O Weihnachtsgrauen - Bastian Zach - E-Book

O Weihnachtsgrauen E-Book

Bastian Zach

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Beschreibung

Ein Weihnachtsputz wider Willen. Ein Adventskalender und sein dunkles Geheimnis. Ein lang ersehnter Kuss unter dem Mistelzweig. Das Fest, die Schwiegermutter und ihr gefräßiges Hündchen. Ein Brief ans Christkind und sein schicksalhafter Weg über den Atlantik. Ein teuflisches Spiel an Heiligabend. Und eine sagenumwobene Weihnachtskatze … 12 morbide Weihnachtsgeschichten: manchmal abgründig, manchmal fantastisch, aber immer mit viel Herz - und einem (bösen) Schmunzeln.

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Bastian Zach

O Weihnachtsgrauen

Morbide Weihnachtsgeschichten

Zum Buch

Abgründige Weihnachtszeit Die Weihnachtszeit – festlich, hoffnungsvoll, romantisch. Manch eine Geschichte ist ganz anders, als man erwartet. Manchmal überraschend, zuweilen morbid, und doch immer irgendwie verzaubernd: Ein Weihnachtsputz wider Willen. Ein Adventskalender, der ein dunkles Geheimnis birgt. Ein lang ersehnter Kuss unter dem Mistelzweig mit schwerwiegenden Folgen. Das Fest, die Schwiegermutter und ihr gefräßiges Hündchen. Ein teuflisches Spiel am Weihnachtsabend. Eine Feier, die so ganz anderes verläuft als geplant. Ein Brief ans Christkind und sein schicksalhafter Weg über den Atlantik. Und eine sagenumwobene Weihnachtskatze … 12 morbide Weihnachtsgeschichten für die Adventszeit. Manchmal abgründig, manchmal fantastisch, aber immer mit viel Herz – und einem (bösen) Schmunzeln.

Bastian Zach wurde 1973 in Leoben geboren und verbrachte seine Jugend in Salzburg. Das Studium an der Graphischen zog ihn nach Wien, als selbstständiger Schriftsteller und Drehbuchautor lebt und arbeitet er seither in der Hauptstadt. 2020 wurde sein Krimi-Debüt »Donaumelodien – Praterblut« für den Leo-Perutz-Preis nominiert. Die Liebe zu historischen Geschichten und zum besonderen Flair der Weihnachtszeit inspirierten ihn zu diesen Geschichten.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%22New_Year_Greeting.%22.jpg

ISBN 978-3-8392-7678-5

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Widmung

I. Die Adventsuhr

Brich an, du schönes Morgenlicht

II. Die Weihnachtsfeier

In dulci iubilo

III. Der Werkelmann

Menschen, die ihr wart verloren

IV. Mörderische Weihnacht

Ihr Hirten, erwacht!

V.Tierische Bescherung

Was soll das bedeuten

VI. Der Kuss

Deck the Halls

VII. Nikolaus

Ave Maria

VIII. Brief ans Christkind

Joy to the World

IX. Der Weihnachtsputz

Mein Herz will ich dir schenken

X.Das Krippenspiel

Kommet, ihr Hirten

XI.Jólakötturinn

Jólakötturinn

XII.Anastasia

Stille Nacht, heilige Nacht

Lesen Sie weiter …

Widmung

Gewidmet all jenen, die sich noch verzaubern lassen.

I. Die Adventsuhr

1906

 

Brich an, du schönes Morgenlicht

(Text: Johann Rist, 1641 / Melodie: Johann Schop, 1641)

Brich an, du schönes Morgenlicht,

und lass den Himmel tagen!

Du Hirtenvolk, erschrecke nicht,

weil dir die Engel sagen,

dass dieses schwache Knäbelein

soll unser Trost und Freude sein,

dazu den Satan zwingen

und letztlich Frieden bringen.

Willkommen, süßer Bräutigam,

du König aller Ehren!

Willkommen, Jesu, Gottes Lamm,

ich will dein Lob vermehren;

ich will dir all mein Leben lang

von Herzen sagen Preis und Dank,

dass du, da wir verloren,

für uns bist Mensch geboren.

Lob, Preis und Dank, Herr Jesu Christ,

sei dir von mir gesungen,

dass du mein Bruder worden bist

und hast die Welt bezwungen;

hilf, dass ich deine Gütigkeit

stets preis in dieser Gnadenzeit

und mög’ hernach dort oben

in Ewigkeit dich loben.

*

Ein garstiger Hustenanfall riss ihn aus dem Schlaf, ließ ihn sich aufbäumen.

Erst allmählich und mit kratzigem Hals sank er wieder auf den Rücken und kam zur Ruhe. Verwundert blickte der junge Mann um sich. Seine Augen funkelten mit jener allumfassenden Neugierde, die sonst nur Kindern innewohnte.

Wo war er?

Er setzte sich im Bett auf. Die Stube kam ihm vertraut vor, aber er wusste nicht, wie er hierhergelangt war. Der eiserne Ofen in der Ecke strahlte noch ein wenig Wärme aus, die Fenster waren mit Vorhängen aus dickem Stoff verhangen. Dahinter erstrahlte Licht, als würde die Mittagssonne an einem herrlichen Sommertag hereinscheinen.

Die kleinen Wolken, die der Atem des Mannes verursachte, bezeugten jedoch, dass es Winter sein musste.

Ein wenig fröstelnd schlüpfte er aus dem Bett und zog sich einen schweren Hausmantel über.

Wo zur Hölle war er?

Der Mann ging durch den Raum, ließ die Fingerspitzen seiner rechten Hand über die Schellackpolitur der Kommode gleiten, was ein quietschendes Geräusch erzeugte.

Von einem Tischchen nahm er ein Buch zur Hand, blätterte darin. Obwohl der geschundene Buchrücken wie auch die abgegriffenen Seiten davon kündeten, dass es oft gelesen worden war, konnte er sich nicht an den Inhalt erinnern.

Er hob eine leere Tasse, die danebenstand, roch daran. Das scharfe Aroma eines Anisschnapses schoss ihm in die Nase, trieb ihm Tränen in die Augen und schnitt sich unter seine Stirn.

In diesem Augenblick waren all seine Fragen wie weggeblasen.

Er hieß Stanislaus Wolff, war fünfunddreißig Jahre alt und von Beruf Buchhalter in einer Kanzlei.

Stanislaus hob das Kinn, blickte prüfend in einen Spiegel. Sein Antlitz war fahl. Der spitze Ansatz seines braunen gescheitelten Haares fiel schütter aus. Seine rechte Schläfe zierte eine gerötete, wulstige Narbe.

Stanislaus berührte sie. Ein eigenartig elektrisierender Schmerz ließ ihn zusammenzucken. Seine Stirn durchzogen Falten, wohl berufsbedingt, wie Stanislaus mutmaßte, vom vielen Grübeln über den Zahlen. Dafür strahlten seine blauen Augen eine Lebensfreude aus, die zum Rest seiner Erscheinung nicht passen wollte. Seinen Mund hatte er zu einem Schmunzeln verzogen.

Beim Anblick seines Spiegel-Ichs keimten sogleich Zweifel in ihm auf, gepaart mit einer urtümlichen, bedrohlichen Angst.

Wie kam es, dass er sich nach dem Aufwachen an nichts erinnern konnte? Wann war er das letzte Mal seiner Profession nachgegangen? Und – war Buchhalter überhaupt noch seine Profession?

Ein gerahmter Scherenschnitt neben dem Spiegel vermittelte zumindest die Gewissheit, dass dies seine Behausung war, gab dieser doch eindeutig sein kantiges Profil wieder.

Stanislaus schritt zum Fenster, öffnete die schweren Vorhänge und schloss sogleich die Augen, so grell leuchtete die verschneite Winterlandschaft hinein.

Nachdem er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, nahm er einen roten Apfel, der verwaist in einer Schale am Fensterbrett lag, biss hinein und sah gedankenverloren hinaus. Eisblumen bildeten einen breiten Saum auf dem Glas, rahmten pittoresk die kahlen Bäume ein, die sich unter der Schneelast beugten wie Diener vor ihrem Gebieter, dem Winter.

Auch wenn sich Stanislaus noch so anstrengte, er vermochte nicht zu sagen, was er am heutigen Tag tun sollte, denn er wusste nicht, was er gestern getan hatte. Oder den Tag davor. Überhaupt herrschte in ihm eine schreckliche Erinnerungslücke, die bis in den letzten Herbst zurückreichte – war es überhaupt der letzte Herbst? Erst von da an konnte er rückwirkend sagen, was er getan hatte.

Sechs Tage die Woche war er frühmorgens aufgestanden, hatte sich gewaschen, rasiert und gekämmt. Er hatte sich seinen Tagesanzug angezogen und war zur Arbeit in die Kanzlei gegangen. Abends um sechs hatte er den Bleistift weggelegt, war in eine seiner sechs liebsten Restaurationen eingekehrt, die er alternierend zu besuchen pflegte, hatte ein Abendmahl eingenommen und war nach zwei Krügen Bier schließlich nach Hause gegangen.

In seiner Stube hatte er dann erledigt, was die Sauberkeit und seine Ordnungsliebe mahnten. Um elf Uhr war er ins Bett geschlüpft, hatte zumeist noch eine halbe Stunde im Schein einer Petroleumlampe gelesen und war dann eingeschlafen.

An seinem freien Tag liebte es Stanislaus, den Zoologischen Garten zu besuchen, beobachtete die Tiere oder lauschte einem der Militär-Konzerte, die dort veranstaltet wurden. Oder er ging ans Ufer der Elbe und sah den Dampfschiffen dabei zu, wie sie an- und ablegten.

Er bemerkte einen Taschenkalender, in dem die Seiten November und Dezember aufgeschlagen waren. Im November war jeder Tag durchgestrichen, im Dezember die ersten zwölf.

Demnach musste heute wohl der dreizehnte Dezember sein, mutmaßte Stanislaus. Er nahm den Bleistift, der danebenlag, und strich den heutigen Tag durch. Er setzte sich auf die Stirnseite seines Betts und verputzte den Apfel mit Strunk und Stiel.

Da bemerkte er, dass etwas auf dem geschundenen Bretterfußboden vor seiner Wohnungstür lag – ein großes Kuvert, das jemand durch den Spalt geschoben haben musste.

Er stand auf, ging zur Tür und nahm den Briefumschlag. Er entriegelte das Schloss, öffnete die Tür und blickte in den düsteren Flur. Keine Menschenseele weit und breit.

Plötzlich wurde die Tür neben der seinen aufgerissen.

Stanislaus zuckte zusammen.

Eine Frau um die vierzig streckte den Kopf heraus, entblößte ein beinahe zahnloses Grinsen. »Ah, der Herr Wolff! Dass man Sie auch wieder mal sieht! Dacht schon, Sie seien hin.«

Stanislaus schüttelte den Kopf. »Noch bin ich es nicht.« Er verharrte kurz. »Sagen Sie, was ist heut für ein Tag?«

Die Frau lachte auf, grunzte dabei durch die Nase. »Sie sind mir einer! Aber wenn es Ihnen Freude bereitet: Der Dreizehnte im Dezember ist heut.«

Stanislaus bedankte sich höflich und wollte gerade wieder seine Tür schließen, als die Frau nachsetzte: »Wollen Sie mir heut Abend Gesellschaft leisten? Hab eine Flasche Korn ergattert!«

Ein schnelles »Nein danke«, gefolgt vom noch hastigeren Schließen der Tür und dem beinahe schon panisch schnellen Verriegeln des Schlosses, beendete für Stanislaus das Experiment der Erforschung des Unbekannten vor seinen vier Wänden.

Er setzte sich an den kleinen Tisch, legte das braune Kuvert darauf und starrte es eine gefühlte Ewigkeit lang an. Es maß um die dreißig mal dreißig Zentimeter und war flach wie eine Flunder. Weder Absender noch Adressat waren angegeben, frankiert hatte man es auch nicht. Irgendwer musste es also persönlich unter seiner Tür hindurchgeschoben haben. Nur wer?

Schließlich dämmerte dem Buchhalter, dass er es wohl nicht durch bloßes Anstarren herausfinden würde.

Er löste die Verschnürung der Spagatschnur, öffnete die Lasche des Kuverts und fasste hinein. Dann zog er ein Kartonblatt heraus, in den gleichen Maßen des Kuverts.

Darauf war, in bunten Farben, ein Ziffernblatt gedruckt, in dessen Mitte das Jesuskind in der Krippe ruhte. Rundherum standen die Nummern dreizehn bis vierundzwanzig. Daneben befand sich jeweils ein Kästchen mit perforiertem Rand. Ein Zeiger aus Messingblech komplettierte die Uhr. Unter dem Ziffernblatt erkannte Stanislaus ein weihnachtliches Bild, das zwei spielende Kinder in einem verschneiten Wald zeigte.

An drei Seiten hatte jemand den Karton offenbar aufgeschnitten und anschließend wieder zugeklebt.

Wer würde ihm etwas Derartiges schenken, überlegte Stanislaus. Und was war das überhaupt? Es musste eine Art Kalender für Kinder sein, die den Heiligen Abend nicht mehr erwarten konnten und so jeden Tag ein Türchen aufmachen durften.

Eine – Adventsuhr. Aber warum ausgerechnet für ihn?

Er blickte noch einmal ins Kuvert und bemerkte, dass sich darin ein kleiner Zettel versteckt hielt. Er zog ihn heraus, wendete ihn und las darauf eine handschriftliche Nachricht.

Öffne mich, erinnere dich

Ein Türchen am Tag

Mehr ich nicht mag

Vergiss mein nicht

Wer hatte ihm diese seltsam verklausulierte Nachricht geschrieben? Und weshalb? Und überhaupt – was bedeutete sie?

Stanislaus begann der Kopf zu schmerzen. Ein Hämmern pochte darin im Gleichklang mit seinem Herzschlag, eine vermeintliche Strafe für das viele Grübeln.

Der Buchhalter überlegte, ob er die eigentümliche Uhr wegwerfen oder weiterschenken sollte, doch seine Neugierde obsiegte. Ein Türchen am Tag, hieß es. Und da man heute den dreizehnten Dezember schrieb, war es wohl nur rechtens, die dafür vorgesehene Stanze zu öffnen.

Stanislaus ritzte mit den Fingernägeln entlang der Perforation, bog die Pappe ein wenig vor und zurück und öffnete schließlich, untermalt von einem knatternden Geräusch, das erste Fenster.

Darin stand auf einem offensichtlich nachträglich eingeklebten Stück Papier: »Albertplatz«.

Stanislaus haderte kurz mit sich. Dann zog er seinen dicken Mantel an, band sich einen Wollschal um den Hals, setzte eine Wollhaube auf und machte sich auf, seine Behausung zu verlassen – denn er wusste, wo sich der Platz befand.

Die Hauptstraße mit den Gleisen der Straßenbahn durchschnitt den kreisrunden Albertplatz. Stanislaus stand in dessen Mitte, eingerahmt von den Zwillingsbrunnen »Stürmische Wogen« und »Stille Wasser«, die ob des Winters jedoch in einen schützenden Mantel aus Holz gehüllt waren.

Unschlüssig, was er nun tun sollte, schlenderte Stanislaus auf und ab, umkreiste einmal die Grünfläche. Doch er bemerkte nichts, was besondere Aufmerksamkeit verdiente. Vielleicht, so kam ihm in den Sinn, erlaubte sich nur jemand einen Streich mit ihm. Oder der Bote hatte sich schlichtweg in der Tür geirrt und das Kuvert war für jemand anders bestimmt gewesen.

Da das Pochen in seinem Kopf wieder stärker wurde, beschloss der Buchhalter, sich ein wenig Ruhe zu gönnen, und suchte hierzu die einzige Parkbank am Platz auf. Er setzte sich, obwohl die Bretter vom Schnee gänzlich vereist waren, und erfreute sich der kalten Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht.

Genüsslich schloss Stanislaus die Augen.

Mit einem Mal durchzuckten Blitze die mit Adern durchzogene Röte seiner Lider. Ein Gefühl bemächtigte sich seiner, als würde er in einen Malstrom hinabgesogen, in einen Strudel aus Erinnerung und Verdrängung, aus Raum und Zeit. Stanislaus sah sich selbst, wie er an dieser Bank kniete, das Gesicht schmerzverzerrt. Eigenartige Stimmen prasselten auf ihn ein, ein nicht enden wollender Strom aus Blut verlief zwischen seinen Fingern und plätscherte auf das Holz der Bank.

Mit einem Schrei sprang Stanislaus auf, wich von der Parkbank, als würde sie Gift versprühen. Einige Passanten warfen ihm verwunderte Blicke zu, die dem Buchhalter jedoch gleichgültiger nicht sein konnten. Was zur Hölle war ihm gerade widerfahren?

Verwirrt sah er um sich. Doch alle anderen schienen schlicht ihrem Tagwerk nachzugehen.

Stanislaus stürzte zur Bank hin, begann, mit bloßen Fingern Schnee und Eis von der Sitzfläche zu kratzen.

Zu seinem Entsetzen legte er frei, wovon er keine Ahnung hätte haben dürfen: dunkel verfärbtes Holz, als hätten die Bretter gierig etwas aufgesogen – Stanislaus’ Blut.

Getrieben wie ein Tier in einem Käfig schritt der Buchhalter in seinem Zimmer auf und ab. Sein Verstand war nicht imstande zu begreifen, was er eben erlebt hatte, geschweige denn fähig, es in einen Zusammenhang zu setzen, der nur im Entferntesten Sinn ergab.

Als mit der Vielzahl an Fragen auch das Pochen in seinem Kopf stärker wurde, füllte Stanislaus die Tasse auf dem Tischchen bis zur Hälfte mit Anisschnaps und trank sie auf ex. Dann setzte er sich auf den hölzernen Stuhl und starrte aus dem Fenster, hoffend, dass all das Sinn ergeben würde.

Doch diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Verwirrt von seinen Überlegungen, benebelt von zu viel Schnaps und mit stechenden Kopfschmerzen erlöste Stanislaus irgendwann ein tiefschwarzer Schlummer.

Wie ein Ertrinkender japste Stanislaus nach Luft und riss die Augen auf.

Wo war er?

Er setzte sich im Bett auf. Die Stube kam ihm vertraut vor, aber er wusste nicht, wie er –

Da fiel sein Blick auf eine bunte Adventsuhr, die auf dem Tischchen an einer leeren Flasche lehnte.

Schlagartig wusste der Buchhalter, wer er war, wo er war und vor allen Dingen, was sich am Vortag zugetragen hatte.

Stanislaus stürzte aus dem Bett, griff sich die Adventsuhr und öffnete das Fenster mit der Nummer »14« darauf. Wieder fand er ein nachträglich eingeklebtes Stück Papier vor, darauf geschrieben: »Dreikönigskirche«.

Nachdem er sich hastig angezogen hatte, lief Stanislaus aus seiner Wohnung, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her.

Südlich des Albertplatzes und mit ihm verbunden durch die Hauptstraße erhob sich das Gotteshaus. Sein Turm aus Sandstein, den Statuen der vier Evangelisten sowie der Heiligen Drei Könige zierten, war erst fast fünfzig Jahre zuvor errichtet worden.

Außer Atem erreichte Stanislaus das barocke Bauwerk. Sein Atem dampfte an der kalten Luft, als würde sich eine Lokomotive in voller Fahrt befinden. Mit auf die Knie gestützten Händen stand er inmitten des Bürgersteigs, nur darauf bedacht, nicht die Besinnung zu verlieren. Er wischte sich den Schweiß vom Gesicht, durch den sich alles noch eisiger anfühlte, dann ließ er den Blick über das Bauwerk und die angrenzenden Gebäude schweifen. Einen Anhaltspunkt suchte er jedoch vergebens. Er ging zum Eingangstor, rüttelte daran. Doch die Dreikönigskirche war versperrt.

Daraufhin umrundete er das Gebäude zur Hälfte und legte an dessen Westseite, gegenüber dem Marktbrunnen, erneut eine Verschnaufpause ein. Nachdem er auch hier keinerlei Anzeichen für etwas Ungewöhnliches entdecken konnte, stapfte Stanislaus in einer Gasse an der Südseite durch kniehohen Schnee wieder Richtung Hauptstraße.

Ob der Anstrengung wurden seine Kopfschmerzen so heftig, dass der Buchhalter stehen blieb und am liebsten den Schädel gegen die Kirchenmauer geschlagen hätte, damit ihn die Ohnmacht erlösen würde. Er merkte, wie er kurzatmig wurde. Funken tanzten vor seinen Augen, alles um ihn herum begann sich zu drehen.

Er stützte sich an der Mauer der Kirche ab.

Allmählich verklangen Kurzatmigkeit und Schwindelgefühl. Er nahm die Hand von der Mauer.

Mit entsetztem Blick stolperte er nun zwei Schritte rückwärts, fiel rücklings in den Schnee. Dort an der Mauer, wo gerade seine Hand geruht hatte, befand sich ein dunkler, beinahe schwarzer Fleck in Form einer Hand. Seiner Hand.

Stanislaus rappelte sich auf, prüfte, ob ihm sein Geist etwas vorzugaukeln versuchte, was nicht da war, aber tatsächlich – Form und Größe stimmten genau überein. Vielleicht war das Dunkle dort sogar sein Blut, wie zuvor auf der Bank.

Wieder beutelte ihn die Erinnerung, wieder sah er sich, blutüberströmt an die Kirchenmauer gestützt, schwankend und stöhnend.

Stanislaus bemühte sich, nicht in Panik zu geraten. Wenn er tatsächlich hier gewesen war, dann musste das, was er gestern gesehen hatte, davor oder danach geschehen sein. Wenn er nur wüsste, wann –

Vielleicht sollte er gleich alle Türchen des Kalenders aufmachen und allen Anweisungen folgen?

Ein Türchen am Tag, mehr ich nicht mag.

Sosehr es Stanislaus auch unter den Fingernägeln brannte, er musste seine Ungeduld bändigen. Denn er vermochte nicht abzuschätzen, ob neben der örtlichen Komponente auch eine zeitliche vom Konstrukteur des Kalenders einberechnet worden war.

Ein Türchen am Tag.

Auf dem Weg nach Hause setzte dichtes Schneetreiben ein. Der Buchhalter fror immer mehr, und da er seit einem Tag nichts mehr gegessen hatte, kehrte Stanislaus in einer Kellergaststätte ein. Dort aß er einen sämigen Linseneintopf mit knusprigem Schwarzbrot und ließ den Tag bei einigen kühlen »Feldschlösschen« Lagerbieren ausklingen.

»Goldener Reiter«.

Zum siegreichen Sprung ansetzend erhob sich die lebensgroße Reiterstatue von ihrem steinernen Sockel in den blitzblauen Winterhimmel. Das Reiterstandbild König August des Starken richtete sich gen Osten, wo sich das Königreich Polen erstreckte. Sein Königreich. Einst in Kupfer getrieben, erstrahlte die vergoldete Reiterstatue triumphal und bar jeden Schnees in der Sonne, kündete von alten, glorreichen Zeiten.

Nicht so glorreich war es Stanislaus zumute. Trotzdem er schon Dutzende Male um das Standbild geschritten war, trotzdem er das Geländer, das den Sockel einfasste, an allen möglichen und unmöglichen Stellen berührt hatte, wollte sich an diesem dritten Tag keine Erinnerung einstellen.

Mehrmals ging er den Platz ab, vom Kriegsministerium im Süden bis zum Beginn der Hauptstraße, wo sich zwei zwanzig Meter hohe Fahnenmasten aus Bronze in den Himmel reckten, die jenen am Markusplatz in Venedig nachempfunden worden waren.

Enttäuscht und zornig, dass er so närrisch gewesen war zu glauben, ihn würde jeden Tag eine Offenbarung ereilen, trottete Stanislaus wieder heimwärts.

Als das fahle Licht des Morgens greifbar wurde, war Stanislaus bereits stundenlang wach. Ein dumpfes Dröhnen im Schädel hatte ihn geweckt, die Gedanken rund um den Adventskalender hatten ihn wach gehalten. Verflogen war die Euphorie des gestrigen Morgens, an dem er es nicht hatte erwarten können, das dritte Türchen zu öffnen.

Stanislaus rang mit sich, ob er heute überhaupt ein Türchen öffnen sollte. Eine neuerliche Enttäuschung würde ihn wohl endgültig an seine Wohnung ketten, würde ihm den letzten verbliebenen Willen rauben, nach draußen zu gehen oder am öffentlichen Leben teilzunehmen.

Als die Turmuhren Mittag schlugen, lag der Buchhalter immer noch im Bett. Der Adventskalender ruhte am Tischchen, mit nur drei geöffneten Türen.

Um zwei Uhr am Nachmittag zwang die Notdurft Stanislaus, sich anzuziehen und den Abtritt im Hof aufzusuchen.

Von der klirrenden Kälte des grauen Winternachmittags wachgerüttelt, rang er sich endlich dazu durch, das vierte Türchen zu öffnen – auch wenn er sich selbst zusicherte, diesbezüglich keinerlei Schritte am heutigen Tag unternehmen zu wollen.

Stanislaus blickte nach oben. Über ihm erhoben sich die gewaltigen Bögen der Augustusbrücke. Mit ihren vierhundert Metern Länge verband sie eindrucksvoll die Dresdner Neustadt mit der Altstadt, während zu Füßen ihrer mächtigen Pfeiler die gefrorene Elbe ruhte.

Das Ächzen und Knacken der Eisplatten fuhr Stanislaus durch Mark und Bein, doch er wusste, dass er dies noch ein Weilchen erdulden musste. In einer Stunde würde die Dämmerung über die Stadt hereinfallen und jede Chance zunichtemachen, noch etwas herauszufinden – zu viel Zeit hatte der Buchhalter verstreichen lassen, ehe er sich aufgerafft hatte.

»Augustusbrücke. Unter den Bögen.« Das war der heutige Hinweis gewesen, und da die Brücke auf der Altstadtseite direkt in einen Wall mündete, konnte mit »Unter den Bögen« nur die Seite der Neustadt gemeint sein. Allerdings, so stellte Stanislaus fest, gab es hier nicht sonderlich viel zu sehen. Gemauerte Brückenpfeiler, gemauerte Gewölbe, alles in Eis und Schnee erstarrt.

Darauf bedacht, auf dem gefrorenen Boden nicht auszurutschen, setzte Stanislaus einen Fuß vor den anderen, durchschritt vorsichtig den ersten riesigen Bogen, bis er an dessen anderem Ende wieder ins Freie trat. Eine Vision oder gar Erleuchtung hatte er jedoch nicht erfahren.

Unter dem zweiten und dritten Bogen erging es Stanislaus gleich.

Beim letzten Brückenbogen jedoch stach dem Buchhalter eine Unregelmäßigkeit in dem ansonsten ebenmäßig verwitterten Ziegelwerk ins Auge. Er trat näher heran, betastete die Stelle. Auf seiner Augenhöhe hatte irgendetwas ein Stück aus dem Ziegel gesprengt, in Form eines Kegels und in der Größe einer Faust.

Vielleicht war aber auch schlicht ein Kahn dagegengeschrammt, als die Elbe Hochwasser führte, kam Stanislaus in den Sinn. Dennoch übte die Einkerbung eine ungewöhnliche Faszination auf den jungen Mann aus.

Und wenn schon, dachte er und setzte sich, den Rücken ans Mauerwerk gelehnt. Nun war er schon einmal hier, da konnte er auch noch ein wenig verweilen. Zumindest so lange, bis ihn die Kälte in die Knochen biss.

Er zog sich die Wollmütze über die Ohren, den Schal über die Nase, winkelte die Beine an und vergrub seine Hände unter den Achseln.

Die Dämmerung kroch herein, raubte der Stadt die Farben, dem Treiben die Melodie und den Straßen das Leben.

Stanislaus schreckte hoch, er musste eingeschlafen sein. Ein Knall zischte ihm ins Gehör, wog grausam im Gewölbe hin und her. Schatten wüteten über das Mauerwerk. Geschrei vermischte sich mit dem Hall zu einer kaum ertragbaren Kakophonie. Der Buchhalter spürte, wie ihn etwas nach rechts riss, unbändig und grausam –

Einen Augenblick später war plötzlich wieder alles so wie zuvor: nächtliche Stille, nur unterbrochen vom Rattern der Straßenbahnen oben auf der Brücke und vom Knacken des Eises auf der Elbe.

Trotzdem wusste Stanislaus, dass an diesem Ort etwas seinen Anfang genommen hatte, etwas, was ihn – er schluckte –, etwas, was ihn zum Goldenen Reiter geführt hatte, ja, daran erinnerte er sich nun, und weiter, zur Dreikönigskirche und von dort aus zum Albertplatz. Ein Ereignis, das für diese grässliche Narbe an der Schläfe verantwortlich war und wohl auch dafür, dass ihm jegliche Erinnerung an die letzten Monate fehlte.

Er kratzte sich unter der Haube. Welches Spiel trieb der Macher der Adventsuhr mit ihm? Und vor allen Dingen: Was würde ihn am Ende erwarten? Erleuchtung? Der Tod?

Doch ehrlich gesagt war Stanislaus das gänzlich gleich. Er hatte Blut geleckt, und dieses Gefühl beflügelte ihn zum ersten Mal seit einer Ewigkeit.

Der nächste Tag brachte eine Überraschung mit sich. Stanislaus hatte sich bereits Mantel und Schal übergezogen und war bereit gewesen, zu seinem nächsten Ziel aufzubrechen, da stand hinter dem Adventstürchen nur: »Klopf, klopf«.

Intuitiv blickte der Buchhalter zu seiner Wohnungstür, öffnete sie und bemerkte einen Brief, der zwischen Zarge und Blatt eingeklemmt worden war und nun zu Boden fiel.

Gerade noch bevor Stanislaus’ Nachbarin ihre Tür entsperren konnte, hatte der die seine bereits wieder geschlossen. Er ließ seinen Mantel zu Boden fallen, setzte sich auf den Stuhl vor dem Fenster und entfaltete den Brief.

Wenn Sie haben wollen, was nicht Ihnen gehört, kommen Sie morgen nach Einbruch der Dunkelheit unter die Augustus­brücke. Bringen Sie 500 Mark mit.

»Fünfhundert Mark«, flüsterte Stanislaus ehrfürchtig. Dafür müsste er über drei ganze Monatslöhne sparen. Aber was war mit der Nachricht eigentlich gemeint? Was wollte er haben, was ihm nicht gehörte? Soweit sich der Buchhalter erinnern konnte, hatte er immer ein zurückgezogenes, beinahe spartanisches Leben geführt, einzig bestimmt von der Liebe zu seiner Arbeit und den Unternehmungen an seinen freien Tagen. Beim besten Willen mochte er sich nicht einer unerfüllten Begehrlichkeit entsinnen.

Stanislaus strich das Papier glatt, klemmte es in den Rahmen mit dem Scherenschnitt neben dem Spiegel. Hier sollte es bleiben, Ansporn und Warnung zugleich.

In den folgenden Tagen führte die Adventsuhr den Buchhalter kreuz und quer durch Dresdens Innenstadt, unter anderem zur Restauration zum Lincke’schen Bad nahe der Elbe, wo er allein an einem Tisch sitzend einige Gläser Wein trank. Zum Inneren Neustädter Friedhof, dessen Nordmauer das imposante zwölf Meter lange Relief des »Dresdner Totentanzes« beherbergte. Dort schritt Stanislaus die Reihen der Gräber ab, die letzten Ruhestätten ihm unbekannter Menschen. Und zum Altmarkt im Herzen der Stadt, wo der alljährliche Striezelmarkt abgehalten wurde. Dort tummelten sich Menschen Ameisen gleich zwischen den Verkaufsständen der Handwerker, erwarben Christbäume und Christbaumschmuck, traditionsreiche Klöppelspitze und einzigartige Schwibbögen oder standen gesellig bei heißem Gewürzwein und Pfefferkuchen zusammen.

Stanislaus schlenderte ebenfalls zwischen den kleinen Hütten hindurch, ohne zu wissen, wonach genau er Ausschau halten sollte. Am frühen Abend nahm die Besucherzahl spürbar zu, weshalb der Buchhalter wieder heimwärts ging.

Die Enttäuschung darüber, dass in ihm keine neuen Erinnerungen entfacht worden waren, schlug ihm schwer aufs Gemüt.

In den Tagen darauf ging es für Stanislaus nicht viel besser weiter. Im Zoologischen Garten mochte er sich nicht an der »reichhaltigen Sammlung von Tieren« erfreuen. In einem Blumengeschäft begannen nur seine Nase zu jucken und seine Augen zu tränen. Und in einem Laden für Hutmode fühlte er sich gänzlich deplatziert, da er schlichtweg keinen Bedarf für einen neuen Hut hatte.

Es folgten weitere Orte, die Stanislaus zwar grundsätzlich kannte, die aber keine Erinnerungen in ihm weckten.

So geriet das tägliche Öffnen eines Kästchens immer stärker zur lästigen Pflichtübung. Die vorgegebenen Orte wirkten willkürlich und ohne jeden Zusammenhang ausgesucht. Vielleicht, kam Stanislaus erneut in den Sinn, wurde er einfach nur vorgeführt von einem liederlichen Menschen, der sich auf seine Kosten amüsierte.

Am neunzehnten Dezember beinhaltete die Adventsuhr jedoch eine Überraschung: einen mehrfach zusammengefalteten Zettel.

Stanislaus blätterte ihn auf, las den Text darauf und besah sich die Zeichnung daneben – ein Steckbrief. Was zur Hölle sollte er mit einem Steckbrief? Er konnte sich nicht entsinnen, eine Charlotte Rilke zu kennen. Gesucht wurde sie unter anderem wegen Diebstahls und Bettelei, wofür sie bereits mehrere Wochen im Gefängnis verbracht hatte. Auch die Personenbeschreibung – neunzehn Jahre alt, braunes Haar, braune Augen, gesunde Gesichtsfarbe, schlanke Statur – lösten bei Stanislaus nicht den Anflug einer Erinnerung aus. Vermutlich trafen diese Angaben auf ein Drittel der jungen Frauen in Dresden zu. Die Zeichnung, die sich neben dem Text befand, war ebenso schlampig wie krude.

Am nächsten Tag lotste die Adventsuhr Stanislaus zu einem weiteren Reiterstandbild, diesmal von König Johann, am Theaterplatz vor Hofkirche und Hoftheater.

Ein eisiger Wind schnitt Stanislaus ins Gesicht, kroch bei jeder sich bietenden Möglichkeit in seinen Mantel, in die Hosenbeine oder die Ärmel. Um den Sockel des Denkmals zu berühren und so vielleicht erneut Erinnerungen auszulösen, hatte sich Stanislaus die Lederhandschuhe ausgezogen und alles, was sich in Griffweite befand, abgetastet. Doch außer dem Umstand, dass sich seine Hände nun klamm und steif anfühlten, war nichts geschehen.

So stand er allein da, die Hände in die Manteltaschen gesteckt, sein Gewicht von einem Bein aufs andere verlagernd und auf und ab wippend, in der Hoffnung, dies würde ihn nicht ganz so schnell auskühlen lassen.

Aber es half alles nichts, musste sich Stanislaus schließlich eingestehen. Er würde hier verlassen stehen bleiben, ohne neue Erkenntnis und ohne dass jemand auf ihn zukommen würde.

In dem Augenblick offenbarte sich ihm ein Bild – vor seinem geistigen Auge sah er sich selbst hier an diesem Ort stehen. Doch der Wind war angenehm lau, die späte Nachmittagssonne gerade dabei, unterzugehen. Genau wie jetzt wartete er auf jemanden, genau wie jetzt schwand mit jedem Herzschlag die Hoffnung, es würde etwas geschehen. Sein Sommer-Ich, wie er es gerade getauft hatte, entstellte jedoch keine Narbe an der Schläfe. Dafür schmerzte die Erkenntnis tausendmal mehr, versetzt worden zu sein, als das Gefühl, sich an nichts erinnern zu können.

Auf wen nur hatte er gewartet? Vielleicht könnte es ihm die ominöse Frau sagen, die steckbrieflich gesucht wurde? Nur kannte Stanislaus keine kriminelle Person.

Vielleicht, so hoffte er, als er den Weg nach Hause beschritt, würde ihm der eine oder andere Schluck Anisschnaps helfen. Und wenn schon nicht seiner Erinnerung, dann zumindest seinem Körper dabei, sich aufzuwärmen und in einen tiefen Schlaf zu sinken.

Antriebslos aß Stanislaus ein Stück Schwarzbrot mit Käse, starrte dabei auf den vermaledeiten Kalender. Nur noch vier Tage bis Weihnachten. Dann würde der Spuk endlich ein Ende haben. So oder so. Ohne eine Hoffnung zu hegen, öffnete er das Kästchen des Tages und las ebenso hoffnungslos »Café Central«.

Vor dem Schaufenster der Gaststätte konnte Stanislaus sich zwar daran erinnern, dass er hier bereits zu Gast gewesen war und ein köstlich erfrischendes Eis verspeist hatte. Aber ob allein oder zu mehreren, wusste er nicht mehr, ebenso wenig, wann er das Café besucht haben sollte.

Den Großen Garten mit seinen weitläufigen Parkanlagen, Seen und dem barocken Lustschloss überflog Stanislaus am nächsten Tag nur mit einem Blick.

Die vorgegebene Kutschenfahrt trat er nicht an.

Dann war er endlich gekommen: der vierundzwanzigste Dezember. Das letzte Türchen harrte seiner Öffnung und Stanislaus seiner Erlösung. Trotz aller Fehlschläge zitterte der Buchalter, denn gleich würde er sehen, wohin ihn der letzte Tag schicken würde. Umso größer fiel seine Enttäuschung aus – ins letzte Türchen hatte jemand mit einer Feder nur eine Hühnerkeule gekritzelt.

Wütend schleuderte Stanislaus den Kalender in eine Zimmerecke, schenkte sich Anisschnaps ein und trank das Gläschen ex auf nüchternen Magen. Der revoltierte sogleich, woraufhin der Buchhalter beschloss, dass es eigentlich an der Zeit war, sich zu belohnen. Als zu qualvoll hatte er die letzten elf Tage empfunden. Auch wenn sich sein Zustand ein wenig gebessert hatte – er wachte nun nicht mehr ohne jede Ahnung auf, wer oder wo er war –, so wollte er sich am heutigen Heiligen Abend etwas Besonderes gönnen: ein saftiges Stück Fleisch, das er in einer Pfanne auf seinem Ofen zubereiten wollte. Ob ihn die Darstellung der Hühnerkeule dazu inspiriert hatte, erörterte er nicht weiter.

»Fleischerei Lange und Söhne«, prangte in großen Lettern über dem Geschäft. Pralle Würste im Schaufenster lockten, machten aus vorbeigehenden Passanten Kundschaft.

»Ich bitte um ein schönes Stück vom Schweinenacken«, orderte Stanislaus beim Fleischermeister, dem man ob seines geröteten Gesichts und seiner Leibesfülle eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ursprünglichen Aussehen seiner Ware nicht in Abrede stellen konnte.

Der Metzger erledigte die Bestellung mit Hingabe, wickelte das Fleisch, das zwei Finger hoch und die Größe von zwei Handflächen maß, in Wachspapier, band dieses mit einer Schnur zusammen und überreichte es stolz Stanislaus.

Der beglich den Preis, nahm das Fleisch entgegen und war gerade im Begriff zu gehen, als ihn etwas innehalten ließ – eine Gestalt, die aus dem Raum hinter der Theke hervorlugte. Eine Frau mit großen, dunklen Augen, hellblondem Haar und schmalen Lippen, die ein keckes Lächeln umspielte.

Als die Frau merkte, dass Stanislaus sie ansah, erstarb das Lächeln jäh, hastig verschwand sie hinter der Tür.

Der Buchhalter wollte etwas sagen, wusste jedoch nicht, was. Trotzdem der Blickkontakt nur wenige Herzschläge lang gedauert hatte, beschlich Stanislaus das eigenartige Gefühl, die Frau schon einmal gesehen zu haben. Er zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich hatte er schon einmal hier eingekauft, befand er und verließ das Geschäft.

Draußen setzte er sich auf eine Parkbank, die bereits von ihrer Schneelast befreit worden war, und dachte nach. Das gekaufte Stück Fleisch wog gewichtig in seinen Händen. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu dem ab, was sich heute Abend auf seinem Teller wiederfinden würde, saftig zubereitet und köstlich duftend.

Eine Unebenheit an der Unterseite des Pakets irritierte ihn mit einem Mal. Stanislaus drehte es um, sah genau hin: Mit verschnürt befand sich dort eine getrocknete Blume mit blauer Blüte. Ein Vergissmeinnicht.

Vergiss mein nicht.

Stanislaus sah sich selbst dabei, wie er eine solche Blume pflückte. Sah sich selbst, wie er sie jemandem schenkte – einer Frau, deren blondes Haar engelsgleich in der Herbstsonne erstrahlte. Die ihn umarmte, ihre Wange gegen die seine presste und ihm Schmeicheleien ins Ohr flüsterte, die ihm Gänsehaut bereiteten.

Ein Tag im letzten Herbst flammte auf, der schönste seines Lebens. In Begleitung war er im Großen Garten spaziert, hatte in Begleitung eine Fahrt mit einer Kutsche unternommen und war anschließend auf ein zart schmelzendes Speiseeis ins »Café Central« eingekehrt, ebenfalls in Begleitung.

Mitihr.

Stanislaus’ Atem ging stockend. Die Frau hatte damals etwas in ihm geweckt, was er bis dahin nicht gekannt hatte – eine Sehnsucht, so allumfassend, dass nichts mehr von Bedeutung war, wenn er es nicht mit ihr teilen konnte.

Sie liebte es, Tiere im Zoo zu beobachten, das wusste er mit einem Mal wieder. Blumen liebte sie beinahe ebenso. Und irgendwann wollte sie sich einen besonders modischen Hut kaufen, darauf sparte sie. Ihre Mutter lag auf dem Neustädter Friedhof begraben, dort, wo er vor wenigen Tagen achtlos vorbeigeschlendert war.

Und sie verbarg ein Geheimnis, das hatte sie ihm gebeichtet. Doch worum es sich handelte, hatte sie ihm erst erzählen wollen, wenn sie ihn besser kannte.

Immer heftiger geriet Stanislaus’ Atmung, immer beklemmender schnürte sich sein Brustkorb zusammen.

Stanislaus kippte von der Bank, schlug mit der Narbe auf seiner Schläfe auf dem vereisten Kopfsteinpflaster auf und verlor die Besinnung.

Blinzelnd öffnete der Buchhalter die Augen. Er saß auf einem Stuhl, während ihm ein beißender Geruch in der Nase stach.

»Geht es dir gut?«

Die Frau aus der Fleischerei kniete vor ihm, schwenkte ein Riechfläschchen vor seinem Gesicht hin und her.

»Minna?« Stanislaus musste niesen. »Entschuldigung. Ja, es geht schon wieder«, meinte er, obwohl ihm der Kopf gehörig dröhnte. Er blickte sich um.

»Wir sind hinten im Laden«, erklärte die Frau.

»Minna?«, wiederholte er.

Sie nickte, wobei sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Ich kann es nicht glauben, aber … es hat funktioniert.« Sie wurde ernst. »Du weißt doch, was geschehen ist, oder?«

»Ich –« Stanislaus brach ab. Zu viele Bilder prasselten auf einmal auf ihn ein, ließen ihn daran zweifeln, ob das, was er gerade erlebte, der Wirklichkeit entsprach.

Minna legte ihre Hand auf die seine. »Es tut mir so leid. Ich kann mir kaum vorstellen, was du durchmachen musstest. Aber bitte glaube mir, ich wollte das alles nicht.« Sie wischte sich die Tränen weg. »Ich wollte es wirklich nicht.«

»Ich fürchte, ich kann dir nicht ganz folgen.«

Minna lächelte scheu.

Dann erhob sie sich, presste ihre Wange gegen die seine und flüsterte: »Ich bin die, die dich liebt. Und ich bin auch die, wegen der du beinahe gestorben wärst.«

Der Buchhalter wollte etwas entgegnen, aber seine Kehle fühlte sich mit einem Mal viel zu eng an, um zu sprechen.

»Alles, worum ich dich bitte«, fuhr Minna fort, »ist, dass du mir die Möglichkeit gewährst, mich zu erklären. Danach verschwinde ich für immer aus deinem Leben, wenn du das möchtest.«

»Hast du mir die Adventsuhr geschickt?«, keuchte Stanislaus, doch wusste er die Antwort bereits.