Witches of New London 1. Sunblessed - Isabel Clivia - E-Book

Witches of New London 1. Sunblessed E-Book

Isabel Clivia

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Verliere dein Herz im magischen London Jack the Ripper ist zurück – so lautet die Schlagzeile, wegen der ganz London den Atem anhält. Die junge Hexe Reva kennt jedoch die Wahrheit: Der Mörder stammt aus ihren Reihen. Als Detektivin im Dienste der Hexen-Geheimgesellschaft ist es Revas Pflicht, der Sache auf den Grund zu gehen. Eine Spur führt sie nach New London, ihre einstige Heimatstadt, die hinter einem magischen Schleier verborgen liegt. Dort benötigt sie ausgerechnet die Hilfe des charismatischen Hexers Gabriel. Auf das Herzklopfen, das er in ihr auslöst, würde sie lieber verzichten. Aber um die Verbrechen aufzuklären, muss sie notgedrungen mit ihm zusammenarbeiten. Schon bald steht weit mehr auf dem Spiel als nur ihr Herz …  

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch

VERLIERE DEIN HERZ IM MAGISCHEN LONDON

 

Jack the Ripper ist zurück – so lautet die Schlagzeile, wegen der ganz London den Atem anhält. Die junge Hexe Reva kennt jedoch die Wahrheit: Der Mörder stammt aus ihren Reihen. Als Detektivin im Dienste der Hexen-Geheimgesellschaft ist es Revas Pflicht, der Sache auf den Grund zu gehen. Eine Spur führt sie nach New London, ihre einstige Heimatstadt, die hinter einem magischen Schleier verborgen liegt. Dort benötigt sie ausgerechnet die Hilfe des charismatischen Hexers Gabriel. Auf das verbotene Herzklopfen, das er in ihr auslöst, würde sie lieber verzichten. Aber um die finsteren Verbrechen aufzuklären, muss sie notgedrungen mit ihm zusammenarbeiten. Schon bald steht weit mehr auf dem Spiel als nur ihr Herz …

 

 

 

 

 

Für Mama. Weil du wie die Sonne mein Leben erhellst.

Prolog

Vier Jahre zuvor

Als ich den mit Rosen dekorierten Korridor entlanghaste, strömen mir heiße Tränen über die Wangen. Sie gefrieren zu Eis, noch bevor sie auf den Marmorboden tropfen können. Ich sollte innehalten. Sollte mich sammeln und den kalten Sturm beruhigen, der in jeder Faser meines Körpers tobt. Aber ich will einfach nur weit, weit weg.

»Warte!«

Seine Stimme hallt von den hohen Steinwänden wider, an denen sich wilder Efeu hinaufrankt. Ich verbiete es mir, stehen zu bleiben. Stattdessen richte ich meinen verschleierten Blick nach vorn und setze einen Fuß vor den anderen. Immer weiter, Hauptsache fort von ihm.

»Reva.«

Bevor ich die Doppeltür erreichen kann, die in den Festsaal führt, holt er mich ein und schneidet mir den Weg ab.

Ihm erneut gegenüberzustehen, lässt das Chaos in mir nur umso verheerender wüten. Ich muss es unter Kontrolle bringen. Dringend.

»Sieh mich an.«

Mit erhobenem Kopf begegne ich seinem Blick, auch wenn ich es lieber lassen würde. Das Tageslicht, das durch die großen Fenster hereinfällt, wirft Schatten auf seine markanten Gesichtszüge. Es verleiht seinem braunen Haar einen zarten Goldschimmer, der perfekt zum goldenen, mit Smaragden besetzten Diadem auf seinem Kopf passt. Obwohl er seine Macht aus der Dunkelheit schöpft, wirkt er ausgerechnet im Antlitz der Sonne wie ein König. Ein grausamer König mit reuevoller Miene.

Er kommt näher. Dicht genug, damit sein Atem meine Haut streift.

»So kannst du da nicht rausgehen«, flüstert er und fährt mit dem Handrücken sanft über meine Wange.

Sofort weiche ich einen Schritt zurück, um mich der viel zu vertrauten Berührung zu entziehen. Wenn ich das jetzt zulasse, verliere ich das letzte bisschen Würde, das mir noch geblieben ist.

»Warum nicht?«, frage ich herausfordernd.

»Willst du, dass sie dich so sehen?«

Ich blinzele, befreie dadurch weitere Tränen, die sofort erstarren. Magie pulsiert durch meinen Körper, genauso roh und ungezügelt wie der Schmerz in meiner Brust.

»Das ist es, was dich wirklich interessiert, oder? Was sie sehen.«

»Um mich geht es hier doch gar nicht«, erwidert er leise.

»Nein? Dann hast du also keine Angst davor, dass einer von denen dein kleines Geheimnis erfahren könnte? Dass du doch nicht so perfekt bist, wie du sie gern glauben lassen würdest?«

Er seufzt. »Reva, bitte.«

Jedes Mal, wenn er meinen Namen sagt, klingt das so liebevoll. Als würde er sich tatsächlich etwas aus mir machen. Trotzdem besänftigen mich seine Worte kein Stück. Sie sind wie gnadenlose Böen, die das Feuer in meinem Inneren weiter anfachen.

»Geh beiseite, Gabriel.«

Er hebt die Hand, lässt sie allerdings sofort wieder sinken. »Du solltest dich erst beruhigen, bevor du –«

»Mich beruhigen? Nach allem, was du mir gerade gesagt hast?«

Stille breitet sich zwischen uns aus.

»Nichts davon dürfte dich überrascht haben«, antwortet er dann.

Ich schürze die Lippen. »Vielleicht kennst du mich ja schlechter, als du denkst.«

Voller Zorn schiebe ich mich an ihm vorbei und marschiere auf die Flügeltür zu.

Sobald ich in den Festsaal zurückgekehrt bin, spüre ich die Blicke der anderen Gäste auf mir. Normalerweise beschränken sie sich auf mein linkes Handgelenk oder meine Kleidung. Jetzt mustern sie jedoch weder die goldene Sonne auf meiner Haut noch die nachtblaue Robe an meinem Körper, sondern die eisigen Tränen, die verräterisch auf meinen Wangen glitzern und einen kalten Kontrast zu der frühlingshaften Blumendekoration bilden.

Ich sehe mich um, halte verzweifelt Ausschau nach meinen Geschwistern. Wenn ich ohne sie gehe, wird das bloß für Gerede sorgen.

Die Wintererbin schleicht sich von der wichtigsten Feier des Monats und überlässt anderen ihre Pflichten. War von ihr ja zu erwarten.

Mit jeder Sekunde werden meine Atemzüge flacher. Hektisch drehe ich mich um meine eigene Achse, fühle mich schrecklich einsam zwischen all den Leuten, die seit Jahren jeden meiner Schritte bewerten und deren Herzen so kalt sind wie die tobende Magie in meinem Blut. Ich muss meine Emotionen in den Griff kriegen, sonst werde ich ihre Missbilligung erst recht auf mich ziehen. Eine schwache Erbin ist schon schlimm genug. Eine, die sich nicht unter Kontrolle hat, ist inakzeptabel.

Anstelle von Daisy und Rami entdecke ich Gabriel in der Menge, der wieder zu den übrigen Gästen gestoßen ist. Er wirkt so ruhig wie immer, als wäre alles in bester Ordnung. Als gäbe es keine eisigen Tränenspuren in meinem Gesicht. Sie wissen nicht, dass ich wegen ihm weine. Ein Teil von mir würde den Grund gern herausschreien, aber das würde uns beide vernichten, und sogar jetzt könnte ich ihm das nicht antun.

Mein Herz donnert gegen mein viel zu enges Korsett. Ich lasse den Blick rastlos hin und her huschen, während ich mich bemühe, niemanden anzurempeln. Hinter vorgehaltener Hand murmeln sie Worte, die mich mehr verletzen, als sie es nach all den Jahren tun sollten. Schwach. Unwürdig. Beschämend. Jeder ihrer Blicke gleicht einem Nadelstich, doch seiner ist wie ein Dolch aus Jade, der sich in meine Brust bohrt.

Willst du, dass sie dich so sehen?

Ich muss hier raus. Sofort.

Aber statt aus dem Saal zu stürmen, bleibe ich stehen, als hätte meine Magie mich am Boden festgefroren.

Er sieht mich immer noch an. Im Gegensatz zu den anderen ist er still, schüttelt nur leicht seinen Kopf. Eine Bitte, die meinen Zorn nicht zu bremsen vermag. Denn ich habe nicht vergessen, was er mit meinem Herzen gemacht hat, als ich es ihm vorhin zu Füßen gelegt habe.

Dafür wird es nie genug sein.

Ich bin es so leid, mich für andere zu zügeln. Demütig den Kopf zu senken, damit diese Gesellschaft nicht noch schlechter von mir denkt, als sie es ohnehin tut. Erst jetzt sehe ich die bittere Wahrheit glasklar in ihren Gesichtern: Für diese Leute werde ich ebenfalls nie genug sein, egal, wie vorbildlich ich mich verhalte. Ein paar gefrorene Tränen reichen aus, damit eintausend höfliche Lächeln an einhundert perfekten Abenden in Vergessenheit geraten. Weil sie immer auf den einen Moment warten, der ihre Vorurteile bestätigt.

Ich balle die Hände zu Fäusten.

Gabriel scheint noch vor allen anderen zu ahnen, was in mir vorgeht. Mit seinen Lippen formt er ein einziges Wort.

Nicht.

Da habe ich mich jedoch schon dazu entschieden, dem kalten Brodeln in mir nachzugeben. Sollen sie mich meinetwegen für eine schwache Hexe halten. Sollen sie mich für unerlaubten Magiegebrauch in der Öffentlichkeit anklagen. Ich habe es satt, mir ihre Akzeptanz mit einer perfekten Maske erbetteln zu müssen.

Für einen Moment betäubt die Magie jedes Gefühl in meinem Körper, als befände ich mich in einem See aus Eis. Dann sind da nur noch Kälte und Chaos und ein Hauch von Freiheit.

Kapitel 1

Verdrossen beobachte ich die Reportermeute vor dem kleinen, spärlich ausgeleuchteten Park. Die Blitze ihrer Kameras zucken durch die Vollmondnacht und lassen grelle Punkte vor meinen Augen tanzen.

So ein Mist.

Das habe ich jetzt davon, zu dieser Unzeit noch ans Telefon gegangen zu sein. Aber wahrscheinlich wäre ich auch hier gelandet, wenn ich Jonathans Anruf ignoriert hätte. Naomi fühlt sich nämlich leider grundsätzlich dazu verpflichtet, den Hörer abzunehmen, und schleift mich dann jedes Mal zum Tatort.

»Die Presse dreht durch, wenn’s wieder eine Frau ist«, murmelt sie neben mir. »Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir: London in Angst vor dem Killer – Ripper schlägt erneut zu. In genau diesem Wortlaut. Wollen wir wetten?«

Ich schnaube. »Mit dir wette ich nicht mehr. Sonst muss ich den Abwasch noch drei Wochen länger übernehmen.«

Ein verräterisches Grinsen schleicht sich auf ihre Lippen. »Genau das ist der Plan.«

»Tja, da mache ich aber nicht mit. Das Geschirr hat gesagt, es vermisst dich.«

»Hör nicht auf diese lügenden Tassen! Tief in ihren kleinen Porzellanherzen lieben sie nur dich.«

»Könnte das eventuell daran liegen, dass sie bei mir keine Angst haben müssen, auf dem Fußboden zu zerschellen?«

»Das waren tragische Unfälle!«, echauffiert sie sich.

Wir drängen uns an einigen Presseleuten vorbei, die den Polizisten hinter der Absperrung Fragen zubrüllen. Mit dieser neugierigen Horde haben sie zum Glück alle Hände voll zu tun, sodass uns kaum jemand Beachtung schenkt.

»Hast du Coulter schon gesehen?«, frage ich und halte auf den Zehenspitzen stehend Ausschau nach einem karierten Hut.

»Bisher nicht. Bestimmt ist er wieder in die falsche U-Bahn gestiegen. Keine Ahnung, wieso ihm das ständig passiert.«

Wahrscheinlich, weil er im Gegensatz zu uns hier geboren wurde und sich deshalb um die ganzen Wie-funktioniert-die-Menschenwelt-Fortbildungen drücken durfte. Es ist mir ein Rätsel, wie ein so unzuverlässiger Mann unsere Kontaktperson bei der Londoner Polizei werden konnte.

Ich stöhne auf. »Er weiß genau, dass die Spuren von Magiegebrauch nicht ewig nachweisbar sind.«

In solchen Momenten bereue ich meine Entscheidung, bei der magischen Abteilung angefangen zu haben. Ein Job bei einer Cafékette wäre sicher entspannter gewesen als nächtliche Detektivarbeit. Aber aus irgendeinem idealistischen Impuls heraus musste ich ja unbedingt das hier wählen.

Naomi schiebt ihre Hände in die Taschen ihres Designer-Trenchcoats. »Was sollen wir denn jetzt machen? Ohne Coulter kommen wir da nicht durch.«

Ich lasse meinen Blick schweifen und bleibe an einem Polizisten hängen, der ganz allein den Westzugang des Parks bewacht.

»Erinnerst du dich noch an den Theaterunterricht in der dritten Klasse?«, frage ich dann.

Naomi schneidet eine Grimasse. »Wie könnte ich je das Jahr vergessen, in dem ich den tanzenden Baum gespielt habe?«

Ich grinse. »Lust auf eine neue Herausforderung, kleine Eiche?«

Sie lacht halbherzig. »Vergiss es. Das einzige Ablenkungsmanöver, das ich beherrsche, ist Angesagtes-Starlet-in-freier-Wildbahn. Klappt leider nur bei der Regenbogenpresse.«

Dank der teuren Kleidung und dem Tausend-Watt-Lächeln könnte Naomi tatsächlich als TV-Sternchen durchgehen. Sogar um diese Uhrzeit sieht sie aus, als wäre sie gerade aus der Maske einer aufwendigen Produktion spaziert. Trotzdem muss ich ihr recht geben. Promijäger könnte sie ablenken, wenn sie es darauf anlegt. Die Leute da vorne sind jedoch wegen des vermeintlich neuesten Verbrechens eines Serienmörders hergekommen.

»Sag bloß, du willst das Ganze mir überlassen«, schmolle ich.

Sie zuckt mit den Schultern. »Jonathan hat dich angerufen. Ich bin heute nur zur moralischen Unterstützung dabei.«

»Behauptest du nicht immer, wir seien ein Team?«

»Wir sind sogar Freundinnen«, erklärt sie stolz. »Deshalb bleibe ich auch in der Nähe und feuere dich ganz doll an.«

Ich lege mir eine Hand auf die Brust. »Das ist sehr aufopferungsvoll von dir.«

Sie quittiert meine Bemerkung mit einem unschuldigen Lächeln. »Für dich doch immer. Aber wenn’s so peinlich wird wie beim letzten Mal, tue ich so, als ob ich dich nicht kenne.«

Ich werfe ihr einen zynischen Luftkuss zu, bevor ich mich auf den Weg zum Westzugang mache.

Der schlaksige Polizist wirkt angespannt. Glücklicherweise lassen ihn die Schaulustigen auf der anderen Straßenseite in Ruhe, also kann ich meinen Plan ungestört durchziehen. Ich mache den Rücken gerade, marschiere direkt auf den Tatort zu und versuche dabei, einen Blick auf das Mordopfer zu erhaschen. Leider versperrt der Polizist mir mit einem Schritt zur Seite den Weg.

»Sie dürfen hier nicht durch, Miss. Das ist ein Tatort.«

Obwohl er seiner Stimme Nachdruck verleiht, ist die Unsicherheit darin deutlich zu hören.

»Ein Tatort?«, wiederhole ich entsetzt. »Wie schrecklich!«

»Treten Sie zurück.«

»Aber meine Geldbörse …« Ich deute auf die laubbedeckte Wiese hinter ihm. »Da drüben habe ich sie heute Nachmittag verloren. Bitte, ich brauche sie!«

Meine verzweifelten Worte bringen ihn dazu, über die Schulter zu blicken. Diesen unachtsamen Moment nutze ich und stürme an ihm vorbei.

»Halt! Bleiben Sie stehen!«

Als ob.

Ich eile weiter, ignoriere die anderen Beamten und gehe zwei Meter neben dem leblosen Opfer in die Hocke. Stichwunden übersäen den Körper des jungen Mannes, den ich auf höchstens fünfundzwanzig schätzen würde. Überall ist Blut. Diesen Anblick hätte ich mir gern erspart. Wer auch immer das getan hat, wollte sichergehen, dass der Kerl mausetot ist.

»Gehen Sie da weg!«, fordert der Polizist.

An den bleichen Fingern des Toten entdecke ich einige edelsteinbesetzte Ringe. Solche Schmuckstücke schreien geradezu nach Hexer-Eigentum, aber über das Opfer kann ich später nachdenken. Zuerst muss ich mehr über den Mörder herausfinden.

Das Stimmengewirr hinter mir wird lauter, während gleichzeitig das Blitzlichtgewitter zunimmt. Schnell hole ich den kleinen schwarzen Quellenstein aus meiner Manteltasche und schließe die Finger darum. Nachdem ich meine Magie in das Artefakt geleitet habe, erwärmt es sich. Mal sehen, ob es eine magische Spur gibt, zu deren Ursprung es mich führen kann.

»Hören Sie mir überhaupt zu?«

Der Polizist packt mich an den Schultern und versucht, mich auf die Füße zu ziehen. Ich mache mich absichtlich so schwer wie möglich, um mir ein paar Sekunden Zeit zu verschaffen.

»Was hat man dem armen Mann nur angetan?«, schreie ich inbrünstig.

»Stehen Sie auf.«

»Die Welt ist so dunkel geworden! Hat denn keiner mehr Liebe übrig?«

»Miss!«

Mit erhöhtem Kraftaufwand schafft er es, mich hochzuhieven. Ich gebe es auf, mich gegen ihn zu wehren. Der kriegt sicher genug Ärger, weil er jemanden durchgelassen hat. Seine Kollegen gucken schon ganz komisch.

Er zieht mich vom Tatort weg und bringt mich zurück zum Parkausgang, während die Reporter weiter auf den Auslöser ihrer Kameras drücken. Ich halte den Kopf gesenkt, bis wir außer Sichtweite sind.

»Was haben Sie sich dabei gedacht?«, schnauzt der Polizist mich an.

»Ich wollte bloß meine Geldbörse suchen«, rechtfertige ich mich mit der glaubhaftesten Unschuldsmiene, die ich zu bieten habe. »Da drüben bei dem Baum hätte sie sein müssen, aber sie ist verschwunden! Haben Sie schon mal Ihren Ausweis und Ihre Kreditkarte verloren? Ich jetzt schon zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres. Ätzend, ich sag’s Ihnen. Gott, warum bin ich so ein Tollpatsch? Und jetzt habe ich auch noch diesen zugerichteten Toten gesehen. Eine echte Leiche. Oh, ich glaube, mir wird gleich schlecht.«

Nachdem ich ihn vollgeplappert habe, drehe ich mich um und stütze mich einhändig auf der Motorhaube eines geparkten Autos ab. Dann atme ich lautstark ein und aus, wie meine Kollegin Mary, als sie mir letzten Monat eine Technik aus dem Geburtsvorbereitungskurs demonstriert hat.

»Miss, ich muss Sie leider …«

»Nein, bitte«, rufe ich und hole hörbar Luft. »Ich will wirklich nicht Ihre Uniform vollkotzen. Die steht Ihnen echt toll. Machen Sie Sport?«

»Ich …«

»Im Ernst, die macht was her. Verleiht Ihnen Autorität.«

Er räuspert sich verlegen. »Hören Sie, ich muss Sie jetzt …«

»O bitte, haben Sie Mitleid mit mir! Ich stehe so unter Schock. Können Sie sich das vorstellen? Eben war ich noch beim langweiligsten Date aller Zeiten, und kaum habe ich meinen fehlenden Geldbeutel bemerkt, stolpere ich in einen Echtzeit-Krimi! Das Bild von diesem Toten werde ich bestimmt nie mehr los. Wer tut denn so was Schreckliches? War das etwa wieder dieser Ripper? O Gott, sollte man überhaupt noch vor die Tür gehen, wenn so einer draußen rumläuft?«

Als ich mich wieder umdrehe, hoffe ich, dass Tränen in meinen Augen schimmern. Ein mitleidiger Ausdruck macht sich im hochroten Gesicht des Polizisten breit. Ich weiß nicht, ob er gerade mich oder sich selbst bedauert, tippe aber auf Letzteres.

»Verzeihen Sie mir«, bitte ich ihn reumütig. »Ich wollte Sie nicht bei Ihrer Arbeit stören. Hätte ich das geahnt …«

»Sie …« Er stutzt. »Haben Sie vielleicht etwas Verdächtiges bemerkt, als Sie heute im Park waren?«

»Was? Nein, tut mir leid. Mir ist ja nicht mal aufgefallen, dass ich meinen Geldbeutel verloren habe.«

Der Polizist starrt mich ratlos an, dann lässt er die Schultern sacken. Seine hoffnungslose Überforderung ist irgendwie niedlich.

»Gehen Sie nach Hause«, meint er schließlich. »Es ist spät, und das ist kein Ort für eine junge Frau wie Sie.«

Ich schenke ihm ein entschuldigendes Lächeln. »Da haben Sie wohl recht.«

Dass das weniger an den toten, sondern viel zu oft an den lebenden Männern liegt, verkneife ich mir. Stattdessen kehre ich ihm den Rücken zu und überquere die Straße, während ich den Quellenstein noch immer in meiner Hand halte.

Naomi lehnt an einer heruntergekommenen Hauswand und schüttelt grinsend den Kopf.

»Was denn?«, frage ich. »Hat doch funktioniert.«

»Daran haben deine Rehaugen einen erheblichen Anteil.«

»Höre ich da etwa Kritik an meiner Show?«

»Also, ein bisschen geschämt hab ich mich schon«, meint sie, woraufhin ich ihr die Zunge rausstrecke.

Da außer Naomi niemand in der Nähe ist, öffne ich meine Hand und betrachte den Quellenstein. Im fahlen Licht der Straßenlaterne schimmert er jetzt in einem kühlen Blauton. Als ich weitere Magie in ihn sickern lasse, beginnt er, gleichmäßig zu pochen. Sofort schließe ich meine Finger wieder zur Faust, bevor er mir entwischen kann. Das Letzte, was London jetzt braucht, ist ein magischer Stein, der mit Karacho durch die Luft fliegt und irgendwem gegen den Kopf knallt.

»Dann lass uns mal herausfinden, wo du uns hinführst«, murmele ich.

Naomi stößt sich von der Wand ab und läuft gemeinsam mit mir los. »War’s wieder eine Frau?«

»Ein junger Mann. Mit einer Menge Stichwunden. Sah auf den ersten Blick nach Übertötung aus, aber wäre keine Magie im Spiel gewesen, hätte der Stein nicht reagiert.«

»Also ein Ablenkungsmanöver?«

»Möglich.«

Ganz gleich, was dahintersteckt, wir müssen den Verantwortlichen finden. Vier Morde im Abstand von jeweils einem Monat deuten stark auf einen Serienkiller hin. Jonathan vermutet schon seit der zweiten Tat eine Hexe oder einen Hexer hinter der Sache, und wenn wir die Person nicht bald aus dem Verkehr ziehen, gefährdet sie die Geheimhaltung unserer Existenz unter den Menschen.

Wir eilen durch die kalte Oktobernacht. Trotz der Tatsache, dass heute Donnerstag ist und Temperaturen um den Gefrierpunkt herrschen, begegnen uns noch einige betrunkene Partygänger, die grölend durch die dunklen Gassen ziehen. Doch je länger wir unterwegs sind, desto einsamer werden die Straßen, und schon bald übertönt das Klackern unserer Stiefel die entfernten Motorengeräusche.

»Kommt dir die Gegend auch bekannt vor?«, frage ich nach einer Weile.

Naomi blickt sich um. »Sollte sie denn?«

»Ja?«

»Du weißt, dass ich nachts nicht mal unser Wohnhaus finden würde. Hier sieht alles gleich aus!«

Wäre ich weniger angespannt, hätte ich über ihre Orientierungslosigkeit geschmunzelt. Denn obwohl ihre Worte auf einige Stadtteile von London zutreffen, gilt das nicht für diesen. Die schicken Fachwerkhäuser mit ihren roten Dächern würde ich überall wiedererkennen.

»Da vorne ist Highgate Cemetery«, murmele ich.

Naomi flucht leise.

Keine von uns sagt mehr etwas, bis wir beim Zugang zum Westfriedhof ankommen. Die hohen Spitzbogenfenster des alten Steingebäudes spiegeln das Laternenlicht von der gegenüberliegenden Straßenseite. Als könnte er es kaum erwarten, hinter das verschlossene Gittertor zu gelangen, glüht der Quellenstein heiß in meiner Hand auf.

»Denkst du, der Täter versteckt sich da drin?«, raunt Naomi.

»Könnte sein. Der Stein will mich jedenfalls zum Friedhof führen.«

»Und was, wenn unsere Zielperson durch den Schleier gegangen ist?«

»Dann haben wir ein Problem.«

»Nur dann?«, zweifelt sie.

Wir folgen der schmalen Straße, die um das Gelände herumführt. Ich lasse die Finger an der hohen Mauer auf der linken Seite entlanggleiten und ertaste nach einigen Metern eine Einbuchtung im rauen Stein.

Kurz vergewissere ich mich, dass außer uns niemand hier ist, bevor ich die Hand hineinpresse und meine Magie nutze. Ein hellblaues Leuchten breitet sich darunter aus, geschwächt von der Nacht, aber immer noch stark genug, um den magischen Durchgang zu öffnen. Für den Bruchteil einer Sekunde verschwimmt die Mauer vor unseren Augen und wird durchscheinend wie ein dünner Vorhang, der sich im Wind wiegt.

Nachdem wir uns ein weiteres Mal umgesehen haben, huschen wir hindurch.

Auf der anderen Seite herrscht Stille. Die Art von Stille, bei der man jedes Geräusch doppelt so laut hört. Tagsüber wirkt der Friedhof höchstens etwas verwunschen – wie der perfekte Ort, um mystische, tief bewegende Poesie niederzuschreiben, die Seelen brennen und Herzen bluten lässt. Bei Nacht ist er dagegen einfach nur unheimlich. Abgesehen vom Vollmond gibt es keine weitere Lichtquelle, sodass die überdimensionalen Grabsteine gespenstisch in der Dunkelheit aufragen. Besonders jene, auf denen sich Statuen befinden, werfen schauerliche Schatten auf die verschlungenen, unbefestigten Pfade, neben denen Bäume, Farne und Sträucher wild vor sich hin wuchern. Wenn ich mir einen Ort vorstellen müsste, an dem sich ein gefährlicher Serienkiller wohlfühlt, wäre es definitiv dieser.

»Wir sollten wieder gehen«, wispert Naomi hinter mir.

»Nicht, bevor wir wissen, wo der Stein uns hinführen will.«

»Auf das Wissen könnte ich eventuell verzichten.«

Ich werfe ihr über die Schulter ein schiefes Lächeln zu. »Hast du etwa Angst?«

Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Quatsch, mein Herz rast aus purer Vorfreude.«

»Du kannst auch hierbleiben, wenn du möchtest«, biete ich an.

»Klar, wir sollten uns unbedingt trennen. Funktioniert in Horrorfilmen schließlich auch immer.« Sie klingt entsetzt.

Ich drehe mich zu ihr um und lächele entschuldigend.

Es war eine schlechte Idee, den Friedhof zu betreten, das ist sogar mir klar. Wir haben bereits herausgefunden, dass eine Hexe hinter dem Mord steckt, also gibt es keinen Grund, sich in Gefahr zu bringen. Aber ich muss wissen, ob die magische Spur beim Schleiertor endet. Falls sie das tut, ändert das die Lage drastisch.

»Warum musst du so eine Draufgängerin sein?«, murrt Naomi.

»Ich bin keine Draufgängerin.«

»Sagte sie und verfolgte einen Serienkiller bis zum unheimlichsten Friedhof der ganzen Stadt. Im Ernst, du bist fast so schlimm wie Cara.«

Trotz ihrer Beschwerde entzündet sie mithilfe ihrer Sommermagie eine kleine Flamme über ihrem Zeigefinger und schließt sich mir an.

Wachsam schleichen wir über das Gelände. Jedes noch so leise Blätterrascheln lässt mich aufhorchen. Was, wenn der Täter sich versteckt hält und uns angreift? Um diese Zeit habe ich nur eingeschränkten Zugriff auf meine Magie. Hexen wie ich, die bei Sonnenlicht zur Welt gekommen sind, können bei Dunkelheit lediglich einen Bruchteil ihrer Elementarkräfte nutzen. Eine Tatsache, die in meinem Leben schon zu oft eine zu große Rolle gespielt hat.

Naomi hakt sich bei mir unter und drückt sich dicht an mich.

Jetzt komme ich mir wirklich vor wie in einem Horrorfilm, in dem der Mörder jeden Moment aus dem Gebüsch springen könnte. Wenigstens habe ich in den letzten vier Jahren diverse Kampfsportkurse belegt. Ob mir das gegen eine mordlustige Hexe hilft, wage ich allerdings zu bezweifeln.

»Das hier fällt nicht in unseren Aufgabenbereich«, murmelt Naomi.

»Es zählt zu unseren Ermittlungen.«

»Es zählt höchstens zu leichtfertig unser Wohlergehen aufs Spiel setzen.«

»Du hast also doch Angst«, ziehe ich sie auf.

Sie schiebt die Unterlippe vor. »Na und? Angst ist die hartnäckige Version deiner Vernunft. Die du viel zu gern ignorierst.«

»Ich ignoriere sie nicht. Ich weigere mich bloß, auf sie zu hören.«

»Das ist noch viel schlimmer!«

Vielleicht ist es das. Vielleicht will ich mir aber auch nur beweisen, dass ich nicht so schwach bin, wie man es mir all die Jahre eingeredet hat.

Sobald wir auf den Pfad mit dem rötlichen Obelisken-Grabstein gelangen, lässt Naomi mich los. Das magische Artefakt in meiner Hand kühlt jetzt mit jedem Schritt ab, und als wir vor einem alten, mit Efeu bewachsenen Tor stehen bleiben, erlischt sein blaues Leuchten. Der Quellenstein zerfällt zu Staub, den der Wind nur wenige Sekunden später hinfortweht.

»Er ist nicht mehr hier«, sage ich.

Naomi atmet langsam aus. »Dann bedeutet das …«

»Ja. Der Mörder stammt wahrscheinlich aus New London.«

Hinter dem unsichtbaren Schleier, der sich in diesem Tor verbirgt, liegt unsere Heimat. Das andere London, in dem wir geboren wurden. Diese Parallelstadt haben die damaligen Hexen infolge der schrecklichen Verbrennungen und der unerbittlichen Jagd auf sie als sicheren Rückzugsort geschaffen. Solche Refugien gibt es in einigen großen Städten auf der Welt. Viele, die an diesen geheimen Orten leben, haben noch nie einen Fuß in die Menschenwelt gesetzt, genau wie ich, bevor ich vor vier Jahren achtzehn geworden und hierhergekommen bin, um ein neues Leben zu beginnen. Das London der Menschen und das London der Hexen mögen sich einen Namen teilen, aber sie sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht.

»Was jetzt?«, will Naomi wissen.

Ich seufze. »Wir müssen es Jonathan sagen.«

Kapitel 2

Jonathan läuft in seinem Büro auf und ab, während sein Dackel Hugo friedlich im Körbchen am Fenster schläft. Ich starre stoisch auf die dicken Aktenordner, die sich auf seinem Schreibtisch aus Massivholz türmen. Obwohl mir die Sonnenstrahlen von draußen ein Gefühl von Stärke geben, fühle ich mich nicht kühn genug, um meinen Chef beim Denken zu unterbrechen. Zumindest, solange sein Morgenkaffee noch unangetastet auf dem Tisch steht.

Ich drehe meinen Kopf in Jonathans Richtung. Inzwischen ist er stehen geblieben und hat seine riesigen Hände in die Seiten gestemmt. Als müsste er noch etwas dafür tun, um autoritärer zu wirken.

»Ich will, dass Sie nach New London reisen und den Mörder finden«, sagt er schließlich.

Es vergehen einige Sekunden, bis ich das Ausmaß seiner Worte begreife.

»Soll das ein Witz sein?«, frage ich dann.

»Sehe ich aus wie ein Comedian?«

Mit dieser grimmigen Miene und seiner beeindruckenden Körpergröße sieht Jonathan nach vielem aus – Wrestler, Türsteher oder Boxer in der Schwergewichtsklasse. Aber sicher nicht wie jemand, der zum Scherzen aufgelegt ist.

Ich drücke meinen Rücken gegen die Stuhllehne. »Nein, Sir.«

»Gut. Dann gibt es ja kein Problem.«

Endlich finde ich den Mut, seinen stechend blauen Augen zu begegnen. »Eigentlich … würde ich lieber in diesem London bleiben.«

Die Falten auf seiner Stirn werden tiefer, was ich als schlechtes Zeichen deute. »Das ist Ihr Fall, Ms Graham. Ich erwarte, dass Sie ihn auch zu Ende führen.«

Wenn er diesen strengen Tonfall nutzt, spart man sich besser den nächsten Kommentar. Heute lasse ich es jedoch darauf ankommen.

»Warum muss ich das machen? Naomi schafft das bestimmt auch ohne mich.«

»Ms Chok gehört nicht zum New Londoner Adel«, erwidert er. »Sie schon.«

»Und?«

Das Wort hängt in der Luft wie die Dampfschwaden aus seiner Wicked-Boss-Tasse.

»Und Sie wissen, wie elitär die Oberschicht ist. Als Außenstehende kommt man kaum an diese Leute heran.«

Am liebsten würde ich vergessen, dass ich in diesen Kreisen groß geworden bin. Für andere mag das wie ein Segen erscheinen, aber mir hat es wenig Gutes gebracht.

»Ich bin nicht unbedingt ein gern gesehenes Mitglied der Elite«, erinnere ich ihn.

»Trotzdem gehören Sie dazu.«

»Warum ist das wichtig? Wir haben keine Ahnung, aus welchem Teil der Hexengesellschaft die Person stammt, die diese Morde begangen hat.«

Der New Londoner Elite traue ich vieles zu, von perfiden Machtspielchen bis hin zu astreinen Verbrechen. Aber eine Mordserie in der Menschenwelt? Wenn ich eins über diese Leute gelernt habe, dann dass alles einem Zweck dienen muss, und den kann ich in diesem Fall beim besten Willen nicht erkennen.

Jonathan marschiert hinter seinen Schreibtisch und lässt sich auf dem Ledersessel nieder. Er nimmt einen Schluck aus der Kaffeetasse. »Solange wir im Dunkeln tappen, müssen wir jede Möglichkeit in Betracht ziehen. Deshalb brauche ich da drüben eine Detektivin, die Zugang zu allen Lokalitäten hat.«

»Und was, wenn ich keine Lust habe, diese Detektivin zu sein?«, wage ich zu fragen.

»Dann sollten Sie Ihre Motivation besser schnell finden.«

Mit den Fingern umklammere ich die Lehne meines Stuhls. »Sie wissen, dass ich dieser Gesellschaft den Rücken gekehrt habe!«

Hugo schreckt aus seinem Körbchen hoch, rollt sich dann jedoch zügig wieder zu einer niedlichen Fellkugel zusammen. Sofort tut es mir leid, dass ich meine Stimme erhoben habe.

Jonathans Gesichtsausdruck wird so eisig wie seine Augenfarbe. Irgendwo in diesem grimmigen Riesen steckt ein gütiger Kerl, der in Babysprache mit seinem geliebten Hund redet und manchmal eine Packung mit erlesenen Kaffeebohnen vor unserer Wohnungstür abstellt. In diesem Moment sehe ich jedoch nur den knallharten Chef der magischen Abteilung vor mir.

»Das weiß ich«, bestätigt er, und dieser ruhige Tonfall klingt weitaus bedrohlicher als jeder Wutausbruch. »Aber als Sie und Ms Chok in diese Welt gekommen sind, haben Sie mich um Hilfe gebeten. Sie wollten in dieser Stadt leben und etwas Sinnvolles tun. Deshalb habe ich Ihnen die Chance gegeben, sich zu beweisen.«

»Haben wir das denn nicht getan?«

Er nimmt noch einen Schluck Kaffee, ohne den Blickkontakt abzubrechen. »Das haben Sie. Aber es gehört zu Ihrem Job, es immer wieder aufs Neue zu tun. In diesem Augenblick läuft hinter dem Schleier jemand herum, der in der Menschenwelt mordet. Es ist unsere verdammte Pflicht, diese Person zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen. Leben stehen auf dem Spiel!«

Ein Hauch von Verzweiflung huscht über sein ernstes Gesicht. Jonathan hat immer alles im Griff und weiß auf jede Frage eine Antwort. Ihn so ratlos und gestresst zu erleben, verunsichert mich.

»Unsere Aufgabe besteht darin, sämtliche Verbrechen aufzuklären, die von Hexen auf englischem Boden begangen werden«, fährt er fort. »Wer auch immer für diese Morde verantwortlich ist, muss seine gerechte Strafe erhalten. Dafür brauche ich Ihre Hilfe. Ich weiß, wie schwer das für Sie ist, aber es geht nicht anders. Bitte.«

Ich will ablehnen. Bei meiner Entscheidung bleiben, die ich vor vier Jahren getroffen habe. Seitdem ich meine Heimat verlassen habe, bin ich nur an den hohen Hexenfeiertagen nach New London zurückgekehrt. Zu den Personen, die ich liebe, nicht zu der Gesellschaft, die mir inzwischen gleichgültig ist. Ich verbringe Zeit mit meiner Familie, und dann verschwinde ich wieder. Genau so dürfte es gern für immer bleiben. Doch dieses eine Wort, das aus Jonathans Mund fremd klingt, geht mir nicht aus dem Kopf. Dieser Mann hat mich nie zuvor um etwas gebeten. Er befiehlt.

»Da ist noch mehr, oder?«, frage ich.

Er starrt die aufgeschlagene Akte auf seinem Tisch an. »Es gibt ein Muster. Die Morde wurden alle bei Vollmond verübt.«

»Was bedeutet das?«

»Nichts Gutes, so viel steht fest. Bei Jack the Ripper gab es auch ein Muster. Seine Opfer waren alle weibliche Herbsthexen, und sie kamen äußerst gewaltvoll ums Leben. Wäre er damals nicht von unserer Abteilung gefasst und ins Gefängnis von New London gesteckt worden, hätte er halb England mit einem verheerenden Wirbelsturm verwüstet.« Jonathan stützt sein spitzes Kinn auf der Handfläche ab. »Wenn Hexen mehrfach töten, haben Muster meistens einen Grund. Und es ist nie ein guter.«

Bei seinen Worten wird mir trotz der kräftigen Sonnenstrahlen, die in das Büro fallen, eiskalt.

Der Tod hat Macht, das weiß jede Hexe. Er kann Nährboden für Zauber sein, die normalerweise keine von uns wirken könnte oder können sollte. Wir werden lediglich mit der Gabe geboren, eines der vier Elemente zu beherrschen, je nachdem, zu welcher Jahreszeit wir das Licht der Welt erblickt haben. Solche verbotenen Zauber übersteigen unsere natürlichen Fähigkeiten.

Jonathan sieht mich abwartend an.

Alles in mir sträubt sich dagegen, seiner Bitte nachzukommen. Eine andere Person könnte bestimmt genauso gut ermitteln, schließlich ist es unwahrscheinlich, dass ein Mitglied der Elite etwas mit den Vorfällen zu tun hat. Die meisten haben wegen der kommenden Ballsaison gerade andere Dinge im Kopf, und ich kann mir kaum vorstellen, warum einer von denen sein Luxusleben riskieren sollte. Aber diese Sache ist Jonathan wichtig. Vor vier Jahren hat er sein Vertrauen in uns gesetzt, obwohl wir erst achtzehn waren und keinerlei Erfahrung auf dem Gebiet der Detektivarbeit hatten. Er hat uns eine Wohnung in seinem Haus verschafft und uns jegliche Unterstützung angeboten, damit wir uns schnell in dieser fremden Welt zurechtfinden. Wir verdanken ihm so viel.

»Also schön. Ich mach’s.«

»Danke«, erwidert er und durchforstet seine Unterlagen. Dann schiebt er mir einen Zettel zu. »Das sind die Namen der Opfer. Bisher konnten wir nur wenig über sie herausfinden, deshalb ist davon auszugehen, dass sie ebenfalls Hexen waren.«

Ich sehe mir die Namen auf der Liste an. Florence Parker, Emma Morris, Josephine Hill und Milton Nicholls. Keine außergewöhnlichen Namen in meiner alten Heimat. Der dritte kommt mir vage bekannt vor.

»Hier sind die Akten«, sagt Jonathan und händigt mir einen Stapel Mappen aus. »Ms Chok wird Sie begleiten. Sie brauchen schließlich jemanden, der Sie von waghalsigen Aktionen abhält.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Habe ich in der Hinsicht je auf Naomi gehört?«

Er schmunzelt. »Nein. Aber ich schlafe besser, wenn ich weiß, dass es zumindest irgendwer versucht.«

Ich erwidere sein Lächeln halbherzig. Sollte Naomi dabei so hartnäckig vorgehen wie gestern Nacht, bleibt es wahrscheinlich bei dem Versuch.

»Eins noch«, sagt Jonathan. »Erzählen Sie niemandem, weshalb Sie dort sind. Nicht einmal Ihren Familien.«

»Wieso? Unsere Familien haben sicher nichts damit zu tun.«

Seine Miene wird ernst. »Das habe ich auch nicht angenommen. Aber Sie wissen, wie schnell sich Gerüchte in New London verbreiten. Man muss sich nur einer einzigen Person anvertrauen, damit ein regelrechtes Lauffeuer entsteht. Wenn Sie ungehindert ermitteln wollen, darf absolut niemand wissen, was Sie tun, sonst ist der Täter oder die Täterin Ihnen immer einen Schritt voraus. Falls Ihre Nachforschungen auffliegen, geraten Sie unter Umständen selbst ins Visier. Schlimmstenfalls bringen Sie Ihre Familien dadurch sogar in Gefahr. Wollen Sie das?«

»Natürlich nicht.«

»Gut.«

Langsam verstehe ich, warum er uns von Anfang an verboten hat, mit anderen über unsere Arbeit zu sprechen.

»Was genau soll ich den Leuten drüben überhaupt erzählen?«, frage ich. »Einen Urlaub kauft mir wohl kaum jemand als Grund für meinen Besuch ab.«

»Sie könnten Interesse an der Ballsaison vorschieben.«

Mir entfährt ein trockenes Lachen. Seit der Sache vor vier Jahren habe ich mich auf keiner einzigen Feier mehr blicken lassen, das würde mir also niemand glauben.

Es war nur ein Kuss, Reva. Für diesen einen Augenblick habe ich vergessen, wer ich bin. Aber das wird mir nicht noch einmal passieren. Wegen eines einzigen Moments der Schwäche gefährde ich nicht mein Erbe. Dafür wird es nie genug sein.

Gabriels Worte von jenem Abend suchen meine Gedanken noch immer heim, wie ein Echo, das nie ganz verklingt. Den Wunsch, New London den Rücken zu kehren, hatte ich bereits lange zuvor. Trotzdem war dieser eine Vorfall der berühmte Tropfen auf den heißen Stein, der mich hat begreifen lassen, wie sehr ich die Hexengesellschaft und ihre Vorurteile verabscheue.

»Ich kann es mit einem Familienbesuch probieren«, sage ich und verdränge die Erinnerung. »Allerdings werden meine Geschwister skeptisch sein.«

Jonathan lehnt sich zurück. »Solange Sie den wahren Grund für sich behalten, kann ich damit leben.«

Ich nehme einen tiefen Atemzug und stehe auf, während er sitzen bleibt.

»Viel Erfolg, Reva. Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

»Machen wir.«

Bevor ich den Raum verlasse, verabschiede ich mich von Hugo, der mich träge anblinzelt. Manchmal wäre ich lieber Jonathans Hund als seine Mitarbeiterin.

Zurück auf meinem Platz im hinteren Teil des Großraumbüros, starre ich aus dem Fenster. Von hier aus habe ich einen freien Blick auf den Heron Tower, der majestätisch in den Himmel aufragt. Solche Stahlriesen gibt es in New London nicht. Keine Autos, die ihre Abgase in die Welt pusten. Keine U-Bahn, keine Busse und keine lärmenden Flugzeuge, weil ohnehin nur ein einziges öffentliches Verkehrsmittel genutzt wird. Kein Internet, keine Smartphones und auch sonst keine Technik. Am Anfang war mir diese moderne Welt fremd, aber inzwischen ist es seltsam, mir ein Leben ohne all das vorzustellen.

Dafür wird es nie genug sein.

Kopfschüttelnd wende ich mich dem Papierkram auf meinem Tisch zu. Warum denke ich ausgerechnet jetzt wieder an diese Worte? Meine Tränen sollten längst versiegt sein. Er hat das, was zwischen uns war, in etwas Unbedeutendes verwandelt. Etwas, das so belanglos ist, dass es genauso gut eine Illusion hätte sein können.

Vielleicht war es am Ende ja genau das. Ein Fiebertraum von einem Kuss im Morgengrauen, der sich niemals wiederholen wird.

Mit dem Zeigefinger massiere ich die Stelle zwischen meinen Augenbrauen. Statt auf die Vergangenheit sollte ich mich auf die Zukunft konzentrieren, denn mir bleibt nur ein knapper Monat bis zum nächsten Vollmond und damit wahrscheinlich zum nächsten Mord. Oder bis wir herausfinden, welchem dunklen Zweck diese Taten dienen.

Kapitel 3

Im Gegensatz zu vorgestern Nacht wirkt der Friedhof in der Dämmerung richtig idyllisch. Die Morgensonne wärmt mein Gesicht und taucht die einsamen gewundenen Pfade zwischen den kunstvollen Grabsteinen in einen feurigen Schein. Auf der anderen Seite des Schleiers werde ich so einen Anblick nur selten bewundern können. Mit nur drei Sonnenstunden täglich, zwischen zwei und fünf Uhr nachts, ist New London ein Paradies für Mondgeborene, die den Großteil der Bevölkerung dort ausmachen. Das gesamte Leben der Hexengesellschaft spielt sich bei Dunkelheit ab, und wer das Pech hat, bei Tageslicht geboren worden zu sein, ist dazu verdammt, den Alltag mit geschwächten Kräften zu bewältigen.

»Ich werde mein Smartphone vermissen«, seufzt Naomi. »Meine Reichweite wird so was von im Keller sein, wenn wir zurückkommen. Ich musste meinen Followern ankündigen, dass ich mir eine Auszeit im Schweigekloster nehme, um meine innere Mitte zu finden.«

Das entlockt mir ein leises Lachen. »Die ist wahrscheinlich das Letzte, was wir da drüben finden.«

»Glaube ich auch. Aber wenigstens kann ich mich mit Mums Mangopudding trösten.«

Beim Gedanken an das himmlisch süße Dessert werde ich sofort hungrig. Nicht einmal die unzähligen Köstlichkeiten im nicht-magischen London können mit den Kreationen von Naomis Mutter mithalten. Als Frühlingshexe kann sie die meisten Zutaten in kürzester Zeit wachsen lassen, sodass sie immer frisch sind. Ich liebe ihren herrlich chaotischen Garten und die lauschige Atmosphäre in ihrem kleinen Kaffeehaus.

»Vielleicht sollte ich mich bei euch einquartieren«, sinniere ich.

Naomi starrt mich ungläubig von der Seite an. »Ist das dein Ernst? Abgesehen von der Bernsteinvilla ist euer Anwesen das schönste Gebäude in ganz New London.«

»Weil es eher an ein Museum als an ein Zuhause erinnert.«

»Ein verdammt schönes Museum.«

Beim alten Torbogen angekommen, lege ich meine Hand auf den rauen, kühlen Stein. Als ich meine Magie rufe, entsteht unter meinen Fingern ein leuchtend blauer Kreis mit einem Pentagramm in der Mitte. Das verwitterte Gittertor verschwindet, und an seine Stelle tritt ein fast durchsichtiger Schleier, der hin und her wabert.

Ich sehe Naomi abwartend an.

Sie tritt vor das Schleiertor und zieht sich die Kapuze ihres purpurnen Umhangs über den Kopf. Jetzt sieht sie aus wie eine waschechte Sommerhexe, die gleichzeitig als Laufstegmodel durchgehen könnte. Ich ziehe mir die Kapuze meines eigenen Umhangs über, der etwas unspektakulärer ist – schwarz, so wie meine Haare und die meiste Kleidung, die ich in der Menschenwelt besitze.

Mit kräftig pochendem Herzen folge ich Naomi durch das Tor.

Den Schleier zu passieren, fühlt sich an, als wagte man mit geschlossenen Augen den Schritt in einen Abgrund. Für einen Moment falle ich ins Bodenlose, ohne zu wissen, wo ich bin. Doch als ich das nächste Mal blinzele, stehe ich nicht länger auf dem Friedhof, sondern in einem kleinen Pavillon, an dessen Säulen sich Rosen hinaufranken und der sich zwischen zwei Häusern befindet.

Wir gehen die Stufen hinunter. Über uns spannt sich erwartungsgemäß der Nachthimmel. Anders als im nicht-magischen London sind hier Abertausende Sterne sichtbar, die filigrane Bilder auf der tintenblauen Leinwand aus Dunkelheit darstellen. Manche von ihnen rauschen als Kometen darüber hinweg, vorbei am silbernen Mond, der über seine Stadt wacht und meine Kräfte dämpft.

Frustriert starre ich auf mein Handgelenk. Die goldene Sonne ist dort jetzt wieder sichtbar. Wir Hexen tragen dieses magische Zeichen seit unserer Geburt auf unserer Haut, darum können wir auf dieser Seite des Schleiers niemals leugnen, was wir sind.

Neben mir atmet Naomi tief ein. »Mh, frische Luft.«

Ich weiß sofort, was sie meint. Keine Abgase, kein stinkender Müll oder andere unangenehme Gerüche. Nur reine, kühle Luft, in der ein Hauch von vergangenem Regen hängt.

Wir gelangen über eine Seitengasse auf eine der Hauptstraßen von New London. Trotz der Finsternis ist es früh am Morgen, darum schlägt uns eine geschäftige Atmosphäre entgegen. Die schwarzen, magiebetriebenen Kutschen donnern mit ihren schmalen Rädern über das feucht glänzende Pflaster. Absätze klackern in kurzen Abständen über den Boden, und an einem Stand in der Nähe verkauft ein junger Mann lautstark die neueste Ausgabe der New London Daily.

Ich gebe es nur ungern zu, aber ich habe diesen Ort tatsächlich vermisst. Obwohl ich es am liebsten unterdrücken würde, überkommt mich jedes Mal dieses ganz bestimmte Gefühl von Heimat, wenn ich zurückkehre. Könnte man Emotionen doch nur so leicht hinter sich lassen wie Städte …

Naomi und ich bleiben unter einer der verzierten Straßenlaternen stehen, in denen kein elektrisches Licht, sondern blaue Flammen brennen. Das magische Feuer spiegelt sich in den Pfützen auf dem Boden und verleiht der Stadt ein mystisches Flair.

Ich lasse den Blick weiter schweifen. »Tja, da sind wir wieder.«

Naomi reibt sich über ihren Nacken. »Wir könnten erst mal unseren Familien einen Besuch abstatten, bevor wir weitersehen.«

»Gute Idee. Dann kann ich Daisy gleich fragen, ob sie mir Zugang zu den Archiven verschafft. Wenn es irgendwo Informationen zu den Opfern gibt, finden wir sie dort.«

»Meinst du, deine Schwester kann uns helfen? Ohne offizielle Erlaubnis kommt da niemand rein.«

»Sie ist Ratsmitglied. Das muss doch für etwas gut sein.«

»Auch wieder wahr«, stimmt Naomi mir zu. »Sag Bescheid, wenn du meine Hilfe brauchst.«

»Mach ich.«

Nachdem wir uns getrennt haben, steige ich in die erstbeste Kutsche, die ich am Straßenrand finde. Das Innere ist mit dunkelblauem Samtpolster ausgekleidet und bequemer als jedes öffentliche Verkehrsmittel in der Menschenwelt. Ich lege meine Hand auf den durchsichtigen Kristall, der unter dem Fenster in die hölzerne Verkleidung zwischen den Sitzbänken eingearbeitet ist. So detailliert wie möglich rufe ich mir das Anwesen meiner Familie in Erinnerung, bevor ich meine Magie in den Edelstein fließen lasse. Daraufhin wechselt der Kristall die Farbe, sodass er jetzt wie ein Saphir aussieht.

Als hätte ich einen geheimen Knopf betätigt, schlägt die Tür zu, und blaues Feuer entzündet sich in der Laterne, die außen an der Kutsche hängt. Dann rollt sie los.

Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Ich liebe Magie.

Die gesamte Fahrt über starre ich aus dem Fenster. Alte, herrschaftliche Häuser im viktorianischen Baustil ziehen an mir vorbei und ragen dunkel im schummrigen Licht der magischen Laternen auf. Neben den breiten Straßen eilen Hexen und Hexer in feinen, verzierten Umhängen über die Gehwege. Mit den verschiedenen Farben, Mustern und Stoffen drücken sie ihre Persönlichkeit oder ihre Zugehörigkeit zu einem der großen vier Hauptbezirke der Stadt aus. Grün und Gold stehen für das Frühlingsviertel, Rot und Gelb für das Sommerviertel, Grau und Violett für das Herbstviertel und sämtliche Blautöne für das Winterviertel – meinen Bezirk.

Als ich ihn erreiche, macht sich ein vorfreudiges Kribbeln in meiner Magengrube breit. Hier herrscht mein Element vor, was man an den vielen magisch beleuchteten Teichen, den kunstvollen Springbrunnen und den opulenten Wasserspeiern erkennt. Zarte Nebelschwaden liegen über den Wasserflächen, an deren Rändern blaue Glühwürmchen tanzen.

Sobald die Kutsche am Straßenrand stehen bleibt, steige ich aus. Der Geruch von Regen, feuchten Pflanzen und Kälte dringt in meine Nase. Es duftet unverwechselbar nach Heimat.

Das Anwesen meiner Familie ist ein hufeisenförmiges Gebäude aus hellgrauem, beinahe weißem Stein, dessen silbern verzierte Spitzbogenfenster das Mondlicht reflektieren. Ihre Maße lassen die enorme Deckenhöhe im Inneren erahnen, und bereits aus der Ferne fühle ich mich klein und unbedeutend, wenn ich mein Zuhause betrachte.

Andächtig betrete ich den Pfad, der zum Eingang führt. Schwarze Nachtfalter flattern über den Teich im Vorgarten und setzen dabei leuchtend blauen Staub frei. Als ich an ihnen vorbeikomme, suchen sie Zuflucht auf den Blumen in der Wiese, deren violette Blüten sich sehnsüchtig Richtung Sternenhimmel strecken.

Die dunkelblau lackierte Eingangstür des Anwesens überragt mich um das Doppelte. Statt mit dem Klopfer gegen das Holz zu schlagen, lege ich meine Hand auf das sternenförmige, mit Wasser gefüllte Glaselement, das sich auf der Höhe meines Kopfes befindet. Ganz ohne Anwendung von Magie gefriert es unter meiner Berührung zu Eis, und die Tür entriegelt sich.

Willkommen daheim, denke ich zufrieden.

Ich betrete das Anwesen, dessen Eingangshalle bereits größer ist als meine gesamte Wohnung in der Menschenwelt. Mit einem einzigen der tropfenförmigen Diamanten, aus denen der Kronleuchter an der Decke besteht, könnte ich dort Jahre über die Runden kommen. Selbst für die schillernden Fische im Wasserbecken, das im Marmorboden eingelassen ist, ließen sich bestimmt gut zahlende Abnehmer finden.

Dieses Haus ist eigentlich nicht dafür geschaffen, in ihm zu wohnen. Vielmehr dafür, um mit ihm anzugeben. Jedes Möbelstück ist ein Kunstwerk, veredelt durch aufwendige Schnitzereien und silberne Bemalung.

Ich lege meinen Umhang ab. Obwohl der tiefblaue Teppich in den Korridoren meine Schritte dämpft, bemerken mich die Angestellten. Einige bleiben stehen und senken ihre Köpfe, als ich an ihnen vorbeigehe. Nur Julien, dessen Vollbart inzwischen ergraut ist, begegnet mit seinen gütigen Augen meinem Blick.

»Lady Reva«, grüßt er mich überrascht. »Man hat uns gar nicht über Ihr Eintreffen informiert. Wir hätten Ihr Zimmer hergerichtet, wenn –«

»Es ist ein spontaner Besuch«, beruhige ich ihn schnell. »Meine Familie ist genauso ahnungslos wie Sie.«

Er lockert seine steife Haltung etwas. »Oh, da werden sie sicher erfreut sein! Ist es Ihnen in den letzten Monaten denn wohl ergangen?«

»Alles bestens. Ich hoffe, hier ist alles gut?«

»Soweit ich das beurteilen kann, Mylady«, sagt er lächelnd. »Lord Rami verbringt die meiste Zeit in seinem Atelier, Lady Daisy hat mit Ratsangelegenheiten zu tun, und Ihr Vater arbeitet an einem Entwurf für eine neue öffentliche Bibliothek.«

Klingt, als hätte sich in meiner Abwesenheit wenig verändert.

»Dann sehe ich wohl gleich mal nach dem Rechten«, meine ich.

»Sollen wir uns um Ihre Räumlichkeiten kümmern, Mylady?«

»Nicht nötig, danke. Und Julien? Sagen Sie doch Reva zu mir. Alles andere klingt so förmlich.«

Einen Moment lang sieht er mich an, als hätte ich ihm vorgeschlagen, das Dessert für das Abendessen an die Fische zu verfüttern. »Wie Sie wünschen, Reva. Es ist mir eine Ehre.«

»O nein, bitte. Auch wenn Sie für meine Familie arbeiten, müssen Sie mich nicht auf ein Podest stellen.«

Hoffentlich nimmt er sich meine Worte mehr zu Herzen als beim letzten Mal, als ich ihm das gesagt habe. Es ist seltsam, mit diesem Titel angesprochen zu werden.

Ich nehme die Treppe ins obere Stockwerk. Statt mein Zimmer aufzusuchen, betrete ich Ramis Atelier, aus dem ein gut gelauntes Summen dringt. Mit hoch konzentrierter Miene arbeitet mein Bruder an einer Eisstatue, die auf einem Steinsockel steht. Es ist nur eine von vielen, die sich in diesem Raum befinden und nie schmelzen, da sie mithilfe von Magie gefertigt wurden. Das Mondlicht, das durch die blauen Mosaikfenster hereinfällt, lässt sie wunderschön glitzern.

»Planst du eine Ausstellung, oder ziehst du jetzt gefrorene Gesellschaft vor?«, frage ich.

Rami fährt zusammen. Seine dunklen, mit silberfarbenem Kajal umrandeten Augen werden groß, als er mich erblickt. Zuerst scheint er mich für eine zum Leben erwachte Eisskulptur zu halten, doch dann taucht das schelmische Grinsen auf seinen Lippen auf, mit dem er absolut jeden um den Finger wickelt.

»Beides.« Er mustert mich. »Und du? Planst du, die Wahl zur am schlechtesten gekleideten Hexe zu gewinnen, oder hast du nur zu viel Zeit unter Menschen verbracht?«

»Beides?«

Eine Weile starren wir uns an, bevor wir in Gelächter ausbrechen. Dann schlendert Rami auf mich zu und schließt mich fest in die Arme. Er ist so kalt wie jemand, der zu lange in einem Kühlhaus eingesperrt war.

»Hab dich vermisst, Schwesterchen.«

»Wirklich?«, frage ich und löse mich von ihm. »Warum sehe ich dann keine Statue von mir?«

Mein Bruder blickt an mir hinab. »Hätte ich eine, müsste ich sie wohl anpassen. Seit deinem letzten Besuch hast du dich ziemlich verändert. Offenes Haar, roter Lippenstift … und hast du etwa deine Brauen gezupft?«

Reflexartig fahre ich mir über eine Augenbraue. »Du klingst, als käme das einem Wunder gleich.«

»Ist eben eine Premiere. Du machst doch keine Krise durch, oder?«

»Muss ich erst eine Krise durchmachen, bevor ich mich um mein Aussehen kümmern darf?«, frage ich entrüstet.

Rami hebt die Hände. »Das sollte keine Kritik sein. Nach meiner Trennung von Cynthia hab ich mir ein Muster in die Frisur rasiert, erinnerst du dich?«

Ich betrachte sein schwarzes Haar, das inzwischen nachgewachsen ist und wild in alle Himmelsrichtungen absteht. »Tu das nie wieder, das war grauenhaft.«

»Was?«, ruft er empört. »Ihr habt gesagt, das lässt mich rebellisch aussehen!«

»Weil wir dich lieben.«

»Ihr habt gelogen? Sogar Daisy?«

»Sie hat geheult, nachdem sie es gesehen hat.«

An dem Tag habe ich sie zum ersten Mal wieder weinen sehen, seit sie in dem berüchtigten Menschenkunde-Test nicht die Bestnote bekommen hat. Unsere Schwester vergießt so gut wie niemals Tränen. Sie bringt höchstens andere dazu, was hilfreich sein kann, wenn die Leute gemein zu einem sind.

Rami wirkt ernsthaft geschockt. »Also, von dir hätte ich es ja erwartet, aber seit wann lügt Daisy mich an?«

Ich fasse mir theatralisch an die Brust. »Deine brüderliche Liebe rührt mich zutiefst.«

»Jaja. Sag mir lieber mal, was du hier machst, wenn wir schon bei Geschwisterliebe sind. Ich weiß, wir sind dein Ein und Alles, aber sonst tauchst du nie unangekündigt auf.«

»Vielleicht habe ich euch ja vermisst?«

»Natürlich hast du das«, erwidert er selbstgefällig. »Aber wir hätten dich auch besuchen können.«

Am liebsten würde ich ihm erzählen, weswegen ich hergekommen bin. Rami ist Rami. Mein genialer Bruder mit einem Herzen aus Gold. Er würde kein Sterbenswörtchen verraten, da bin ich mir sicher. Trotzdem habe ich Jonathan versprochen, das Ganze geheim zu halten, also werde ich genau das tun.

»Ich habe was zu erledigen. Eventuell hatte ich auch ein bisschen Sehnsucht nach der Stadt.«

Obwohl ich es mir ungern eingestehe, ist sogar der letzte Teil keine Lüge.

Rami mustert mich skeptisch. »Nach dem Vorfall in der Bernsteinvilla hast du die Stadt ziemlich gemieden.«

»Ich habe die Leute gemieden.«

»Du hast mir immer noch nicht verraten, was genau da eigentlich passiert ist.«

Ich wende den Blick ab. »Werde ich auch nie. Zu unangenehm.«

»Daisy hast du es erzählt«, schmollt er. »Ich meine … du hast das halbe Anwesen mit Frost überzogen, und ich habe keine Ahnung, warum. Die New London Daily hat darüber berichtet!«

Daran erinnere ich mich lebhaft, auch wenn ich keinen einzigen dieser reißerischen Artikel gelesen habe.

»Was war denn deren Vermutung?«, frage ich.

»Angeblich bist du ausgerastet, weil dich jemand beleidigt hat.«

Hm. Überraschend nah dran.

»Ich wollte bloß die Dekoration aufpeppen«, behaupte ich.

Rami lächelt schief. »Ja, mit dem ganzen Eis sah die deutlich besser aus. Kaufe ich dir aber trotzdem nicht ab.«

»Schade.«

Er öffnet den Mund, lässt es dann jedoch gut sein. Das schätze ich so an meinem Bruder. Er versucht niemals, den Finger in eine Wunde zu pressen, wenn er merkt, dass sie noch schmerzt. Irgendwann werde ich es ihm erzählen, ganz sicher. Nur nicht unbedingt heute.

»Und wie geht’s dir?«, frage ich ihn.

»Großartig. Ich danke den Sternen jeden Tag für meine Freiheit. Für den Erstgeborenen einer Adelsfamilie ist die nicht selbstverständlich.«

Da hat er recht. Die vier adligen Hexenfamilien von New London haben je einen Sitz im Hohen Rat inne, der höchsten politischen Instanz der Stadt. Während in zwei von ihnen der erstgeborene Sohn den Sitz erbt, werden die Sitze der anderen beiden Familien an die erstgeborene Tochter weitergegeben. Zu Ramis Glück zählt unsere zu Letzteren.

»Du hättest den Sitz ausschlagen können«, sage ich.

»So wie du?«

Seine Frage hängt schwer im Raum. Sofort meldet sich mein schlechtes Gewissen, weil das Erbe meiner Mutter eigentlich mir vorherbestimmt war. Es fortzuführen, war meine Aufgabe, der ich mich entzogen habe. Jetzt trägt unsere Schwester diese Bürde für mich.

»Wie kommt Daisy zurecht?«, frage ich vorsichtig.

»Bestens. Aber das kann sie dir selbst erzählen.« Er deutet auf etwas hinter mir.

Als ich mich umdrehe, steht meine Schwester im Türrahmen. Obwohl sie ein Jahr jünger ist als ich, hat sie schon immer wie die Ältere gewirkt. Dieser ernste, selbstbewusste Gesichtsausdruck verleiht ihr eine natürliche Autorität, die durch das Saphirdiadem auf ihrem Kopf noch verstärkt wird. Einst hat es unserer Mutter gehört. Es passt perfekt zu Daisys blauen Augen. Sie ist die Einzige von uns, die diese Farbe von Mum geerbt hat. Vielleicht war es ja Schicksal, dass sie eines Tages auch ihr politisches Erbe übernimmt. Möglicherweise rede ich mir das aber auch nur ein, um mich besser zu fühlen.

»Du bist zurück«, sagt sie überrascht.

Wenn sie mich mit diesem entschlossenen Blick ansieht, verspüre ich den Drang, auf die Knie zu fallen. Diese Wirkung hat sie auf so ziemlich jeden.

Ich nicke. »Für wie lange, weiß ich noch nicht. Aber es ist schön, euch zu sehen.«

Jetzt huscht ein flüchtiges Lächeln über ihre Lippen. »Du bist doch wohl nicht nur wegen uns gekommen, oder?«

Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Warum glaubt eigentlich niemand, dass ich Sehnsucht nach meiner Familie hatte?«

»Weil du es kaum erwarten konntest, volljährig zu werden und aus New London abzuhauen«, erwidert sie.

Schuld legt sich wie ein kalter Schatten über mich.

»Das lag aber nicht an euch«, stelle ich klar.

Rami grinst. »Wissen wir.«

»Also?«, hakt Daisy nach. »Was verschafft uns die Ehre?«

»Das … kann ich euch nicht sagen. Berufsgeheimnis. Aber ich muss dich um etwas bitten.«

Meine Schwester kneift die Augen zusammen, als versuchte sie, in meinen Kopf zu gucken. »Worum geht es?«

»Ich brauche Zugang zu den Archiven. Und ich hatte gehofft, du könntest ihn mir verschaffen.«

Eine ganze Weile gibt sie keinen Ton von sich, während Rami sich klammheimlich wieder seiner Arbeit an der Eisskulptur widmet.

»Tut mir leid«, sagt meine Schwester mit ehrlichem Bedauern. »Da sind mir die Hände gebunden.«

»Du bist doch Ratsmitglied. Kannst du das nicht veranlassen?«

Sie schüttelt den Kopf. »Ich dürfte selbst hinein, wenn ich einen guten Grund hätte. Ansonsten darf niemand ohne offiziell bewilligten Antrag die Archive betreten.«

Verdammter Mist. Einen Antrag einzureichen, würde zu viel Zeit kosten. Außerdem überprüft der Rat solche Dinge häufig mit einem Wahrheitskristall, also könnte ich keinen falschen Grund für mein Gesuch vorschieben.

Ich sehe meine Schwester flehend an. »Gibt es keine andere Möglichkeit? Es ist wichtig!«

Sie überlegt. »Nur eine. Ein Ratsmitglied kann jeder Person den Zutritt zu einem öffentlichen Gebäude erteilen, das sich in seinem eigenen Bezirk befindet. Die Archive gehören zum Frühlingsviertel, also …«

»Auf keinen Fall.«

Wir wissen beide, welche Adelsfamilie im Frühlingsviertel lebt. Wer diesen Sitz innehat.

Daisys Miene wird mitfühlend. Manchmal bröckelt ihre beherrschte Fassade und ermöglicht einen Blick auf die liebevolle Schwester, die sich jede Sekunde ihres Lebens um ihre Familie sorgt. Ihr habe ich erzählt, was vor vier Jahren in der Bernsteinvilla passiert ist. Die Antwort war ich ihr schuldig, nachdem ich beschlossen hatte, mein Erbe an sie abzutreten.

»Ich muss wissen, wonach du suchst, sonst kann ich dir nicht helfen«, sagt sie sanft.

Soll ich sie einweihen? Immerhin hat sie mein größtes Geheimnis bewahrt, also würde sie dieses sicher genauso für sich behalten. Aber sie gehört auch dem Rat an und ist damit der Stadt verpflichtet. Wenn sie erfährt, dass ein gefährlicher Mörder in New London herumläuft, muss sie handeln. Ich würde sie in die Sache hineinziehen, und das will ich nicht. Daisy hat schon genug für mich geopfert, da werde ich es doch wohl schaffen, für ein paar Minuten meinen Stolz zu vergessen.

Ich seufze. »Tut mir leid, aber das muss ein Geheimnis bleiben.«

»Reva …«

»Mach dir keine Sorgen. Dann werde ich der Bernsteinvilla eben einen Besuch abstatten.«

»Bist du sicher, dass du da seit dem letzten Mal kein Hausverbot hast?«, fragt Rami, während er seiner Skulptur eine neue Nase verpasst.

»Ist wohl an der Zeit, das herauszufinden«, meine ich betont lässig.

Daisys skeptischer Gesichtsausdruck verrät, dass sie mir diese Leichtigkeit nicht abkauft.

»Zuerst musst du was anderes anziehen«, empfiehlt mein Bruder. »Diese traurige Menschenkluft schadet deinem Ruf mehr als jeder Party-Ausraster.«

Ich runzele die Stirn. »Was hast du für ein Problem mit meiner Lederjacke?«

»Du glaubst, es gibt nur ein Problem?«

»Vielen Dank auch, Bruderherz«, schnaube ich und wuschele ihm kräftig durch seine Sturmfrisur. »Wir reden weiter, wenn ich wieder da bin.«

Auf meinem Weg hinaus berührt Daisy mich flüchtig am Arm. Eine zögerliche Geste, die bei ihr trotzdem bestimmt wirkt.

»Pass auf dich auf, ja?«, wispert sie.

Auch wenn sie es nicht ausspricht, weiß ich genau, was sie damit sagen will. Pass auf dein Herz auf.

Kapitel 4

Naomi hatte recht, die Bernsteinvilla ist das schönste Gebäude der ganzen Stadt. In ihrem weitläufigen, sorgsam gepflegten Vorgarten blühen gefühlt eintausend verschiedene Blumen in jeder Farbe des Regenbogens. Sie verströmen einen betörend süßen Duft, der unzählige Nachtfalter und Glühwürmchen anlockt. Abgesehen von den farbenfrohen Blüten ist alles an diesem Ort in einen Hauch von Gold getaucht. Die weiße Farbe an der Fassade der Villa scheint selbst bei Dunkelheit golden zu schimmern, an den Bäumen wachsen goldgelbe Blätter, und Laternen erleuchten den Pfad zum Hauptgebäude.

Es ist atemberaubend.

Wie oft ich wohl schon in den wenigen Sonnenstunden des Tages hier gewesen bin? Wie viele Male habe ich mich im Heckenlabyrinth verlaufen, das sich hinter dem Haus befindet? An den blauen Rosen im Garten gerochen, die ausschließlich in der magischen Welt wachsen und nach einer Mischung aus Blaubeeren und einem Hauch von Regen duften?

Hör auf, daran zu denken, ermahne ich mich.

Kurz darauf springt mir etwas ins Auge, das die Schönheit dieses Ortes wie ein Tropfen dunkler Tinte trübt. Ein roter, bedrohlich wirkender Schriftzug an der Mauer, die das Grundstück von der Straße abtrennt.

Verräter raus aus dem Rat.

Was soll das denn?

Nachdenklich betrete ich das Gelände und bleibe vor dem Eingang stehen, wo ich den goldenen Türklopfer gegen das Holz schlage. Als endlich jemand öffnet, stehen ein Mädchen und ein Junge vor mir. Sie sehen sich extrem ähnlich und grinsen mich breit an.

»Wow, seid ihr groß geworden«, entfährt es mir.

»Reva!«, ruft Grace erfreut.

Charlie strahlt mich an. »Was machst du denn hier?«

Die Energie der beiden dunkelblonden Lockenköpfe ist fast schon greifbar. Seit ich sie das letzte Mal gesehen habe, sind sie ein ganzes Stück gewachsen, und die niedlichen Zahnlücken sind verschwunden.

»Ist euer Cousin da?«, frage ich.

Grace nickt eifrig. »In seinem Arbeitszimmer. Hat immer wichtige Sachen zu tun.«

Ich lächele in mich hinein. Natürlich arbeitet er auch samstags.

»Soll ich ihn holen?«, will Charlie wissen.

»Das wäre großartig.«

Oder eine Katastrophe. Bevor ich meine Meinung jedoch ändern kann, ist er bereits losgestürmt, als hinge sein Leben davon ab, seinen Cousin zu finden.

»Komm doch rein!«, schlägt Grace vor. Sie springt euphorisch zur Seite.

Mein Herz rast ganz erbärmlich. Bei den Sternen, dieser Besuch war eine miese Idee. Was habe ich mir nur dabei gedacht, herzukommen?

Okay, bleib ruhig. Du kannst das.

Ich betrete die Eingangshalle, in der ein beeindruckender Apfelbaum zwischen den beiden gewundenen Treppen thront, die zu einer Empore hinaufführen. Der Baum steht in voller Blüte, und an seinen Ästen hängen saftige rote Früchte. Eigentlich eine Unmöglichkeit. Es sei denn, man befindet sich im Haus von fähigen Frühlingshexen.