Wilde Manöver - Judith Keller - E-Book

Wilde Manöver E-Book

Judith Keller

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Beschreibung

»Ich habe selten etwas so Erfrischendes, Kühnes, Lustiges gelesen.« Saša Stanišić

Große Veränderungen geschehen unbemerkt: Furchtlos und mitreißend originell erzählt Judith Keller vom Ausbruch aus dem Bestehenden, der poetischen Weltverwandlung. Es ist ein wild funkelnder Roman von der Freundschaft zweier Frauen, die etwas Neues anfangen wollen. Wie aber fängt man Neues an?

Da ist etwas geschehen in einem Einkaufszentrum in der Nähe von Zürich. An einem lauen Sommerabend wird aus dem Parkhaus ein Lieferwagen entwendet, womöglich ein Drogengeschäft? Zwei junge Frauen, Vera und Peli, werden verdächtigt, doch das Verhör bringt kein Licht in die Sache, im Gegenteil: Eine Meerjungfrauenstatue im Pool, kreisförmig angeordnete Fahrräder auf den Zuggleisen, die Entführung eines Pferdes – es scheint, als hätten Vera und Peli eine ganze Reihe von Verbrechen begangen, eines unwahrscheinlicher als das andere. Die abenteuerliche Suche nach dem Zusammenhang beginnt, durch die Nacht und die Stadt, und mit ihr eine aberwitzige Erkundung unserer sich verflüchtigenden Gegenwart.

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Seitenzahl: 278

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Zum Buch

Da ist etwas geschehen in einem Einkaufszentrum in der Nähe von Zürich. An einem lauen Sommerabend wird aus dem Parkhaus ein Lieferwagen entwendet, womöglich ein Drogengeschäft? Zwei junge Frauen, Vera und Peli, werden verdächtigt, doch das Verhör bringt kein Licht in die Sache, im Gegenteil: Eine Meerjungfrauenstatue im Pool, kreisförmig angeordnete Fahrräder auf den Zuggleisen, die Entführung eines Pferdes, schließlich Brandstiftung in einem Wald – es scheint, als hätten Vera und Peli eine ganze Reihe von Verbrechen begangen, eines unwahrscheinlicher als das andere. Oder sind es die Vorzeichen größerer Veränderungen? Und wohin führt die geheimnisvolle Tür im untersten Stock des Einkaufszentrums mit der Aufschrift „P11“? Die abenteuerliche Suche nach dem Zusammenhang beginnt, durch die Nacht und die Stadt, und mit ihr eine aberwitzige Erkundung unserer sich verflüchtigenden Gegenwart.

Zur Autorin

1985 in Lachen in der Schweiz geboren, lebt in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert und war Redakteurin der Literaturzeitschrift EDIT. Für den Erzählungsband »Die Fragwürdigen« wurde Judith Keller mit Anerkennungspreisen von Stadt und Kanton Zürich ausgezeichnet.

Judith Keller

Wilde Manöver

Roman

Luchterhand

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Copyright © 2023 Luchterhand Literaturverlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

Covergestaltung: Sabine Kwauka;

Covermotiv: © Arcangel/Kevin Deery; shutterstock/Alex Linch, Sarunas Atkocaitis

ISBN 978-3-641-30558-1V004 

www.luchterhand-literaturverlag.de

www.facebook.com/luchterhandverlag

Institut für Frühgeschichte / Sozialwissenschaften

07.05.2098

Betreff: Fund

Bei der intensiven Sichtung der neu eingetroffenen Dokumente sind wir möglicherweise einen Schritt weitergekommen. Wir empfehlen folgendes Dokument 8301.2025 dringend zur genaueren Erforschung. Es handelt sich um eine Akte aus dem Zeitraum unmittelbar vor und während der Anfänge, die die bisherigen Forschungsarbeiten revolutionieren könnte. Die Akte enthält Protokolle von Vernehmungen, die ein Kommissar namens Felix Lombardi mit einer Frau namens Vera Savakis im September 2025 durchgeführt hat. Außerdem ein Notizheft mit Tagebuchein­trägen einer Frau namens Shiva Hirz. Diese stammen aus den Jahren 2025 – 2028. Wenn die Akte echt ist, und bisher spricht alles dafür, glauben wir, dass sie der lang gesuchte Schlüssel zum Verständnis der Anfänge sein könnte. Sie könnte uns helfen, die späteren Vorkommnisse und unsere heutige Realität in einen ganz neuen, bisher nicht berücksichtigten Ereigniszusammenhang einzubetten. Doch es ist noch vieles unklar. Die Rätsel sind nicht weniger geworden. Begann alles in Zürich? Oder wie seht ihr das?

Wir freuen uns auf die Tagung am Montag!

Mit lieben Grüßen und bleibt gesund,

Samira Ohala und Joaquin Piña

Raum A-1 – 17b, Kantonspolizei Hauptsitz, Güterstrasse 33, 8004 Zürich

Kommissar: Felix Lombardi Beschuldigte Person: Vera Savakis

5. September 2025 

1. Vernehmung

Sie werden beschuldigt, am 30. Juli um 21:30 Uhr zusammen mit einer uns unbekannten Frau auf dem Parkdeck des Glattzentrums einen weißen Lieferwagen der Marke Mercedes entwendet zu haben.

Am 30. Juli sagen Sie? Lassen Sie mich überlegen. Es ist so viel passiert in der Zwischenzeit. Unmöglich ist es nicht.

So lange ist es ja nun auch wieder nicht her. Nur einen guten Monat. Versetzen Sie sich doch einmal in aller Ruhe an jenen Tag zurück. Manchmal braucht es etwas Geduld, bis man einzelne Erinnerungen wieder abrufen kann. Warum haben Sie den Lieferwagen entwendet?

Es war auf jeden Fall so, dass wir uns am Nachmittag mit unseren Rucksäcken auf dem Schwamendingerplatz gleich bei diesem Brunnen trafen, Peli und ich. Also es ist ja eher so eine Art Wasserspiel. Auf jeden Fall gibt es ein paar zugeschnittene Steine dort, oder ich glaube, es ist sogar nur ein einzelner, auf jeden Fall schießt da etwas Wasser in die Luft und verschwindet dann im Boden. Oder es fließt direkt am Stein in den Boden, das kann auch sein. Wir hatten uns dort verabredet, nicht zum ersten Mal.

Um welche Uhrzeit?

Ich glaube, so gegen vier Uhr nachmittags. Lange schauten wir den Schachspielern zu. Sie schoben große Schachfiguren aus Plastik vor sich her. Es nahm kein Ende mit diesem Spiel, und das bestätigte uns auf eine merkwürdige Weise. Ein paar Leute löffelten im Café nebenan einen Coupe Däne­mark. Eine alte Frau untersuchte mit der Lupe einen Einkaufszettel. Ein alter Mann kam mit Möwenschritten über den Platz. Auf einer Bank saß ein anderer Mann mit einem riesigen Mexikanerhut und blickte unbewegt vor sich hin. Er sah aus, als hätte er noch viel vor. Da erst bemerkten wir, dass auch wir etwas vorhatten. Denn es gab ja kein Zurück. Das war so ein Gefühl, das wir hatten.

Warum hatten Sie dieses Gefühl?

Es war sehr heiß. Damit hatte es sicher auch zu tun. Die Hitze wallte über den Platz und wir waren durstig. Der Schweiß rann uns über das Gesicht, bei mir sammelte er sich auf der Stirn, bei Peli auf der Oberlippe, vielleicht auch umgekehrt, offen gestanden weiß ich es nicht mehr. Erinnerungen verblassen so schnell und das, was man gerade noch für unvergesslich hielt, ist im nächsten Augenblick weg. Meine Stirn auf jeden Fall glühte. Wir standen ja auch in der Sonne, die am Nachmittag noch stark auf uns herunterbrannte. Wir spürten es ganz deutlich, dass wir etwas vorhatten. Wir wussten nur noch nicht, was. Heute sieht es aus, als hätten wir alles von langer Hand geplant, aber so ist es nicht. Vielleicht hatte es auch mit unseren Wohnungen zu tun. Wir hatten ja beide die Briefe nicht geöffnet, die Anrufe nicht angenommen. Die Gläubiger konnten jeden Moment auftauchen. Da dachten wir: Schnell weg.

Sie haben die Miete nicht mehr bezahlt. Warum?

Es gab eigentlich keinen bestimmten Grund dafür. Es war eher ein Gefühl. Wir dachten wahrscheinlich, dass wir unsere Mieten schon so lange bezahlt hatten, dass wir auch einmal damit aufhören könnten. Alles nimmt ja irgendwann ein Ende, sagt man. Aber davon einmal abgesehen war eine Miete natürlich auch viel Geld, von dem wir eigentlich fast keines mehr hatten, seit wir zu arbeiten aufgehört hatten und die Auflagen des Sozialamtes nicht erfüllten.

Warum haben Sie denn zu arbeiten aufgehört?

Warum Peli aufgehört hat, weiß ich nicht genau. Einmal erwähnte sie, dass man ihr vorwarf, mit den Ladungen immer unnötig lange hin- und herzupendeln, bevor sie sie ablud. Sie sagte selbst, dass sie süchtig gewesen sei nach diesem Pendeln. Sie konnte einfach nicht anders. Damit hätte sie mehrfach Sachschäden produziert. Aber sie hatte anscheinend gute Freunde da, daran kann es nicht gelegen haben. Bei mir war es so, dass ich oft Dinge verschenkt habe. Zeitungen und Zigaretten, Lottoscheine, Magazine mit Rätseln und solche Sachen. Da sagte man irgendwann, es gebe keinen anderen Ausweg mehr.

Peli … was ist das eigentlich für ein Name?

Peli Rouge mit vollem Namen. Dann geht es wieder, finde ich. Oder? Wir sprachen eigentlich nie darüber, warum wir heißen, wie wir heißen. Das hätte ja auch nichts gebracht. Vor allem in ihrem Fall. Eher sagten wir, wann immer wir die Gelegenheit dazu hatten: Jetzt ist es so. Mit gewissen Entscheidungen, die andere getroffen haben, muss man zurechtkommen. Sonst geht man ja irgendwann kaputt.

Sie wurden zwischen dem 30. Juli und dem 3. August immer wieder mit einer weiblichen Person mit kurzen, dunklen Haaren gesehen. Handelt es sich dabei um … Peli Rouge?

Ja, wir waren in jenen Tagen oft zusammen.

Warum haben Sie die Briefe nicht geöffnet?

Ich war fast sicher, dass es sich dabei nur um Mahnungen, Drohungen und Vorladungen handelte. Solche Briefe schüchtern mich immer ein. Lieber nicht öffnen, dachte ich, denn ich lasse mich viel zu schnell auf sonderbare Forderungen ein. Darum bin ich ja auch hier.

Sie hatten am Schluss auch keine andere Wahl mehr. Was geschah, nachdem Sie Ihre Gefährtin am Nachmittag jenes 30. Juli um vier Uhr getroffen haben?

Wir standen recht lange auf dem Schwamendingerplatz herum und ließen die Sonne auf uns niederbrennen. Als es genug war, sagten wir: Genug ist genug, es wird sich zeigen. Wir banden die Schuhe enger. Der Nachmittag ging in den Abend über. Es war still im Innenhof von Schwamendingens Schulhaus, es roch nach Flieder. Vogelstimmen pfiffen in einen Beat, der aus ein paar Boxen auf einem Pingpongtisch kam. Die Kirchenglocken läuteten. Wir kamen an einem Mann vorbei, der das Christentum verkündete. Es wird immer besser, stellte Peli fest. Dann geschah etwas Wichtiges: Vor uns, über den Häusern Schwamendingens, ragte ein roter Kran in den Himmel. Das allein wäre ja noch nichts Besonderes gewesen, es geschah oft. Aber in jenem Moment, als wir diesen Kran erblickten, drehte er sich in Zeitlupentempo nach links. Wir folgten ihm mit unseren Augen, schauten uns an, nickten und gingen in die Richtung, die er anzeigte. Bei der Station Luchswiesen bückte sich eine Frau nach Zigarettenstummeln. Lassen Sie sie liegen!, riefen wir, aber sie hörte nicht auf uns. Dann kam ein Tram und sie stieg hinein. Mit einem klappenden Geräusch schlossen sich die Türen hinter ihr. Danach haben wir sie nie wieder gesehen. Wir entwickelten uns in eine andere Richtung.

Plötzlich sahen wir die Mitglieder unseres Orchesters durch das Quartier eilen. Sie trugen frisch geölte, zusammengeklappte Notenständer, die silbrig blitzten, und eckige Instrumentenkoffer. Die Flötistin eilte mit einer Thermosflasche vorbei, der Bratschist trug eine Schachtel mit Noten, und der Dirigent ging immer ein paar Schritte, blickte dann auf sein iPhone, wechselte die Richtung und deutete in eine andere. Alle trugen Rucksäcke, schauten sich suchend um. Wie wir sie so sahen, wurde uns klar, dass wir nicht zurückkonnten. Verstehen Sie? Es gab kein Zurück. Das Einzige, was es noch gab, waren die Kräne. Rote oder gelbe Kräne, deren Hälse über die Hochhäuser emporragten. Und dann den einen gelben Kran, der sich genau in dem Moment, als wir ihn ansahen, Richtung Osten wendete.

Warum dachten Sie, dass Sie nicht mehr zurückkonnten?

Man merkt, dass Sie vieles nicht wissen. Aber wie sollten Sie auch. Gerne hätten wir mit Ihnen getauscht. Aber damals kannten wir Sie ja noch gar nicht. Wir gingen also weiter. Das sanfte Abendblau hatte sich verdunkelt und war in ein leuchtendes Rot übergegangen, es war immer noch sehr warm. Vor einer Werkstatt standen drei Motorräder in einem Kreis. Es sah aus, als berieten sie sich. Gut so, sagte Peli. Der Wind bewegte sich flach den Boden entlang. Die Blätter der nahen Hecke drehten auf. Wir gingen weiter, einfach geradeaus. Da kamen wir irgendwann zu dieser breiten, viel befahrenen Brücke, die aufwärts führt zum Glattzentrum. Vom Himmel kam ein schraubendes Geräusch. Die leuchtenden Buchstaben GLATT thronten auf der anderen Seite der Brücke, hinter ihnen das beleuchtete Einkaufszentrum und der Glatt-Tower. Der Himmel war jetzt dunkelblau. Wir gingen langsam auf dem schmalen Fußgängerweg bergauf. Über uns flogen Flugzeuge durch den Himmel, neben uns fuhren Autos über die Brücke, unter uns hindurch fuhren andere Autos unaufhörlich in die Dunkelheit. Neben der Fahrbahn begann ein struppiger Streifen Wald. Die Dunkelheit, die langsam über alles kam, schien sich von dorther auszubreiten. Bäume in Scharen, ganze Familienbanden standen dort herum, niemand wusste, woher sie gekommen waren und worauf sie warteten. Ein paar Nachttiere erwachten. Zwei Vögel kreisten hoch über der Brücke, über uns. Ein Fußgänger mit hochgezogenen Schultern kam uns entgegen. Er war einer von denen, die man mit dem Zeigefinger leicht hätte vom Bild wischen können. Auch wir hatten das Gefühl, dass man uns leicht hätte wegwischen können. Die Brücke selbst aber war stabil, die Betonsäulen gewiss, die Straßenschilder hingen gut, der Asphalt war warm und das weiße Licht der Brückenbeleuchtung angegangen.

Wir erreichten das Parkplatzplateau vor dem Glatt­zentrum. Der Parkplatz war fast leer. Da war nur eine große, kräftige Frau in Shorts, die im offenen Kofferraum eines Lieferwagens saß und mit einem Ball spielte. Das Geräusch hallte bis zu den späten Gästen im Burger King. Noch ein zweites Auto stand auf dem Parkplatz. Auch dessen Kofferraum war geöffnet, ein sonnenverbrannter Mann saß neben einer blond gelockten Frau und schrie über den ganzen Parkplatz: Ist es gut, wenn wir jetzt Sex haben? Aus dem Autolautsprecher rauschte undeutlich eine männliche Stimme, der sonnenverbrannte Mann schien sie nicht zu verstehen und rief die gleiche Frage immer wieder weit hinaus über den Parkplatz. Die Frau neben ihm blieb stumm. Wir gingen die Ränder des Parkplatzes ab, betrachteten den Glatt-Tower, schauten auf den dunklen Waldstreifen, auf die rauschende Autobahn auf der einen, auf das Richti-Areal und die Allianz-Gebäude auf der anderen Seite. Daneben stand das Gebäude der UPC-Cablecom. Es hat große, quadratische Fensterscheiben mit breiten anthrazitfarbenen Fensterbändern, falls es Sie interessiert. Uns interessierte es nicht. Aber wir ließen das alles trotzdem auf uns wirken. S-Bahnen hielten am Bahnhof Glatt und fuhren weiter. Wir studierten die Aussicht, die Formen der Lichter und die Bewegungen der Bäume. Die Kräne verhielten sich unklar.

Wie spät war es?

Ungefähr sechs Uhr abends. Es begann, wenn ich mich recht erinnere, zu regnen, dicke Tropfen fielen auf den Parkplatz. Die Gäste auf der Terrasse des Burger Kings flohen nach innen, doch da hörte es schon wieder auf. Wir wollten eigentlich wieder weg vom Glattzentrum, wussten aber nicht, wie man von dem Parkplatzplateau auf die Straße hinunterkommen konnte, ohne den gleichen Weg über die Brücke zurück zu nehmen. Fast schon fühlten wir uns für immer auf diesem Parkplatzplateau gestrandet, als ich an einer Seite eine Wendeltreppe entdeckte. Wir stiegen die Stufen hinunter, der Beton strahlte eine angenehme Kühle aus. Eine Parkebene nach der anderen öffnete sich vor uns. Es gab fast keine Autos im Parkhaus, und so konnten wir fast nicht anders, als sie zu zählen. Auf der ersten Ebene waren es drei, auf der zweiten keines, auf der dritten drei und auf der vierten eines.

Die Autos sind gezählt, sagte Peli dann. Und jetzt?

Jetzt haben wir auch das getan, erwiderte ich.

Peli: Hat es sich gelohnt?

Es wird sich noch zeigen, antwortete ich.

An dieser Stelle muss ich vielleicht sagen, dass es ungewöhnlich war für Peli, dass sie danach fragte, ob sich etwas lohne. Eine Veränderung schien in ihr vorgegangen zu sein, seit wir vom Schwamendingerplatz losgegangen waren. Plötzlich schien sie zu verlangen, dass das, was wir taten, sich lohnte oder sich zumindest später irgendwann gelohnt haben würde. Auch ich bemerkte mit Schrecken, dass dieses Verlangen in mir wach geworden war. Vielleicht eine beginnende Sucht?

Auf der untersten Etage war am meisten Platz. Wir liefen ein wenig auf den Parkfeldern herum, strichen an den Betonwänden entlang, trieben das automatische Licht vor uns her und setzten uns dann auf die sturmgrüne Autohaube des einzigen Autos, das in der untersten Etage stand.

Wir schwiegen oder sinnierten vor uns hin. Irgendwann bemerkte ich, dass dieses Auto uns eigentlich nicht unbedingt brauchte.

Und nicht nur das Auto, meinte Peli düster. Ihr Blick war stumpf, schattig. Ich wusste, was sie meinte.

Mit einem Ruck standen wir auf. Zunächst fanden wir keinen Weg, der unten aus dem Parkhaus hinausgeführt hätte, also stiegen wir die Wendeltreppe wieder hinauf, die aussah, als hätte sie kein Mensch je vor uns benutzt. Schließlich erreichten wir wieder den offenen Himmel. In der Zwischenzeit hatte sich nicht viel verändert. Der weiße Lieferwagen stand noch da, im Kofferraum spielte die Frau mit dem Ball. Aus dem anderen Wagen hörte man den Mann nun stöhnen.

Es roch nach feuchtem Asphalt, die Luft hatte sich etwas abgekühlt.

Und jetzt?, fragte ich.

Es heißt, im Glattzentrum gäbe es eine letzte Tür, sagte Peli.

Und dennoch schien sich etwas in uns dagegen aufzulehnen. Noch, möchte ich sagen. Denn wir standen ja erst am Anfang von allem und hatten noch nichts vorzuweisen.

Wie spät war es, als sie wieder auf dem Parkdeck ankamen?

Es war schon spät, ich glaube, kurz vor zehn.

Sie haben also vier Stunden im Parkhaus verbracht?

Ja, wir haben uns dort lange ausgeruht. Sogar ein wenig geschlafen. An Träume kann ich mich aber nicht erinnern. Insgesamt waren es schöne Stunden dort unten, weil es so angenehm kühl war.

Vier Stunden, das ist eine lange Zeit. Was haben Sie denn noch gemacht, außer zu schlafen?

Also wir hatten ja die Autos gezählt, das Licht gejagt, und dann verging auch noch viel Zeit mit Suchen, bis wir den Ausgang fanden.

Ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen, während Sie warteten? Andere Menschen? Einfahrende und ausfahrende Autos?

Nein. Wir schliefen die meiste Zeit und ich habe Ihnen ja gerade erst von der Qualität meine Schlafes berichtet: tief und traumlos.

Von welcher Marke war das Auto, auf dem Sie saßen?

Es war ein Renault Twingo, sturmgrün. Nachdem wir uns lange genug ausgeruht hatten und wieder oben auf dem Parkdeck angekommen waren, war es fast dunkel. Nur aus dem Eingang des Glattzentrums kam noch Licht. Wir mussten an sein Inneres denken, die stillen Rolltreppen, die Rutschbahn und die Zierblumen im Café. Der Schmuck lag gut im Samt, im Tierladen wurden die Mäuse wach. Das Hamsterrad begann sich zu drehen, die Fische ruhten nah am Grund. Es heißt, im Glattzentrum gäbe es eine letzte Tür. Dies wiederholte Peli beschwörend, denn auch ihr war unser Zögern aufgefallen. Gerade wollten wir hinein, als ein Mann in einem blauen Overall das metallene Rolltor hinunterzog, dann innehielt und uns anschaute.

Wollt ihr hinein?, fragte er.

Peli: Wir wollen Sie von nichts abhalten.

Ach so, sagte er, schloss ab, lachte und ging weg.

Wie Sie sehen, sind wir damals nicht mehr ins Glattzentrum hineingekommen. Erst später sollte es mir auf verschiedene Arten gelingen. Damals aber war uns der Weg noch verschlossen.

Also gut, sagten wir vorerst, und Peli kickte gegen eine Bierdose, weil dort gerade eine lag. Wie gesagt, es war ein schwüler Sommer. Wir fühlten uns aufgeladen von der Hitze, strahlten silbrig nach außen, innen waren wir hell und rau. Immer wieder brach ein Gelächter aus uns heraus, ohne dass wir genau gewusst hätten, warum. Wir hatten Lust, in alles unsere Zähne zu versenken.

Warum dann die Frau mit dem Ball plötzlich den Kofferraum des Lieferwagens verlassen hat, warum sie den Ball weit wegwarf, über das Parkplatzplateau hinaus zu den Bäumen hinab, und ihm dann nachkletterte, das wussten wir nicht genau. Aber gibt es nicht auch anderes, das wir nicht genau wussten? Wir schauten uns an und stiegen in den Lieferwagen. Sofort hatten wir einen Schlüssel. Zu welchem Zweck wir den Wagen aber, wie Sie es ausdrücken, entwendet haben, wussten wir noch nicht. Aber wenn ich etwas gelernt habe in der letzten Zeit, so ist es Folgendes: Wenn etwas Sinn ergibt, dann im Nachhinein. Darauf kann man sich verlassen.

Was soll das bedeuten: Es heißt, im Glattzentrum gibt es eine letzte Tür?

Das wissen Sie nicht? Man kann nur staunen. Sie kommen wirklich aus einer ganz anderen Welt. Aber gut. Es kann je nach Kontext sehr Verschiedenes bedeuten. Zum Beispiel: Jetzt geht es los. Oder: Nimm es hin. Aber auch: Dort steht dir dein persönlicher Weg offen zur Transformation. Es kommt eben immer auf den Zusammenhang an. In jenem Augenblick bedeutete es so etwas wie: Mach das, was vor dir liegt und komm später zurück.

Und was heißt das?

Eins nach dem anderen.

Warum wollten Sie das Glattzentrum zu einer Zeit betreten, als es schon zu war?

Um alles einmal in Ruhe anzuschauen.

Aber was denn genau?

Einfach alles, die Rolltreppen, die Rutschbahn, die Geschäfte, wenn sie schon zu sind. Warum nicht? Ich finde das interessant.

Und dieser sonnenverbrannte Mann und diese blond gelockte Frau, die auf dem Parkdeck waren? In welcher Beziehung stehen Sie zu Ihnen?

In keiner. Ich glaube, dass es Pornoschauspieler waren, die auf Regieanweisungen warteten, die per Lautsprecher durchgegeben wurden. Aber das kam mir auch erst später in den Sinn. Es fiel mir auf, dass nie etwas von der Frau zu hören war. Ist das normal? Fast hätte ich die Polizei gerufen.

Und warum haben Sie das nicht getan?

Weil mir eben in den Sinn kam, dass da nur ein Porno gedreht wurde. Außerdem wird die Polizei oft für nichts herbeigerufen und muss dann so tun, als ob es nötig gewesen wäre. Daraus ergeben sich dann solche Vernehmungen wie diese hier.

Und was ist mit der anderen Frau, die mit den Shorts, die im Lieferwagen saß und mit dem Ball spielte? Warum hat sie den Lieferwagen verlassen, ohne ihn abzuschließen?

Das habe ich mich auch gefragt. Was auffällig war: Genau in dem Augenblick, als sie den Ball wegwarf, drehte sich ein Kran. Also nein, ich meine, es war andersherum: Der Kran drehte sich, und sie warf plötzlich den Ball weg über das Parkplatzplateau hinaus zu den Bäumen und rannte dann zu der Brüstung, an der sie hinabkletterte.

Wo standen Sie zu dem Zeitpunkt?

Wir waren kurz vorher ja abgewiesen worden, als wir ins Glattzentrum gehen wollten. Wir standen vor dem Rolltor.

Sind Sie von dem Rolltor direkt zum Lieferwagen oder sind Sie noch zur Brüstung gegangen?

Direkt zum Wagen.

Es war kurz vor zehn?

Ja.

Wie konnten Sie sehen, dass die Frau dem Ball nachge­klettert ist? Erstens war es schon dunkel. Zweitens handelt es sich um eine glatte Betonwand.

Tatsächlich? Auf jeden Fall hat sie den Ball weggeworfen und verschwand in Richtung Brüstung. Was sie dort genau gemacht hat, klettern oder einfach verschwinden, das habe ich nicht sehen können.

Sie hat den Ball also einfach so weggeworfen.

Ja, also wie gesagt, als sich der Kran drehte.

Was für ein Kran?

Ein Baukran natürlich. Es gab zu dem Zeitpunkt viele, sicher mehr als ein Dutzend. Es war einer der östlicheren, gelb, glaube ich.

Schauen Sie sich diese Aufnahmen an. Erkennen Sie die Frau?

Ja, so sah sie aus. Und wer ist der andere?

Der Mann sitzt in Untersuchungshaft. Er ist unter dem Namen Dominik Müller registriert. Kennen Sie ihn?

Nein, gar nicht.

Er ist der Besitzer des Lieferwagens.

Ach so, und warum nicht die Frau? Sie saß ja drin.

Sie heißt Antonia Maria Barragán. Hier sieht man sie am Rand des Kofferraumes, sie spielt mit einem Ball. Aber dahinten, da ist Dominik Müller. Sie schaut auf die Uhr und steht auf, aber sie wirft den Ball nicht über die Brüstung, sondern spielt weiterhin damit, während sie auf den Mann zugeht. Sie übergibt ihm etwas. Und genau jetzt, da, das sind Sie und wahrscheinlich Peli, Sie rennen von links in den Lieferwagen.

Können wir das bitte noch einmal anschauen? Dann zeige ich Ihnen den Kran. Konzentrieren Sie sich jetzt bitte nur auf den Kran. Sehen Sie, genau in dem Moment, als er von links nach rechts schwenkt, kommen wir ins Bild, wir bewegen uns von links nach rechts zum Lieferwagen und steigen ein.

In welcher Verbindung stehen Sie zu Barragán und Müller?

In keiner, wie gesagt. Warum fragen Sie?

Es geschieht ja nicht allzu oft, dass ein Lieferwagen unabgeschlossen und mit Schlüssel versehen auf einem Parkplatz herumsteht.

Es kann aber vorkommen.

Dominik Müller wurde am 3. August an der Grenze nach Italien am Steuer des Lieferwagens angehalten, den Sie gestohlen haben. Im Stoßstangenbereich befanden sich zwanzig Kilo Kokain. Sie stehen unter Verdacht, damit etwas zu tun zu haben.

Wird Kokain nicht eher von Italien nach Zürich geschmuggelt?

Normalerweise schon. Aber in diesem Fall war es nicht so.

Hören Sie, damit haben wir überhaupt nichts zu tun. Wir hatten ja wirklich ganz andere Sorgen.

Ebenfalls am 3. August wurden in der untersten Etage des Parkhauses des Glattzentrums fünfunddreißig Kilo Marihuana auf dem Boden gefunden.

Auf dem Boden, einfach so?

Sie und Peli haben sich am 30. Juli lange bei diesem Renault Twingo aufgehalten. In jenem Wagen war das Marihuana zuvor gelagert.

Ja und? Was wollen Sie damit sagen? Versetzen Sie sich doch einmal in unsere Lage. Stellen Sie sich vor, es wäre draußen sehr heiß. Sie würden durch ein Parkhaus gehen und die Autos zählen. Sie würden oben beginnen und sich nach unten vorarbeiten. Auf der ersten Ebene würden sie drei Autos zählen, auf der zweiten null, auf der dritten Ebene würden Sie drei zählen und auf der untersten Ebene genau eines. Angenommen, Sie wären müde, weil Sie vom Schwamendingerplatz bis zum Glattzentrum gelaufen wären. Auf welches Auto würden Sie sich dann setzen?

Ich hätte mich auf das mittlere Auto in der dritten Ebene gesetzt.

Und warum?

Aus Gründen der Symmetrie.

Und in dem mittleren Auto befand sich nichts Außergewöhnliches?

Nicht, dass ich wüsste.

Dann lassen Sie doch einmal Nachforschungen betreiben. Sie können doch nicht immer nur bei den anderen suchen.

Lenken Sie nicht ab.

Wir haben uns aus zwei Gründen beim Renault Twingo aufgehalten. Erstens, weil wir uns so nicht zwischen verschiedenen Autos entscheiden mussten, und zweitens, weil er in der untersten Etage stand, wo wir natürlich am müdesten waren.

Und Ihnen ist nichts Besonderes am Renault Twingo aufgefallen?

Doch, die Farbe eben: Sturmgrün.

Vier Tage später, am 3. August, haben die Überwachungskameras Folgendes aufgenommen. Die Aufnahmen brechen um 17:34 Uhr ab.

Warum brechen sie denn plötzlich ab?

Wegen eines Stromausfalles im gesamten Glattzentrum. Die Frau, die Sie hier sehen – ist das Peli?

Ja.

Was macht sie?

Das sehen Sie doch selbst! Aber warum ist denn der Strom ausgefallen?

Sagen Sie mir mit eigenen Worten, was Sie auf dieser Aufnahme sehen.

Also gut, wenn Sie es nicht selbst sehen, mache ich es gern! Da ist diese Frau, also ich meine, es ist Peli, die da etwas aus ihrer Hosentasche holt, es könnte ein Schlüssel sein, man sieht es aber nicht genau, auf jeden Fall sieht es so aus, als öffnete sie mit dem, was sie aus der Tasche geholt hat, den sturmgrünen Renault Twingo. Sie macht die hintere rechte Tür auf, beugt sich hinein. Und jetzt wirft sie etwas aus dem Auto. Sehen Sie das? Es ist ein Paket. Dann noch eines. Dann noch eines. Dann noch eines. Dann noch eines … Das hört ja nicht mehr auf! 35 Kilo sagten sie? Puh, jetzt noch eins und noch eins, kein schlechtes Tempo, ah, ist das jetzt das letzte? Da fliegt noch eins raus! Und jetzt, jetzt schiebt sie die Pakete auf dem Boden hin und her. Sie formt daraus ein Muster. Dann steigt sie ins Auto, kommt noch mal raus und rückt mit dem rechten Fuß drei Pakete zurecht, legt dann den Kopf schief und scheint auf alles einen prüfenden Blick zu werfen – oder? Dann nickt sie und steigt ein – und jetzt – oh, jetzt wird alles schwarz. Die Aufnahme bricht hier wohl ab. Und was genau interessiert Sie jetzt daran?

Sie sagten: Peli formt aus den Paketen ein Muster. Ich sehe keines.

Muster, Zeichen … das ist doch wichtig! Sie können das eben nicht erkennen. Es ist ja auch nicht für Sie gedacht. Ich werde darauf zurückkommen.

Woher hatte sie den Schlüssel zu diesem Auto?

Sie haben ja sicher auch einen Schlüssel zu einem Auto.

Dann gehört das Auto also ihr?

Wenn es ihr gehörte, warum sollte sie dann das Marihuana rauswerfen? Denken Sie doch einmal nach!

Schauen Sie sich jetzt diese Aufnahme an. Kennen Sie diesen Mann?

Der, der aus dem Renault Twingo steigt? Man sieht ihn nicht besonders gut. Ich kann es nicht genau sagen, nein, er kommt mir nicht bekannt vor.

Es handelt sich um den Besitzer des Wagens, Clemens Pohl.

Aha, gut. Dann haben Sie ja jetzt einen Besitzer. Was wollen Sie denn noch?

Gehen wir zurück zum Lieferwagen. Der Lieferwagen wurde am Abend des 30. Juli mehrmals fotografiert. Sehen Sie: zunächst um 22:30 Uhr auf dem Parkplatz des Gartencenters Guggenbühl in Windisch. Gut eine Stunde später an der Wiesenstrasse 3 in Oberwindisch. Was haben Sie an diesen beiden Orten gemacht?

Wie schön diese Aufnahmen sind. Danke! Ich wusste gar nicht, dass wir fotografiert wurden. Aber ehrlich gesagt überrascht es mich auch nicht. Es werden ja immer so viele Fotos gemacht, da ist von allem etwas dabei. Fast hätte ich vergessen, wie gut er aussah, dieser Lieferwagen der Markes Mercedes. Um ein Haar hätte ich gesagt unser Lieferwagen, aber es war ja gar nicht unser. Nur eine kurze Strecke unseres Weges sollte er uns begleiten. Viel zu früh haben wir ihn später wieder aus den Augen verloren. Aber es ist wichtig, Dinge wieder loslassen zu können, sonst versteift man sich zu sehr auf etwas und es nimmt ein böses Ende.

Es sieht nun tatsächlich so aus, als ob der Lieferwagen für eine Weile, wo sagten Sie, in Unterwindisch?, geparkt war.

Nun gut! Damals fuhren wir also auf dem Parkplatz des Glattzentrums los. Peli schaute aus dem offenen Fenster. Sie suchte nach Kränen, aber sie waren von der Nacht verschluckt. Wir fuhren an Baustellen vorbei, Baggern und Absperrungen. Dann kamen wir zu einer Tankstelle. Dort gab es eine große Auswahl an Weißweinen, gesalzenen Nüsschen und Zimtkaugummis. Wir sagten uns: Es kommt immer auf das richtige Maß an. Und wenn man nur selbst ruhig genug ist, beruhigt das auch die anderen. Und so war es dann auch. Wenig später nahmen wir wieder Fahrt auf, tranken von dem Weißwein, aßen von den Salznüsschen und von den Zimtkaugummis. Ich ließ mich ein paar hundert Meter von einem SUV provozieren, Peli trommelte mit ihren Fingern einen Rhythmus gegen das Verdeck, und dann bogen wir plötzlich ab. Wir fuhren aus der Stadt hinaus, an Autosalons vorbei, an langen Firmengebäuden, an weiteren Baustellen, durch die Dörfer der Umgebung. Die Nacht war lau, die Lichter weich. Alles schien auf uns gewartet zu haben.

Peli schaute gierig auf die Häuser. Die haben keine Ahnung, sagte sie. Wie so oft musste ich ihr recht geben. Auch die Zierpflanzen hatten keine Ahnung und die Gartenstühle. Ganz besonders aber die Gipsstatuen nicht, von denen es sehr viele gab in jenem Sommer, vielleicht mehr als je zuvor. Wie konnte es sein, dass ich sie vorher nie bemerkt hatte? Arglos standen sie in den Gärten und vor den Haustüren.

Ich verlangsamte den Wagen und hielt an. Peli öffnete die schwere Autotür und ging einen schmalen Weg in einen Garten hinein. Die warme Nacht drang durch das offene Fenster, meine Hände schwitzten. Ich sah Peli hinterher. Sie stand vor einem Gartenstuhl aus grauem Metall mit einem gelben Sitzpolster. Sie schien sich zu sammeln. Die Gräser nickten oder beteten, es war zu dunkel, um es genau zu sehen. Ein Ruck ging durch ihren Körper, sie hob den Gartenstuhl hoch über ihren Kopf und ein Kichern brach aus ihr heraus, während sie kurz so stehen blieb. Dann brachte sie den Stuhl zum Lieferwagen, klappte die hintere Türe auf, schob ihn hinein und knallte die Türe wieder zu, recht laut, wie ich fand, aber es rührte sich nichts. Wenige Kilometer entfernt fanden wir einen Schwan aus Stein an einem Weiher. Peli Rouge bückte sich zu ihm nieder und nahm ihn sanft auf, als ob er aufwachen könnte. Sie erinnerte mich in jenem Moment an diese Bilder von Jesus, auf denen er das verlorene Schaf im Arm hat. Das Schaf hatte gar nicht bemerkt, dass es verloren war, aber als es in seinen Händen lag, fühlte es sich an einem besseren Ort.

Nicht weit entfernt – eine Meile südwärts – saß unter üppigem Schilf ein gähnender Gipslöwe. Auch er kam mit. Niemand hatte etwas dagegen. Und so nahm alles seinen natürlichen Lauf. Anscheinend hat ja auch niemand Anzeige erstattet. Wir haben allen etwas abgenommen. Es war natürlich nicht so, dass uns alles, was wir mitnahmen, gefiel. Im Gegenteil sogar. Aber ging es hier um unseren persönlichen Geschmack? Die Sachen waren nun halt einmal da und mit dem, was ist, muss man zu leben lernen. Darum wollten wir auch von jeder Art unbedingt mehr als zwei. Noah ist durch, sagte Peli, als sie den dritten Löwen anschleppte.

Sie müssen wissen, dass Peli stark ist. Ich konnte sehen, wie sie mit ihren Muskeln spielte, bevor sie anpackte. Bald entwickelte sich ein Ritual zwischen uns. Wenn sie mit einer Sache angelaufen kam, drückte ich bereits aufs Gaspedal, sie rannte los, warf es im Laufen hinein, schlug rennend den hinteren Türflügel zu und schwang sich scheinbar im letzten Moment wieder neben mich auf den Beifahrersitz, sodass es wie ein Überfall aussah. Aufheulend gab ich Gas. Wir hofften, dass man uns nachsehen würde, aber es rührte sich nichts. Waren wir enttäuscht? Ich würde eher sagen, wir kämpften mit Erwartungen. Peli meinte, dass große Veränderungen immer unbemerkt geschähen, währenddessen drehe sich alles um Nebensächliches. Darum werde es sich auch erst dann um uns drehen, wenn wir unwichtig geworden seien. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, muss ich sagen, dass sie recht behalten hat. Es stimmt, dass wir damals gerne von der Polizei verfolgt worden wären. Wir sehnten uns nach Geschwindigkeit und Sirenen. Aber wenn man etwas besonders stark will, dann geschieht es eben gerade nicht. Und jetzt, wo es so weit ist, dass sich die Polizei für mich interessiert, ist es mir nicht mehr so wichtig.

Warum haben Sie auf dem Parkplatz vor dem Garten­center Guggenbühl in Windisch angehalten?