Öffnet die Grenzen! - John Washington - E-Book

Öffnet die Grenzen! E-Book

John Washington

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Beschreibung

Eine restriktive Grenzpolitik führt zu Leid und Tod. Geschlossene Grenzen zwingen Migrant:innen auf ihrer Suche nach Sicherheit und Würde dazu, Meere auf unsicheren Wegen zu befahren, Wüsten zu durchqueren und über meterhohen Stacheldraht zu klettern. Allein in den vergangenen fünf Jahren sind weltweit mindestens 60.000 Menschen bei ihrem Versuch gestorben oder verschwunden, eine Grenze zu überqueren. Washington präsentiert eine im gegenwärtigen gesellschaftlichen Klima fast schon radikale Lösung: Öffnet die Grenzen! Provokativ und großartig geschrieben räumt "Öffnet die Grenzen!" mit dem weltweit verbreiteten Mythos auf, dass geschlossene Grenzen zu größerer nationaler Sicherheit führen oder dass Migration negative wirtschaftliche Auswirkungen hat. Stattdessen zeigt er, was offene Grenzen in den USA, in Europa und anderswo wirklich bedeuten, wie sie in der Vergangenheit bereits funktioniert haben und warum an ihnen kein Weg vorbeiführt, wenn wir eine gerechtere Welt wollen. "Öffnet die Grenzen!" gibt uns praktische Argumente an die Hand, um gängige Mythen um das Thema zu kontern. In Zeiten zunehmender Abschottung und nationaler Verdunkelung ist das Buch ein Lichtblick für einen rationalen und empathischen Umgang mit Migrationsbewegungen heute und in Zukunft.

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Seitenzahl: 433

Veröffentlichungsjahr: 2024

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John Washington ist US-amerikanischer Journalist und Übersetzer. Er ist Teil von Arizona Luminara, einer progressiven, bilingualen Zeitung für den Bundesstaat Arizona, und seine Artikel sind bereits in The Atlantic, The Washington Post, The Nation und The Intercept erschienen. Er schreibt über Migration und die Grenze zwischen den USA und Mexiko, das US-amerikanische Justizsystem und den Klimawandel. Sein erstes Buch The Dispossessed: A Story of Asylum at the US-Mexico Border and Beyond ist 2020 bei Verso Books erschienen.

John Washington

Öffnet die Grenzen!

Argumente gegen Abschottung

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Michael Schiffmann

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

John Washington:

Öffnet die Grenzen!

aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Michael Schiffmann

1. Auflage, Juni 2024

eBook UNRAST Verlag, Oktober 2024

ISBN 978-3-95405-202-8

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Titel der Originalausgabe:

The Case for Open Borders

© John Washington 2023

2023 erschienen bei Haymarket Books, Chicago, Illinois

Umschlag: Felix Hetscher, Münster

Satz: Andreas Hollender, Köln

Für Daniela

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Vorwort

Einführung: Womit wir heute konfrontiert sind

Kapitel 1: Abu Yassin und der Freundschaftsdamm

Kapitel 2: Das historische Argument

Kapitel 3: Shafa und die harten, kinetischen Lösungen

Kapitel 4: Das wirtschaftliche Argument

Kapitel 5: Das politische Argument – nie nur Theater

Kapitel 6: Es ist dringlich, oder: das ökologische Argument

Kapitel 7: Wie kommen wir dorthin?

Kapitel 8: Josiel und die eisernen Obelisken

21 Argumente für offene Grenzen

Danksagung

Zu den Quellen

Bibliografie

Anmerkungen

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Im Jahr 1847 kamen in einem Zeitraum von nur sieben Monaten 53.000 Deutsche in New York City an. Bei einer damaligen Bevölkerung von nicht ganz 400.000 Einwohner*innen erlebte die Stadt – vorwiegend durch deutsche und irische Einwander*innen – einen raschen Bevölkerungsanstieg von fast 30 Prozent.

Die New-Yorker*innen waren beunruhigt. Nativistische und deutschenfeindliche Einstellungen griffen rasch um sich. Viele Amerikaner*innen innerhalb wie außerhalb New Yorks befürchteten, die gerade eingetroffenen Deutschen würden sich nie assimilieren lassen. Die Nativist*innen bezeichneten die Deutschen abwertend als ›Hunnen‹, beschrieben sie als Barbaren und suchten nach Möglichkeiten, eine weitere Einwanderung von Deutschen zu verhindern. Ihr Versuch blieb erfolglos.

Ende des 19. Jahrhunderts gab es in den Vereinigten Staaten mehr als tausend deutschsprachige Zeitungen. 1910 waren die Deutschen die größte Gruppe in den USA, deren Muttersprache nicht Englisch war. Im selben Jahr waren 8,6 Millionen der 92 Millionen Einwohner*innen des Landes entweder selbst in Deutschland geboren oder Kinder dort geborener Eltern. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde auf Plakaten und in politischen Reden eine massive deutschenfeindliche Propaganda betrieben. Heute, ein Jahrhundert später, ist den German-Americans die erste Hälfte ihres Doppelnamens verlorengegangen. Was könnte amerikanischer sein, als Lager-Bier zu trinken, Bratwurst und pretzel zu essen und seine Kinder in den kindergarten zu schicken?

Das ist ein Muster, das in den USA seit dem 17. Jahrhundert und bis heute zu finden ist: Neue Gruppen von Ausländer*innen kommen ins Land, die Amerikaner*innen betrachten sie als nichtsnutzige Faulenzer*innen, Schmarotzer*innen oder Schlimmeres. Und dann, meist innerhalb einiger Jahrzehnte (wenn sie weiß sind), aber manchmal (wenn sie Braun oder Schwarz sind) auch nach etwas längerer Zeit, werden sie allmählich Teil des sozialen Gefüges und die Amerikaner*innen projizieren ihre Ängste und ihre Wut auf eine andere Gruppe.

Jahrhundertelang waren es gerade Europäer*innen, die auswanderten. Sie machten sich auf zum amerikanischen Kontinent, nach Afrika, nach Indien und in andere Regionen der Welt. Dabei zwangen die Europäer*innen auch andere Menschen zur Migration. Sie verschleppten mehr als zwölf Millionen Menschen gewaltsam über den Atlantik auf den amerikanischen Kontinent, und durch die Schuldknechtschaft zwangen sie Millionen aus oder nach Indien, China und Indonesien.

Seitdem haben die Verhältnisse sich umgekehrt. Jetzt sind es nicht mehr (so sehr) die Italiener*innen, Brit*innen, Deutschen, Französ*innen oder Pol*innen, die ihre Heimat verlassen, sondern Menschen aus Afrika, dem Nahen Osten, Asien und anderen Regionen. Und jetzt, wo viele Afrikaner*innen aus einem Kontinent fliehen, den die Europäer*innen jahrhundertelang unter sich aufgeteilt und brutal ausgebeutet haben, jetzt, wo ›sie‹ nach Europa kommen, um dort Sicherheit und Schutz vor Not zu finden, jetzt wollen die Europäer*innen Mauern bauen, um sie draußen zu halten.

Offene Grenzen? Das scheint unmöglich, ja, geradezu skandalös zu sein. Aber ist es nicht das, was die Deutschen seit langer Zeit genießen? Derzeit gibt es nur wenige Grenzen auf der ganzen Welt, die deutschen Bürger*innen ihre Bewegungsfreiheit nehmen würden. Heute leben etwa vier Millionen in Deutschland geborene Menschen außerhalb ihres Geburtslandes. Keine Passanforderungen, keine Asylrestriktionen und keine Mauern haben sie daran gehindert.

Und doch haben die Deutschen in gewisser Hinsicht Pech. Sie befinden sich nicht direkt an ›der Grenze‹, jetzt jedenfalls nicht mehr. Das – und die Tatsache, dass sie sich nicht mit den chaotischen Randgebieten der Festung Europa auseinandersetzen müssen – könnte wie etwas Gutes erscheinen, aber unangenehme Wahrheiten zu begraben oder anderswohin zu delegieren ist schlechter und schädlicher, als sich mit ihnen unmittelbar auseinanderzusetzen. Italien und Griechenland befinden sich an den Fronten der heutigen Massenmigration, und das offizielle Handeln ihrer Regierungen ist unmoralisch und widerlich, wenn sie Boote zurück aufs offene Meer treiben und zusehen, wie Tausende ertrinken. Aber tatsächlich ermutigen, ermöglichen und unterstützen Deutschland, Frankreich und die Europäische Union dieses Handeln, während sie gleichzeitig leugnen, dass es stattfindet, und ihre und unsere Augen davor verschließen.

In der Politik werden Handlungen am besten durch ihre Konsequenzen verstanden, nicht durch Absichtserklärungen oder die Rhetorik, in die sie gehüllt sind. Wenn die Europäische Union der Versuchung nachgibt, den Problemen mit Grenzschließungen und Repressalien sowie mit winzigen und kleinmütigen Reformen zu begegnen, mit denen Asylsuchende abgewehrt und zurückgestoßen werden, besorgt sie damit das Geschäft der extremen Rechten. Was die Konsequenzen selbst betrifft, so versteht man sie am besten, indem man sie sich mit klarem und unbestechlichem Blick ansieht: Wenn man libysche Milizen finanziert, damit sie Schiffe nach Afrika zurückschleppen, werden Migrant*innen gekidnappt werden. Wenn man Kommandogruppen einsetzt, um aus der Türkei kommenden Asylsuchenden den Weg zu versperren, werden sie Migrant*innen ›verschwinden lassen‹. Wenn man Europa mit einer Mauer der Gesetzlosigkeit umgibt, werden Migrant*innen leiden und sterben.

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2023 sagte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz: »Das Grundrecht auf Asyl ergibt sich aus der deutschen Geschichte.« Ergibt sich ist hier eine interessante Wortwahl. Damit meine ich nicht, dass Scholz in jedem seiner Interviews wieder die Geschichte des deutschen Faschismus besprechen sollte oder dass er nicht über den Nazismus empört ist oder diesen zu wenig verdammt. Aber man sollte Staatssoberhäupter nicht so leicht davonkommen lassen, besonders dann nicht, wenn sie sich allzu groben Vereinfachungen hingeben oder wenn ihre Worte nicht ihren Taten entsprechen. Der gegenwärtige Sog, der Asylsuchende nach Deutschland zieht, ist auch das Ergebnis von Jahrzehnten von politischen Entscheidungen, die nach dem Sturz des Dritten Reichs getroffen wurden. Die fortwährende Migration nach Europa ist auch eine Konsequenz von Jahrhunderten der europäischen Einmischung, Intervention, Eroberung und Ausbeutung überall in Afrika, im Nahen Osten und Asien.

Im selben Interview meinte Scholz, Deutschland und andere Länder sollten sich darauf konzentrieren, »den Schutz der europäischen Außengrenze [zu stärken], damit weniger den Weg nach Europa finden«. Zuerst das Prinzip des Asyls anzuerkennen, aber dann Asylsuchenden dieses Recht vorzuenthalten, oder erst die Menschenrechte im eigenen Land zu preisen und zu verteidigen, aber dann Millionen von Menschen in der Kälte der Rechtlosigkeit draußen vor der Tür stehen zu lassen, ist der Gipfel an bornierter Heuchelei. Denn was sich daraus ergibt, wird Tod durch Ertrinken sein.

Wie wir am Fall der USA sehen können, verhindern Grenzen die Migration nicht, sondern machen sie lediglich gefährlicher und tödlicher. Die beste Art, Fremdenfeindlichkeit und Faschismus zu bekämpfen, ist, sich von Prinzipen leiten zu lassen. Und diese Prinzipien dürfen nicht durch Wankelmut oder Furcht verwässert werden.

Das Wort ›Willkommenskultur‹ ist nicht leicht ins Englische zu übersetzen. Im Englischen braucht man zwei Wörter, wodurch die Redundanz des deutschen Wortes klarer zutage tritt. Kultur enthält ja schon das Konzept des Willkommenheißens. Auch wenn die Verfechter*innen von Grenzrestriktionen das vielleicht anders sehen: Eine statische oder geschlossene Kultur ist auch eine tote Kultur. Und der Schutz einer toten Kultur ist eine gefährliche Mission, die leicht in den Abgrund führen kann. Er bringt eine Essentialisierung des Deutschseins und seine Abschottung vor dem Anderen sowie eine Rückwendung zu einer repressiveren und segregierteren Vergangenheit mit sich. Die Grenzen geschlossen zu halten, um die Idee von ›Deutschland‹ zu schützen, ist letztlich ganz analog zu den Bemühungen, ›Amerika wieder groß zu machen‹. Ich habe keine wissenschaftlichen Kenntnisse über die deutsche Sprache, aber ich kann auch so sehen, dass ›Kultur‹ ›Willkommenheißen‹ miteinschließt und dass beides untrennbar miteinander verbunden ist. Um das eine wie das andere zu schützen, muss man die Tore öffnen.

Vorwort

Ich mag Grenzen. Grenzen sind Orte des Zusammentreffens, des Zusammenstoßes und der Mischung. Sie bringen Kulturen – Sprachen, Künste, Küchen, Gewohnheiten – zum Vorschein, indem sie ihre Unterschiedlichkeit und ihre Begrenztheit zeigen, sie loten aus, vermischen und bringen durcheinander. Grenzen sind da, wo Menschen Waren, Ideen und Überzeugungen austauschen. Sie sind Orte des Erfindergeists, der mezcla, der Wortschöpfungen und des entrepôt. Grenzen markieren Unterschiede und Möglichkeiten: Als Stätten der Schönheit und der Begriffsbestimmung, der Legierung und der Schöpfung inspirieren sie dynamische und unerwartete Harmonie. »Etwas ist nur, was es ist«, wie Hegel sagte, »in seiner Grenze und durch seine Grenze.«

Aber leider besudeln extrem gewalttätige und erschütternd ausbeuterische Regime das schöpferische und vielstimmige Potential von Grenzen. Indem wir zur Abwehr, zur Vertreibung und zur Unterdrückung greifen, verwandeln wir die Schwellen zwischen hier und da in Barrikaden.

Wie reagieren wir auf solch eine immer weiter um sich greifende Abwehr von Menschen, menschlichem Anstand und menschlichen Möglichkeiten?

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Viele Menschen in den Grenzregionen der Welt erleben etwas, was Forscher*innen auf diesem Gebiet als Menschenrechtsbegegnung bezeichnen. Bei einer solchen Begegnung trifft man auf Menschen, die eine Grenze überquert haben, obwohl sie das eigentlich nicht dürfen, und dann steht man vor der Wahl. Man kann ihnen zu trinken geben, ihnen Unterkunft bieten oder sie weiterfahren, aber mit dieser Hilfe riskiert man selbst eine Festnahme, eine Anklage oder sogar eine Haftstrafe. Ich lebe in Arizona nur eine Stunde von der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze entfernt, und dort kann diese Art Hilfe als Ordnungswidrigkeit der Klasse eins (oder als eine Straftat) eingestuft werden, die mit einem Bußgeld von bis zu tausend Dollar oder wahlweise auch mehreren Monaten Gefängnis bestraft wird. Man kann aber auch dem Gesetz gehorchen, nichts tun und kein Risiko eingehen. Man muss sich entscheiden. Es ist das eine oder das andere.

Statt solche Momente Begegnungen zu nennen, sollte man sie besser als Konfrontationen bezeichnen: Menschen sind mit dem Gesetz konfrontiert.

Meine erste solche Konfrontation (von denen ich seitdem viele erlebt habe) ereignete sich Mitte der 2000er-Jahre, als ich in Südkalifornien auf einen jungen Mann stieß, der über die Grenze gekommen war und sich in Schwierigkeiten befand. Ich fuhr damals mit einem Freund zusammen auf einer menschenleeren Straße in der Anza-Borrego-Wüste und wir befanden uns etwa 80 Meilen östlich von San Diego und 15 Meilen nördlich von der Grenze. Das Tal, durch das wir gerade kamen, liegt zwischen Bergen der Peninsular Ranges im Westen des Bundesstaates, von denen aus man an klaren Tagen in der Ferne den Wiederschein des Pazifiks sehen kann, und der flachen Weite des Imperial Valley im Osten. In der Wüste fuhren wir durch lange Abschnitte hügeligen Buschlands, das sich manchmal mit grabendurchfurchtem Ödland oder mit Palmoasen abwechselte. Wir hatten vor, uns an einem Feuer etwas zu essen zu machen, ein bisschen Whiskey zu trinken und dann unter freiem Himmel zu übernachten. Jetzt waren wir nur ein paar Meilen von dort entfernt, wo wir uns niederlassen wollten, an einem einfachen Flecken Erde unweit einer Reihe winddurchwehter Canyons, als wir sahen, dass da jemand am Straßenrand stand.

Das war zu der Zeit, als ich noch kein Spanisch konnte und bevor ich, abgesehen von den Geschichten meiner Mutter über ihre Flucht aus Rumänien, eine große Ahnung von Grenzen oder Migration hatte. Ich hielt an. Die Figur am Straßenrand – ein Junge, offenbar noch keine zwanzig – trat auf die Straße.

Er hatte eine dünne, schwarze Kapuzenjacke und staubverkrustete Jeans an und trug eine Mütze mit kaputter Krempe. Sein Gesicht war pickelig. Bei sich trug er einen leeren Kanister. Er sah uns an, als wäre er gerade erst wieder zu sich gekommen.

Er ließ die die Sprachbarriere hinter sich, indem er agua sagte und sich, statt Trinkbewegungen nachzumachen, an den Hals fasste, als habe er damit Probleme, und machte uns deutlich, dass er völlig fertig und sehr durstig war, dass er lange gelaufen war und dass er eine Mitfahrgelegenheit in den nächsten Ort brauchte. Mein Freund und ich sahen uns an und blickten dann wieder auf den Jungen. Wir gaben ihm etwas Wasser und waren uns immer noch nicht sicher, was wir tun sollten. Dann versuchte ich, ihm zu erklären, dass es zum nächsten Ort noch weit war und dass hier Leute von der Grenzpatrouille unterwegs waren. Wir gaben ihm eine halbe Tüte Orangen und füllten seinen Wasserkanister auf. Ich murmelte eine Entschuldigung und wünschte ihm Glück, und dann fuhren wir weiter.

Als wir zwanzig Minuten später unsere Sachen aus dem Auto luden, hielt ich inne. Was zum Teufel hatten wir uns eigentlich gedacht? Wie hatten wir ihn einfach am Straßenrand stehenlassen können? Wir sprangen in den Wagen und rasten zurück zu der Stelle, wo wir ihn gesehen hatten. Er war nicht mehr da. Wir fuhren hin und her, liefen am Straßenrand entlang, riefen nach ihm. Er war spurlos verschwunden. Wir waren uns nicht einmal sicher, wo genau – an welcher Stelle der vorbeiziehenden Büsche und Kakteen, Gräben und Hügel – wir ihn gesehen hatten.

Später am Abend tranken wir unseren Whiskey, und danach krochen wir in unsere Schlafsäcke und schliefen schlecht. Als ich am nächsten Morgen mit leichtem Kopfweh im hellen Licht des Morgengrauens aufwachte, nahm ich einen tiefen Schluck aus meiner Wasserflasche, bevor ich Kaffee machte. Wo hatte dieser junge Mann, dieser Junge, geschlafen? Hatte er schon alle Orangen gegessen? War er die ganze Nacht durch die Dornenbüsche gelaufen und hatte er sich in ausgetrockneten Flussbetten versteckt, während er mit seinem Marsch entlang dieser unbeleuchteten Straße sein Leben und seine Freiheit riskierte?

Ich hatte an diesem Tag eine gewaltsame Handlung begangen – einen gewaltsamen Akt der Unterlassung. Bei den Deutschen war früher einmal der Ausdruck Mauerkrankheit geläufig. Diese ist auch eine Form von Gewalt, eine Krankheit, bei der die Mauer in den Kopf eindringt, und sie ist eine der gefährlichsten Entwicklungen der heutigen Welt. Sie bringt Millionen von Menschen in Gefahr, die aufgrund von Krieg, wirtschaftlicher Ausplünderung und Klimakrisen ihre Heimat verlassen müssen und die dann (sowohl vom Gesetz als auch durch das alltägliche Handeln von Menschen wie mir, die sich weigern, sich anständig und human zu verhalten) daran gehindert werden, anderswo eine Heimat zu finden.

Mein Verhalten in der Anza-Borrego-Wüste an diesem Tag war mein persönlicher Fehler. Aber wenn man die Verantwortung für eine eigene falsche Handlung übernimmt, bedeutet das nicht, dass man nicht auch mit dem Finger anderswohin zeigen kann, dass man nicht das Recht hat, ein System zu verurteilen, dass Menschen dazu erzieht und von ihnen erwartet, diejenigen innerhalb der Mauer zu begünstigen und zu schützen und die außerhalb zu benachteiligen und zu ignorieren.

Wenn ich auf diese Erfahrung in der Wüste Südkaliforniens zurückblicke, finde ich am bemerkenswertesten, wie wenig ich wusste. Ich wusste nicht nur nichts von der rechtlichen Lage meines Gegenübers (oder meiner eigenen), sondern auch nichts darüber, wie wahrscheinlich es war, dass man uns erwischt hätte, wenn ich ihn mitgenommen hätte, oder über die genaue Schwere der dann zu erwartenden Anklagen oder Strafen. Und ich wusste nicht nur nichts über seine Situation, darüber, wo er herkam (sehr wahrscheinlich aus Südmexiko oder Zentralamerika), oder über die Geschichte seines Heimatlandes und die gegenwärtige Realität und die aktuellen Kämpfe dort oder die Politik meines eigenen Landes gegenüber seinem oder über ihre verzahnte Geschichte, in deren Verlauf seines durch meines geplündert, destabilisiert, überfallen und die Menschen dort ausgebeutet wurden. Zu alledem wusste ich außerdem auch nichts über seine grundlegende Situation als Mensch. Ich hatte keine Ahnung von Empathie, sondern stattdessen einen großen Mangel daran.

Ich sah nicht einmal seine elementare und offensichtliche Not: hungrig, durstig, in Gefahr. Statt das zu sehen und Mitgefühl zu haben, hatte ich Angst. Angst um mich, trotz all der Bequemlichkeiten, die mich umgaben: das Essen, das Wasser und der Whiskey in meinem Kofferraum, meine Wohnung, die daheim in der Stadt auf mich wartete, und meine große Fähigkeit, seine Mühsal zu verdrängen. Ich wusste nichts über die Brutalität seiner Lage, obwohl sie mir direkt ins Gesicht starrte. Und das ist eine sehr weitreichende und tiefverwurzelte Ignoranz.

Aber inzwischen weiß ich etwas, und zwar auf eine Art, die sich wie die tiefste Form von Wissen anfühlt, die wir haben können: Ich hätte diesem Jungen helfen sollen.

Die Tatsache, dass die Macht der Grenze mich gegenüber dieser klaren, offensichtlichen und einfachen Wahrheit so blind machen konnte, offenbart aber ihrerseits noch etwas anderes: Die Tentakel der Grenze hatten mich so fest in ihren Griff bekommen, dass ich ihre Macht nicht sehen konnte. »Mauern schneiden sich tief in uns ein«, schreibt die politische Philosophin Wendy Brown, nämlich »in unsere Psyche und unsere Seelen.« Und ich weiß außerdem, dass ich keine Idee so tief in mir haben will, die so grundlegend verändert – und vergiftet –, wer ich bin und wie ich mich gegenüber anderen Menschen verhalte.

In den 15 Jahren, die seit diesem Vorfall vergangen sind, habe ich versucht, einige meiner Wissenslücken zu füllen (auch wenn noch etliche bleiben) und mich von meiner eigenen ›Mauerkrankheit‹ zu heilen. Nach all diesen Jahren, in denen ich anderen zugehört und über Migration und Grenzen berichtet habe (die ich dabei oft als Reporter oder aus Lust und Laune überschritt), ziehe ich den folgenden Schluss: Die Menschen sollten die Möglichkeit haben, dahin zu gehen oder zu migrieren, wohin sie müssen oder wollen.

Wogegen wir (so konstruktiv das irgend möglich ist) einschreiten sollten, ist die Praxis und das Verhalten, Menschen einfach am Straßenrand stehenzulassen. Wir sollten uns nicht vor dem Überschreiten einer Linie auf einer Landkarte fürchten, sondern vor einer Gesellschaft, die Menschen dazu veranlasst, verzweifelten Menschen elementare Hilfe zu verweigern und sie in der Wüste am Straßenrand zurückzulassen.

Aber wir leben nicht alle in einer Grenzregion. Wir sind nicht alle zu einer ›Menschenrechtsbegegnung‹ und zu der Entscheidung gezwungen, ob wir einer vollkommen durstigen, hungrigen und erschöpften Person zu Hilfe kommen wollen oder nicht. Und doch betrifft es uns alle.

Als Mitglieder der Gesellschaft auf ›dieser‹ Seite der Mauer (obwohl auch viele, die physisch auf ›dieser‹ Seite leben, durch papierene Mauern oder staatliche Marginalisierung und Unterdrückung auf die ›andere‹ Seite gedrängt werden) sind wir täglich auf die ein oder andere Art hiermit konfrontiert, nicht zuletzt als Steuerzahler*innen, die Grenzbehörden finanzieren, deren Mitarbeiter*innen Menschen, die diese Mauern zu überwinden versuchen, jagen, schlagen, in Handschellen legen, einsperren und abschieben. Wir treffen hier alle unsere Entscheidung.

»But ‘tis a single Hair –A filament – a law –A Cobweb – wove in Adamant –A Battlement – of Straw –

A limit like the VeilUnto the Lady’s face –But every Mesh – a Citadel –And Dragons – in the Crease –«[1]

– Emily Dickinson

»Wir verlernen einige Dinge, und das ist gut, vorausgesetzt, dass wir etwas anderes lernen, während wir sie verlernen. Es darf im Herzen des Menschen keine Leere sein! Bestimmte Formen werden niedergerissen, und das müssen sie auch, aber nur unter der Bedingung, dass darauf ein Wiederaufbau folgt.«

– Victor Hugo, Les Misérables

Einführung: Womit wir heute konfrontiert sind

Es gibt heute mehr geschlossene Grenzen als je zuvor in der menschlichen Geschichte. Allein in den letzten 50 Jahren wurden 63 Grenzmauern zwischen Ländern errichtet und Watchdog-Organisationen zählen mindestens 2.250 Haftzentren für Immigrant*innen auf der ganzen Welt, Orte, wo Menschen in Lager gesperrt werden und schreckliches Elend erleben. Unterdessen ist die Zahl entwurzelter und vertriebener Menschen weltweit auf über 100 Millionen gestiegen.

Grenzen werden immer mehr aus Zonen des Handels und des kulturellen Austauschs, der neuen Möglichkeiten und gemeinsamer Kreativität zu Orten der Gewalt und der Abweisung. Sie fungieren als grausame Manifestationen von Rechtlosigkeit, Marginalisierung und Ausbeutung; an ihnen werden Menschenleben und Demokratie den Drachen der Missgunst geopfert. 2022 wurden im Grenzgebiet zwischen den USA und Mexiko die Leichen von fast 900 Migrant*innen gefunden. Es war die höchste Zahl, seit es Aufzeichnungen darüber gibt. Im selben Jahr starben mindestens 2.062 Migrant*innen bei dem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen.[2]

Geschlossene Grenzen sind Werkzeug und Manifestation konzentrierter Macht, sie fungieren als Rechtfertigung und Entschuldigung für die Ausübung von Herrschaft sowie für eine tiefverwurzelte Marginalisierung und Ausbeutung. Aber Grenzen sind keine unverzichtbare Außenhaut, ohne die der Staatorganismus schutzlos wäre und zugrunde gehen müsste. Und sie sind auch alles andere als ein Zeichen von Rechtsstaatlichkeit oder Souveränität, da Macht und die Herrschaft des Gesetzes sowohl innerhalb als auch außerhalb der rechtlichen Grenzen des Staates unabhängig voneinander zu- und abnehmen können. Was also sind Grenzen?

Grenzen sind sowohl das, was ich gerade erwähnt habe, als auch all das, worauf ich noch zu sprechen kommen werde. Sie sind zugleich Spiegel und Fenster und reflektieren und zeigen damit beide Seiten der Linie. Sie sind Sprungbrett wie Falltür, Orte der Einheit und der Zwietracht, und sie fachen Kriege an und beenden sie. In ihrer Funktion als fetischistische Monumente und ohnmächtige Manifestationen nationalistischer Wut sind sie eine relativ neue politische Erfindung,[3] und sie bleiben auch weiterhin schlecht kontrolliert und kaum verstanden, obwohl sie weiter wuchern, sich ausdehnen und dabei noch weit über die künstlichen Linien, die sie ziehen, hinauswirken. Die Grenzen zu öffnen, wird ein Anfang sein, aber bei weitem nicht ausreichen.

»Das heutige Leben ist von allen Richtungen her von Grenzen bestimmt«, schreibt Thomas Nail in seinem Buch Theory of the Border. »Von den biometrischen Daten, die noch die kleinsten Details unseres Körpers extrahieren, bis zu den Drohnen, die die enorme Weite unseres nationalen und internationalen Luftraums patrouillieren, werden wir durch Grenzen definiert.« Grenzen sind weit mehr als zwischen Staaten errichtete internationale Barrieren: Sie sind vielfältige und miteinander verwobene Kontroll- und Überwachungstechnologien. Während die Kontaktzonen zwischen Staaten immer stärker militarisiert und zunehmend als nationalistische Aufforderungen zur Abtötung jeder Moral benutzt werden, kommen Mechanismen wie Gesichtserkennung und Datenfesseln in wachsendem Maß zu den physischen Mechanismen hinzu. Das System fährt zweigleisig; es gibt Gräben und Fallgitter, und es gibt die Grenzpatrouille und die Einwanderungsbehörde ICE (Immigration and Customs Enforcement). Grenzen schieben sich nach außen, bohren zugleich immer weiter nach innen und dringen immer stärker in unseren Alltag ein. Das 21. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Grenzen.

Und doch sind wir – immer noch – mobil. Migration ist nichts dem Menschen Äußerliches oder Anomales, sondern ein anthropologisches Merkmal, das für uns kennzeichnend ist. Oder wie Suketu Mehta es in seinem Buch This Land Is Our Land formuliert: »Menschen sind keine Pflanzen.« Worum es hier geht, ist die Frage, ob wir auf die menschliche Mobilität, die sich durch den Klimawandel und ständig neue politische Krisen noch weiter intensiviert, reagieren, indem wir die betroffenen Menschen kriminalisieren, jagen, schikanieren und ermorden, oder ob wir sie willkommen heißen und ihnen zu Hilfe kommen. Geschlossene Grenzen entsprechen nicht unserem Wesen. Stattdessen intensivieren sie schon bestehendes Unrecht und fügen diesem neues hinzu.

Dieses Buch stellt eine der wichtigsten Fragen unserer Zeit: Wer gehört dazu?

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Ich konzentriere mich in diesem Buch weitgehend auf die Vereinigten Staaten, und zwar zum einen, weil ich selbst ein Bürger dieses Landes bin und seine Grenzen wesentlich besser kenne und weitaus öfter überschritten habe als die Grenzen anderer Länder, und zum anderen, weil die USA eine einzigartige Geschichte der Immigration haben.

Während der hundert Jahre von etwa 1800 bis 1900 repräsentierte die Einwanderung in die Vereinigten Staaten drei Viertel der weltweiten Immigration. Auch im 20. und 21. Jahrhundert blieben die USA mit großem Abstand das Land mit den höchsten Einwanderungszahlen. Seit Ende des 18. Jahrhunderts sind über 100 Millionen Menschen in die USA immigriert, und das Land beherbergt heute die bei weitem größte Zahl von Immigrant*innen auf der ganzen Welt.[4] Die USA hatten in ihrer gesamten Geschichte mit ihren Grenzen zu kämpfen: Wie, wo und warum sollten sie gezogen werden, und wie, wo und warum sollten sie bewacht werden? Darüber hinaus haben die USA auch weitaus mehr Menschen abgeschoben als jedes andere Land: In den letzten 140 Jahren wurden ungefähr 60 Millionen Menschen gegen ihren Willen aus dem Land geworfen. Die US-amerikanisch-mexikanische Grenze ist die meistüberquerte und zugleich eine der umkämpftesten Grenzen der Welt. Sie ist 1.989 Meilen lang und allein in den letzten 20 Jahren wurden 400 Milliarden Dollar für ihre ›Sicherheit‹ ausgegeben. Während dort jedes Jahr durchschnittlich 200 Millionen legale Übertritte gezählt werden, gibt es auch einen kleinen Prozentsatz von Grenzgänger*innen, der die volle Wucht eines gewalttätigen und ungestraft agierenden Zwangsregimes erleidet; es sind die Menschen, die eingesperrt und dann zurück dorthin verfrachtet werden, woher sie gekommen sind.

Ungeachtet der permanent und mit großem Aufwand betriebenen Spaltung bleibt die Region an der Grenze zwischen den USA und Mexiko auch weiterhin ein einzigartiges kulturelles und sprachliches Gemisch. Städte wie Juárez in Chihuahua und El Paso in Texas oder Nogales in Arizona und Nogales in Sonora waren einst fast nahtlos miteinander verbundene Ballungsgebiete, in denen Menschen weitgehend reibungslos miteinander lebten, einander besuchten, beieinander einkauften und sich hin- und herbewegten – bis sie durch eine militarisierte Grenzmauer, durch wirtschaftliche Tricks samt Ausnutzung von Steuerschlupflöchern und billigen Arbeitskräften und durch politische Panikmache zur Gewinnung nationalistischer Wählerschaften auseinanderdividiert wurden. Der häufig angeführte und oft übertriebene Unterschied zwischen El Paso als eine der sichersten Städte der USA und Juárez als Hort unkontrollierbarer Gewalt ist nicht darauf zurückzuführen, dass die Grenzmauer El Paso vor der Gewalt und Armut von Juárez schützt. Die Kluft zwischen den Löhnen und im Bereich der Sicherheit ist das Resultat der Grenze – diese Diskrepanz wurde durch die Mauer geschaffen und vergrößert. Transnationale Konzerne ziehen in großen Mengen zu Hungerlöhnen schuftende, mexikanische Arbeiter*innen nach Juárez an, wo dieselben Konzerne dann den fehlenden Arbeitsschutz und die prekäre Situation der Beschäftigten ausnutzen, die nicht nur entwurzelt sind, sondern auch nirgendwo anders hinkönnen. Und da die Nachfrage nach illegalen Drogen in den USA im Lauf der Jahre konstant geblieben ist, hat eine härtere Grenze den Drogenhandel und -schmuggel für die paramilitärischen Kartelle und die korrupten Staatsangestellten auf beiden Seiten der Grenze, mit denen sie zusammenarbeiten, noch lukrativer gemacht. Dadurch hat sich der Würgegriff, in dem sie die Bevölkerung halten, noch verstärkt. Es ist also weniger so, dass die Grenzen den Unterschied zwischen den Menschen widerspiegeln, als dass sie ihn überhaupt erst schaffen – es sind imaginäre Trennlinien, die Familien, Kulturen, Ökonomien und Ökosysteme auseinanderdividieren.

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Historiker*innen, Kritiker*innen und andere Beobachter*innen haben darauf hingewiesen, dass die USA bis 1965, als der Schwarzen Bevölkerung (damals etwa elf Millionen Menschen) das Wahlrecht gegeben wurde, keine große Ähnlichkeit mit einer echten Demokratie hatten. Aber was ist mit den Immigrant*innen? Was ist mit den vielen Millionen von Menschen, Migrant*innen mit und ohne Papiere, die in diesem Land leben, von denen einige seit Jahrzehnten hier sind, und denen nicht zugestanden wird, sich wenigstens an einem der Kernelemente der Demokratie, nämlich an Wahlen, zu beteiligen? Warum werden sie ignoriert? Warum wird ihnen das Wahlrecht vorenthalten, warum werden sie marginalisiert, verhaftet, eingesperrt und abgeschoben?

Weil sie eine Horde, eine Invasion, eine Armee sind. Weil sie Krankheiten bringen, stehlen und Tunichtgute sind. Weil sie notorische Faulenzer*innen und Vergewaltiger sind. Solche hasserfüllten und rassistischen Tiraden sind auch typisch für die völlig realitätsfernen Beschreibungen der heutigen Grenzpolitik, wobei die Antimigrations-Propagandist*innen behaupten, die Grenze sei ›offen‹, die Migrant*innen würden uns die Arbeit, die Ressourcen, die Beachtung in der Schule und überhaupt überall den Platz wegnehmen, der uns zusteht. Diese Art von Ignoranz – oft bösartig, manchmal aber auch nur schlecht informiert – findet sich allenthalben, und so ist es der Mühe wert, hier einige Beispiele für die migrationsfeindlichen Halluzinationen zu geben, die man überall in den Vereinigten Staaten findet.

Als der der Abgeordnete Jim Jordan aus Ohio dem Ort Yuma in Arizona einen Besuch abstattete, sprach er von »dieser Grenze, die gar keine Grenze mehr ist, diesem Chaos der offenen Grenze im Süden«. Bei einer Anhörung des Justizausschusses des Repräsentantenhauses drückte Jordan sich noch drastischer aus: »Unter Präsident Biden gibt es keine Grenze mehr und die Amerikaner bezahlen den Preis dafür.« Senator Ron Johnson aus Wisconsin war ganz ähnlicher Meinung: »Die Politik der Biden-Regierung kommt einer komplett offenen Grenze so nahe wie nur denkbar.« Der Abgeordnete Chip Roy aus Texas sprach über »die Auswirkungen offener Grenzen«, Grenzen, die er als »kaum eine Lüge, kaum auch nur eine Fantasievorstellung« bezeichnete. Und der Gouverneur Floridas, Ron DeSantis, sprach von Gesetzesplänen, die »die Bewohner*innen Floridas vor der Politik der offenen Grenzen auf Bundesebene schützen« sollten.

Laut Recherchen von Media Matters erwähnte das Fox News Network vom 1. November 2020 bis zum 16. März 2023 den Begriff ›offene Grenzen‹ 3.282-mal. Ein Forschungsprojekt der Organisation America’s Voice, die sich für eine Einwanderungsreform einsetzt, fand bei den Zwischenwahlen von 2022 über 600 verschiedene bezahlte Wahlanzeigen der Republikaner*innen, in denen die Grenze zwischen den USA und Mexiko als ›offen‹ bezeichnet wurde.

Leider sind solche Fantasien nicht auf die rhetorischen Exzesse von Politiker*innen und Medienfiguren beschränkt. Als in Arizona tätiger Journalist habe ich einen Gutteil meiner Zeit auf Sitzungen von County-Kontrollgremien und Stadträten verbracht. Während der offenen Fragestunden wüten fast immer einige Mitglieder der Community gegen die ›offenen Grenzen‹ des Landes, obwohl die County-Aufseher*innen und Mitglieder des Stadtrats über die Grenz- und Immigrationspolitik gar nicht zu bestimmen haben. Viele der Leute scheinen kurz vor einem Herzanfall zu sein, während sie wütend ins Mikrofon schreien und ihre Ängste ausagieren. Da einfache Leute derzeit sehr viel Ungemach erleiden, möchte ich mich über ihre Wut nicht lustig machen oder sie herabsetzen. Dennoch müssen wir uns in Bezug auf die Grenze fragen, worüber diese Leute und die erwähnten Politiker*innen und Medienvertreter*innen eigentlich reden.

Der Begriff ›offene Grenzen‹ hat seine grundlegende Bedeutung längst verloren und ist zu einem abgedroschenen Schreckgespenst geworden. In der Realität ist die jährliche Immigration in die USA seit ihrem Höhepunkt kurz vor der Jahrtausendwende kontinuierlich zurückgegangen. Die derzeitige Regierung hat von Januar 2021 bis zum Frühjahr 2023 in nur etwas mehr als zwei Jahren über vier Millionen Menschen aus dem Land abgeschoben. Egal ob die Republikaner*innen oder die Demokrat*innen an der Macht sind – sie sorgen für die Finanzierung, Bewaffnung, Ausbildung und Besetzung der Behörden, die damit beauftragt sind, Migrant*innen den Zutritt zu diesem Land zu verwehren und viele von denen, die schon da sind, wieder hinauszuwerfen. Selbst die, die hineingelassen werden, müssen einen widerwärtigen bürokratischen Spießrutenlauf durchlaufen, der Jahre und sogar Jahrzehnte dauern kann, um ›regularisiert‹ zu werden. Letzteres ist der technische Ausdruck dafür, dass man sich schließlich legal im Land aufhalten darf. Immigrant*innen ohne Papiere, von denen viele nicht darauf hoffen können, ›regularisiert‹ zu werden, sind ständig dem Druck durch spitzelnde Angestellte der Einwanderungsbehörde, Straßenkontrollen, Hightech-Überwachung und der beunruhigenden Tatsache ausgesetzt, dass sie sich nicht ausweisen können. Zehntausende von Migrant*innen sind zu jedem beliebigen Zeitpunkt aus keinem anderen Grund als dem in elende Gefängnisse eingesperrt, dass sie die Grenze übertreten wollten. Das Oberste Gericht der USA hat der Polizei grünes Licht zum Einsatz von racial profiling gegenüber Migrant*innen gegeben. Und jedes Jahr sterben Hunderte von Migrant*innen, die nur nach einem Leben in Sicherheit und Würde streben, bei dem Versuch, in die USA zu kommen, weil sie hierbei dreifache Mauern überwinden sowie der Überwachung durch bemannte und unbemannte Flugzeuge, Bodensensoren und Beobachtungstürme und der größten Strafverfolgungsbehörde des Landes, der US Border Patrol, entkommen müssen.

2023 leben in den USA mehr als 45 Millionen Immigrant*innen; das sind beinahe 14 Prozent der Gesamtbevölkerung. Dieser Prozentsatz hat in den letzten 170 Jahren zwischen zehn und 15 Prozent geschwankt und erreichte 1890 mit knapp 15 Prozent seinen Höhepunkt. Ungeachtet der beständigen, anderslautenden Hysterie ist das Land keineswegs in Gefahr, überrannt zu werden.

2065 könnte die Zahl der im Ausland geborenen Einwohner*innen der USA laut dem Pew Research Center bis zu 78 Millionen betragen. Aufgrund sinkender Geburtenraten wird erwartet, dass der im Ausland geborene Anteil der Bevölkerung auf über 15 Prozent steigt, aber dabei gehen selbst migrationsfeindliche Apokalyptiker*innen von nicht einmal annähernd 20 Prozent aus. Viele von diesen 78 Millionen könnten dann bereits Bürger*innen oder auf dem Weg zur Staatsbürgerschaft sein, aber je nachdem, wie die Politik sich in den kommenden Jahrzehnten entwickelt, werden viele, wenn nicht die meisten von ihnen, keine vollwertigen Mitglieder der Gesellschaft sein, kein Wahlrecht besitzen und vielleicht sogar abgeschoben werden, wenn sie versuchen sollten zu wählen. Viele von ihnen werden – ebenfalls abhängig von den politischen Entwicklungen – mit speziell gegen sie gerichteten Gesetzen konfrontiert sein, die ihnen etliche grundlegende Rechte verwehren: das Recht zu arbeiten, Auto zu fahren, gleichen Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung zu haben oder ihre Stimme abzugeben.[5]

Im südlichen Arizona haben Hilfsorganisationen umfangreich dokumentiert, dass Notfalldienste auf Notrufe von Menschen, von denen vermutet wird, dass sie US-Bürger*innen sind, und solchen, bei denen das nicht der Fall ist, und die um Hilfe bitten, weil sie sich in der Wildnis der Grenzregion verirrt haben, systemisch unterschiedlich reagieren. Wenn ›Bürger*innen‹ anrufen, werden Rettungsteams aller möglicher Behörden zusammengestellt, mobilisiert und losgeschickt, die zu fast 100 Prozent Erfolg haben. Mit nur wenigen geografischen Anhaltspunkten machen sich Hubschrauber, Suchtrupps und berittene Helfer*innen auf den Weg, um Bürger*innen in Not zu suchen. Wenn dagegen ›Nicht-Bürger*innen‹ anrufen, werden sie vom Büro des Sheriffs an die Grenzpatrouille weitergeleitet, die sie dann vielleicht an das nächste County überstellt, von wo sie dann wieder, in einem potentiell tödlichen Kreislauf telefonischer Zuständigkeitsverweigerung, zurück an den Sheriff geleitet werden. Keine Zusammenarbeit, keine Mobilisierung, keine Entsendung von Hilfe. Keine Rettung.[6]

In Arizona ist es verboten, in Not geratene Grenzüberschreiter*innen ins Krankenhaus zu fahren. Ein kürzlich in Florida vorgeschlagenes Gesetz sieht eine Strafe von bis zu fünf Jahren Gefängnis dafür vor, Migrant*innen ohne Papiere wo auch immer hinzufahren.

Das sind nur einige Beispiele dafür, wie Migrant*innen marginalisiert, entrechtet und vogelfrei gemacht werden: weniger Rechte, keine Stimme, kaum Sicherheit, keine Zuflucht. Grenzen in voller Aktion.

Ein politisches System, das unterschiedliche Gesetze auf unterschiedliche Gruppen von Menschen anwendet, ist per defintionem ein Apartheitssystem.

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Leider sind Liberale oft auch nicht viel besser und liegen – mit ihren politischen Vorschlägen, wenn nicht sogar im Bereich der Rhetorik – auf einer Linie mit der migrationsfeindlichen Rechten. In einem Essay in der New York Times mit dem Titel »Der Irrweg der offenen Grenzen« (»The Open Borders Trap«) schreibt Jason DeParle über das angeblich von der Einwanderung aufgeworfene ›moralische Dilemma‹:

»Es gibt mehr potentielle Migrant*innen, als unser Land aufnehmen kann. Insofern sie vor Armut und Gewalt fliehen, ist es unfair, sie draußen zu halten. Aber da heute beinahe zwei Milliarden Menschen von weniger als 3,20 Dollar am Tag leben, ist es unmöglich, sie alle hereinzulassen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit von Schranken, die auf humane Art durchgesetzt werden müssen.«

Es ist jedoch kurzsichtig zu glauben, dass ›Schranken‹ – ganz gleich, in welcher Form DeParle sich diese vorstellt – überhaupt durchgesetzt werden können: Es ziehen immer neue und schlimmere Katastrophen herauf, und diejenigen, die vor ihnen fliehen, werden sich nicht durch Einwanderungsgesetze oder Mauern abhalten lassen. Das Strohmann-Argument, das davor warnt, ›alle hineinzulassen‹, verdeckt nur andere, dringend notwendige Lösungsansätze. Es ist moralisch armselig und gefährlich fantasielos zu glauben, die Schließung der Grenzen könnte irgendeine Art von Lösung für die wirtschaftliche Räuberei darstellen, die den Lohnabstand zwischen denen aufrechterhält, die kaum genug zum Überleben haben, und denen, die mehr haben, als sie brauchen.

Ein anderes Problem, das DeParle nur beiläufig erwähnt, ist die Tatsache, dass der Status quo der geschlossenen Grenzen von einer schädlichen und paradoxen Kombination der Abwesenheit von Grenzen und äußerst scharfen Grenzen ausgeht: der Idee, dass für den extraktiven und auf Ausbeutung basierenden Kapitalismus keinerlei Schranken bestehen und er immer weiter (und ohne, dass dies katastrophale Folgen hätte) die reichen westlichen Länder mit Waren und Ressourcen vollstopfen kann – auf Kosten der ärmeren Länder, deren Bevölkerung scharfen Beschränkungen ihrer Mobilität und ihrer sonstigen grundlegenden Rechte unterworfen wird.

Die Forderung nach offenen Grenzen ist die Forderung nach einer Neujustierung des Ganzen: Wir müssen uns darüber klarwerden, dass geschlossene Grenzen kein Heilmittel für das auf menschlichem Elend basierende groteske Niveau an Reichtum und den Raubbau sein können, die zu einer immer gravierenderen Klimakrise führen. Was wir in der Tat begrenzen sollten, ist brutale Ausbeutung und überflüssiger Konsum, nicht die Bewegungsfreiheit der Menschen.

2021 meinte die ehemalige Chefberaterin Barack Obamas in Einwanderungsfragen Cecilia Muñoz, die auch Mitglied im Übergangsteam Joe Bidens war, sie könne die Frustration der Aktivist*innen über die Fortsetzung der harten Linie Trumps beim Thema Einwanderung verstehen, aber die Biden-Regierung stehe nun einmal vor »schrecklichen Optionen«. »Einige Aktivist*innen haben sich nicht damit auseinandergesetzt, ob es zwischen ihrer Position und der Position der offenen Grenzen überhaupt einen Unterschied gibt. Und eine Position der offenen Grenzen ist in diesem Land nicht haltbar«, so Muñoz. »Dann könnte man die Regierung auch gleich direkt in den Abgrund stoßen.«[7]

2020 bezeichnete ein nicht genannter Regierungsbeamter die Tatsache, dass Migrant*innen gelegentlich nicht zu Gerichtsterminen erscheinen als »große Gefahr für die Souveränität Amerikas, ja, tatsächlich eine Gefahr für die Grundlagen der amerikanischen Gesellschaft selbst.« (Ungeachtet ebenso zahlreicher wie falscher Behauptungen versäumen Migrant*innen nur selten ihre Gerichtstermine, und wenn doch, sind meistens Irrtümer in den amtlichen Briefen an sie die Ursache.)

Eine Gefahr für die amerikanische Souveränität und die Grundlagen der Gesellschaft? Hat die fast völlige Abwesenheit einer Regulierung der Einwanderung auf Bundesebene während der ersten 150 Jahre der Existenz der USA deren Aufstieg zur weltweiten Supermacht behindert? Oder hat sie – egal, wie man das nun finden mag – diesen Aufstieg in Wirklichkeit gefördert?

Die Forderung nach offenen Grenzen ist keine unrealistische Hoffnung, sondern die dringliche Antwort auf eine Realität, die die Verfechter*innen von geschlossenen Grenzen verleugnen: Menschen verlassen ihre Heimat und werden dies auch weiterhin tun. Die Erwartung, dass sie damit aufhören, oder der Versuch, sie daran zu hindern, führen nur zu Elend, zu gigantischen und vergeudeten Ausgaben und zu Krieg. Der Versuch, Menschen an der Ein- und Auswanderung zu hindern, ist letztlich der Versuch, Menschen daran zu hindern, Menschen zu sein.

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Dieses Buch ist kein Strategiehandbuch für politische Aktionen (obwohl ich in Kapitel 7 über einige Handlungsmöglichkeiten spreche). Es ist vielmehr ein Aufruf zum Handeln, ein Versuch zur Unterminierung einer skandalösen und weitverbreiteten moralischen Haltung. Es wirft ein Schlaglicht auf die immensen Schäden, die geschlossene Grenzen über Generationen hinweg verursachen, und ruft mit Nachdruck zu deren Öffnung auf.

Für die Dringlichkeit dieses Aufrufs gibt es vielfältige Gründe: Die Grenzen können nicht geschlossen bleiben, wenn wir Klimagerechtigkeit erreichen wollen, und sie können auch nicht geschlossen bleiben, wenn wir Gerechtigkeit zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen erreichen wollen. Grenzen führen nicht nur zur Fragmentierung von Gesellschaften, zur Zerstörung von Solidarität und zur Erstickung notwendiger Reaktionen auf die vielen immer weiter eskalierenden globalen Krisen. Sie führen auch zur Fortdauer eben dieser Krisen, indem sie den Hauptverantwortlichen für die Kohlenstoffemissionen völlig frei zu operieren erlauben und außerdem als Entschuldigung für institutionellen und individuellen Rassismus dienen, da sie das auf einer immobilisierten und rassifizierten Unterklasse basierende globale Regime der Ungleichheit vertiefen und verstärken. Sowohl der überflüssige und umweltschädliche Luxus, den einige von uns genießen, als auch die fehlenden Freiheiten, die andere von uns erleiden müssen, gehen nicht zuletzt auf das tentakelartig wuchernde System der Grenzen zurück. Auf den folgenden Seiten gehe ich diesem Argument weiter nach, in der Hoffnung, es untermauern zu können.

Die Frage, wo – auf welcher Seite welcher politischen Linie – man geboren ist, bestimmt heute in hohem Maß darüber, welches Einkommen, welchen Wohlstand und welche Lebenserwartung die betreffende Person hat. Der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen einer Somalierin und einer Schweizerin beträgt 25 Jahre. Zwischen der Lebenserwartung einer in Honduras lebenden Frau und der einer Frau in New York besteht ein Unterschied von zehn Jahren. Der Unterschied zwischen dem Lohn von Beschäftigten in Haiti und in den USA, die praktisch dieselbe Arbeit verrichten, beträgt 1.000 Prozent. Wer würde nicht gerne ein paar Jahre länger leben und vielleicht zehn oder 20 Jahre älter werden? Und wer würde nicht gerne für harte Arbeit anständig entlohnt werden? Aber statt den Menschen diese Möglichkeit zu bieten, bauen die reicheren Staaten Mauern um sich herum und verurteilen Milliarden von Menschen zu Elend und vorzeitigem Tod. All die, die bei der Lotterie des sogenannten Geburtsrechts das große Los gezogen haben und dadurch enorme Privilegien wie Wohlstand, Freiheit, Nahrungssicherheit, Bildung und eine hohe Lebenserwartung genießen, aber meinen, sie hätten das Recht, andere von diesen gar nicht selbst verdienten Vorzügen auszuschließen, sollten sich einmal in die Lage der Menschen versetzen, die bei dieser Lotterie ›verloren‹ haben.

Die Feind*innen der Migration stellen das Überschreiten von Grenzen oft und fälschlicherweise als Katastrophe dar und verzerren unsere Wahrnehmung einer normalen menschlichen Handlung auf eine Art, die aus ihr einen Wettstreit zwischen der Wichtigkeit einer Nation und der einer Person macht. Aber Einwanderung – die Ausübung einer elementaren menschlichen Freiheit – ist für Gemeinschaften ein Gewinn. Studien haben immer wieder gezeigt, dass Migrant*innen weniger Verbrechen begehen und gesünder sind als die durchschnittliche einheimische Bevölkerung. Selbst Massenmigration trägt zum Wohlstand nicht nur der Migrant*innen, sondern auch der einheimischen Bevölkerung bei (siehe Kapitel 4: »Das wirtschaftliche Argument«). Also würde eine Öffnung der Grenzen keine Gefahr darstellen, sondern stattdessen vergangenes Unrecht wiedergutmachen und heutiges Unrecht korrigieren (siehe Anhang, Punkt 15) und damit weitaus besser den modernen Konzeptionen von Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit entsprechen.

Der Ruf nach offenen Grenzen ist kein Ruf nach kultureller Homogenisierung. Er ist kein Appell an falsche Ideale von Gleichheit. Migration ist ein Auslöser und Katalysator von Kultur, nicht ihr Todesstoß. Migration fungiert nicht als Gleichmacher des menschlichen Willens oder der menschlichen Fähigkeiten, sondern als Potential, als Plattform, als Sprungbrett.

»Grenzen müssen keine Instrumente des Ausschlusses sein«, sagte mir der Organisator, Historiker und Mitgründer der antikolonialistischen Gruppe The Red Nation, Nick Estes. Sie können einen Fluss von Menschen ermöglichen, und das auf menschliche Art. Aber zuerst müssen wir die Tore aufmachen.

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Migrant*innen sind nicht bloß passive Opfer globaler Krisen und werden nicht einfach von den politischen Gezeiten hin und her gespült – oder ertränkt. Migrant*innen sind aktive und dynamische Handelnde, die sich – wenn auch oft unter schwierigen Umständen – dafür entscheiden, nach Sicherheit und neuen Möglichkeiten zu suchen. Dadurch unterwandern sie Systeme der Apartheit und Ungleichheit. Sie leisten aktiven Widerstand gegen globale Strukturen, die darauf ausgelegt sind, sie auszubeuten, zurückzustoßen und bewegungsunfähig zu machen. Sie sollten würdig begrüßt werden und verdienen unsere Achtung. Die Öffnung der Grenzen würde die Migrant*innen natürlich nicht erst zum Leben erwecken (denn sie finden und leben ein Leben bereits dort, wo sie sind), aber sie würde die unmenschliche Hetze beenden, die gegen sie betrieben wird.

Auf dem Weg dorthin gibt es noch viel zu tun. Viele Expert*innen, Politiker*innen, Akademiker*innen, Journalist*innen und ganz normale Bürger*innen schrecken immer noch entsetzt vor den Worten ›offene Grenzen‹ zurück; sie sind zugleich verboten, mit einem Bann belegt und ein Sammelbegriff, der alles und nichts bedeuten kann und der von links, rechts und vom Zentrum als politischer Kampfbegriff gegen andere in Stellung gebracht wird. Ein Teil des Problems ist, dass kaum jemand versteht, was die Idee der offenen Grenzen wirklich bedeutet. »Ich rufe nicht nach offenen Grenzen«, schreibt Suketu Mehta, »ich rufe nach offenen Herzen«. Aber emotionale Bereitschaft ist nicht genug. Ohne echte, revolutionäre materielle Veränderung können wir unsere Hoffnung in eine Parole fassen, auf ein Plakat schreiben oder ins Weiße Haus bringen – und dann zusehen, wie sie immer mehr verpufft.

Von offenen Toren zu sprechen mag beängstigend, idealistisch, naiv, unmöglich oder selbstzerstörerisch klingen. Veränderungen können beunruhigend sein, besonders in einer Welt, die immer stärker durch ein periodisch boomendes und crashendes Wirtschaftssystem und eine eskalierende globale Klimakrise destabilisiert wird. »Der Andere tritt mir gegenüber«, schreibt der Philosoph Emmanuel Levinas, »und stellt mich infrage und verpflichtet mich.« Eine sorgfältige Betrachtung des entsetzlichen Leids, das geschlossene Grenzen heute Hunderten von Millionen Menschen zufügen, und ein Verständnis und eine Analyse der Evidenz für die Vorteile, die offene Grenzen in Wirklichkeit bringen könnten, wird nicht nur diese Ängste besänftigen, sondern auch viele Menschen dazu bringen, sich in Zukunft aktiv für offene Grenzen einzusetzen. Über sich selbst hinauszusehen, den Anderen zu begrüßen, verpflichtet zu sein, rückt das Ich an den Rand, stellt es infrage, setzt es einem Risiko aus. Es ist aber auch das, was uns menschlich macht.

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Aber wie brechen wir aus unserer Apartheid aus, wenn viele sie gar nicht als solche erkennen?

In einer Meditation über unsere Fähigkeit zum Kampf für grundlegende gesellschaftliche Veränderung und zu deren Durchsetzung schreibt der Klimaaktivist Andreas Malm:

»Die Galerie historischer Analogien beginnt mit der Sklaverei. Wenn die Abolitionist*innen durch Boykotte, Massenversammlungen und donnernde Verurteilungen dieses Unrechts erfolgreich gegen diese bösartige Institution kämpfen konnten, die so lange als selbstverständlicher und normaler Aspekt moderner Wirtschaften betrachtet wurde, werden wir genau dasselbe tun. Genau wie wir wurden sie zuerst als Spinner und viel zu ungeduldige Radikale denunziert, bis die Gerechtigkeit die Oberhand gewann. An dieser Stelle gehen Moral und Strategie ineinander über. Die Abschaffung der Sklaverei wird heute als grundlegende Umwälzung ethischer Überzeugungen wahrgenommen – sie verwandelte sich aus der Grundlage des gesellschaftlichen Systems in eine Monstrosität und mit den fossilen Brennstoffen wird es genauso sein.«

Malms Forderung nach Klimagerechtigkeit hat große Ähnlichkeit mit der Forderung nach offenen Grenzen: Was heute als Spinnerei betrachtet wird (offene Grenzen), könnte leicht schon morgen die moralische Norm sein.

Für eine rasche Zusammenfassung der Argumente in diesem Buch verweise ich auf den Anhang: »21 Argumente für offene Grenzen«. Die bündigeren Ausführungen dort sollen als rasche Referenzen dienen, in denen man Zahlen, Fakten und die Komprimierung komplexerer Argumente findet. Der Rest des Buches ist diskursiver, verwickelter, deskriptiver, historischer und manchmal auch persönlicher. Ich behaupte (mit vielleicht einer Ausnahme) nicht, im Besitz klarer und fertiger Antworten zu sein, aber ich liefere einige Beobachtungen zur Beantwortung der Frage, warum Grenzen eine einfältige und kurzsichtige Lösung sind und warum sie die Welt schlechter machen – und zur Beantwortung der Frage, wie wir alles besser machen können. Aber ich gebe zu: Es ist kompliziert.

Und dieses Buch beantwortet auch die weiter oben gestellte Frage: Wer gehört dazu?

Kapitel 1: Abu Yassin und der Freundschaftsdamm

»Ich träume davon, es warm zu haben«, sagte Ahmad Yassin Leila als Reaktion auf den Wirbelsturm der Zerstörung, dem er und seine junge Familie ausgesetzt waren, als sie Anfang 2020 in Idlib in Syrien Schutz suchten. Abu Yassin, so die Kurzform seines Namens, seine Frau und seine vier Kinder waren in dieser Provinz im Nordwesten Syriens unweit der türkischen Grenze angekommen, nachdem die Belagerung ihres Viertels Ost-Ghouta in Damaskus mit schwerem Artilleriebeschuss durch das syrische Regime sie drei Jahre zuvor gezwungen hatte, ihre Heimat zu verlassen. Seitdem waren sie vor der ständigen Gewalt – Druckwellen, einstürzende Häuserdecken, vorbeisausende Schrapnelle –, die ihnen überallhin zu folgen schien, auf der Flucht. Die syrische Armee hatte Idlib monatelang mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen bombardiert, während russische und syrische Kriegsflugzeuge Brandbomben, Streumunition und riesige Fassbomben auf eine Bevölkerung abwarfen, zu der mittlerweile auch eine Million Menschen gehörten, die bereits aus anderen Teilen Syriens geflohen waren und zeitweise in Idlib Zuflucht gefunden hatten. Die Bomben wurden über Vierteln, die für Stützpunkte der Rebellen gehalten wurden, auf Schulen und Krankenhäuser abgeworfen – Vierteln, die jetzt nur noch aus Schutt, Blut, Asche und fliehenden Menschenströmen bestanden.

Etwas zuvor in diesem Winter schnappten sich Abu Yassin und seine Familie ihr Motorrad und schlossen sich den Hunderttausenden an, die auf der kalten Schlammstraße um ihr Leben flohen und starben, einer Straße, die mit Lastwagen, Autos, Handkarren, Motorrädern, Fahrrädern, Tieren und dem, was die Flüchtlinge aus ihren Wohnungen mitnehmen konnten, vollgepackt war – ein dahinhinkender Exodus, der auf der Suche nach Sicherheit nach Norden in Richtung Türkei strebte. Aber die riesige Masse an Flüchtlingen wurde an der Grenzmauer aufgehalten. Die Türkei war nicht bereit, sie hineinzulassen.

Abu Yassins Familie war nun in der klirrenden Kälte des Winters in Nordwestsyrien schutzlos zwischen der türkischen Grenze im Norden und den, wie er es mir gegenüber charakterisierte, »Bomben, Bomben, Bomben« im Süden eingeklemmt. Nachts sank die Temperatur oft unter null und so verbrannten die Menschen, was immer sie finden konnten, um es etwas wärmer zu haben. In einer kalten Nacht im Februar, die sie in ihrem Zelt ohne Boden verbrachten, bemerkte Abu Yassin, dass es seiner 18 Monate alten Tochter Iman Leila nicht gut ging. »Etwa um drei Uhr morgens versuchte ich, mein kleines Mädchen, mein Kind, dazu zu bringen, sich zu rühren«, sagte er. »Aber sie war ganz blau und bewegte sich nicht, und dann wurde ihr Körper heiß und wir wussten nicht, was wir tun sollten.«

Die kleine Iman Leila wurde schlaff, sie reagierte nicht mehr und wurde schließlich kalt. Abu Yassin nahm sie erschrocken in die Arme und machte sich mit seiner Frau auf die Suche nach einem Krankenwagen oder einem Auto, das sie in ein Krankenhaus bringen konnte. Da sie keinen rettenden Wagen finden konnten, machten sie sich auf der gefrorenen Schlammstraße zu Fuß auf den Weg. Auf dem Weg, während Abu Yassin Iman Leila eng an seine Brust gepresst hielt, starb seine Tochter.

»Ich träume davon«, sagte er, »es warm zu haben«. Nach dem Tod Iman Leilas blieb Abu Yassins Familie in Syrien in der Falle zurück, blockiert nicht nur von Beton und Stahl, sondern auch von der Unangreifbarkeit einer Idee, einer Fiktion, der Trugvorstellung von Souveränität und territorialer Integrität, dem Konzept der Nation. Und das Konzept und die Mauer waren nicht nur das Konzept und die Mauer der Türkei, sondern sie wurden von der gesamten Macht der hinter der Türkei stehenden Europäischen Union unterstützt und aufrechterhalten – und nicht nur von der EU. Wie der US-Diplomat James F. Jeffrey in einem Interview im türkischen Fernsehen sagte, stimmten auch »die Vereinigten Staaten vollkommen mit der Türkei überein, was die rechtliche Präsenz und Rechtfertigung im Hinblick auf die Verteidigung ihrer existentiellen Interessen gegen den Flüchtlingsstrom betrifft«.

Und die Temperatur sank und die Bomben fielen hinter ihnen und die Flüchtlinge hämmerten an die Mauer und sie hämmerten gegen die Türkei, gegen die Europäische Union, gegen die Vereinigten Staaten und gegen den Beton und den Stahl. Die eingeschlossenen Flüchtlinge suchten und nutzten jede Schutzmöglichkeit, die sie finden konnten. Sie drapierten Olivenbäume mit Zeltplanen, sie überlegten, ob sie Holzstangen für ein Feuer oder für improvisierte Anbauten verwenden sollten, denn sie verbrannten alles, was nicht unmittelbar nützlich war, wie die Kleidung, die nicht mehr über all das passte, was sie schon anhatten, oder ihr zweites Paar Schuhe. Diejenigen mit Autos und Lastwagen und Handkarren, die Sachen aus ihrem Zuhause mit sich gebracht hatten – alte Haustüren, Fensterrahmen, Bettgestelle und alle möglichen anderen Möbel, die sie in der Hoffnung auf eine mögliche Zukunft aufgeladen und festgeschnallt hatten –, verbrannten auch diese Sachen, zusammen mit der Hoffnung, dass sie zurückkehren und ihre Häuser in Syrien wiederaufbauen könnten, oder in Deutschland oder Schweden oder wo auch immer sie am Ende landen würden. Wie der Geograf Tahir Zaman schreibt: »Die Heimat macht sich auf die Wanderschaft.« Während der langen, eiskalten Nächte von Dezember bis Februar verbrannten sie, was noch übrig war. Es war immer noch kalt, Schutz war jetzt ein Traum, Wärme ein Traum und die Mauer die kalte Wirklichkeit. »Die Vereinigten Staaten stimmen vollkommen mit der Türkei überein« und in dem kalten Zelt ohne Boden befindet sich die 18 Monate alte Iman Leila – Kälteschauer, Herzstillstand, Stille –, das kleine Mädchen, das starr vor Kälte in den Armen seines Vaters liegt: Es wird plötzlich heiß und dann, draußen auf der Straße, wieder kalt, und dann ist es tot.

Warum? Was sind die ›existentiellen Interessen‹ der Türkei und auf welche Weise werden sie durch einen ›Flüchtlingsstrom‹ oder Iman Leila bedroht? Warum wollte die Türkei Iman Leila nicht über die Grenze lassen?