Oder? - Judith Keller - E-Book

Oder? E-Book

Judith Keller

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Beschreibung

Alice Kneter und Charli Uetz haben ein Problem: Sie sind schlecht verzählt. Also nehmen die beiden schwierigen Töchter das Heft selbst in die Hand und begeben sich auf die Suche nach ihrem Autor. "Oder??" ist das Logbuch einer seltsamen Reise, die von den Luchswiesen über den Peloponnes und wieder zurück in die Fantasiewelt Oerlikon führt. Auf ihrer Reise lernen Alice und Charli viele neue Freunde kennen: Die Punkfrau und den Punkmann, den Detektiv Alabanda und die Sängerin Fernanda, den geheimnisvollen Baron Nöldi, die Gregorios und einen Kondukteur, wo etwas melancholisch ist. Es gibt auch einen Kellner! Und irgendwann, irgendwann werden sie ihn finden. Und dann brätschts. "Oder??", der erste Roman Judith Kellers, balanciert souverän auf der Grenze zwischen Nouveau Roman und Sesamstrasse.

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JudithKeller

Oder?

edition spoken script 391. Auflage, 2021© Der gesunde Menschenversand, LuzernAlle Rechte vorbehalten

eISBN: 978-3-03853-171-5

Lektorat: Philipp Theisohn

Herausgeber: Matthias Burki, Ursina Greuel,Tamaris Mayer, Daniel Rothenbühler

Gestaltung: hofmann.to

Autorin und Verlag bedanken sich für die Unterstützung bei: Fachstelle Kultur des Kantons Zürich, Stadt Zürich Kultur, SWISSLOS / Kulturförderung Kanton Schwyz

www.menschenversand.ch

Luzern, 27.2.2021

Sehr geehrte Frau Keller

Bitte entschuldigen Sie die späte Rückmeldung, die «Verarbeitung» der Buchmesse hat uns in den letzten Wochen sehr in Beschlag genommen. Mittlerweile konnte ich mich mit Ihrem Manuskript befassen. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass wir Ihren Roman im derzeitigen Zustand nicht so ganz in unserem Verlagsprogramm sehen. Der Hauptgrund: Es ist überhaupt kein Roman. Wir bedanken uns gleichwohl für Ihr Interesse an unserem Verlag und bedauern, keinen besseren Bescheid geben zu können.

Mit freundlichen Grüssen – und nichts für ungut!

Ihr

Matthias Burki

PS. Anbei erhalten Sie Ihr unangefragt eingeschicktes Manuskript wieder zurück.

Judith Magdalena KellerDie Suche nach Kneter.

Roman der schwierigen Töchter

(Fassung vom 2.12.2020)

 

Bei der Station Luchswiesen bückte sich eine Frau nach Zigarettenstummeln, obwohl schon ein Tram nahte.

«Lassen Sie sie liegen!», rief Alice Kneter, aber die Frau hörte nicht auf sie. Dann kam das Tram und sie schaffte es gerade noch knapp. Die Tür öffnete sich, sie erklomm die drei Stufen, hinter ihr schloss sich die Tür mit einem heftigen Geräusch. Das Tram fuhr los.

Es war auf dieser ersten Seite früher Morgen und der Himmel war grau. Ein Vogel war nicht zu sehen.

«Das spielt sicher auch hinein», sagte Alice, während sie weitergingen. Über das Gleis wehten weisse Blätter. Bei näherem Hinsehen entzifferten sie den Satz «Sie hatten eine schlurfige Art zu gehen». – «Wegen mir nicht», stellte Charli bescheiden fest, «ich könnte auch ganz anders». – «Und ich erst», raunte Alice.

Sie schlurften nicht lange, etwa fünfzig Meter. Nicht mehr. «Das finde ich ja noch gut», meinte Charli. Dann setzten sie sich bereits auf einen der Betonwürfel, die vor einem Hochhaus standen. Sie kramten in ihrem Rucksack herum und bald tranken sie kleine Schlucke Orangensaft durch ein Röhrchen.

Schon wieder begannen sie, über ihre Eltern nachzudenken. Gestern hatten sie sich um acht Uhr abends auf dem Marktplatz getroffen und im Tres Amigos eine Flauta und eine Quesadilla gegessen. Dazu hatten sie noch Buffalo Chicken Wings bestellt und zwei Margaritas getrunken. Als sie fertig gefressen hatten und vor dem Restaurant standen, waren sie immer noch hungrig.

Draussen war es gar nicht so kalt, obwohl es schon November war. Trotzdem fürchteten sie sich vor der kommenden Nacht, denn es stand auf dem Blatt, dass sie sie durchmachen mussten.

«Warum müssen wir das eigentlich?», fragte sich Alice um zwei Uhr morgens. Der Text machte ihr zu schaffen. Wer hatte ihn geschrieben? Sie wünschte sich, dass vielleicht alles einmal weiterginge wie zum Beispiel in Orlando.

«Jetzt ist es eben so», herrschte Charli sie an. «Was kann man machen? Wir sind nun einmal prädestiniert dafür.»

Sie musterten den Brunnen mit den fünf Springsäulen, die Migros Bank, den Ex Libris und das Restaurant Le muh. Darauf studierten sie ausgiebig jeden einzelnen Baum auf dem Platz. Zum Glück hatte Alice ein Stück Kreide dabei.

Als sie begann, ihren zwielichtigen Stammbaum auf das Pflaster zu zeichnen, war es erst drei Uhr morgens und Charli schaute nicht einmal richtig zu. Sie sass auf der Bank vor dem Ex Libris und kämpfte mit dem Schlaf. Sie sank alle paar Sekunden in sich zusammen und schreckte wieder auf. Dies gefiel Alice nicht. Sie fand es schwer, etwas zu tun, wenn niemand zuschaute.

Als ihr vom Zeichnen langsam der Arm weh tat, setzte sie sich zu Charli auf die Bank vor den Ex Libris. Diese stand daraufhin auf, beäugte nun doch das kreidige Gezweig zu ihren Füssen und verfiel in ein boshaftes Gelächter.

«Virginia Woolf? Deine Mutter? Du hast doch nicht etwa vergessen, dass du zum Nachnamen Kneter heisst?» – «So hat man es mir jedenfalls im Kinderheim untergejubelt», seufzte Alice. Charli nahm die Kreide und schrieb den Namen schadenfreudig in dicken Buchstaben in das Feld des Vaters, das bis dahin leer geblieben war.

«Kneter … und der Vorname?»

«Es gibt da nur diesen Brief, den sie mir einmal gegeben haben, das ist alles.»

«Und was stand in dem Brief?»

«Nur ganz wenig: Liebe Tochter. Gehe deinen Weg. Ich gehe meinen. Vielleicht werden wir uns eines Tages begegnen. Es ist möglich. Jetzt aber muss ich verreisen. Es eilt. Die weissen Rosen sind verblüht. Ab nach Griechen-land! Ich bin stolz auf dich. Nimm es mir nicht übel.»

Der Brief war unterschrieben mit G.

«G. wie Gerd?», hatte Alice damals gefragt. Doch die vom Kinderheim sagten, nach dem Pass habe er Guillaume geheissen. Guillaume Kneter.

«Kneter», wiederholte Charli verzückt und holte ihr Phone aus dem Rucksack. Im bläulich beleuchteten Gesicht huschten ihre Pupillen triumphierend hin und her. Sie las vor: «Die starken Formen von kneten zeigen noch das 16. Jahrhundert. Ich knete, er knitt … knäten … an der heiligen drei Künig Tag bracht ein jeder Vatter ein guoten leckkuochen … und knidt in dem knetten ein pfennig darein …»

Alice lehnte sich zurück, während ihre Gefährtin interessiert weiterlas. Kurz fielen ihr die Augen zu. Sie fühlte sich erschöpft. Es war anstrengend, nicht zu wissen, woher man kam.

Sie hatte eigentlich nichts gegen Kinderheime, aber manchmal war es trotzdem schwer. Über ihre Mutter wusste sie noch weniger. Wie so oft stand nichts darüber, und immer sehnte sie sich nach ihnen, den Müttern. Sie unterhielt zu ihnen ein gutes, aber auch ein schwieriges Verhältnis.

«Hauptsache, sie lassen mit sich reden», dachte Alice.

Aber immer, wenn sie das dachte, beschlich sie eine Angst. Was wäre, wenn die Mütter nicht mit sich reden liessen? Sie hatten ja nichts vorzuweisen. Durften sie überhaupt ihre Töchter sein?

Ach, wie sehnte sie sich nach ihnen – ihren langen Sätzen, ihrer Gestalt, ihrer komplizierten Liebe! Sie stellte sich vor, wie sie ihre Mutter am Flughafen abholen würde. «Ich muss vergessen, was sie ganz ist, wenn ich von ihr sprechen soll. Ich muss mich noch täuschen, als hätte sie von alten Zeiten gelebt, als wüßt’ ich durch Erzählung einiges von ihr, wenn ihr lebendig Bild mich nicht ergreifen soll, daß ich vergehe im Entzüken und im Schmerz, wenn ich den Tod der Freude über sie und den Tod der Trauer um sie nicht sterben soll.»

«Wie komme ich eigentlich auf diese Sätze?», fragte sich Alice plötzlich. Es sprach aus ihr, als ob da jemand anderes spräche. Doch vielleicht Woolf? Oder jemand ganz anderes? Misstrauisch horchte sie in die Dunkelheit hinein. Ithaka? Hatte sie richtig gehört?

Sie versuchte, offen zu bleiben.

«Hier steht, dasz helden gekneteter lehm sind …», rief Charli aufgekratzt. Sie hatte nicht aufgehört, laut aus dem Handy vorzulesen. «Von einem erdengott aus lehm geknetet, hab ich mich nie gebeugt …».

«kneten auch als Wort für tanzen … So will ich den vorrainen treten und wil so hoflich umbher kneten, als keiner hie auf dieser pan …»

Alice verspürte plötzlich eine starke Lust, umbher zu kneten. Es tat ihr nicht gut, zu oft über ihre Eltern nachzudenken. Charli war immer noch über ihr Handy gebeugt.

«Sich durchkneten –», las sie weiter, dann war der Akku leer. Zufrieden steckt sie das Handy in den Rucksack.

«Und welchen Nachnamen hat es dir eigentlich gegeben?», fragte Alice.

«Uetz», sagte Charli verschwiegen.

«Wie der Schriftsteller?»

«Nein.»

Sie saugte die kühle Luft tief in sich ein.

Die Väter waren das eine. Die Sache mit den Müttern aber hielt sie auf Trab, sie litten darunter. Es kamen ihnen zu viele in den Sinn. Viele, derer sie sich nicht wert fühlten. Noch nicht. Es war kompliziert.

Bald liessen sie das Thema auf sich beruhen. Stattdessen gingen sie zum Bahnhof Oerlikon. Da war es vier Uhr morgens. Sie liefen ein wenig im langen Velokeller herum. Auf der zweiten Etage waren noch ein paar andere Leute und machten irgendetwas.

Alice und Charli verliessen den Velokeller und tschalpten zum Gleis 3. Kühle Luft jagte über die Gleise. Auf dem Perron sah Alice einen Mann im gläsernen Wartesaal, der etwas in sein Telephon tippte. Immer wieder schaute er unauffällig hoch. Dann wandte er sich wieder seinem Bildschirm zu.

Beobachtete er sie? Ein Blitz fuhr durch ihren Kopf.

War das Kneter? Und was schrieb er da in sein Gerät? In diesem Moment schaute er kurz auf, genau in ihre Richtung. Als er ihren Blick bemerkte, drehte er sich schnell zur Seite und steckte das Telephon wieder ein.

Sie schreckte auf, als sie jemand am Ärmel fasste.

«Hier bleiben wir nicht», entschied Charli. Während die Uetz-Tochter sie hinter sich herzog, drehte sich Alice noch einmal um. Der gläserne Wartesaal war leer. Sie gingen durch die Unterführung, nahmen einige Strassen und kamen zu einem mehrstöckigen Park. Sie setzten sich zuoberst auf eine Metallbank und öffneten die zwei Biere, die sie seit Stunden im Rucksack mit sich führten. Auch zwei Wolldecken hatten sie dabei, die sie jetzt um sich schlugen. Pflanzen wuchsen die Metallgerüste empor.

«Nur zu!», murmelte Charli angriffslustig. Ein paar trockene Blätter wirbelten im Kreis. Es ging ihr manchmal alles zu langsam. Versunken musterten sie die Pflanzen. Nachtgeräusche waren zu hören, die feuchte Luft legte sich auf ihre Gesichter und Hände. Ihre Füsse froren. Sie starrten in die Dunkelheit.

«Roger Federer», rauschte es in den Platanen.

«Ich habe es akustisch nicht ganz verstanden», sagte Charli.

«Roger Federer …», wiederholte Alice nachdenklich.

Sie hatte die Ellenbogen auf den Knien abgestützt und hielt ihr Gesicht in den Händen. Charli lehnte ihren Nacken gegen die Bank und musterte den Himmel. Das Kommando Federer war versandet. Es gab keinen Ausweg. Sie hatten es nicht getan. Schweigend sannen sie der Sache nach.

«Aber wer hat uns denn überhaupt erst auf diese Idee gebracht?», fragte Alice ärgerlich. «Was hätte er denn mit uns anfangen sollen? Und wir mit ihm?»

Einer solchen Handlung konnten, ja wollten sie in Zukunft nicht mehr dienen. Eigentlich wollten sie ab jetzt überhaupt keiner Handlung mehr dienen. Nur noch Spuren hinterlassen.

Das war kurz nach vier Uhr morgens gewesen, vielleicht um halb fünf. Zwei Stunden hatten sie dann noch geschlafen, dort, am frühen Morgen auf der Bank im Park. Und als es schliesslich hell geworden war, gingen sie mit gemessenen Schritten zurück zum Bahnhof Oerlikon, kauften die Orangensäfte im Coop Pronto und liefen herum, bis sie zu der Station Luchswiesen gekommen waren, wo sie jetzt auf dem Betonwürfel sassen.

Ein fahles Morgenlicht beleuchtete sie. Genüsslich zog Charli durch das Röhrchen einen weiteren Schluck Orangensaft blubbernd in sich hinein. Dann riss sie ein Stück von ihrem Zopf ab und schob es sich in den Rachen. Von Zopf war aber vorher nichts gestanden.

Beiden fiel es auf. Sie betrachteten den Himmel. Er hatte in der Zwischenzeit eine bläuliche Farbe angenommen.

Alice kam die tippende Gestalt im gläsernen Wartesaal auf dem Perron wieder in den Sinn. Es war jetzt ganz klar.

«Wir sind einfach schlecht erzählt», stellte sie nüchtern fest.

«Immer muss man alles selber machen», seufzte Charli. Und während nun Alice von dem Zopf frass, musterte Charli eindringlich ihre auffälligen Zähne. Es schienen zu viele zu sein für ein Maul.

Eine Weile lang sassen die beiden noch da, auf dem Betonblock, mit angezogenen Knien, und dachten an alles, was sich verändern würde.

Sie wussten jetzt, was zu tun war.

«Wir müssen Kneter finden», sagte Alice und bleckte ihre Zähne.

«Oder», sagte Charli und zwirbelte vorfreudig ihr Haar.