eigenschaften, die ihm später als Unternehmer immer wieder zugutekommen werden.
Den ungewöhnlichen Mittelnamen und den sozialen Aufstieg der Familie verdankt Werner seinem Grossvater. Leodegar Oswald kam 1824 in Aadorf, einem Bauerndorf an der Landstrasse zwischen Winterthur und dem Bezirkshauptort Wil zur Welt. Während seiner Kindheit brachte die Industrialisierung eine erste Baumwollspinnerei, eine Färberei und eine Papiermühle ins Dorf; trotzdem lernte Leodegar ein klassisches Handwerk und wurde Huf- und Nagelschmied. Doch er hatte kein Sitzleder. Noch bevor Aadorf ans Eisenbahnnetz angeschlossen wurde, schnürte er sein Bündel, reiste gegen Süden und trat in die Dienste des Königs von Neapel ein. Fortan beschützte er als einer von 12 000 Schweizer Söldnern das absolutistische Regime von Ferdinand II., König von Sizilien, und half mit, dass die Aufstände gegen den «Re Bomba», wie ihn das Volk schimpfte, blutig niedergeschlagen wurden.
Die Familienüberlieferung setzt andere Schwerpunkte. Werner, der den Grossvater nur vom Hörensagen kannte, wird Freunden und Journalisten erzählen, Leodegar habe freiwillig Nachtwachen geschoben, damit er tagsüber an der Universität Neapel studieren und während eines Heimaturlaubs das Luzerner Anwaltspatent erwerben konnte.4 Als die Schweizer Regimenter nach dem Tod des Bomben-Königs aufgelöst wurden, hatte sich Leodegar Oswald bereits als Rechtsanwalt in der Kleinstadt Willisau etabliert.
Im Dezember 1849, ein gutes Jahr nach der Gründung des Bundesstaats, zog der 26-Jährige nationale Aufmerksamkeit auf sich. Die Berner Bundeszeitung und die Basler Nationalzeitung druckten einen Leserbrief ab, der ihn als «gefährlichsten Wühler» denunzierte. Der «junge flotte Mann» und «Liebling der Damen» stehe «an der Spitze einer geheimen Verbindung, die sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, die Bundeseinrichtungen und freisinnigen Regierungen zu stürzen, besonders in Luzern das freisinnige System zu vernichten».5 Wegen «seiner Geistesgaben und Gewandtheit» zähle Leodegar Oswald «zu den gefährlichsten Sorten von Rechtsfeinden».6 Die Anschuldigung wog schwer, denn der Kulturkampf zwischen papsttreuen Ultramontanen und reformierten Freisinnigen war für den jungen Bundesstaat eine ungeheure Belastung.
Leodegar Oswald stellte öffentlich richtig: «Von all dem ist nichts wahr.» Er sei «kein Freund von Umsturz und Reaktionsplänen». Doch wer wollte ihm böse? Der Leserbrief war mit «P. Reichlin» unterzeichnet. So hiess der Amtsschreiber von Willisau, doch dieser beteuerte, «irgendein gemeiner Bube» habe «diesen lügenhaften Artikel» in seinem Namen unterzeichnet. Am 28. Dezember 1849 nahm die Sache eine unerwartete und dramatische Wende. Gendarmen durchsuchten Oswalds Kanzlei und setzten ihn in Haft. Amtsschreiber Reichlin hatte geklagt, Oswald habe als Autor des Leserbriefs den Namen einer Amtsperson missbraucht. «Dieser junge Mensch ist, wie es scheint, von der in neuerer Zeit ziemlich stark grassierenden ‹Grossmannssucht› geplagt», spottete die NZZ. Offenbar habe Oswald «seine hochverrätherischen Entwürfe» selbst verschickt, um sich anschliessend als «bescheidener, liebenswürdiger junger Mann» zu profilieren.7
Leodegar Oswald wurde wegen Betrugs, Aufreizung und Verleumdung angeklagt, und zwei Schriftgutachten erklärten ihn «einstimmig» zum Urheber des Leserbriefs.8 Doch am selben Tag, als er auf der Gerichtskanzlei die Akten einsah, verschwanden die Corpora Delicti spurlos. Der Gerichtspräsident musste den Fall an den Untersuchungsrichter zurückweisen, und der Angeklagte nutzte den Aufschub, um bei einem Zürcher Professor für Kriminalistik ein Gutachten zu bestellen, in dem sich ein armer Schlucker als der gesuchte Leserbriefschreiber bezichtigte. Ein Freisinniger habe ihm «allerhand Possen» über die Konservativen erzählt und ihm versichert, man könne den konservativen Oswald mit einem Leserbrief «unschädlich» machen. «Für meine Mühe gab er mir 3 fl., und so übernahm ich leider die Sache und besorgte sie.» Das war wenig überzeugend, aber weil die Leserbriefe verschwunden waren, war kein neuer Schriftvergleich möglich. Nun wurde Leodegar Oswald wegen «Vernichtung von Schriften» angeklagt, und der Staatsanwalt forderte einen Monat Gefängnis und fünf Jahre Kantonsverweis. Diese Strafe hätte die hoffnungsvolle Karriere des jungen Anwalts vorschnell beendet, doch der Richter musste ihn mangels Beweisen freisprechen, obwohl er ihn für «hoch verdächtig» hielt.9
Leodegar Oswald war mit einem blauen Auge davongekommen, und seine Mitbürger hatten ein kurzes Gedächtnis. Fünf Jahre später lobte ihn die Lokalpresse als «gebildeten, wackeren Präsidenten» der Schweizerischen Industrieausstellung in Willisau.10 Als Präsident des Komitees für den Bau der Huttwil-Wolhusen-Bahn kämpfte er dafür, das französische Schienennetz mit der Gotthardbahn zu verbinden und gleichzeitig Willisau an den internationalen Bahnverkehr anzubinden. Er schaltete sich öffentlich in juristische Diskussionen ein, plädierte dafür, «Sträflinge wieder in die Gesellschaft zurückzuführen», und wollte die Nachforschung nach den Vätern unehelicher Kinder verbieten, weil das nur «unzählige» Vaterschaftsklagen und «Futter für die Advokaten» bringe.11
Der «Liebling der Damen» war bereits nicht mehr der Jüngste, als er Josephine Bühler vor den Traualtar führte, von der nur bekannt ist, dass sie im Abstand von fünf Jahren die Söhne Leo Cäsar und Arthur gebar. 1881 kaufte Leodegar Oswald die Villa Flora, das spätere Elternhaus von Werner Oswald, zügelte Familie und Kanzlei nach Luzern und wurde ein «ungemein vielbeschäftigter» Anwalt und «eine allgemein bekannte Persönlichkeit».12 Am 10. Juli 1890 bestieg er frühmorgens einen Zug nach Basel. In Emmenbrücke fand man ihn «todt in einem Coupé zweiter Klasse», dahingerafft von einem Schlaganfall.13 Der ehemalige Hufschmied hinterliess Häuser und Grundstücke im Wert von 320 000 Franken – was heutigen fünf Millionen entspricht.14
Leodegar Oswald (links, o. D.)
Villa Flora in Luzern: das Elternhaus von Werner Oswald (o. D.)
Nach dem Tod des Vaters wechselte der 18-jährige Arthur Oswald an die Kantonsschule Solothurn, die bekannt war für den Geist des Liberalismus, der durch ihre Schulstuben wehte. Hier lernte er «die Selbständigkeit im Denken und Handeln», die ihm zeitlebens «über alles ging».15 Er trat in die radikal-demokratische Burschenschaft Wengia ein und begehrte damit gegen den verstorbenen konservativen Vater auf. Weil er in der Wengia fleissig «das Opponieren und das Durchsetzen der eigenen Meinung» übte, erhielt er den Burschennamen Rempel.16 Der Name war Programm. Das Rempeln und Poltern zog sich wie ein roter Faden durch sein Leben und färbte auch auf seinen Sohn ab. Sogar die offizielle Firmengeschichte der Ems-Chemie charakterisiert Werner Oswald als «kantigen» und «impulsiven» Menschen «mit eher schroffen Umgangsformen».17 Ein ehemaliger Mitarbeiter beschreibt ihn als Patron «von aristokratischem Auftreten, ein Grandseigneur, den man höchstens mal schmunzeln, nie lachen sah».18
Nach Studien der Jurisprudenz in Bern, Genf, Berlin, Strassburg, München und Heidelberg kehrte Arthur Oswald weltgewandt und mit Doktortitel an den Vierwaldstättersee zurück und übernahm die Kanzlei des Vaters. Der korpulente Anwalt mit Seehundschnauz und stechendem Blick hatte das Flair für Immobiliengeschäfte geerbt.19 Er baute auf dem riesigen Grundstück der Villa Flora mehrere Villen und heiratete in schöner Ergänzung dazu die Tochter eines Bauunternehmers. Maria Waller war eine «stolze und selbstbewusste» Dame mit gnadenlosem Klassenbewusstsein. Als Werner später seine Sekretärin heiratete, die aus einer Arbeiterfamilie stammte, hätte ihr Queen Mary «am liebsten Gift gegeben».20 Vielleicht rührte dieser Groll daher, dass sie mit der eigenen gesellschaftlichen Stellung haderte, denn ihr Ehemann, ein zum Protestantismus konvertierter freisinniger Freigeist, war im katholisch-konservativen Luzern ein Aussenseiter.21 Immerhin verhalf ihm seine Parteizugehörigkeit zu einer politischen Karriere. Als Vertreter der liberalen Minderheit wurde er um die Jahrhundertwende zum Amtsstatthalter des Bezirks Luzern gewählt; wenig später gewann er für die Freisinnigen einen Sitz im Kantonsparlament.
Als Statthalter regierte Arthur Oswald mit der ihm eigenen Grobheit. Er «chicanierte» Untergebene, schrie sie an und kanzelte sie «tüchtig» ab. Untersuchungsgefangene waren noch schlechter dran. Um sie «in Angst und Schrecken zu setzen», brüllte er so laut, «dass man ihn in den Häusern der Umgebung hörte», und beschimpfte sie als «verfluechte cheibe Halungg». Waren sie nicht geständig, ordnete er «Haft mit Fasten verschärft» an. 28 Gramm Brot am Tag und jeden zweiten Tag «eine warme Grüzze» zwangen auch hartgesottene Männer in die Knie. Manch einer bettelte, «das Fasten aufzuhören», er «halte es nicht mehr länger aus». Oswald liess sich nicht erweichen. Die Hungerkur eines 13-Jährigen begründete er damit, dass der «Taugenichts» versucht habe, ihn «an der Nase herum zu führen».22
Im katholisch-konservativen Oberrichter Kasper Müller erwuchs dem cholerischen, selbstherrlichen Statthalter schliesslich ein ebenbürtiger Gegner.23 Er bezichtigte Oswald öffentlich der Folter, weil er Gefangene in «geradezu unerhörter, ja unmenschlicher Weise» manchmal bis zu 41 Tage hungern liess, um ein Geständnis zu erpressen. Oswald bestritt alle Vorwürfe. Er habe zwar «eine sehr strenge Auffassung» von seinem Amt, habe das Fasten aber nur bei «Renitenz, Gehorsamsverweigerung, Antwortverweigerung etc.» angeordnet. Als sich in den Akten keine Spur von Renitenz finden liess, rechtfertigte er sich, bei der «Unmasse von Arbeit» gehe halt hin und wieder ein Eintrag vergessen.
Der Untersuchungsrichter fand, die geringfügigen Delikte wie «Diebstahl von alten Kleidern» oder «Gehülfenschaft bei Verheimlichung der Leibesfrucht» stünden in keinem Verhältnis zu den Hungerkuren. Erklärungsbedürftig war auch, dass die Opfer in der Regel arme Leute und meist arme Ausländer waren. Der mit der Untersuchung beauftragte Statthalter beantragte, Oswald wegen Amtsmissbrauchs «mit frs. 120.– Geldbusse, event. entsprechendem Gefängnis» zu bestrafen. Doch der Richter befand, bei den Betroffenen handle es sich um «Gauner», deren «Unverschämtheit & Frechheit gegen die Strafbehörden eine Erschwerungstatsache sind», und sprach Arthur Oswald frei.24
Werner ist vier Jahre alt, als sein Vater 1908 die Redaktion des freisinnigen Wochenblatts Der Eidgenosse übernimmt und ein «gefürchteter Meister der Feder» wird.25 Meist zielt er auf den Mann, besonders wenn dieser in einer Soutane steckt, und führt wahre Kreuzzüge gegen die «verderbliche Verquickung von Religion und Politik» und die Unfehlbarkeit des Papstes.26 Wirft man ihm vor, er übertreibe mit seiner Kritik, hält er dagegen: «Immer noch besser masslos als ziellos.»27
Arthur Oswald kennt auch keine parteipolitischen Rücksichten. Das zeigt sich beim Skandal um die Schokoladenfabrik Lucerna in Hochdorf. Bei ihrer Gründung 1904 wurde das Aktienkapital um das Zwölffache überzeichnet, und die Luzerner Politprominenz drängelte in den Verwaltungsrat. Vier Jahre später steht die Lucerna am Rand des Ruins, und die Verwaltungsräte ersuchen die Kantonalbank, vorläufig auf die Zinsen zu verzichten.28 Oswald denunziert seinen Parteikollegen Joseph Schmid, der als Finanzdirektor den Drei-Millionen-Kredit abgesegnet hat, als «faule Stelle in unserm kantonalen Finanzkörper»29 und wettert: «Und nun soll es die ganze, grosse, arbeitende Bevölkerung des Kantons entgelten, dass ein paar hochfahrende, geschäftlich total untaugliche Elemente die Kantonalbank derart ins Verderben hineinmanövriert haben?»30 Unter dem Schlachtruf «Keine Staatsschokolade!» zieht er gegen alle vom Leder, die – angetrieben von der «unheilvollen Sucht, schnell reich zu werden» – ihre Ämter als «Legitimation» für lukrative Verwaltungsratssitze missbrauchten.31 Er spannt sogar mit den Sozialisten zusammen, um ein Gesetz durchzuboxen, das gewählten Politikern die Annahme von Verwaltungsratsmandaten verbietet.32 Damit steht er auf völlig anderem weltanschaulichem Boden als sein Sohn Werner, der später reihenweise Parlamentarier als Lobbyisten und Verwaltungsräte anheuert. Auch die väterliche Abscheu vor «Staatsschokolade» ist dem Sohn fremd. Er wird die Unterstützung durch die öffentliche Hand zu seinem Geschäftsmodell machen.
Die «Eiterbeule» Lucerna zwingt den Finanzdirektor zum Rücktritt, und die Freisinnigen portieren Oswald als einzigen Kandidaten für die Ersatzwahl. Er sei es gewohnt, «unerschrocken und energisch für seine Überzeugung einzustehen» und «in allen Amtsgeschäften das Wohl des Volkes zur Richtschnur nehmen».33 Die Entrüstung der Katholisch-Konservativen ist gewaltig, denn für sie ist Oswald ein «Pfaffenfresser», «Kirchenhöhner» und «Konservativenanspeuzer».34 Aber die Kantonsverfassung schreibt eine Vertretung der Freisinnigen im Regierungsrat vor, also müssen die Katholiken in den sauren Apfel beissen und sich damit begnügen, zu «striktester Wahlenthaltung» aufzurufen.35
Am 16. Januar 1910 geht nur jeder fünfte Wahlberechtigte an die Urne, um seine Stimme dem einzigen Kandidaten zu geben. Diese Regierungsratswahl, urteilt das Vaterland, werde «wohl einzig dastehen in der politischen Geschichte des Kantons».36 Werner ist sechs Jahre alt, als ihm sein Vater vorlebt, wie man den Mächtigen, der Mehrheit und der öffentlichen Meinung trotzt. Doch das «Kesseltreiben» hat den Kaiser erschüttert. «Man hat mir damit eine solche Masse von Hass aufgebürdet, dass es eigentlich verwunderlich ist, wenn ich unter dieser ungeheuren Menge nicht zusammengebrochen bin!»37
Arthur Oswald (links) als frisch gewählter Regierungsrat (1910)
Werner Oswald (ganz links) in der Kantonsschule Trogen (1922)
Die katholischen Regierungsräte schieben den neuen Kollegen ins wenig prestigeträchtige Sozialamt ab, doch im Lucerna-Skandal bekommt er im Nachhinein recht. Der offizielle Untersuchungsbericht kritisiert den «grossen wirren Knäuel von finanziellen Beziehungen und Verwicklungen».38 Als eine «mit Rückgrat ausgerüstete Persönlichkeit» wird Oswald zwei Mal wiedergewählt, zieht sich aber 1919 «enttäuscht und erbittert» zuerst aus der Politik und dann aus Luzern zurück.39 Der Dietschiberg mit seinem Ausblick auf Stadt, See und Alpen wird das letzte Reich des «Kaisers von Luzern». Er kauft mehrere Bauernhöfe, eröffnet ein Ausflugsrestaurant, baut eine Bühne für Freilichtaufführungen und präsidiert den neu gegründeten Golfclub.40
Die Söhne sind zu dieser Zeit bereits aus dem Haus. Werner besucht die Kantonsschule Trogen, die als heimliche Kaderschmiede gilt, da viele Industrielle und Unternehmer ihre Söhne und potenziellen Nachfolger an die «Kanti Trogen» schicken, damit sie sich fern von städtischen Lustbarkeiten auf die Matura vorbereiten.41 Gemessen an ihrer Herkunft, ist die Unterbringung im Internat, dem sogenannten Konvikt, spartanisch. Frühmorgens jagt der Schulabwart die Zöglinge mit lautem Klopfen an die Zimmertüren aus den Federn. «Eine grosse Körperwäsche konnten wir nie machen», erinnert sich ein Ehemaliger, «denn die Dusche war für uns nur einmal in der Woche zu gebrauchen. Unten im Esssaal stand dann schon der Konviktleiter an der Türe. Wir gaben ihm brav die Hand, und er wünschte uns einen schönen Tag. Zugleich musterte er unsere Tenüs von Kopf bis Fuss; zum Glück putzte der Schulabwart täglich unsere Schuhe blitzblank.»42 Zum Zvieri gibt es eine grosse Tasse Kakao mit «Schlappen» (Haut auf der Milch), gefolgt von zwei Stunden Hausaufgaben mit Sprechverbot und einem einfachen Abendessen. Um sicherzugehen, dass die Kost anschlägt, müssen die Schüler jeden Mittwoch auf die Waage.
Werner Oswald brilliert weder mit Scharfsinn noch mit schulischen Leistungen. Ausser in Zeichnen und Chemie pendeln seine Noten beharrlich zwischen «durchschnittlich» und «ungenügend». Dafür ist er ein gefügiger junger Mann und erzielt in der Rubrik «Fleiss» regelmässig Bestnoten. Sein Maturaaufsatz zeigt, dass er keiner der Bürgersöhne ist, die ihre Väter mit unkonventionellem Gedankengut oder radikalen politischen Positionen provozieren. Zufrieden stellt er fest, die Weltgeschichte lehre «zum Überfluss», dass die sozialen Gegensätze «bei weitem nicht mehr so gross wie ehedem [sind] und dass die Ziele des Kommunismus, wie sie noch einige Extremisten verfolgen, überall an der Individualität des einzelnen, die zum Glücke dem Menschen eigen ist, gescheitert sind». Auch was die staatliche Unterstützung für Alte, Arme und Behinderte angeht, ist er skeptisch. «Gewiss ist nur, dass [durch] eine allzu reichliche Unterstützung der Sinn für das Sparen, um im Alter sich selber zu erhalten, untergraben wird, und dies ist ein Schaden für die allgemeine Volkswohlfahrt.» Die Haltung des Politikersohns aus gutem Haus ist mehrheitsfähig. 1925 lehnen 58 Prozent der Stimmbürger die Einführung der AHV ab. Beim Deutschlehrer stösst der Maturaaufsatz auf wenig Anklang. Er begründet die ungenügende Note 3,5 mit dem wenig schmeichelhaften Kommentar: «Manche Gedanken sind besser, als der verworrene Stil und die teilweise mangelhafte Logik vermuten liesse. Orthographie schlecht.»43 Die Matura besteht Werner trotzdem.
Nächste Station ist die Landwirtschaftsschule Waldhof in Langenthal, wo Werner als «Volontär» auf dem Musterbetrieb arbeitet und ein Abschlussdiplom als Landwirt erwirbt. Während sein älterer Bruder Arthur sich an der ETH Zürich zum Elektroingenieur ausbildet und sein jüngerer Bruder Rudolf in den Fussstapfen von Vater und Grossvater Jurisprudenz studiert, besteht Werner 1926 die Aufnahmeprüfung für ein Agronomiestudium an der ETH.44
In Professor Ernst Laur, der landwirtschaftliche Betriebslehre unterrichtet, findet Oswald einen geistigen Mentor, der seine Weltsicht und seinen Lebensweg prägt. Wie der «Kaiser von Luzern» ist auch der «Bauerngeneral» Laur ein autoritärer, wortgewaltiger Patriarch und eine Figur des öffentlichen Lebens. Anders als der Vater besitzt der Professor jedoch nationale Ausstrahlung. Als erster Leiter des Bauernsekretariats und Geschäftsführer des Bauernverbands ist Laur einer der mächtigsten Interessenvertreter der Schweiz und wird in den Dreissigerjahren als Verfechter eines national-konservativen Bauerntums zum massgebenden Architekten der Geistigen Landesverteidigung. «Wir glauben», schrieb er bereits 1918, «dass ein Volk ohne Bauernstand physisch, geistig und moralisch zurückgehen muss und dass in ihm der Nährboden vertrocknet, auf dem das Seelenleben gedeiht.»45 Laur kombiniert Blut- und Bodenmythologie mit moderner Technik und Betriebswirtschaft, und sein Diktum «Schweizerart ist Bauernart» zeigt, dass er es wie kaum ein Zweiter versteht, ideologische Diskurse auf eingängige Schlagworte herunterzubrechen.46 Oswald ist ein gelehriger Schüler. Der ideologische Überbau, den er für sein Holzverzuckerungswerk zimmern wird, fusst unverkennbar auf dem Gedankengut seines Professors.
Als Abschlussarbeit studiert Oswald das Wachstum von Tabakpflanzen unter dem Einfluss positiv geladener Felder, doch das genügt ihm nicht.47 Gleichzeitig immatrikuliert er sich am Institut für Geografie der Universität Zürich, wo der Laur-Schüler Hans Bernhard einen Lehrstuhl innehat. Dieser setzt sich als Geschäftsführer der Vereinigung für Innenkolonisation und industrielle Landwirtschaft für die Ausdehnung der Anbauflächen ein, damit die Bevölkerung nie mehr unter einer Lebensmittelknappheit wie im Ersten Weltkrieg zu leiden hat, und gilt als Vordenker der «Anbauschlacht», mit der im Zweiten Weltkrieg die Selbstversorgung forciert wird.48 Bernhard ist auch ein vehementer Gegner des Stauseeprojekts im Bündner Rheinwald, dem fünf Quadratkilometer Kulturland samt den Dörfern Splügen, Nufenen und Medels geopfert werden sollen. Unter seinen Fittichen schreibt Oswald zu Beginn der Dreissigerjahre eine Dissertation über die Wirtschaft dieses Hochtals und «ihre Schädigung durch die projektierten Stauseen». Im Vorwort erklärt er, der Entscheid über den Stausee im Rheinwald müsse zwischen dem Kraftwerk-Konsortium und «dem in der Gesetzgebung verankerten, unvoreingenommenen, freien Willen der Bevölkerung» fallen.49 Zwanzig Jahre später, als er im Bündnerland selbst Kraftwerke bauen will, kommt ihm genau dieser freie Wille in die Quere. Bis dahin ist aber noch ein weiter Weg. Vorerst muss er einen Einstieg ins Berufsleben finden. Auf dem Höhepunkt der Arbeitslosigkeit ist das kein Zuckerschlecken, nicht einmal für den Sohn des «Kaisers von Luzern».
Arthur Oswald, der «Kaiser von Luzern» (o. D.)
Ernst Laur, der «Bauerngeneral» (o. D.)
Werner Oswald (um 1930)
Werner Oswald gerät ins Fahrwasser eines nazifreundlichen Filmkonzerns und wird wegen eines geplanten Waffengeschäfts von der Bundespolizei verhört.
Am 23. September 1933 kommt es in Zürich zu einer denkwürdigen Schlacht zwischen «Fröntlern» und «Roten». Während im Stadttheater die ersten Takte von «Zwei Herzen im ¾ Takt» ertönen, setzt sich der Vaterländische Block in Marsch: 2000 Frontisten in ordentlichen Viererkolonnen, bewehrt mit Fahnen und Fackeln, angefeuert von einer Blechkapelle, vereint im Kampf gegen den «unverantwortlichen Parlamentarismus» und den «antireligiösen, bolschewistischen und jüdischen Zersetzungsgeist». Bevor sie über die Sihl in rotes Territorium vordringen, heben sie den rechten Arm und brüllen: «Harus!»1 Die Antwort lässt nicht auf sich warten. Glaubt man der NZZ, so erschallt im Arbeiterquartier Aussersihl «Huronengebrüll» und ohrenbetäubendes «Weiberschreien». Erste Steine kommen geflogen. Die Frontisten haken sich unter. Kaum haben sie die Brücke überquert, werden ihnen die Fahnen von den Stangen gerissen. Nicht lange, und die Gegner dreschen mit Fackeln und Zaunlatten aufeinander ein. Zwanzig Männer werden mit Kopfverletzungen oder Stichwunden ins Spital gefahren. Es ist bereits dunkel, als sich der gebeutelte Fackelzug unter Polizeischutz in bürgerliche Gefilde rettet. Als in der Stadt endlich Ruhe einkehrt, ist es weit nach Mitternacht.
Am Sonntag ist Wahltag, und ein Extrablatt des Volksrechts titelt: «Freche Provokationen der ‹Nationalen Front› – Deutsche Hakenkreuzler- und Faschistenfahnen im Fackelzug» und lobt die «eiserne Disziplin» der «Arbeitermassen». Die NZZ verurteilt hingegen die «Steinbombardements» des «organisierten marxistischen Überfalls», und die Freisinnigen verteilen vor den Wahllokalen einen «letzten Appell», der die Stimmbürger dazu aufruft, «mit dem Stimmzettel in der Hand die Ordnung in unserer Stadt wieder herzustellen».2 Die Wahlbeteiligung beträgt rekordverdächtige 85 Prozent, wobei fast die Hälfte der Stimmen an das «Rote Zürich» gehen. Dank dem Vaterländischen Block, einer Allianz zwischen bürgerlichen Parteien und der Nationalen Front, ziehen jedoch auch zehn Frontisten in den Gemeinderat ein.3
Der braune Zeitgeist weht auch durch Werner Oswalds Leben: Anfang 1934 gründet er mit dem Rechtsanwalt und Kinobetreiber Max Brumann die Terra-Film-Vertriebs AG für den «Vertrieb, Verleih, An- und Verkauf von Filmen aller Art» sowie den «Import und Export von Filmen aus und nach allen Ländern der Welt». Die Firma bezieht ein Büro in der Liegenschaft des Lichtspieltheaters Apollo, das mit seinen 2000 Plätzen nicht nur das grösste, sondern auch das prachtvollste Kino in der Schweiz ist.4 Sein Besitzer ist der Zürcher Bauunternehmer Eugen Scotoni, der über den Bau von Kinos zur Filmbranche fand. Als die Erfindung des Tonfilms für Goldgräberstimmung und massenhafte Konkurse sorgte, erwarb er für 1,2 Millionen Reichsmark die Aktienmehrheit der Terra-Film AG, der drittgrössten deutschen Filmproduktionsfirma.5 Sein Sohn Ralph zog nach Berlin und übernahm neben der Terra-Film auch die Terra-Filmverleih G.m.b.H. und die Terra-Produktions-G.m.b.H. mit ihrem Filmstudio.6 Scotoni jr. kannte keine Berührungsängste. Am 1. Mai 1933 trat er in die NSDAP ein, empfing seine verdutzten Landsleute gern in SA-Uniform und produzierte nach Hitlers Machtübernahme den ersten abendfüllenden Nazi-Propaganda-Streifen.7 Dank der Zürcher Unternehmerfamilie Scotoni brüllte Hitler zeitweise von hundert deutschen Kinoleinwänden gleichzeitig: «Ich habe mir ein Ziel gesetzt, nämlich die dreissig Parteien aus Deutschland herauszufegen.»8
Ein Jahr später erklärte Ralph stolz: «Die Terra bedurfte keiner Umstellung.» Sie besitze seit jeher eine «tiefe Beziehung zu den starken Triebkräften der deutschen Volksseele» und sei in «treuem Arbeitswillen» Hitlers Ruf «zur friedlichen Offensive der Geister» gefolgt.9 Mit seinem Bruder Erwin, einem Mitglied der Nationalen Front, und Max Iklé, dem späteren Nationalbank-Direktor und Vater der Bundesrätin Elisabeth Kopp, schmiedete er hochfliegende Pläne.10 Die drei gründeten die Deutsche Film-Finanzierungs-AG (DEUFAG) und ihr Schweizer Pendant, die Film-Finanzierungs-AG (FFAG), als Grundlage für einen deutsch-schweizerischen Film-Trust.11
Ihr erstes Projekt war eine «Tell»-Verfilmung mit nationalsozialistischer Schlagseite: Der historische Berater Paul Lang war der wichtigste Theoretiker der Schweizer Frontenbewegung, das Drehbuch stammte von Hanns Johst, dem späteren Präsidenten der Reichskulturkammer, dem die Welt das zweifelhafte, fälschlicherweise meist Göring zugeschriebene Bonmot verdankt: «Wenn ich Kultur höre, entsichere ich meinen Browning.»12 Görings Freundin Emmy Sonnemann spielte Hedwig Tell, und die Statisten stürmten die Burgen der Tyrannen unter denselben Harus-Rufen wie die Frontisten die Arbeiterhochburg Aussersihl. Der Film, der aus dem störrischen Schweizer Freiheitshelden einen deutschen Führer machte, feierte Premiere in Berlin, in Anwesenheit von Hitler.13
Oswald gründet die Terra-Film-Vertriebs AG zur selben Zeit, als der Terra-«Tell» die Schweizer Kinosäle entert. Wahrscheinlich stammt die Anregung von Max Iklé, der mit ihm die Unteroffiziersschule absolviert hat. «Schon damals», heisst es in Iklés Memoiren, «konnte [Oswald] toben, wenn ihn der Taktschritt seines Zuges nicht befriedigte.»14 In der Nachkriegszeit wird Iklé dem Dienstkameraden als Direktor der Eidgenössischen Finanzdirektion manchen Stein in den Garten werfen; was die beiden zur Zeit der Terra-Film miteinander zu schaffen hatten, ist hingegen nicht bekannt. Iklés Memoiren sind keine Hilfe, denn er kehrte seinen Abstecher in die nationalsozialistische Filmproduktion diskret unter den Teppich. Aktenkundig ist einzig, dass er Oswald Anfang 1937 die Terra-Film-Vertriebs AG abkaufte.15
Ungeklärt ist auch, welche Rolle Oswalds Filmverleih im Terra-Imperium der Scotonis spielt. Hervé Dumont nennt ihn in seinem Standardwerk zur Geschichte des Schweizer Films «eine weltweit tätige, auf den Import/Export ausgerichtete Verleihfirma», bleibt die Belege dafür aber schuldig.16 Aufhorchen lässt die Feststellung Ralph Scotonis, Filme seien nicht nur «eine ausgezeichnete Propaganda für deutsches Wesen in der Welt», sondern trügen auch «zur Umwandlung deutscher Arbeit in Devisen» bei.17 So ist Dumont überzeugt, die Terra-Film habe «unter dem Deckmantel» von Dreharbeiten in der Schweiz einen «gewaltigen Devisenschmuggel» organisiert, liefert aber auch hier keine Beweise.18 Es gibt ein gewichtiges Argument gegen seine Annahme: Statt Koffer voller Bargeld über die Grenze zu schmuggeln, ist es viel eleganter, in der Schweiz einen Filmverleih zu gründen. Werden die Terra-Produktionen nicht von Scotonis deutschem Terra-Filmverleih, sondern von Oswalds Schweizer Terra-Film-Vertriebs AG ausgewertet, fliessen die Einnahmen (Devisen!) ganz legal in die Schweiz, wo man sie erst noch auf ein diskretes Nummernkonto leiten kann. Auch das ist Spekulation. Und vielleicht liegt des Rätsels Lösung gar nicht in der Schweiz, sondern in Spanien, wo Oswalds jüngerer Bruder lebt.
Walther Cetto (1935)
Victor Oswald (1934)
Victor Oswald wanderte 1932, nach Abschluss einer Banklehre und «mit 200 Franken im Sack» nach Spanien aus und liess sich in Madrid nieder.19 Mit seinem Freund Paul Holzach, der ein kurzes und unrühmliches Gastspiel als kaufmännischer Direktor der HOVAG geben sollte, tätigte er nicht näher definierte «Finanz-Operationen» für das Schweizer Maschinenbauunternehmen Escher-Wyss und betrieb mit Hans Heusser, dem Korrespondenten der Basler Nachrichten, eine Presseagentur, die spanische und schweizerische Zeitungen belieferte.20 Ein Jahr später tauschte er das «k» in seinem Vornamen gegen ein spanisches «c» und gründete die Firma CEDRIC. Sein Partner, der deutsche Fabrikantensohn Walther Cetto, ein gross gewachsener, gut aussehender Mann, war 15 Jahre älter und ein Hitler-Sympathisant der ersten Stunde.21 Die beiden sicherten sich eine Lizenz für den «Selbstaufnahmeapparat Melograph»,22 eine Kombination von Tonaufnahmegerät und Plattenspieler, der sich auch für die Synchronisierung von Filmen eignete, und begannen, Filme zu importieren und für den spanischen Markt zu synchronisieren, darunter den Kassenschlager «Ein Lied geht um die Welt» mit dem Startenor Joseph Schmidt, den sie als «deutschen Caruso» bewarben.23
Die Jungunternehmer mussten «sehr sparsam, fast spartanisch einfach» leben, und im Frühjahr 1934 hatte Cetto genug von seiner «kümmerlichen Lebenshaltung». Er sammelte Empfehlungsschreiben, die ihm Sympathien für «nationalsozialistische Gedankengänge» und Kontakte zur NSDAP-Ortsgruppe Madrid bescheinigten, und bewarb sich bei der Wehrmacht.24 Mit Erfolg. Am 1. Oktober 1934 schlüpfte Cetto, der bereits im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, wieder in eine Uniform.
Victor Oswald versicherte der Filmzeitschrift Sparta, er habe sich «auf die freundschaftlichste Art» von seinem Partner getrennt. Dieser habe seine Anteile dem Schweizer «Dr. Werner Oswald» verkauft, einem «Berater wichtiger Firmen», und die «finanzstarke» CEDRIC werde künftig eigene Filme produzieren.25 Doch die US-Filmindustrie, die auf den europäischen Markt drängte, machte kleinen Firmen wie der CEDRIC das Leben zunehmend schwer. Es lief überhaupt harzig. Trotz Werners finanzieller Beteiligung gelang es Victor nicht einmal, sich den Verleih der «Wilhelm-Tell»-Verfilmung der Terra-Film zu sichern. Den Zuschlag bekam sein Konkurrent Filmófono.26
Im Frühling 1936 wenden sich die Brüder Oswald anderen Geschäften zu. Werner Oswald wandelt die PATVAG, die er drei Jahre zuvor als Firma zur Patentverwertung gegründet hat, in ein Handels- und Familienunternehmen um. Er selbst ist Delegierter, der Jurist Rudolf wird Präsident, und Victor – eine
Bilder für Hitler, Bomben für Franco
Art Aussenstation in Spanien – Verwaltungsrat. Der Firmensitz, bis anhin identisch mit Werner Oswalds Wohnadresse, wird an die Zürcher Bahnhofstrasse verlegt und das Kapital von 5000 auf 50 000 Franken (heutige 400 000 Franken) erhöht.27 Woher das Kapital stammt, bleibt schleierhaft. Rudolf bezieht als Amtsschreiber im luzernischen Aadorf einen Beamtenlohn, und Victors Firma CEDRIC steht kurz vor dem Aus. Werners Terra-Film-Vertriebs AG hat keine, zumindest keine aktenkundigen Geschäfte getätigt, und er wird sie wenig später an Dienstkamerad Iklé verkaufen. Vielleicht hat der «Kaiser von Luzern» das Kapital vorgestreckt, und falls dem so ist, hat er mitgeholfen, eine Zusammenarbeit und eine Arbeitsteilung unter seinen Söhnen zu etablieren, die sich nicht nur bei der PATVAG, sondern auch bei der Holzverzuckerungs AG als ausserordentlich erfolgreich erweisen wird.
Über die frühen Geschäfte der PATVAG ist nur wenig bekannt. Sie tätigt vor allem Kompensationsgeschäfte, dank denen sie für Schweizer Firmen Exportguthaben in Form von Waren aus Spanien in die Schweiz holt. Wie lukrativ das ist, bleibt dahingestellt. Laut dem Schweizer Botschafter in Madrid hat Victor Oswald vor allem eine grosse Klappe. Im Zusammenhang mit einer Lieferung von Olivenöl in die Schweiz schnödet der Botschafter: «Wie üblich handelt es sich wiederum um ein Millionengeschäft, denn erfahrungsgemäss interessieren Herrn Oswald nur siebenstellige Zahlen, wobei er freilich auch nicht ein einziges Mal den Beweis eines solchen Abschlusses erbracht hat.»28
Im Juni 1936 kommt mit grosser Verspätung die erste und einzige CEDRIC-Produktion, der Kurzfilm «Ciudad encantada» (Verzauberte Stadt), ins Kino. Einen Monat später bricht der spanische Bürgerkrieg aus.
Ohne Hitlers Hilfe wäre der Putsch unter Führung von Francisco Franco, der am 17. Juli 1936 in der spanischen Kolonie Marokko beginnt, wohl nach wenigen Tagen gescheitert. Mit der ersten Luftbrücke der Kriegsgeschichte, die – in Anlehnung an Wagners Oper «Die Walküre» – «Unternehmen Feuerzauber» getauft wird, werden unter der Leitung von Hermann Göring, dem Oberbefehlshaber der Luftwaffe, 14 000 Fremdenlegionäre und maurische Söldner mit Lufthansa-Maschinen nach Südspanien geflogen. Der spanische Bürgerkrieg, in dem sich Nationalisten (rechtsgerichtete Parteien, Monarchisten, Grossgrundbesitzer und die katholische Kirche) und Republikaner (Demokraten, Linke, Gewerkschaften und regierungstreue Truppen) gegenüberstehen, ist von Anfang an auch ein Stellvertreterkrieg: Mussolini schickt Geld und Söldner, Hitler Waffen und Truppen, während Stalin Waffen und Berater gegen das Gold der spanischen Nationalbank eintauscht. Als Frankreich, England und die USA beschliessen, sich nicht einzumischen, reisen Tausende Freiwillige nach Spanien, um in internationalen Brigaden an der Seite der Republikaner zu kämpfen.
«Wir sind Kriegsgebiet geworden», schreibt Hans Heusser, der Mitgründer von Victor Oswalds Presseagentur, im Herbst 1936. «Die Miliz ist kaum sichtbar, sie liegt bereits draussen in den letzten Schützengräben – wer ein Gewehr trägt, wird requiriert und hinausgeschickt.»29 In Madrid mangelt es an Lebensmitteln und Gas, sogar Wasser ist rationiert.30 Ein Grossteil der Schweizer Kolonie ist in die Heimat zurückgekehrt, doch Victor Oswald harrt aus. Ihm hat der Krieg zu Geschäften verholfen, die lukrativer sind als der Verleih von Filmen oder der Handel mit Olivenöl: Er beschützt «reiche Bürger gegenüber den Bolschewiken».31