Ocean Hearts – Embrace the Storms - Isabel Clivia - E-Book

Ocean Hearts – Embrace the Storms E-Book

Isabel Clivia

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Beschreibung

»Du kannst vor dem Sturm nicht weglaufen. Irgendwann holt er dich immer ein. Aber gemeinsam können wir uns ihm entgegenstellen.«

Islas Leben ist perfekt: Sie gehört zur Londoner High Society, ist als Back-Influencerin erfolgreich und datet einen berühmten Sportler. Doch genau diese Beziehung stellt sich als echter Albtraum heraus. Als alles in die Brüche geht, wird sie von seinen Fans und der Klatschpresse angefeindet. Um Spott und Hass zu entkommen, fasst sie einen Entschluss: Mit verändertem Aussehen fängt sie in der Küche des Luxusliners Ocean Heart an. Was sie ganz sicher nicht will, ist, sich neu zu verlieben. Dabei hat sie die Rechnung allerdings ohne den charmanten Barkeeper Leo gemacht, der Stück für Stück ihr Lächeln zurückbringt und mit dem sie ganz im Moment leben kann. Doch auch auf hoher See lassen sich alte Geheimnisse nicht für immer abschütteln. Und auch Leo hat Probleme im Gepäck ...

Ein glamouröses Kreuzfahrtschiff, Gefühle wider Willen und die schönsten Hafenstädte Europas. Der Abschluss der prickelnden New-Adult-Trilogie auf dem Luxuskreuzer Ocean Heart.

Alle Bände der »Ocean Hearts«-Trilogie:
Ocean Hearts – Capture the Stars
Ocean Hearts – Admire the Lights
Ocean Hearts – Embrace the Storms
Alle Bände können unabhängig voneinander gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 443

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Isabel Clivia

EMBRACE

THE

STORMS

Ocean Hearts

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Erstmals als cbt Taschenbuch Juli 2025

© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Alexander Kopainski, www.kopainski.com

unter Verwendung mehrerer Motive von: Shutterstock.com

(Summit Art Creations, Crazy Lady, Klavdiya Krinichnaya,

Lidiia, SWEviL, MuchMania)

FK · Herstellung: DiMO

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-32241-0V002

www.cbj-verlag.de

Für alle, die sich Stürmen stellen müssen.

Und für alle, die dabei an ihrer Seite stehen.

KAPITEL 1

Scone

Isla

Während das Interview über den Fernsehbildschirm flimmert, liege ich zusammengerollt auf dem Sofa und ziehe die Decke bis unter meine Nase. Eigentlich sollte ich wegschalten, aber irgendwas fesselt mich an Gabrielle Taylors rot geschminkten Lippen. Mit französischem Akzent formt sie wunderschöne, elegant klingende Worte. Ihre himmelblauen Augen sind glasig und die Tränen hinterlassen feine, glitzernde Spuren auf ihren Wangen. Obwohl ihre Stimme zittert, liegt etwas Unerschütterliches in ihrem Blick. Die Interviewerin hört ihr gespannt zu, so wie wahrscheinlich Tausende von Menschen in ihren Wohnzimmern.

Wir sehen uns ähnlich.

Sie ist eine schönere, erwachsenere Version von mir.

Ihr dunkelbraunes, glänzendes Haar fällt in perfekten Wellen bis zu ihrer Brust hinab und ihre helle Haut ist sonnengeküsst, als wäre sie gerade erst im Urlaub gewesen. Ihr verspieltes Rüschenkleid würde ich sofort nachkaufen, wenn ich wüsste, wo sie es herhat.

Zwischen uns gibt es allerdings einen ziemlich gravierenden Unterschied: Die Frau im Fernsehen ist hochschwanger. Von dem Kerl, der noch vor Kurzem mich geküsst hat.

»Wie war das für Sie, als Sie erfahren haben, dass Ihr Mann eine Affäre hat?«, fragt die Interviewerin.

Ich rolle mit den Augen und stopfe mir einen halben Scone in den Mund, den ich heute Nacht während einer schlaflosen Episode gebacken habe. Wie soll es einem schon gehen, wenn man schwanger ist und herausfindet, dass der eigene Mann einen während der inoffiziellen Beziehungspause betrogen hat? Wieso sind Presseleute immer so unsensibel? Damit sie Emotionen und große Storys aus Menschen herauskitzeln können, die sowieso schon leiden?

»Ich war ziemlich fertig«, gesteht Gabrielle gefasst. »Gleichzeitig habe ich mir Vorwürfe gemacht. Mich gefragt, ob ich meinen Mann nicht genug unterstützt habe. Ob ich zu selten bei ihm war, wenn er mich gebraucht hätte. Statt unserer Liebe füreinander habe ich oft meine Karriere in den Vordergrund gestellt. Vielleicht hat er sich dadurch vernachlässigt gefühlt und die fehlende Wertschätzung dann bei einer anderen gesucht.«

Das treibt mir fast selbst die Tränen in die Augen. Warum macht sich diese makellose Frau Vorwürfe, wenn allein ihr Mann für diesen Betrug verantwortlich ist? Sie trägt keine Schuld an seinem Verhalten. Niemand hat ihm die Pistole auf die Brust gesetzt und gesagt, dass er jetzt gefälligst auf Instagram mit dieser Back-Influencerin flirten muss, deren Videos ihm zufällig vorgeschlagen wurden. Wie auch immer es überhaupt dazu kommen konnte. Danke für nichts, lieber Algorithmus.

»Und wie haben Sie von ihr erfahren?«, fragt die Interviewerin jetzt in sanftem Tonfall, den sie wahrscheinlich nur heuchelt.

»Mir wurden Bilder zugespielt. Fans haben die beiden in einem Nobelrestaurant in Dubai fotografiert.«

»Und da haben Sie gleich an eine Affäre gedacht?«

»Nein, obwohl sie auf den Bildern durchaus vertraut wirkten. Aber dann wurden mir immer mehr Gerüchte zugetragen und irgendwann war es nicht mehr zu leugnen.«

»Haben Sie ihn direkt damit konfrontiert?«

»Natürlich.«

»Wie hat er reagiert?«

»Nash sagte mir, es sei nie etwas Ernstes gewesen. Er habe sie kennengelernt, weil er sich auf der Tour einsam gefühlt hat, und dann sei dieser Fehler passiert.«

Ich schnaube. Natürlich hat er das behauptet. Alles nur ein Ausrutscher. Die ganzen Monate, während denen wir uns immer wieder getroffen haben.

»Und das haben Sie ihm geglaubt?«, fragt die Interviewerin ruhig, aber mit skeptischem Unterton.

Gabrielle lächelt und wischt sich eine Träne von der Wange. »Ja, auch wenn das seltsam klingt. Es war schmerzhaft, ihn mit ihr zu sehen, aber wir sehen uns ähnlich, wissen Sie? Da wurde mir klar, dass er mich einfach sehr vermisst und jemanden gesucht hat, der mich in meiner Abwesenheit ersetzen kann. Leider war ich viel zu oft nicht da. Nash hat mich immer wieder darum gebeten, ihn während der Saison zu begleiten, aber ich habe meine eigene Karriere priorisiert.«

Ich bin kurz davor, den Fernseher anzuschreien. Am liebsten würde ich hineinspringen und diese wunderschöne Frau schütteln, weil sie an Nashs Reue glaubt. Man steigt nicht mit einer anderen ins Bett, nur weil man seine Partnerin vermisst. Was für ein Mensch macht denn so was? Außerdem ist es Gabrielles gutes Recht, ihre eigene Karriere voranzutreiben. Der werte Herr Profisportler hätte ja auch mal zu einer ihrer Modenschauen kommen können. Warum war seine Karriere immer wichtiger als ihre? Beide haben Jobs, die sie nur für eine begrenzte Zeit auf höchstem Niveau ausüben können.

»Haben Sie mit Isla Roberts gesprochen?«

Als die Interviewerin meinen Namen erwähnt, macht sich ein unangenehmes Prickeln in meinem Magen breit. Fast fühlt es sich an, als würde sie zu mir sprechen statt zu Gabrielle.

»Ich glaube, das wäre keine gute Idee«, erwidert Nashs Frau. »Für keine von uns.«

»Sie hat sich nie zu der Sache geäußert.«

»Das würde ich an ihrer Stelle auch nicht tun. Was gäbe es noch zu sagen?«

Mir wird schlecht, was nicht an den vielen Scones liegt, die ich schon verdrückt habe. Ihr Mann hat mir gegenüber behauptet, seine Ehe sei am Ende und sie seien nur noch auf dem Papier verheiratet, um den medialen Rummel zu vermeiden. So erfolgreich wie in dieser Zeit war er noch nie zuvor, und laut ihm hätte die Presse ihn nur abgelenkt von seinem Ziel, die Nummer eins der Welt zu werden. Naiv wie ich war, habe ich ihm das geglaubt.

Ich dachte, seine Frau wüsste Bescheid. Außerdem hatte ich keine verdammte Ahnung, dass die beiden sich trotz der angeblichen Trennung sehr nahe waren. Mag sein, dass man mir meine Naivität vorwerfen kann. Aber die größte Schuld an diesem Desaster hat Nash Taylor und niemand sonst. Er war der verheiratete Mann und ist unter falschem Vorwand fremdgegangen. Dazu hätte er stehen können, aber stattdessen hat er seiner Affäre lieber einen Maulkorb verpasst, damit sie sein verlogenes Kartenhaus nicht einstürzen lässt.

Warum hat Gabrielle ihn bloß zurückgenommen? Seine Liebesbekundungen und Ausreden sind bloß heiße Luft. Ich habe ihm dieses Spiel viel zu lange abgekauft, weil ich von seinem charmanten Nash-Taylor-Grinsen geblendet war, dank dem ihm die Herzen aller Menschen zufliegen.

»Bedeutet das, dass Sie Ihrem Mann verziehen haben?«, will die Interviewerin wissen.

Gabrielle nickt. »Es wird viel Arbeit brauchen, damit das Vertrauen zurückkommt. Aber wir sind stark genug, um diese Krise zu meistern. Wir werden bald eine junge Familie sein, das wirft man nicht einfach weg. Nichts und niemand kann uns auseinanderbringen.«

Jetzt blickt sie in die Kamera, als könnte sie mich direkt durch den Bildschirm anstarren und wüsste, dass ich zusehe.

Das wirft man nicht einfach weg.

Aber Nash hat es getan. Dieser elende Lügner, der nicht nur mein Herz, sondern auch ihres gebrochen hat, weil er sich eine Bestätigung für sein Ego holen wollte. Er hat mich benutzt und mir vorgegaukelt, ich wäre was Besonderes. Und dann, als die Hölle über mich hereingebrochen ist, hat er mich in diesem erbarmungslosen Sturm zurückgelassen, statt zu seinen Fehlern zu stehen.

Mit Wut im Bauch schnappe ich mir die Fernbedienung und öffne den Streaming-Dienst, damit ich das Interview nicht länger mitansehen muss. Morgen werden Social Media und die Klatschpresse voll davon sein.

Auf der Startseite des Streaming-Dienstes klicke ich die neueste Folge von Admire the Lights an und bete, dass eine Serie über Hollywood und die Probleme aufstrebender, abgehobener Stars mich von meinem beschissenen Alltag ablenkt.

Nach ein paar Minuten wird ein Schlüssel im Haustürschloss herumgedreht und lässt mich aufhorchen. Das dumpfe Klackern von Absätzen auf den Holzdielen dringt zu mir ins Wohnzimmer, zusammen mit dem angestrengten Seufzen meiner Schwester.

»Ich bin wieder da«, ruft sie, woraufhin ich einen Blick aus dem Fenster werfe.

Es wird schon wieder dunkel. In letzter Zeit ziehen die Tage viel zu schnell und trotzdem quälend langsam an mir vorbei. Sie gehen ineinander über, ohne dass sich wirklich was verändert. Für mich fühlt es sich an, als wäre die Welt stehen geblieben.

»Du sitzt ja immer noch vor dem Fernseher«, rügt Sophie mich und bleibt zwischen dem Gerät und mir stehen. »Bist du heute schon mal von diesem Sofa aufgestanden?«

Ich mustere sie. Wenn man uns beide nebeneinander sieht, würde man nicht unbedingt denken, dass wir Schwestern sind. Ich bin klein und zierlich, sie dagegen ist groß, und während meine Gesichtszüge eher weich sind, wirken ihre markant und selbstbewusst. Die romantische, verspielte Kleidung, die wir früher beide geliebt haben, hat sie inzwischen gegen seriöse Blazer getauscht. Dabei bräuchte sie keinen bestimmten Stil, um als Medizin-Studentin ernst genommen zu werden. Sie ist brillant durch und durch, wohingegen ich mein Leben ziemlich gegen die Wand gefahren habe.

»Ich war zweimal aufs Klo und ungefähr dreimal in der Küche, um Scones-Nachschub zu holen«, erwidere ich.

Sophie beobachtet mich mitleidig und seufzt. »Isla. Ich weiß, meine Wohnung ist gemütlich, aber du kannst nicht den ganzen Tag hier drin sitzen und dich verstecken. Du musst echt mal an die frische Luft.«

»Keine Chance«, wehre ich ab. »Vorhin kam ein Interview mit Gabrielle Taylor im Fernsehen. Sie hat sich nicht gerade bemüht, mich aus der Schusslinie von Medien und Fans zu ziehen. Wenn die wüssten, wo ich bin, würden sie deine Wohnung genauso belagern wie meine. Darauf hab ich echt keine Lust.«

Ich weiß noch genau, wie es war, als das mit der Affäre rauskam. Da war ich gerade in der Innenstadt, und als ich nach Hause kam, hat eine ganze Reportermeute vor meinem Wohnhaus auf mich gewartet. Sie haben mir sofort Fragen zugebrüllt, den Auslöser ihrer Kameras betätigt und mir Mikrofone vor die Nase gehalten, damit ich ihnen eine Stellungnahme gebe – oder am besten gleich ein ganzes Interview.

Nash hat sein Presseteam und seine Personenschützer, die ihm den größten Wirbel vom Hals halten, aber ich habe gar nichts. Diese Leute haben tagelang vor meiner Wohnung ausgeharrt, und manche sind sogar nachts geblieben. Wobei einige von denen auch Fans waren, die mir vorgeworfen haben, ich würde Nashs Ehe, seinen Ruf und seine Karriere ruinieren. Als wäre er nicht selbst dafür verantwortlich gewesen.

»Die werden sich bestimmt bald beruhigt haben«, versucht Sophie mich zu beschwichtigen.

»Ich weiß ja nicht«, zweifle ich. »Sie saß gerade hochschwanger im Fernsehen und hat mir quasi vorgeworfen, dass ich mich in ihre Ehe gedrängt habe.«

»Ich stimme ihr echt ungern zu, aber du wusstest, dass er verheiratet ist …«

»Laut ihm aber nur auf dem Papier.«

Die Miene meiner Schwester wird sanfter. »Nimm es ihr nicht übel. Sie ist wegen der ganzen Sache wahrscheinlich genauso fertig wie du, und die Hormone tun ihr Übriges. Bestimmt will sie dir nicht bewusst schaden.«

»Keine Ahnung«, murmele ich. »Im Moment weiß ich nur eins: dass ich nie wieder vor die Tür gehen werde.«

Sophies Blick huscht zum Couchtisch. »Jemand ruft dich an. Ist bestimmt Mum.«

Sie deutet auf mein Handy, dessen Display aufleuchtet. Drei Buchstaben sind dort zu sehen. Natürlich ist es Mum. Außer ihr hätte es höchstens noch Dad sein können, aber er arbeitet um die Zeit noch. Abgesehen von meiner Familie kennt niemand die neue Nummer, denn nach der großen Nash-Enthüllungsstory ist mein altes Gerät geradezu in Flammen aufgegangen. Irgendwer kam auf die glorreiche Idee, meine Nummer ins Netz zu stellen, also waren in kürzester Zeit nicht nur meine Social-Media-Kanäle voll mit Hassnachrichten und Drohungen, sondern auch jedes andere Postfach.

Vor ein paar Wochen habe ich mir ein Prepaid-Handy zugelegt, aber ich benutze es kaum. Social-Media-Apps öffne ich erst recht nicht, und wahrscheinlich werde ich es auch nie wieder tun. Dabei hatte ich super erfolgreiche Profile, auf denen ich meine Backkreationen gezeigt habe. Der Instagram-Kanal war meine große Leidenschaft, in den mein ganzes Herzblut geflossen ist. Jetzt traue ich mich nicht mal mehr, mich einzuloggen.

»Du musst dich der Sache irgendwann stellen, Isla«, sagt Sophie, nachdem das Display wieder dunkel geworden ist.

»Muss ich nicht. Mums und Dads Reaktionen haben mir gereicht.«

»Sie haben es nicht so gemeint.«

»Doch, haben sie. Deshalb hab ich keine Lust darauf, mit ihnen zu reden. Das kannst du ihnen gern ausrichten. Ich weiß, dass sie dich genauso belagern wie mich.«

Meine Schwester verschränkt die Arme vor der Brust. »Sie machen sich bloß Sorgen um dich.«

»Sie machen sich Sorgen um den Ruf der Familie, nachdem ich meinen ruiniert habe. Wie es mir geht, interessiert sie nicht.«

»Doch, das tut es. Genau wie mich.«

Ich kuschle mich noch mehr unter die weiche Decke und mache mich ganz klein. Mir tut es schrecklich leid, dass ich seit dem Streit mit unseren Eltern vor vier Monaten bei Sophie lebe und mich in ihrer Wohnung breitgemacht habe. Sie kann sich bestimmt Besseres vorstellen, als nach einem anstrengenden Tag nach Hause zu kommen und ihre bemitleidenswerte Schwester auf dem Sofa vorzufinden, wo sie sich entweder Klatsch-Sendungen oder Serien reinzieht.

»Du musst dir keine Sorgen um mich machen«, behaupte ich. »Tu einfach so, als wäre ich gar nicht hier. Wenn du Ruhe brauchst, kann ich jederzeit ins Gästezimmer verschwinden.«

»Kommt nicht infrage. Ich koche uns jetzt was und dann werden wir mal eine Runde um den Block spazieren, damit du frische Luft kriegst.«

»Ich kann das Fenster öffnen«, schlage ich vor.

»Nein, du musst mal vor die Tür. Wenigstens für ein paar Schritte.«

»Ich gehe da nicht raus.«

»Du bekommst eine Mütze, unter der du deine Haare verstecken kannst, einen großen Schal und eine von meinen Fensterglas-Brillen. Dann wird dich absolut niemand erkennen, da bin ich sicher.«

Okay, Sophies Plan klingt gar nicht schlecht. Undercover und im Dunkeln bin ich wahrscheinlich sicher, und solange die Leute nicht wissen, wo meine Schwester wohnt, sollte ich das wohl ausnutzen. Zum Glück hat sie keine eigenen Social-Media-Profile, sonst hätte längst irgendwer ihren Namen und ihre Adresse rausbekommen.

Ich seufze. Langsam fühle ich mich wie ein verhasster Promi, nur dass ich eigentlich die Unbekannteste in diesem Liebesdreieck bin, trotz meiner Internetpräsenz. Aber jetzt kennt gefühlt halb England mein Gesicht, weil Nash Taylor mich den Medien zum Fraß vorgeworfen hat.

Sophie sieht mich abwartend an.

»Ich überleg es mir«, murmele ich. »Vielleicht tut die Herbstluft mir ja wirklich gut.«

Sie schenkt mir ein zufriedenes Lächeln. »Das ist doch schon mal ein Anfang.«

Dann geht sie in die Küche, während ich am liebsten irgendwohin verschwinden würde. An einen Ort, wo mich niemand kennt und wo man sich nicht für den heißesten Tennisspieler der Welt interessiert.

Mir ist die Lust auf die Serie vergangen, darum schalte ich wieder ins reguläre Fernsehprogramm. Inzwischen ist das Interview mit Gabrielle Taylor glücklicherweise vorbei. Stattdessen läuft nun eine Art Lifestyle Report. Das Team begleitet eine junge Tänzerin, die auf einem Kreuzfahrtschiff arbeitet.

Eigentlich will ich umschalten, aber dann bleibe ich doch daran hängen. Weil die Frau davon schwärmt, wie besonders ihr Job ist. Wie viele Orte sie bereist, weit weg von der Normalität, die sie eingeengt hat.

Im weiteren Verlauf erzählt der Sprecher im Off, dass sie für viele Monate unterwegs ist und während dieser Zeit kein festes Zuhause hat. Ihr Leben spielt sich für die Dauer der Saison komplett auf diesem Schiff ab.

Ich kaue auf der Innenseite meiner Wange. Dann nehme ich kurzerhand mein Smartphone in die Hand und gebe Jobs Kreuzfahrtschiff bei der Internetsuche ein. Neugierig klicke ich mich durch die verschiedenen Positionen, die bei den Online-Portalen gelistet sind. Dabei entdecke ich ein paar Stellenanzeigen für Küchenhilfen, Köche und Konditoren, die bei unterschiedlichen Reedereien zu besetzen sind.

Nach meinem Schulabschluss habe ich eine Ausbildung zur Konditorin gemacht. Was meine Eltern mir nur unter der Bedingung finanziert haben, dass ich danach ein Studium beginne. Eins mit Prestige, versteht sich, so wie es sich für eine angesehene Familie wie unsere gehört. Als würde ein gewisser Kontostand es verbieten, etwas anderes als Medizin, Jura, Management oder Politik zu wählen. Nach meiner Ausbildung habe ich mich widerwillig für Letzteres entschieden, und mir war schnell klar, dass ich es nicht durchziehen würde.

Das Studium war nie mein Fall. Ich wollte immer was mit meinen Händen machen, Dinge erschaffen und etwas tun, für das ich brenne. Schon seit ich ein Kind bin, war es mein großer Traum, irgendwann mal einen eigenen Laden zu haben, in dem ich meine Back-Kreationen verkaufen kann. Der Kanal sollte mir dabei helfen, die Grundlage dafür zu legen. Leider haben meine Eltern diese Leidenschaft nie verstanden und mir nach dem Studienabbruch den Geldhahn zugedreht. Etwa zur gleichen Zeit habe ich Nash kennengelernt und bin mit ihm von Turnier zu Turnier gejettet. Eine Weile war das perfekt. Bis sich der Traum in einen Albtraum verwandelt hat.

Ich starre gedankenverloren den Fernsehbildschirm an, ohne wirklich auf den Bericht zu achten. Vielleicht wäre ein Job auf einem Schiff ja genau das Richtige für mich. Ich bräuchte keine eigene Wohnung, wäre für mehrere Monate unterwegs und raus aus England. Weit weg von der Haifisch-Regenbogenpresse. Vor meinem Zimmer würden keine Reporter warten, und in der Küche zückt bestimmt niemand sein Smartphone, um mich abzulichten und mir Beschimpfungen an den Kopf zu werfen. Ich könnte ein ganz neues Leben führen, weit weg von meinen Problemen. Meinen Eltern wird das sicher nicht gefallen. Sie wollen, dass ich wieder studiere. Aber ich will gerade einfach nur meine Ruhe.

KAPITEL 2

Hängepartie

Leo

»Leonardo Kendrick.« Die Stimme des Richters donnert durch den Verhandlungssaal. »Ich verurteile Sie zu einer Geldstrafe von dreitausend Pfund und der Ableistung von zwanzig Sozialstunden.«

Ich lasse das Urteil über mich ergehen und versuche möglichst stoisch dreinzublicken. Innerlich fühle ich mich leider überhaupt nicht ruhig. Am liebsten würde ich den Richter anschreien und erklären, dass ich diese Strafe nicht verdiene, weil ich noch nie irgendein Verbrechen begangen habe. Aber mein Verantwortungsgefühl hindert mich daran. Deshalb bleibe ich wie angewurzelt auf meinem Stuhl sitzen, bis die Verhandlung beendet ist und ich diese Hängepartie endlich vergessen kann.

Sobald ich gehen darf, verlasse ich das Gerichtsgebäude. Auf meinem Weg durch die Gänge muss ich ein zynisches Lächeln unterdrücken. Jahrelang habe ich davon geträumt, es hierhin zu schaffen. Allerdings als Anwalt, nicht als Verurteilter.

Schon seltsam, wie das alles gelaufen ist. Gesetze und Regeln gehören für mich zu den wichtigsten Dingen überhaupt, und ich würde nie auf die Idee kommen, sie zu brechen. Jetzt in dieser Situation zu sein, ist ziemlich beschissen.

Es ist mitten am Tag, deshalb tummeln sich eine Menge Leute in den Gängen. Ich habe das Gefühl, dass jede einzelne Person, die mich ansieht, mich heimlich in ihren Gedanken verurteilt.

Schau ihn dir an, den Verbrecher. Ist beim Diebstahl erwischt worden, weil er die Kamera nicht gesehen hat.

Gut, dass ich kein Promi bin. Sonst würde die Schlagzeile lauten, dass der goldene Junge, der immer perfekt und anständig war, in Ungnade gefallen ist. Klingt nach einer richtigen Villain-Arc, und in etwa so fühle ich mich gerade. Wie ein Bösewicht, obwohl ich mein Leben lang alles getan habe, um der Held zu sein.

Draußen vor dem Gerichtsgebäude verabschiede ich mich von meinem Anwalt, der in einer der besten Kanzleien in ganz London arbeitet und sonst wichtigere Leute als mich vertritt. Er ist der Vater eines ehemaligen Kommilitonen, mit dem ich zwei Semester lang studiert habe. Bestimmt ist er froh darüber, dass ich nicht mehr mit Ed abhänge und keinen schlechten Einfluss auf ihn ausüben kann. Jetzt bin ich nur noch dazu gut, seine Auftragslage zu verbessern. Was er sicher nicht gebraucht hätte. Anwälten wie ihm gehen niemals die Mandanten aus.

Sobald ich wieder an der frischen Luft bin, kann ich endlich befreiter atmen. Um mich herum herrscht hektisches Treiben, so wie ich es von London gewohnt bin. Draußen ist es definitiv besser als da drin, wo sämtliche Augen auf mich gerichtet waren. Hier gehe ich in der Masse unter. Niemand interessiert sich für mich. Keine einzige Person sieht mich schief an, weil jeder seinem gewohnten Leben nachgeht. Für mich steht dagegen fest, dass mein Leben, wie ich es bisher gekannt habe, nicht mehr existiert. Der Tag heute verändert alles.

Auf dem Parkplatz kehre ich schnell zu unserem alten roten Auto zurück, in dem Mum sitzt. Trotz der Dezemberkälte hat sie den Motor ausgeschaltet und damit auch die Heizung. Teilweise sind bereits die Scheiben beschlagen, weil sie schon eine ganze Weile in der rostigen Klapperkiste auf mich wartet und die Luft darin aufbraucht. Sie hockt hinter dem Steuer und starrt mit Tunnelblick durch die Windschutzscheibe, ohne wirklich etwas zu beobachten, anscheinend in Gedanken versunken.

Ich öffne die Tür, woraufhin sie zusammenfährt und sich mir zuwendet. Mit einem Seufzer lasse ich mich auf den Beifahrersitz fallen.

Nachdem ich die Tür geschlossen habe, vermeide ich es, Mum anzusehen. Ihren Blick spüre ich trotzdem auf mir, auch wenn sie kein Wort mit mir spricht. Wahrscheinlich weiß sie nicht, was sie sagen soll.

Ich schnalle mich an und richte den Blick ebenfalls nach draußen.

»Sie haben mich zu einer Geldstrafe und ein paar Sozialstunden verurteilt«, erzähle ich schließlich sachlich.

Mum atmet neben mir aus, als hätte sie die Luft angehalten. Dann startet sie den Motor und manövriert das Auto aus der Parklücke heraus.

»Das ist gut«, sagt sie dann erleichtert.

»Ja«, stimme ich zu und halte die Augen offen, um meine Mutter vor anderen Autos zu warnen. »Hast du wirklich gedacht, ich werde zu einer Gefängnisstrafe verurteilt? Ganz ohne Vorstrafen? Eds Vater hat uns doch versichert, dass das nicht passieren wird.«

»Trotzdem.« Mum schaltet den Blinker ein. »So ein Anwalt kann viel behaupten, wenn der Tag lang ist.«

Das kann er tatsächlich, aber ich hatte ihn vorab darum gebeten, ehrlich zu sein. Hätte er mir gesagt, dass ich im Knast landen könnte, hätte ich nie auf der Anklagebank Platz genommen.

»Es ist ja alles gut gegangen«, beruhige ich sie und wage einen Blick nach rechts.

Ihr schwarzer Nagellack ist abgeblättert, obwohl der heute Morgen noch perfekt aussah. Die sonst akkurate Hochsteckfrisur sieht aus, als hätte sie ihr Haar viele Male neu zusammengebunden und wieder gelöst, um sich zu beschäftigen. Ihre dunklen Augen sind auf die Straße gerichtet, unterlegt von Schatten, die von Nächten voller Sorge zeugen.

Vielleicht ist es die Wut, die mich bei diesem Anblick durchzuckt und auf das Display meines Handys sehen lässt.

Fünf Anrufe in meiner Abwesenheit. Alle von Joel. Ein paar Nachrichten hat er mir auch geschrieben, immer im Abstand von fünf Minuten.

Und???

Was ist bei der Verhandlung rausgekommen??

Alles klar bei dir, Leo???

Melde dich, so schnell du kannst!!

Ich schnaube. Bis heute verstehe ich nicht, warum er Satzzeichen so inflationär nutzt, als würde er mich permanent durch das Handy anschreien wollen. Dann wird mir jedoch klar, dass er auch ein bisschen so redet. Als hätte er Angst, ich würde sonst nicht reagieren.

Ich sperre das Handy mit einem Knopfdruck und lasse es in meinem Schoß ruhen.

»Du solltest mit ihm reden«, sagt Mum sanft, was wohl bedeutet, dass sie aus dem Augenwinkel gesehen hat, was ich gerade getan habe.

Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Noch nicht. Er hat es verdient, dass ich ihn ein bisschen schmoren lasse. Damit er sich nur ein einziges Mal die gleichen Sorgen um mich macht wie ich mir immer um ihn.«

»Komm schon.« Mums Stimme wird weich. »Sei nicht grausam. So bist du nicht.«

Ich hole tief Luft und starre das Handy an. Sie hat recht, das bin ich nicht. Sonst wäre ich wohl kaum hier. Aber jetzt gerade bin ich sauer und unendlich enttäuscht.

»Ich will doch bloß, dass er was aus der Sache lernt«, murmele ich.

»Das will ich auch, Schatz. Trotzdem möchte ich nicht, dass du dich selbst verlierst, nur weil du wütend auf deinen Bruder bist.«

Mir entfährt ein Seufzer. »Du hast ja recht.«

Draußen ziehen die Häuser und Straßen Londons an uns vorbei. Ich liebe diese Stadt, auch wenn ich es keine Sekunde lang bedauere, dass wir in einem ruhigeren Vorort etwas außerhalb leben. Da sehen viele Häuser zwar erschreckend gleich aus und man muss darauf achten, sich nicht in der Tür zu irren, aber es ist auch weniger hektisch.

Noch während ich darüber nachdenke, ob ich Joel schreiben und ihn erlösen soll, leuchtet das Display meines Handys und sein Bild erscheint. Er grinst frech in die Kamera, was mich bloß noch wütender werden lässt. Ich weiß, dass er das Foto nicht heute aufgenommen hat, aber im Moment ertrage ich es nicht, ihn so grinsen zu sehen. Weil ich das Gefühl habe, er sollte nach allem, was passiert ist, für eine sehr lange Zeit keine gute Laune mehr haben.

Eigentlich will ich nicht verbittert sein, aber ich kann nichts dagegen tun. Die Gefühle, die ich sonst immer kontrollieren kann, entgleiten mir heute wie Sand, der zwischen den Fingern hindurchrinnt.

Letztendlich drücke ich doch auf das grüne Hörersymbol und gehe ran.

»Joel«, begrüße ich ihn monoton und warte erst mal ab, was er zu sagen hat.

»Da bist du ja endlich, Mann! Ich hab mir echt Sorgen gemacht, verdammt! Ich dachte schon, du bist im Knast oder so!«

Ach, er hat sich also Sorgen gemacht? Damit hätte er vielleicht mal ein bisschen früher und bei sich selbst anfangen können.

»Die Verhandlung hat gedauert«, erwidere ich ruhig, obwohl es in mir brodelt. »Du hättest doch Mum anrufen und nachfragen können.«

»Hab ich«, behauptet Joel. »Aber da geht immer direkt die Voicemail dran. Ihr Handy ist wahrscheinlich aus. Hat mal wieder keinen Saft oder so.«

Ich wage einen Seitenblick auf Mum und ziehe überrascht die Augenbrauen hoch. Ihr Akku war vor der Verhandlung noch voll, was bedeutet, dass sie ihr Handy ausgeschaltet haben muss. Als sie merkt, dass ich sie beobachte, kämpft sie erfolglos gegen ein flüchtiges Lächeln. Daraufhin muss auch ich ein wenig grinsen. Sieht aus, als hätten wir ihm beide eine kleine Lektion erteilen wollen.

»Und?«, bohrt Joel aufgeregt nach. »Was ist passiert? Der krasse Anwalts-Dad von deinem Kumpel hat dich doch rausgeboxt, oder?«

»Ed ist nicht mein Kumpel«, widerspreche ich. »Ich hatte zwei Semester lang ein paar Kurse mit ihm.«

»Aber das ist doch jetzt nicht wichtig, Mann!«

»Mir ist es wichtig, korrekt zu bleiben.«

Die Worte klingen ein bisschen merkwürdig aus dem Mund eines Typen, der gerade wegen Diebstahls verurteilt wurde.

»Komm schon, spann mich nicht auf die Folter!«, drängt mein Bruder.

»Würde ich nie tun.«

»Tust du doch gerade. Jetzt sag schon, wie ist es gelaufen?«

»Ich hab eine Geldstrafe bekommen. Und Sozialstunden.«

Kurz ist es am anderen Ende der Leitung still. »Wie viel Geld?«

»Dreitausend Pfund.«

Joel flucht. Es klingt, als würde er das Handy gerade nicht an sein Ohr halten und als hätte er gegen irgendeinen Pappkarton getreten.

»Ich krieg das Geld schon zusammen«, sagt er dann zu mir.

»Du wirst nichts dergleichen tun«, erwidere ich sofort. »Ich bezahle das von meinem eigenen Geld.«

»Aber du hast doch gar nicht so viel.«

»Ich hab ein bisschen was angespart. Dafür reicht es gerade noch.«

»Leo …«

»Du kannst es mir zurückzahlen. Sorg in Zukunft einfach dafür, dass so was nicht wieder passiert. Das war das letzte Mal, kapiert?«

Ich warte darauf, dass er etwas sagt. Es tut mir leid, zum Beispiel. Oder: Danke, dass du den Kopf für mich hingehalten und die Verantwortung für meine Fehler übernommen hast. Ich suche mir einen Job und zahle dir das Geld zurück, weil es meine Schuld ist. Aber egal, wie viele Sekunden ich warte, ihm kommt nichts davon über die Lippen. Er kann nicht einmal aussprechen, dass es ihm leidtut.

»Bis später«, sage ich frustriert, bevor ich auflege.

Mum schließt ihre Finger ein wenig fester ums Lenkrad. »Er wird schon noch zur Vernunft kommen.«

»Das hast du schon mal gesagt«, erinnere ich sie.

»Vielleicht stimmt es ja dieses Mal.«

»Langsam fällt es mir schwer, daran zu glauben.«

Für den Rest der Fahrt sagen wir nichts mehr. Irgendwann dreht Mum das Radio auf, sodass wir der leisen Musik und den Nachrichten lauschen, während wir London hinter uns lassen.

KAPITEL 3

Vanille

Isla

Ich betrachte mich im fahlen Licht des Badezimmers, das zu der schmalen Kabine gehört, in der ich die nächsten Monate verbringen werde. Noch immer fällt es mir schwer, mich in der Person im Spiegel wiederzuerkennen. Mein von Natur aus dunkles Haar ist jetzt blond und inzwischen lang genug, damit ich es zu einem Zopf flechten kann, der mir bis zur Brust reicht. Mein Gesicht ist schmaler und ohne Make-up fühle ich mich nackt. Ich sehe aus, als würde ich mich verstecken wollen, und genau das tue ich auch. Momentan will ich nichts lieber, als zwischen den vielen Leuten an Bord zu verschwinden und zu einer neuen Person werden.

Ich verlasse das kleine Bad und kehre in den Schlafbereich der Kabine zurück, die ich mir mit zwei anderen Frauen in meinem Alter teile. Gemma, einer toughen Fitnesstrainerin, die das Herz auf der Zunge trägt, und Carey, die auf dem Schiff kellnert und auf der Suche nach ihrer Mutter ist. Angeblich arbeitet diese hier unter falschem Namen. Es hat mich überrascht, dass Carey uns das direkt beim ersten Treffen erzählt hat. Meine Zimmerkolleginnen wirken zwar nett, aber ich würde zwei Fremden nie von meinen Problemen erzählen. Irgendwann vielleicht mal. Wenn ich das Gefühl habe, dass ich ihnen vertrauen kann. Auf die Sache mit dem falschen Namen wäre ich allerdings gern selbst gekommen. Das würde mir ersparen, ständig Angst davor haben zu müssen, dass irgendwer herausfindet, wer ich bin. Hoffentlich habe ich Glück und niemand interessiert sich für mich oder den berühmten Typen, dessen Karriere angeblich durch meine bloße Existenz zerstört wird. Wenn ich an all das denke, was ich durchmachen musste, wird mir schon wieder elend zumute. Nash und seine Frau hätten ruhig darauf verzichten können, die Geburt ihrer ersten Tochter vor einem Monat groß in den Medien zu zelebrieren und zu bekräftigen, dass niemand – also ich – ihr Glück zerstören kann. Ihre öffentliche Zurschaustellung hat den Hass auf mich wieder neu befeuert.

Bevor meine nächste Einführung in der Küche des Schiffs beginnt, habe ich noch ein bisschen Zeit. Ich könnte sie nutzen, um ein wenig auf dem Schiff umherzuwandern, so wie die gerade eintreffenden Passagiere. Aber je weniger Leute mich sehen, desto besser. Vor allem, weil die Gäste zur High Society gehören. Viele von denen haben bestimmt schon mal ein Tennismatch in Wimbledon besucht und von Nash gehört, immerhin ist er Everybodys Darling in der britischen Sportwelt.

Als ich angekommen bin, habe ich mir schon ein wenig das Schiff angesehen und war total fasziniert. Hier erinnert alles an ein Filmset, wie eine Mischung aus The Great Gatsby und Titanic, wobei ich hoffe, dass Letzteres eher nicht Programm ist.

Dieses Schiff ist ein geradezu magischer Ort, an dem ich früher liebend gern Urlaub gemacht hätte. Meine Familie hätte es sich leisten können. Aber die Isla von früher, die exklusive Partys besucht und sich gern in der Öffentlichkeit gezeigt hat, gibt es nicht mehr. Jetzt will ich mich nur noch in meiner Kabine oder im Crew-Bereich verkriechen. Was ich jedoch vor allem tun sollte, ist, mich von reichen Typen fernzuhalten, die mir das Herz brechen oder das letzte bisschen meines Rufs ruinieren könnten.

Ich schnappe mir mein Kreuzworträtsel-Buch, lege mich auf das mäßig bequeme Bett und hasse die Tatsache, dass es hier drin kein Fenster oder Tageslicht gibt. Diese düstere Kabine mit den schlichten Stockbetten ist jetzt mein neues, tristes Zuhause. Statt zu feiern, löse ich Kreuzworträtsel auf einem Kreuzfahrtschiff. Noch vor ein paar Wochen hätte ich nie geglaubt, dass das mein neues Leben sein soll.

Wo bin ich nur falsch abgebogen?

Als ich in meinem Rätsel ein anderes Wort für schlimm eintragen soll, muss ich wieder an die Anfänge von dem ganzen Nash-Desaster denken. Eine Instagram-Nachricht und ein Siegerlächeln haben mich diesen verhängnisvollen Weg einschlagen lassen. Er führte zu einem Candle-Light-Dinner im Nebenraum eines Luxusrestaurants, der fast genauso abgeschieden war wie diese Kabine. Zu den grünen Augen eines Linkshänders, den die ganze Welt liebt. So sehr, dass sie mich jetzt hasst.

Die Tür wird geöffnet und wieder geschlossen. Ich blicke an meinem Buch vorbei und sehe Carey, die mich grinsend begrüßt. Wenn die Leute von Menschen sprechen, die jeden Raum wie eine Sonne erhellen, dann reden sie von jemandem wie ihr. Normalerweise sollte ihr rotes Haar hervorstechen, das sie zu einem unordentlichen Knoten zusammengebunden hat. Oder ihre hellen, blauen Augen, die ihr einen wachen Blick verleihen. Aber sie hat etwas anderes an sich, das man einfach sofort ansehen muss. Dieses strahlende Lächeln, das bei ihr mühelos einnehmend wirkt. Wie bei Nash.

»Hey«, sagt sie zu mir. »Hast du Pause?«

Ich richte mich ein wenig auf. »Ja. Hab die Einführung gerade überstanden, ohne die Schiffsküche in Brand zu setzen oder mir in den Finger zu schneiden.«

Carey lächelt noch strahlender. »Klingt nach einem Erfolg.«

»Ja, wenn man mal davon absieht, dass es da drin so heiß ist wie im Inneren eines Vulkans und ich vermutlich für immer nach Essen riechen werde.«

Sie atmet ein paar Male hörbar ein. »Riecht aber gut. Was ist das?«

Ich schnuppere am Ärmel meiner weißen Arbeitskleidung, die ich angelassen habe, weil ich heute noch an einer weiteren Einführung teilnehmen muss, während die anderen Leute, die schon länger in der Küche arbeiten, sich um das erste Abendessen an Bord kümmern. »Tomaten-Paprikasuppe, wahrscheinlich. Die Zutaten wurden im Ofen geröstet, zusammen mit einer Menge Knoblauchzehen. Ich arbeite zwar hauptsächlich an den Desserts, rieche aber trotzdem nach allem anderen.«

Sie lacht. »Stell dir mal vor, du würdest die ganze Zeit nach Schokolade und Vanille duften. Du könntest dich vor eindeutigen Angeboten wahrscheinlich kaum retten.«

»Dann ist es vielleicht gut, dass es nur Knoblauch ist«, erwidere ich scherzhaft. »Ganz im Ernst, ich bin nicht auf der Suche nach einem Mann. Ich will hier wirklich nur arbeiten und eine gute Zeit haben.«

Carey nickt zustimmend. »Klingt vernünftig. Wobei meine Kolleginnen im Café vorhin meinten, eine gute Zeit kann man auf der Ocean Heart vor allem mit anderen Crew-Mitgliedern haben. Und sie haben mir gleich mal ein paar Leute empfohlen.«

Ich grinse. »Kaum ein paar Stunden hier, schon wollen sie dich verkuppeln.«

Könnten meine Freundinnen gewesen sein. Na ja, ehemalige Freundinnen. Seit der Sache mit Nash haben die sich rargemacht, weil sie keinen Hass abbekommen wollten. Eine meiner verlorenen Freundschaften tut besonders weh. Fiona hat der Presse verraten, wo ich wohne. Seitdem war mein Leben die reinste Hölle. Mein Herz fängt jedes Mal an zu rasen, wenn ich an den Typen denke, der vor meiner Haustür aufgetaucht ist und mich angegriffen hat. Er hatte mir schon online gedroht, aber ich hätte nie für möglich gehalten, dass jemand so weit gehen würde.

Reflexartig fasse ich mir an den Hals, wo ich seine kräftigen Hände gespürt habe. Vielleicht wäre das Ganze auch ohne Fionas tatkräftige Unterstützung passiert, nur eben ein paar Tage später, aber ich kann noch immer nicht glauben, dass sie das getan hat. Heutzutage kann man sich nicht ewig verstecken, aber dieses Schiff ist meine beste Chance.

Carey öffnet den Kleiderschrank und nimmt das goldene Glitzerkleid heraus, das sie bei ihrer Ankunft hineingehängt hat. »Nach der Seenotrettungsübung muss ich in den Festsaal, um die Abläufe kennenzulernen. Das wird die Generalprobe für die Party heute Abend. In voller Montur.«

»Aufgeregt?«, frage ich.

»Ein bisschen. Ich hab zwar schon gekellnert, aber hier ist alles so … exklusiv. Viele Passagiere tragen schon ihre Abendkleidung, das ist echt krass.«

Ich mustere das Kleid, das sie in die Höhe hält. Es besteht größtenteils aus einem feinen, fließenden Stoff, auf den zahlreiche goldene Pailletten genäht wurden. Wie alles an Bord ist es dem Stil der Goldenen Zwanziger nachempfunden. Schon als ich es zum ersten Mal gesehen habe, war ich insgeheim ein wenig neidisch darauf. Diese Art von Kleid habe ich früher geliebt, weil ich es genossen habe, zu glitzern und aufzufallen. Doch statt mit einem strahlenden Kleid da draußen zu feiern und gesehen zu werden, trage ich jetzt schlichte, nach Essen riechende Kleidung und verbringe meine Zeit größtenteils an Orten, die nicht einmal Fenster haben. Und das alles, während der Typ, dem ich meine Probleme zu verdanken habe, in jede Kamera grinst.

Carey hängt das Kleid zurück in den Schrank, bevor sie im Bad verschwindet. Ich nehme derweil mein Handy in die Hand und öffne Instagram. Beim Einloggen in meinen geliebten Backaccount wird mein Herz ganz schwer. ISlayAtBaking. Das war mal mein Herzensprojekt.

Ich ignoriere all die Nachrichten und Markierungen, die sich kaum mehr zählen lassen, und sehe mir mein Profil an. Mit ausgeschaltetem Ton klicke ich mich durch ein paar meiner Videos, in denen ich meine süßen Kreationen präsentiere. Ich vermisse es, Neues auszuprobieren und meinen Zuschauern das Ergebnis zu zeigen. In den Videos sehe ich stolz und glücklich aus, so sehr, dass mir Tränen in die Augen schießen.

Ich weiß nicht, warum ich es tue, aber kurz darauf öffne ich doch mein Postfach. Vielleicht, um mir zu beweisen, dass es gar nicht so schlimm ist wie befürchtet und ich mich überhaupt nicht mehr verstecken muss, weil längst Gras über die Nash-Sache gewachsen ist. Doch je mehr Nachrichten ich lese, desto weniger glaube ich daran.

Dank dir habe ich eine Menge Geld verloren, Flittchen. Taylor ist in Cincinnati rausgeflogen. Alles nur wegen dir, du hässliche Bitch.

Du hast seine Ehe und seine Karriere kaputtgemacht. Dich wird bald auch jemand zerstören, das verspreche ich dir.

Wenn ich dich je sehe, spucke ich dir ins Gesicht.

Du bist Abfall.

Hoffe, du erstickst an deinem Mehl.

Dich würde niemand vermissen, wenn du verschwindest.

Irgendwann mache ich dein Leben genauso zur Hölle wie du Gabrielles. Und dann wirst du dir wünschen, bei deinen beschissenen Kuchen geblieben zu sein.

Ich schließe die App sofort wieder und schlucke die Tränen hinunter. Mein Herz rast. Fast kann ich den Druck an meinem Hals wieder spüren. Den Schmerz, unter dem ich nach dem Angriff noch tagelang gelitten habe. Zwischen den beleidigenden und bedrohlichen Nachrichten gibt es auch nette und verständnisvolle, aber sie sind ziemlich rar. Meine Schwester meinte, ich solle die Drohungen unbedingt anzeigen, so wie den Angriff vor ein paar Monaten. Aber es sind unfassbar viele, sodass ich nicht die Kraft dazu habe. Wahrscheinlich würde sowieso nichts passieren. Wer weiß, was diese Leute tun, wenn sie denken, dass ich sie provoziere. Mir hat eine Person gereicht, die sich in ihre Fan-Liebe hineingesteigert hat. Ich kann von Glück reden, dass ich halbwegs glimpflich davongekommen bin. Wenn gefährliche Leute Ernst machen, passieren manchmal solche schrecklichen Vorfälle wie vor einigen Jahren, als Monica Seles während eines Matches von einem Fan ihrer Gegnerin mit einem Messer niedergestochen wurde. Wenn sogar Spielerinnen mitten auf dem Tennisplatz schlimme Dinge widerfahren, wie soll ich mich als normale Frau davor schützen?

Wieder wird die Tür geöffnet, dieses Mal von Gemma. Ihr Lächeln ist anders als das von Carey. Es wirkt selbstbewusster. Herausfordernder. Mehr wie ein Grinsen, das einer guten Freundin gehört, so wie man sie sich schon immer gewünscht hat.

»Ihr seid ja auch wieder da«, stellt sie belustigt fest. »Dann überschneiden unsere Dienstpläne sich wohl doch.«

»Wahrscheinlich nur jetzt, bevor wir in See stechen und noch Trainings machen müssen«, antworte ich.

Mit der Hand fährt Gemma sich durch ihr schulterlanges, schwarzes Haar, das im fahlen Licht der Kabine glänzt. Sie trägt ein schwarzes Tanktop, das ihren Bizeps und viele Tattoos entblößt. Neben ihr wirke ich geradezu zerbrechlich. Gemma arbeitet als Fitnesstrainerin, also ist ihr Körper vermutlich ihr Aushängeschild. Wie viele Stunden man pro Woche wohl trainieren muss, um so auszusehen?

»Ein paar Kollegen wollten sich heute Abend in der Crew-Bar treffen, um zu feiern«, sagt sie. »Habt ihr Lust, später hinzugehen?«

»Ich kann nicht«, erwidert Carey missmutig. »Wer weiß, wie lang die große Eröffnungsparty geht. Die Nacht wird sicher kurz.«

»Stimmt, hatte ich schon wieder vergessen«, meint Gemma mitleidig, bevor sie sich mir zuwendet. »Was ist mit dir?«

Für einen Moment kommt mir kein Wort über die Lippen. Ich hatte mir vorgenommen, mich in den nächsten Wochen in meiner Kabine zu verkriechen und mich mit Arbeit von meinem Scherbenhaufen-Leben abzulenken. Aber vielleicht ist es ja eine gute Idee, wenigstens zu meinen Zimmerkolleginnen eine Beziehung aufzubauen, immerhin werde ich viel Zeit mit ihnen verbringen. Außerdem muss ich ihnen ja nicht gleich meine ganze Lebensgeschichte erzählen.

»Ja, gern«, antworte ich. »Falls ich nach der Arbeit noch fit genug bin.«

»Genau das wollte ich hören«, erwidert Gemma grinsend. »Das wird lustig!«

Bevor ich Zweifel äußern kann, schallt eine Reihe von lauten Signaltönen durch das Schiff. Mehrere kurze folgen aufeinander, dann noch ein längerer.

»Die Seenotrettungsübung geht los«, sagt Carey. »Seid ihr bereit?«

»Shit, ich muss erst noch pinkeln«, ruft Gemma und stürmt Richtung Bad.

»Dafür haben wir keine Zeit mehr, oder?«

»Ich mache mir nur in die Hose, wenn’s ein echter Notfall ist!« Sie schließt lautstark die Tür hinter sich. »Geht schon mal vor, ich komme nach!«

»Kommt nicht infrage«, protestiere ich. »Wir sollen uns wie bei einem echten Notfall verhalten, da lassen wir dich doch nicht in der Kabine zurück!«

»Ach, ich hole euch auf dem Weg zu den Sicherheitsbooten schon wieder ein!«

»Aber was wäre, wenn die Badezimmertür klemmt? Dann müssen wir dich da rausholen.«

»Die könnte ich bestimmt eintreten. Falls es hart auf hart kommt, nehme ich keine Rücksicht auf Türen.«

Ich kichere, weil ich mir ziemlich gut vorstellen kann, wie sie Türen eintritt. Und ich zweifle keine Sekunde daran, dass ihr das gelingen würde. Vielleicht sollte ich heute Abend wirklich ein bisschen in der Crew-Bar entspannen und Zeit mit ihr verbringen. Vorausgesetzt, ich falle nach meiner Schicht nicht todmüde ins Bett.

KAPITEL 4

Schachbrett

Leo

Seit ein paar Stunden befinden wir uns endlich auf hoher See, und schon jetzt kommt mir mein Leben in London ganz weit weg vor. Das liegt allerdings nicht bloß an der räumlichen Entfernung zu meinem alten Leben, sondern auch daran, dass dieser Festsaal wie eine Location aus einem Fiebertraum wirkt.

Während ich hinter der Bar stehe und Getränke für die Gäste ausschenke, habe ich genug Gelegenheiten, die Party-Atmosphäre in mich aufzunehmen. Satte, anheizende Jazz-Musik tönt durch den großen Raum, dessen schwarz-weiß gemusterter Marmorboden mich an ein Schachbrett erinnert und spiegelglatt poliert ist. Das Klackern von Absätzen erfüllt die Luft, es wird mit Zuckerrand-Gläsern angestoßen, Lachen ertönt aus jeder Richtung und ich schnappe immer wieder Gesprächsfetzen auf. Es gibt zahlreiche Tische, an denen verschiedenste Arten von Glücksspiel angeboten werden, und auf einer großen Tanzfläche lassen sich einige Leute zu den ausufernden Klängen mitreißen. Von der Decke baumeln silberne Ballons, die wie metallische Seifenblasen aussehen, und die überwiegend goldene Deko wirkt, als hätte man einen Fundus der Zwanziger geplündert und auf dieses Schiff verfrachtet.

Auch die Gäste erwecken den Anschein, als wären sie auf einem Kostümball. Sie tragen elegante Smokings, Charleston-Kleider und Perlenschmuck, was die meisten von ihnen sich beim Verleih an Bord geborgt haben dürften. Während ich mit meinem weißen Hemd, der silberfarbenen Fliege und der dunklen Hose nur halbwegs dem Zwanziger-Look entspreche, ist das bei den Kellnern, die mit den Tabletts im Saal unterwegs sind, anders. Die Frauen tragen goldene, schimmernde Kleider, durch die sie in der Masse leicht auszumachen sind, und die Männer Smokings mit einer goldenen Fliege, damit man sie von den Gästen unterscheiden kann.

Ein Teil von mir genießt diese positive, ausgelassene Atmosphäre, weil alle so zufrieden wirken und ich endlich weit weg von der Negativität in meinem Leben bin. Dem anderen Teil von mir ist dieser Trubel noch immer etwas zu viel, aber nach dem vorzeitigen Ende meines Studiums wollte ich schnell eine Alternative finden und bin dann bei der Arbeit als Barkeeper hängen geblieben. Aus irgendeinem Grund habe ich ein Gespür für gute Drinks, und zum Glück kann man an der Bar nie allzu lange seinen Gedanken nachhängen, weil es immer jemanden gibt, der was bestellen oder reden will.

»Bin schon wieder da«, flötet eine junge Kellnerin in meinem Alter und stellt das Tablett auf dem Tresen vor mir ab.

Ihr rotes Haar ist zu einer Wasserwelle gestylt und einzelne Strähnen kleben an ihrer Stirn. Sie hat ein freundliches, aufgeschlossenes Gesicht, an das man sich gut erinnert. Auf ihrem Namensschild steht Carey Golding geschrieben, und im Laufe des Abends war sie schon einige Male bei mir an der Bar, um Getränke zu holen.

»Was brauchst du dieses Mal?«, frage ich sie.

»Eine Pause wäre super. Im Ernst, diese Schuhe bringen mich um. Die Wahrscheinlichkeit, dass mir nach Feierabend die Füße abfallen, ist ziemlich hoch.«

Ich schenke ihr ein mitleidiges Lächeln. »Ich würde dir ja gern ein Paar bequeme Schuhe verkaufen, aber bei mir gibts heute leider nur Drinks.«

»Schade«, seufzt sie grinsend. »Dann bleibt es bei zwei Whiskeys und einer Bloody Mary.«

»Bloody Mary?« Ich verziehe das Gesicht. »Das ist heute Abend eine Premiere.«

Meine Reaktion scheint Carey zu amüsieren. »Kein Tomatensaft-Fan?«

»Ganz unter uns: Tomaten gehören für mich auf Teller, nicht in Gläser. Aber wie heißt es so schön? Der Kunde ist König.«

Sie lacht trocken. »Ganz unter uns: Die meisten Kunden halten sich auch dafür.«

Schmunzelnd kümmere ich mich darum, dass die Whiskeys und das gottlose Tomaten-Getränk zu ihren neuen Besitzern kommen, und stelle die fertigen Drinks auf Careys Tablett ab. Sie bedankt sich bei mir und macht sich wieder auf den Weg, um die Bestellungen auszuliefern. Darum, dass sie den ganzen Abend und die halbe Nacht in hohen Schuhen hin und her eilen muss, beneide ich sie nicht. Da ist es hinter der Bar zum Glück gemütlicher.

Wann immer ich kann, bewundere ich die rauschende Party. Obwohl sie mir ein bisschen zu laut ist, wünsche ich mir, ich könnte einer der Gäste an diesem luxuriösen, verschwenderischen Ort sein. Zu der Art Mensch gehören, die ihre Sorgen mit ein paar Geldscheinen verschwinden lassen können. Wehmut erfüllt mich, wenn ich die Leute beobachte, weil ich weiß, dass ich nie in dieser Situation sein werde. So einen Urlaub kann man sich nur leisten, wenn man zu den reichsten der Reichen gehört.

Es hat mal eine kleine Chance für mich gegeben, irgendwann gesellschaftlich aufzusteigen. Vor einigen Monaten, als ich noch mein Stipendium hatte und dachte, dass vielleicht doch was aus mir wird. Fast wäre mir der Sprung in ein besseres Leben gelungen. Aber das ist inzwischen vorbei, und das sollte ich mir endlich eingestehen.

So gut ich kann, konzentriere ich mich im Laufe der Nacht auf meine Arbeit. Begrüße sowohl Kollegen als auch Gäste mit einem lockeren, freundlichen Lächeln. Es ist mein Job, charmant zu sein. Small Talk mit den Leuten zu führen und ihnen ein gutes Gefühl zu geben, ganz egal, ob mich das alles gerade überwältigt oder nicht. Also mache ich weiter. Ich stehe an der Bar, mixe Getränke zusammen, lächle und rede. Und manchmal, in schwachen Momenten, bewundere ich, was ich nicht haben kann. Mit einem Lächeln auf den Lippen, aber mit einem Stich in der Brust.

Nach der Arbeit bin ich ziemlich erledigt. Ich bin seit vielen Stunden auf den Beinen und es ist schon drei Uhr nachts, also nehme ich den direkten Weg zu meiner Kabine, die ich mir mit einem Typ namens Viktor teile. Er arbeitet im Fitnessstudio und sieht auch genauso aus, wie man sich einen Personal Trainer vorstellt. Obwohl ich selbst jogge und Gewichte stemme, sehe ich neben ihm aus wie jemand, der noch nie in seinem Leben auch nur Wasserflaschen getragen hat.

Viktor hat mir gesagt, einige Kollegen würden heute noch länger in der Crew-Bar feiern, und hat mich eingeladen. Eventuell hat er auch erwähnt, dass Barkeeper dort immer besonders gern gesehen sind, aber heute bin ich viel zu fertig dafür.

Es ist schon seltsam, wie anders der Crew-Bereich im Vergleich zu dem der Gäste aussieht. Unspektakulär und fast schon schmucklos. Im Gästebereich dürfen wir uns ausschließlich während unserer Arbeit aufhalten, allerdings kann jedes Crew-Mitglied eine sogenannte Leisure-Card beantragen, die uns einen ganzen Tag lang dazu befugt, die Annehmlichkeiten der Ocean Heart zu genießen. Quasi wie ein Goldenes Ticket für einen freien Tag im Luxus. Eine Belohnung für unsere harte Arbeit, die ich nur zu gern annehmen werde.

Die Gänge im Crew-Bereich sind ziemlich schmal und karg, sodass man sich leicht verirrt, wenn man sich nicht auskennt. So wie ich. Glücklicherweise entdecke ich zwei andere Mitarbeiter, die eine bessere Orientierung zu haben scheinen, also gehe ich ihnen einfach hinterher. Nach ein paar Abzweigungen erkenne ich den Schlafbereich der Crew, in dem sich auch meine Kabine befindet.

Schon von Weitem sehe ich, dass vor meiner Tür ein dunkelhaariger Typ auf dem Boden hockt und die Stirn auf den Unterarmen abgelegt hat, als würde er schlafen oder als gehe es ihm nicht besonders gut. Vielleicht einer von der Crew-Party, der zu viel getrunken hat. Grundsätzlich dürfen wir das eine oder andere Glas in unserer Freizeit trinken, aber nur unter der Bedingung, dass wir beim Antritt unserer Schicht nüchtern und diensttauglich sind. Was das angeht, sind die Regeln streng.

Die anderen beiden vor mir werfen dem Kerl einen langen Blick zu, bevor sie in ihrer eigenen Kabine weiter hinten auf dem Gang verschwinden.

»Hey, alles okay bei dir?«, rufe ich und hole meine Schlüsselkarte hervor. »Kann man dir helfen?«

Er zuckt zusammen, als hätte ich ihn geweckt, und hebt dann seinen Kopf. Sobald er mich erkennt, hellt sich sein Gesicht auf, während mir selbst eiskalt wird. Weil ich ihn kenne. Besser als so ziemlich jede andere Person auf der Welt.

»Leo!«

Er springt auf, als hätte er nicht gerade wie eine Partyleiche auf dem Boden gekauert, und strahlt mich an, als wäre ich ein Lottoschein, der ihm einen Millionengewinn sichert.

Ich glaube, er will mich umarmen, aber ich weiche einen Schritt zurück und frage mich, ob ich schon so übermüdet bin, dass ich mir Menschen einbilde, die gar nicht hier sein können. Wie meinen Bruder. Aber ihn würde ich sogar im Delirium erkennen. Das schwarze Haar, das er sich irgendwann exakt so schneiden lassen hat wie ich mir meins. Die lächelnden Augen und das charmante Grinsen, das es leider schon immer schwer gemacht hat, ihm wegen irgendwas böse zu sein. Dieses Mal funktioniert seine Masche allerdings nicht bei mir.

»Was zur Hölle machst du hier, Joel?«

Er sieht mich fragend an, immer noch bestens gelaunt. »Ich hab mich vorhin auf der Party durchgefragt, ob jemand dich kennt. So ein Adonis im Muscle-Shirt meinte, du bist sein Zimmerkollege und kämst bestimmt irgendwann wieder. Also hab ich hier auf dich gewartet.«

Verdammt noch mal, Viktor.

Mein Bruder war noch nie besonders gut darin, meine Stimmung richtig einzuschätzen. In seinen Augen sind wahrscheinlich bloß Müdigkeit und Stress für meine miese Laune verantwortlich.

»Nein, ich wollte wissen, was du hier machst«, erwidere ich. »Auf diesem Schiff.«

»Ich arbeite hier«, sagt er nonchalant und zuckt mit den Schultern.

»Du tust was?«

»Arbeiten, hab ich doch gesagt. Du wolltest, dass ich mir einen Job suche, also hab ich das getan. Ich bin beim Zimmerservice.«

Das hier ist so absurd, dass es eigentlich ein Versteckte-Kamera-Moment sein muss. Gleich springt bestimmt Viktor aus der Kabine, der in Wahrheit ein berühmter Ringer ist, und erklärt mir, dass das alles bloß ein Witz war. Nur dass mein Bruder kein guter Schauspieler ist. Er trägt sein Herz auf der Zunge, was schon zu zahlreichen Problemen geführt hat – auch für mich. Genau davor wollte ich unbedingt flüchten, als ich hierhergekommen bin. Ich habe keine Lust darauf, dass sie mich verfolgen.

»Ja, du solltest dir einen Job suchen«, stimme ich mit dem letzten bisschen Ruhe zu, das ich aufbringen kann. »Aber nicht ausgerechnet da, wo ich arbeite.«

Er kneift seine dunklen Augen zusammen. »Wieso nicht? Ist doch total super, dass wir jetzt beide hier sind! Schade, dass sie uns nicht dasselbe Zimmer gegeben haben. Aber das passt schon, sonst weckst du mich wieder mitten in der Nacht auf, weil ich schnarche.«

Während er lacht, balle ich eine Hand zur Faust und versuche meine Anspannung dort hineinzuleiten. Diese Situation ist für mich kaum auszuhalten. Ich ertrage es nicht, dass er gerade so unschuldig tut. Als wäre alles genauso wie früher, als wir noch zusammen in einer Wohnung gelebt haben.

»Du hättest nicht herkommen sollen«, sage ich düster.

Joel sieht mich verwirrt an. »Wieso?«

Ich schließe meine andere Hand um die Zimmerkarte, bis die Kanten sich tief in meine Haut bohren. »Muss ich dich wirklich daran erinnern, was ich dank dir durchgemacht habe? Oder daran, was Mum wegen dir durchgemacht hat? Denkst du echt, das kann man einfach so vergessen?«

»Aber du weißt doch, wie leid mir das alles tut!«, behauptet Joel, obwohl er sich nie richtig für seine Fehler entschuldigt hat. »Jetzt ist alles anders, das schwöre ich dir! Ich bin hier, arbeite für mein Geld und wir sind zusammen! Keine Probleme mehr!«