Operation Seewespe - Clive Cussler - E-Book

Operation Seewespe E-Book

Clive Cussler

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Beschreibung

Das 15. Abenteuer von Juan Cabrillo. Nur die Crew der Oregon kann das Ende der westlichen Zivilisation noch aufhalten!

Das geheime Einsatzschiff Oregon empfängt einen Notruf. Doch als es bei dem überfallenen Schiff ankommt, ist alles bereits vorbei. Zum Glück sind die Crewmitglieder noch am Leben, aber durch ein seltsames Gift können sie sich nicht bewegen, nicht einmal sprechen. Um zu erfahren, was dahinter steckt, muss Juan Cabrillo, der Kapitän der Oregon, ein Puzzle zusammensetzen, dessen Teile teilweise noch aus der Zeit des Römischen Reiches stammen. Kann er es rechtzeitig lösen, bevor skrupellose Männer und Frauen die Grundordnung der westlichen Welt zerschmettern?



Jeder Band ein Bestseller und einzeln lesbar. Lassen Sie sich die anderen Abenteuer von Juan Cabrillo nicht entgehen, zum Beispiel das packene Action-Abenteuer Das Portland-Projekt!

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Seitenzahl: 538

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Autoren

Clive Cussler konnte dreißig aufeinanderfolgende »New-York-Times«-Bestseller landen, seit er 1973 seinen ersten Helden Dirk Pitt erfand, und war auch auf der deutschen Spiegel-Bestsellerliste ein Dauergast. 1979 gründete er die reale NUMA, um das maritime Erbe durch die Entdeckung, Erforschung und Konservierung von Schiffswracks zu bewahren. Er lebte in der Wüste von Arizona und in den Bergen Colorados.

Boyd Morrison arbeitete als Ingenieur für die NASA und Microsoft, bevor er sich ganz den Schreiben widmete. Außerdem ist er professioneller Schauspieler und Jeopardy!-Meister. Er lebt mit seiner Frau in Seattle.

Die Juan-Cabrillo-Romane:

1. Der goldene Buddha2. Der Todesschrein3. Todesfracht4. Schlangenjagd5. Seuchenschiff6. Kaperfahrt7. Teuflischer Sog8. Killerwelle9. Tarnfahrt10. Piranha11. Schattenfracht12. Im Auge des Taifuns13. Der Colossus-Code14. Das Portland-Projekt15. Operation Seewespe

Weitere Bände in Vorbereitung

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Clive Cussler

& Boyd Morrison

Operation Seewespe

Ein Juan-Cabrillo-Roman

Deutsch von Michael Kubiak

Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Marauder (Juan Cabrillo 15)« bei G. P. Putnam’s Sons, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 by Sandecker, RLLLP

By arrangement with Peter Lampack Agency, Inc., 551 Fifth Avenue, Suite 1613, New York, NY 10176-0187 USA

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Jörn Rauser

Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com (Florent, moofushi, k_yu, pgottschalk)

HK · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-27695-9V001www.blanvalet.de

HANDELNDE PERSONEN

THE CORPORATION

JUAN CABRILLO – Chairman der Corporation und Kapitän der Oregon.

MAX HANLEY – Präsident der Corporation, Juans Stellvertreter und Chefingenieur der Oregon.

LINDA ROSS – Vizepräsidentin des operativen Bereichs der Corporation und ehemalige Angehörige der U. S. Navy.

EDDIE SENG – Direktor der Abteilung für landgestützte Operationen innerhalb der Corporation und ehemaliger CIA-Agent.

ERIC STONE – Erster Steuermann der Oregon und ehemaliger Angehöriger der U. S. Navy.

MAX »MURPH« MURPHY – Leitender Waffenoffizier auf der Oregon und ehemaliger Waffenkonstrukteur der U. S. Army.

FRANKLIN »LINC« LINCOLN – Aktiver Agent der Corporation und ehemaliger U. S. Navy SEAL.

MARION MacDOUGAL »MacD« LAWLESS – Aktiver Agent der Corporation und ehemaliger U. S. Army Ranger.

RAVEN MALLOY – Aktive Agentin der Corporation und ehemalige Ermittlerin der U. S. Army Military Police.

GEORGE »GOMEZ« ADAMS – Hubschrauberpilot und für die Steuerung der Drohnen auf der Oregon zuständig.

HALI KASIM – Leitender Funkoffizier auf der Oregon.

DR. JULIA HUXLEY – Leitende Ärztin der Sanitätsstation auf der Oregon.

KEVIN NIXON – Chef des sogenannten »Magic Shop« auf der Oregon – der Requisitenkammer für verdeckte Operationen.

MAURICE – Chefsteward auf der Oregon.

STRASSE VON MALAKKA

OMAR RAHAL – Kapitän des Öltankers Dahar.

KERSEN – Terroristenanführer.

ABDUL TANJUNG – Terrorist.

MELBOURNE, AUSTRALIEN

APRIL JIN – Ehemalige hochrangige Angehörige des militärischen Geheimdienstes der Royal Australian Navy.

ANGUS POLK – Ehemaliger Kommandosoldat und Strategieanalytiker des australischen Verteidigungsministeriums.

LU YANG – Stiefvater von April Jin.

WILLIAM CAMPBELL – Lu Yangs Rechtsanwalt.

TIMORSEE

SYLVIA CHANG – Wissenschaftlerin der U. S. Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA).

ROBERTA JORDAN – Köchin.

LIEUTENANT COMMANDER WOMACK – Erster Offizier der Ocean Protector.

BALI, INDONESIEN

SINDUK – Terroristenanführer.

OLIVER MUNÕZ – Ehemann von Senatorin Maria Munõz.

ELENA MUNÕZ – Tochter von Senatorin Maria Munõz.

EMILY SCHMIDT – Ehefrau von Senator Gunther Schmidt.

KYLE SCHMIDT – Sohn von Senator Gunther Schmidt.

AUSTRALIEN

LEONARD THURMAN – Arzt am Royal Darwin Hospital.

PAUL WHEATLEY – Elektriker.

HARRY KNOLL – Elektriker.

SAM CARTER – Pilot der Royal Australian Air Force.

TODD WILSON – Pilot der Royal Australian Air Force.

BURT GULMAN – Hafenmeister in Nhulunbuy.

SAWYER – Amerikanischer Jäger.

BOB PARSONS – Amerikanischer Marineinfanterist und Luftkissenbootlenker.

RENEE LABELLE – Parsons’ Freundin.

VICTOR ORMOND – Archäologe.

CENTRAL INTELLIGENCE AGENCY

LANGSTON OVERHOLT IV – Hochrangiger CIA-Verbindungsoffizier der Corporation.

SCHIFFSMANNSCHAFTEN

RAYMOND WILBANKS – Kapitän der Shepparton.

GABRIEL RATHMAN – Kapitän der Centaurus.

SCHIFFE

Salacia – Römische Bireme.

Oregon – Flaggschiff der Corporation

Dahar – Kuwaitischer Öltanker.

Namaka – Amerikanisches Forschungsschiff.

Empiric – Australisches Forschungsschiff.

Ocean Protector – Schiff der Australian Defence Force.

Marauder – Trimaran.

Shepparton – Australisches Frachtschiff.

Marsh Flyer – Luftkissenboot.

Centaurus – Handelsschiff.

Thai Navigator – Erzfrachter.

1

Straße von Malakka

Kapitän Omar Rahal verfolgte den Kurs des kleinen Bootes, das mit hohem Tempo durch die nur mäßig bewegten Fluten der Meerenge pflügte. Es kam direkt von vorn auf seinen Öltanker mit der für Kalifornien bestimmten Ladung zu und war für ein Fischerboot viel zu schnell unterwegs. Per Funk hatte er versucht, Verbindung mit ihm aufzunehmen, aber keine Antwort erhalten. Das konnte nur eines bedeuten.

Piraten.

Durch sein Fernglas erkannte er die Besatzung des Bootes deutlich: Männer, die mit Maschinenpistolen und Sturmgewehren bewaffnet waren. Gleichzeitig wusste er, dass er keine Chance hatte, ihnen zu entkommen. Die Dahar war mehr als dreihundert Meter lang, und die Wasserstraße zwischen Malaysia und der indonesischen Insel Sumatra maß an ihrer schmalsten Stelle kaum drei Meilen. Das schwerfällige Schiff zu wenden wäre unmöglich, und das Schnellboot würde dank seiner größeren Manövrierfähigkeit jeden Versuch, es zu rammen, vereiteln.

»Lassen Sie uns auf Volle Kraft gehen«, befahl er trotzdem dem Ersten Offizier. »Auf keinen Fall soll die Dahar ein leichtes Ziel sein.« Ein Schiff dieser Größe bei derart beengten Verhältnissen auf eine derart hohe Geschwindigkeit zu beschleunigen, war sogar bei ruhiger See äußerst riskant, aber er konnte doch nicht zulassen, dass sein Schiff gekapert wurde, ohne zumindest den Versuch zu unternehmen, ein derartiges Geschehen zu verhindern.

Während der XO dem Maschinenraum den Volle-Kraft-Befehl übermittelte, schaltete Rahal die schiffsinterne Sprechanlage ein. »Alle mal herhören, Männer. Wir haben Piraten vor dem Bug. Sie sind bewaffnet und wollen uns entern. Aktiviert die Notabschaltsysteme und begebt euch auf die für diesen Fall vorgesehenen Posten. Setzt euch nicht zur Wehr, ich wiederhole, verzichtet auf jegliche Gegenwehr.« Keiner der Männer unter seinem Kommando sollte den Tod finden.

Das Boot verschwand im toten Winkel hinter dem Bug der Dahar, sodass Rahal es nicht mehr sehen konnte. Er ging zur backbord gelegenen Brückennock, von wo aus er die Manöver des Bootes verfolgen konnte.

Es kam wieder in Sicht, und nun machte er sieben Männer in T-Shirts aus, die mit Maschinenpistolen bewaffnet waren. Ein achter, abgeschirmt vom Dach des kleinen Ruderhauses, musste das Boot lenken. Dieses beschrieb jetzt einen engen Kreis und setzte sich neben den Tanker. Nun konnte Rahal auch erkennen, dass einer der Männer eine ausziehbare Leiter bereithielt.

Er gab seinem Ersten Offizier ein Zeichen. »Aktivieren Sie den SSAS-Alarm.«

Der XO öffnete die Sicherheitsklappe und drückte auf den großen roten Knopf. Das Ship Security Alert System war ein stummer Alarm, der einer Behörde des jeweiligen Flaggenstaates meldete, dass ein Schiff seiner Handelsflotte bedroht wurde. Gleichzeitig sorgte das System dafür, dass die Piraten nicht gewarnt wurden, wenn Hilfe angefordert wurde und möglicherweise bereits im Anmarsch war.

Einige Sekunden später klingelte das Brückentelefon. Rahal nahm den Hörer ab und meldete sich.

»Hier spricht Kapitän Rahal auf der Dahar.«

»Captain, Sie sind mit der International Maritime Organisation verbunden. Wir brauchen Ihre Bestätigung, dass ein Notfall bei Ihnen vorliegt.«

»Das trifft zu. Dies ist kein falscher Alarm.« Rahal nannte seinen Identifizierungscode. »Sieben oder acht Männer treffen gerade Vorbereitungen, das Schiff zu entern.«

»Verstanden. Wir haben Ihre Position und benachrichtigen die Malaysia Maritime Enforcement Agency und die Indonesian Sea and Coast Guard. Bleiben Sie so lange wie möglich in der Leitung. Befinden sich irgendwelche Schiffe in Ihrer Nähe, die Ihnen zu Hilfe kommen können?«

»Was sagt unser Radar?«, fragte Rahal den XO.

Der XO warf einen Blick auf den Radarschirm und schüttelte mutlos den Kopf. »Das nächste Schiff dürfte ein Frachter sein, der unserem Kurs folgt. Aber er ist dreißig Meilen entfernt.«

»Selbst wenn wir jetzt anhalten würden, bräuchte er zwei Stunden, um uns zu erreichen.« Rahal presste den Telefonhörer ans Ohr. »Wann kann ich mit dem Eintreffen der Küstenwache rechnen?«

»Die MMEA hat bereits einen Helikopter von Johor aus in Marsch gesetzt, aber der kann frühestens in neunzig Minuten bei Ihnen sein. Verhalten Sie sich ruhig und leisten Sie keinen Widerstand. Hilfe ist unterwegs.«

Rahal brachte ein schiefes Grinsen zustande. »Hilfe ist unterwegs, sagt er.«

»Die werden wir auch brauchen«, erwiderte der XO und deutete aufs Deck hinunter.

Das obere Ende der Leiter ragte über die Reling. Rahal ließ den Telefonhörer fallen und eilte wieder auf die Brückennock hinaus. Während einige Piraten ihre Waffen auf die Leiter richteten für den Fall, dass jemand versuchte, sie wegzustoßen, machten sich andere an den Aufstieg. Mehrere von ihnen trugen neben ihren Waffen auch noch große Rucksäcke. Als sieben Männer das Deck erreicht hatten, rannten sie zum Decksaufbau auf dem Schiffsheck.

Rahal angelte sich wieder den Telefonhörer. »Hallo, Zentrale, ich muss jetzt auflegen. Die Piraten kommen zur Brücke.«

»Viel Glück, Kapitän.«

Rahal zwang sich zur Ruhe, um der restlichen Brückencrew das trügerische Gefühl von Sicherheit zu vermitteln und Panikreaktionen zu vermeiden. Doch seine Arme und Beine machten plötzlich den Eindruck, als bestünden sie aus Pudding. So hilflos und ausgeliefert hatte er sich nicht mehr gefühlt, seit die Iraker damals seine Heimat Kuwait überfallen hatten. Da hatte er noch als Halbwüchsiger auf einem Fischerboot gearbeitet.

Sekunden später hörte er Schritte die Treppe zur Brücke heraufstampfen.

»Verhaltet euch ruhig«, warnte Rahal seine Männer. »Keine abrupten Bewegungen.«

Die Tür wurde aufgestoßen, und drei Südostasiaten stürmten auf die Brücke, ihre Sturmgewehre im Anschlag.

»Nicht schießen!«, sagte Rahal mit erhobenen Händen auf Englisch. »Wir sind nicht bewaffnet.«

Ein hagerer, sehniger Mann mit einer wulstigen Narbe anstelle seiner linken Ohrmuschel kam mit einem hässlichen Grinsen auf Rahal zu und blieb vor ihm stehen. Dem Kapitän fiel auf, dass er nicht die verfaulten Zähne eines drogensüchtigen Piraten hatte. Dieser Mann war ein ausgebildeter Profi.

»Sind Sie Kapitän Rahal?«, fragte der Mann. Sein Arabisch hatte einen indonesischen Akzent.

»Ja«, antwortete Rahal in der gleichen Sprache, überrascht, dass der Mann seinen Namen kannte. »Was wollen Sie?«

»Ich will Ihr Schiff. Und das habe ich jetzt.«

»Und meine Mannschaft?«

Einer der Piraten trat an die Kontrolltafel und schaltete die Maschinen auf Stopp.

»Wenn Sie und Ihre Mannschaft friedlich bleiben, werden Sie das Schiff mit mir verlassen, und wir werden ein Lösegeld für Sie verlangen. Wenn niemand bezahlt, töten wir Sie.«

Rahal nickte. »Wir gehorchen. Und meine Firma wird das Lösegeld bezahlen.«

»Schön, das zu hören«, sagte der narbige Pirat. »Denn sollten Sie uns Schwierigkeiten machen, lasse ich Sie und jeden Ihrer vierzehn Männer an Bord zurück, und Sie alle können mit Ihrem Schiff untergehen, wenn wir es in der Meerenge sprengen.«

2

Ravenhall, Australien

April Jin ging vor ihrem alten Ford auf und ab, während sie auf dem Parkplatz des Ravenhall Correctional Centers wartete. Auch wenn sich der Asphalt unter den glühenden Strahlen der Morgensonne bereits aufzuweichen begann, würde sie nie wieder einen Fuß über die Schwelle des Gefängnistores setzen. Seit drei Jahren kam sie zu wöchentlichen Besuchen hierher, und die sterilen weißen Wände der Korridore und Besucherräume erinnerten sie an ihren eigenen zwei Jahre langen Aufenthalt im Frauengefängnis Dame Phyllis Frost. Bei der Vorstellung, jemals an diesen Ort zurückkehren zu müssen, stieg ihr die Galle hoch.

Endlich öffneten sich die Torflügel des Ravenhall-Haupteingangs, und ein Lächeln legte sich auf ihre Miene, als sie Angus Polk herauskommen sah, einen harten Ausdruck in den Augen. Seine stramme Haltung und das kurz geschorene Haar wiesen auf seine militärische Vergangenheit hin, doch der dunkle Schatten eines leichten Bartes störte diesen Eindruck ein wenig. Er trug Jeans und ein T-Shirt, das sich über einem nunmehr mit Muskeln bepackten Oberkörper spannte, den er sich mit täglichen Kraftübungen auf dem Gefängnishof antrainiert hatte und der ihn imposanter erscheinen ließ, als er zum Zeitpunkt seiner Einweisung gewesen war. Seine wie in Granit gemeißelten Gesichtszüge entspannten sich zu einem breiten Lachen, als er seine wartende Ehefrau entdeckte.

Jin ging auf ihren Mann zu und verschwand beinahe in seinen Armen. Er hob sie in die Höhe, als wiege sie gar nichts.

»Du hast abgenommen«, stellte er fest.

»Das sind die Dauerläufe jeden Morgen, um in Form zu bleiben. Aber auch wegen der leichten und einsamen Mahlzeiten.«

Jin hatte eine schlanke, sportliche Figur. Das schwarze glatte Haar war kurz geschnitten und betonte ihr schmales Gesicht und die dunklen wachsamen Augen.

Nachdem sie Polk einen langen Kuss gegeben hatte, sagte sie: »Ich kann nicht glauben, dass sie dich rausgelassen haben.«

»Endlich frei, und zwar dank meiner neuen Lieblingsworte – ›vorzeitige Haftentlassung‹. Offenbar hat sich die gute Führung hinter Gittern ausgezahlt.« Eng umschlungen spazierten sie zum Wagen. »Vielen Dank, dass du mich abholst«, sagte er. »Ich bin froh, wieder zu Hause zu sein … wo immer das zurzeit auch ist.«

»Möglich, dass dir unsere Wohnung nicht viel besser gefällt als deine Zelle. Sie ist kaum größer als ein Vogelkäfig.«

»Solange auch du dort bist, werde ich mich darin wie in einem Palast fühlen.« Sie erreichten den Wagen und blieben stehen. »Bist du gut zurechtgekommen?«

»Ich möchte nicht lügen – das Geld hat kaum gereicht. Niemand möchte eine Vorbestrafte einstellen, die ihre Regierung verraten hat. Manchmal nehme ich Übersetzungsaufträge an, aber was ich damit verdiene, reicht kaum aus, um alle Rechnungen zu bezahlen.«

»Keine Unterstützung von unserm alten Herrn?«

Sie schüttelte den Kopf. »Von dem ist überhaupt kein Wort gekommen.«

»So was nennt man Dankbarkeit. Na ja, ich habe einen alten Kumpel, der aus dem Service ausgeschieden ist und sich selbstständig gemacht hat. Vielleicht hat er einen kleinen Job für mich, bis wir alles geregelt haben.« Er tätschelte die Motorhaube des Wagens. »Was dagegen, wenn ich fahre? Das habe ich richtig vermisst.«

Ehe sie ihm die Wagenschlüssel reichen konnte, bog eine Limousine auf den Parkplatz ein und rollte langsam auf sie zu.

»Sich auf diese Weise aus dem Knast abholen zu lassen, hat wirklich Stil«, sagte Polk anerkennend.

Zu Jins Überraschung blieb die Limousine direkt vor ihnen stehen. Der Chauffeur stieg aus und hielt die hintere Tür auf – für einen Mann in einem maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug. Ein Rechtsanwalt, ohne Zweifel. Jin hatte in ihrem Leben oft genug mit Angehörigen dieses Berufsstandes zu tun gehabt, um einen Vertreter dieser Zunft auf Anhieb zu identifizieren.

Er streckte ihnen eine Visitenkarte entgegen. »Mr. Polk und Ms. Jin, ich bin William Campbell.«

Er fragte gar nicht erst, ob sie die Genannten waren. Er wusste es.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Polk, während er die Visitenkarte annahm.

»Ich verwalte den Nachlass von Lu Yang. Würden Sie mir bitte Gesellschaft leisten?« Er forderte sie mit einer Handbewegung auf, in die Limousine einzusteigen.

»Sagten Sie den Nachlass von Lu Yang?«, fragte Jin.

»Ja. Leider ist er vor kurzem verschieden.«

Jin und Polk sahen sich verblüfft an.

»Ich fürchte, ich kann mich hier und jetzt zu den Begleitumständen noch nicht äußern«, sagte Campbell. »Aber ich darf Ihnen versichern, dass es nichts mit Ihren kriminellen Angelegenheiten zu tun hat. Viel eher glaube ich, Sie werden am Ende feststellen, dass unser Zusammentreffen von großem Nutzen für Sie ist.«

Jin warf einen Blick auf ihren ramponierten Pick-up, und Campbell fuhr fort: »Wenn es Ihnen recht ist, können wir dafür sorgen, Ihren Wagen zu einem Gebrauchtwagenhändler abschleppen zu lassen, wo er zum Kauf angeboten wird. Wenn wir alles erledigt haben, weshalb ich hierhergekommen bin, werden Sie ihn nämlich nicht mehr brauchen. Sie können den Weg zu unserer Kanzlei natürlich auch in Ihrem eigenen Wagen zurücklegen, aber ich denke, Sie werden die Fahrt mit der bei weitem komfortableren Limousine vorziehen.«

Jin und Polk sahen sich um. Ihre bisherigen Kontakte mit Lu Yang waren mit größtmöglicher Heimlichkeit erfolgt und immer nur durch eine dritte Partei zustande gekommen. Eine Limousine zu schicken, um sie abzuholen, dazu auch noch direkt vor dem Gefängnis, das war ganz und gar untypisch. Andererseits musste man allerdings bedenken, dass der Mann jetzt tot war.

Jin und Polk stiegen in die Limousine ein und ließen sich in die luxuriösen Ledersitze sinken, während Campbell es sich ihnen gegenüber bequem machte.

Während sich der Wagen in Bewegung setzte, lehnte sich Polk zu seiner Frau hinüber und fragte sie: »Wusstest du, dass Lu Yang krank war?«

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Mutter war zehn Jahre lang mit dem chinesischen Industriellen verheiratet gewesen. Allerdings war er erst nach ihrer Scheidung zu seinem enormen Reichtum gelangt. Jins ehemaliger Stiefvater hatte jedoch weiter für ihre Mutter gesorgt und auch Jin aus der Ferne unterstützt, außerdem war er so lange für ihre Ausbildung aufgekommen, bis er ihre Fähigkeiten zu seinem Nutzen einsetzen konnte.

»Wann ist er denn gestorben?«, wollte sie von Campbell wissen.

»Tragischerweise erst vor wenigen Tagen. Mehr darüber werden Sie erfahren, sobald wir in Melbourne eingetroffen sind.«

Jin drehte sich halb zu Polk um und sah einen hoffnungsvollen Ausdruck in seinen Augen. Er wusste ebenso wie sie, weshalb sie diese Fahrt unternahmen.

Ihnen würde der letzte Wille ihres Stiefvaters verlesen werden.

Die Fahrt führte sie in die Innenstadt von Melbourne, wo sie vor einem der glänzenden Stahl- und Glastürme anhielten. Ein Fahrstuhl katapultierte sie ins fünfzigste Stockwerk. Campbell geleitete sie in einen gediegen eingerichteten Konferenzraum, von dem aus sie einen atemberaubenden Blick auf die Skyline der Millionenstadt hatten. Der Anwalt drückte auf einen Knopf auf der Instrumententafel vor einem Sessel am Kopfende des Konferenztisches, und Wandpaneele glitten zur Seite, während ein überdimensionaler Flachbildschirm zum Vorschein kam.

»Bitte«, sagte Campbell und deutete mit einer einladenden Geste auf die Stühle am Konferenztisch. Auf der Mahagoniplatte waren eine Silberkaraffe und Gläser für sie bereitgestellt worden. Er reichte Jin eine Fernbedienung und einen versiegelten Briefumschlag mit ihrem Namen. »Drücken Sie auf die PLAY-Taste, sobald ich den Raum verlassen habe. Sie werden dann gebeten, einen Code einzugeben, den Sie in diesem Umschlag finden.«

»Werden Sie sein Testament nicht verlesen?«, fragte Polk.

»Ich fürchte nein. Das Video wird alles erklären.«

Mit einem Kopfnicken deutete er auf den Bildschirm und schloss die Tür, nachdem er hinausgegangen war. Polk wandte sich zu seiner Frau um und fragte: »Was ist hier los?«

»Sehen wir es uns doch an.« Jin öffnete den Briefumschlag und fand eine Karteikarte, auf der eine handschriftlich notierte sechzehnstellige Zahl zu lesen war. Sie richtete die Fernbedienung auf den Bildschirm, drückte auf Play und wurde aufgefordert, den Code einzugeben.

Auf dem Bildschirm erschien sofort die Innenansicht eines elegant eingerichteten Büros. In der Mitte des Bildschirms saß Lu Yang an einem Schreibtisch. Als sie ihn sah, hielt Jin instinktiv die Luft an, aber dann erkannte sie schnell, dass er nicht mehr der einschüchternde strenge Despot war, den sie noch vor dem inneren Auge hatte.

Stattdessen waren seine Augen eingesunken, das Haar klebte strähnig an seinem knochigen Schädel, und die Hände, die auf dem Schreibtisch lagen, wirkten vollkommen fleischlos.

»Hallo, April«, sagte Lu in einem Englisch mit weichem Shanghaier Akzent, bei dessen Klang ihr ein eisiger Schauer über den Rücken lief. »Mr. Polk, Sie sind ebenfalls zugegen, wie ich es gewünscht habe. Wir haben uns niemals persönlich kennengelernt – mein Name ist Lu Yang. Wie ihr beiden mittlerweile wisst, bin ich jetzt tot.«

Jin griff nach Polks Hand, als suchte sie Halt.

»Ich weiß, dass die letzten Jahre wegen der Verletzung von Sicherheitsvorschriften – woran ihr beiden keine Schuld getragen habt – ziemlich schwierig gewesen sind. Wie ihr wisst, wurde einer unserer Agenten als Informant für die australische Bundespolizei entlarvt. Er wurde eliminiert, ehe er den gesamten Umfang meiner Operationen im Land offenlegen konnte, verriet vorher jedoch bedauernswerterweise eure Spionageaktivitäten im Bereich Militärtechnologie und geheimdienstliche Informationsbeschaffung. Bis jetzt war ich gezwungen, zu unserer aller Sicherheit sämtliche Verbindungen zwischen uns zu trennen. Wahrscheinlich seid ihr euch abgeschnitten und im Stich gelassen vorgekommen, aber das ist keineswegs der Fall gewesen. Eure Strafverteidiger waren die besten des Landes und sind von mir bezahlt worden. Und eure vorzeitigen Entlassungen waren auch kein Zufall. Ich möchte es elegant ausdrücken: Einige Mitglieder des Bewährungsausschusses können sich nun über erheblich dickere Brieftaschen freuen. Aber all dies ist Vergangenheit. Heute brauche ich euch, April. Du und dein Ehemann, ihr seid die Einzigen, auf die ich zählen kann, um meine letzten Wünsche zu erfüllen.«

»Nach allem, was wir durchgemacht haben, verlangst du eine Menge«, murmelte Jin.

»Ich kann verstehen, dass sich eure Bereitschaft dazu in Grenzen hält«, sagte Lu, als reagierte er auf ihre Bemerkung. »Aber ihr braucht mich genauso wie ich euch. Wahrscheinlich sogar noch dringender. Vor fünf Jahren seid ihr in eurem Gewerbe absolute Koryphäen gewesen. Mr. Polk diente lange Jahre im Special Operations Command und arbeitete anschließend als leitender Analyst im Verteidigungsministerium. Und April war Lieutenant Jin in der Geheimdienstabteilung der Royal Australian Navy und auf dem besten Weg, in den Flaggoffiziersrang erhoben zu werden. Ihr habt beide als Spione hervorragende Arbeit geleistet und eine Unmenge von aktuellen technischen Daten für meine Firma und damit auch für China beschafft. Aber eure Aktivitäten sind aufgedeckt worden, ihr wurdet degradiert, habt eure Jobs verloren und musstet Jahre im Gefängnis verbringen. Jetzt seid ihr praktisch mittellos. Euch ist nichts geblieben als vielleicht eure gegenseitige Zuneigung, die euch über die lange Trennung hinweggeholfen hat. Dafür möchte ich mich in jeder Hinsicht erkenntlich zeigen, aber vorher müsstet ihr noch einen letzten Auftrag ausführen.«

Ein Hustenanfall schüttelte Lus mageren Körper durch, und er hielt inne, um einen Schluck Wasser aus einem Glas zu trinken. Polk deutete zornig auf den Bildschirm. »Wir wissen doch genau, was passiert ist. Sollen wir uns schon wieder einen seiner Vorträge anhören und uns darauf einlassen, erneut verraten und verkauft zu werden?«

Jin legte eine Hand auf seinen Arm, um ihn zu besänftigen. Sie wollte wissen, worauf dieses bizarre Arrangement hinauslief.

»Entschuldigt«, sagte Lu und stellte das Glas auf den kleinen Tisch neben seinem Sessel. »Bei mir ist Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert worden. Ich war schon im Begriff, einen weltbewegenden Plan in die Tat umzusetzen und damit mein Leben zu krönen, aber nach dem, was die Ärzte mir erklärten, habe ich nur noch wenige Wochen zu leben. Daher werde ich nicht mehr in der Lage sein, meine Vision zu verwirklichen. Aber ihr beide könnt dies tun. Ihr habt eure Loyalität während der Strafprozesse beweisen, indem ihr eure Verbindungen mit mir nicht enthüllt habt. Außerdem verfügt ihr über die notwendigen Fähigkeiten, um zu erreichen, was ich mir als Ziel gesetzt habe. Abgesehen davon, dass Sie ein ungewöhnlich scharfsinniger Verteidigungsstratege waren, Mr. Polk, haben Sie oft genug Ihre ausgeprägten Führungsqualitäten bei erfolgreichen Kommandounternehmen bewiesen. Sie beherrschen die unterschiedlichsten Kampftaktiken und wissen jederzeit, wie Sie die Leute unter Ihrem Befehl am wirkungsvollsten einsetzen können. Und du, April, kennst dich dank deiner Dienstzeit bei der Royal Australian Navy mit Seewaffensystemen und in der Spionageabwehr aus. Mit dieser Kombination seid ihr das perfekte Team, um mein Vorhaben erfolgreich durchzuführen.«

Lu machte eine kurze Pause. Seine ausgezehrten Gesichtszüge verzogen sich zum Anflug eines bitteren Lächelns. »Wahrscheinlich denkst du jetzt: ›Warum soll ich nach allem, was geschehen ist, meinem sterbenden Stiefvater noch ein weiteres Mal einen Gefallen tun?‹ Also, ich nenne dir zwei Gründe. Der eine ist natürlich, um dazu beizutragen, dass China die ihm rechtmäßig zustehende Position als Weltmacht einnimmt, indem ihr seine militärische Überlegenheit sichert. Dazu habt ihr beide in der Vergangenheit schon tatkräftig beigetragen. Der zweite Grund ist rein finanzieller Natur. Eure Lebensgrundlage in Australien wurde vernichtet. Die Behörden haben euer gesamtes Vermögen konfisziert inklusive dessen, was ihr mit harter Arbeit bei mir verdient habt. Man hat euch sogar die Pensionsansprüche gestrichen, die euch nach Ende eurer Tätigkeit beim Militär zugestanden hätten, und euch zu einem Dasein als Parias in eurer eigenen Heimat verurteilt. Ihr habt nur noch geringe Rücklagen, und eure Zukunftsaussichten sind trübe. Aber ich kann eure Verluste ausgleichen und euch zu einer Zukunft verhelfen, die eure wildesten Träume übertrifft.«

Er hatte sichtlich Mühe und krümmte sich vor Schmerzen, als er sich zur Seite beugte und einen Aktenkoffer hochhob, der neben seinem Sessel gestanden hatte, und ihn auf die Schreibtischplatte legte. Er klappte ihn auf und drehte ihn zur Kamera. Der Koffer war bis zum Rand mit Stapeln amerikanischer Einhundertdollarscheine gefüllt.

»Dies ist eine Million. Ich gebe sie euch als Belohnung für eure bisherigen Aktivitäten und als Anreiz. Die Anwälte werden euch diesen Koffer aushändigen, sobald ihr diesen Raum verlasst. Ihr könnt ihn nehmen und damit auf Nimmerwiedersehen verschwinden, aber wir alle wissen, dass eine Million niemals all das ersetzen kann, was ihr verloren habt. Ich könnte wetten, dass diese Summe nur euren Appetit auf das wecken wird, was am Ende des Regenbogens auf euch wartet.«

Lu klappte den Koffer zu, und Jin sah Polk an. Dessen Augen klebten geradezu am Bildschirm.

»Denn falls ihr meine Bitte erfüllt, den Inhalt dieses Koffers als Startkapital betrachtet und euch von den weiteren Geldmitteln bedient, die ich für euch bereitgelegt habe, damit ihr das von mir geplante Projekt erfolgreich abschließen könnt, wartet noch mein restliches Vermögen von zurzeit neunhundertachtunddreißig Millionen US-Dollar auf euch.«

Jins Unterkiefer sackte herab, und sie starrte ihren Mann ungläubig an. Sie hatten keine Sekunde daran gezweifelt, dass ihre bürgerliche Existenz beendet war, als sie ins Gefängnis wanderten. Und nun eröffneten sich bessere Zukunftsaussichten, als sie je für möglich gehalten hätten.

»Das Geld liegt in CroesusCoin-Kryptowährung auf meinem Konto. Dort bleibt es, bis in zehn wichtigen Tageszeitungen überall auf der Welt Meldungen oder Berichte veröffentlicht wurden, dass ihr eure Aufgabe erfüllt habt. Ich habe eine Software entwickelt, die die Nachrichten-Websites sämtlicher Presseorgane überwacht und die Kryptowährung freigibt, sobald die Meldungen offiziell bestätigt wurden. Um zu gewährleisten, dass ihr euch der Angelegenheit mit allem Nachdruck widmet und nicht bummelt, habe ich eine Deadline gesetzt. Falls ihr die euch gestellte Aufgabe nicht bis zu dem festgelegten Datum gelöst haben solltet, wird das Konto für alle Zeiten geschlossen. Dann wird niemals jemand Zugriff auf das Geld haben. Es wird im wahrsten Sinne des Wortes verschwinden.« Er blickte streng in die Kamera. »Wie ihr wisst, bin ich nicht bereit, Versagen auch noch zu honorieren.«

Das Lächeln auf Lus gelblich fahler Miene war nur zu erahnen. »Ich könnte mir vorstellen, dass ihr an der Ernsthaftigkeit meines Angebots zweifelt.«

Polk nickte. »Dieser Gedanke ist mir tatsächlich durch den Kopf gegangen.«

»Der Code, mit dem dieses Video gestartet wurde, ist gleichzeitig die Kontonummer. Schaut nach und vergewissert euch.« Er nannte seiner Stieftochter die Zahlenfolge und das dazu gehörige Passwort. »Ihr seht den momentanen Kontostand, aber ihr werdet keinen Zugriff auf den Betrag bekommen, ehe die notwendigen Kriterien erfüllt wurden.«

Mit leicht zitternden Fingern drückte Jin auf die Pause-Taste der Fernbedienung, und Lus leichenhaftes Gesicht gefror auf dem Bildschirm. Auf ihrem Smartphone rief sie die CroesusCoin-Website auf und loggte sich ein. Wie Lu gesagt hatte, belief sich der Kontostand auf mehr als neunhundert Millionen Dollar. Aber die Schaltflächen zum Ausführen von Überweisungen waren nicht zugänglich, und in einem kleinen Fenster lief ein Countdown-Timer.

Er ließ ihnen nur wenige Wochen Zeit, ehe das Konto geschlossen wurde.

Jin zeigte Polk die Website, und er lehnte sich zurück, um zu verarbeiten, was er gerade gehört und gesehen hatte.

»Ich glaube es nicht.«

»Das solltest du aber«, sagte Jin. »Mein Ex-Stiefvater hätte das Ganze niemals inszeniert, bloß um sich einen Scherz zu erlauben. Er mag grausam gewesen sein, aber seine Zeit hat er auf keinen Fall vergeudet. Ganz gleich, was er uns anbietet und von uns verlangt – er meint es absolut ernst. Er hat keine Nachkommen, daher sind wir die einzigen logischen Erben seines Vermögens.«

»Aber er überlässt es uns nicht nur. Wir müssen es uns verdienen.«

»Ja, aber wenn man bedenkt, wie intelligent und präzise er in allem war, was er getan hat, dürfte er die uns übertragenen ›Aufgaben‹ bis ins letzte noch so kleine Detail geplant haben. Wie du ja sehen konntest, verfügt er über die ausreichenden Mittel, um eine erfolgreiche Ausführung seiner Pläne zu gewährleisten.«

Polk ließ sich die Bemerkung seiner Frau für einen Moment durch den Kopf gehen. Dann nickte er. »Ich gebe es nur ungern zu, aber er hat recht. Wir gehen beide mit Riesenschritten auf die vierzig zu, unsere militärischen Laufbahnen sind beendet, und wir haben keine Aussichten auf annähernd lukrative Jobs. Wir haben uns mit Lu Yang zusammengetan und alles verloren: unser Zuhause in Canberra, unser Strandhaus am Bondi Beach, unsere Autos und sogar unser Anlagenkonto in Brunei, von dem wir angenommen hatten, dass es unantastbar ist. Aber jetzt, da er tot ist, haben wir noch nicht einmal irgendwelche Kontakte in China, die uns helfen könnten. Eine Million Dollar sind ein nettes Sümmchen, aber auch nicht mehr als Peanuts, verglichen mit einer Milliarde.«

»Für eine solche Summe dürfte er eine Menge verlangen. Wir müssen davon ausgehen, dass große Gefahren und ein hohes Risiko auf uns warten.« Sie drückte seine Hand. »Nachdem ich so lange auf dich gewartet habe, könnte ich es nicht ertragen, wenn uns etwas zustieße.«

Polk zuckte die Achseln. »Wenn wir ihm trauen können, schaffen wir es auch, alles, was er von uns verlangt, in seinem Sinn auszuführen. Und verfügen am Ende über die notwendigen finanziellen Mittel, um uns zu schützen und ein geruhsames Leben zu führen.«

Jin nickte. »Das ist richtig.«

»Also stellt sich nur eine Frage: Traust du ihm?«, fragte Polk.

Es dauerte einige Sekunden, bis Jin antwortete. »Er ist ein harter Mann, aber er hat uns – oder meine Mutter – nie getäuscht. Und dass er uns ständig geholfen hat, trifft zu. Wir hätten viel länger im Gefängnis sitzen müssen. Ich denke, wir können glauben, was er sagt.«

»Wir haben schon in der Vergangenheit unsere Leben für ihn aufs Spiel gesetzt – für eine weitaus geringere Belohnung –, und wir haben es überstanden. Wir wissen, was auf dem Spiel steht, aber wir haben jetzt die Mittel, um uns zu schützen.« Polk sah seine Frau an und nickte entschlossen. »Hören wir uns doch an, was er von verlangt.«

Sie drückte auf die Play-Taste der Fernbedienung.

Lu Yang beugte sich zur Kamera vor. »Schön, dass ihr es genauso seht wie ich. Und jetzt sollt ihr erfahren, was ich von euch erwarte.«

3

Abdul Tanjung hatte nicht die geringste Lust, untätig im Schnellboot auszuharren, während die anderen den Öltanker unter ihre Kontrolle brachten. Aber er war das jüngste Mitglied dieser Zelle der Terroristenvereinigung Indo Jihad, daher war ihm die Aufgabe übertragen worden, dafür zu sorgen, dass das Boot jederzeit fluchtbereit war, ehe Sicherheitskommandos eintrafen. Da die Dahar mittlerweile angehalten hatte, gab es für ihn nicht viel mehr zu tun, als auf Mannschaftsmitglieder zu achten, die versuchten, die Leiter hinunterzuklettern und zu fliehen.

Tanjung hatte in Syrien lange für den Islamischen Staat gekämpft und war nach Indonesien zurückgekehrt, um dabei zu helfen, ein Kalifat auszurufen. Dank seiner Verbindungen zu der Gruppierung Islamischer Staat im Irak und in Syrien, die unter dem Kürzel ISIS firmierte, hatte er nicht lange suchen müssen, um in Jakarta gleichgesinnte Kameraden zu finden. Ihrer ersten Mission war, wie es schien, ein glatter Erfolg beschieden, und eine zweite, die für Bali geplant war, würde ihren Feinden unmissverständlich klarmachen, dass die massive Einflussnahme der verhassten Amerikaner in Südostasien ein Ende hatte.

Einen kuwaitischen Öltanker, dessen Ladung für die Vereinigten Staaten bestimmt war, zu versenken und damit eine verheerende Umweltkatastrophe auszulösen, würde jede Regierung in dieser Region in Angst und Schrecken versetzen. Durch den Angriff auf den Öltanker und die Bali-Aktion ermutigt, würden weitere Dschihadisten den Weg zu ihnen finden und sich mit ihnen verbünden. Sie würden noch mehr schlagzeilenträchtige Unternehmen in Szene setzen, bis die weltlichen Regierungen zerschlagen wären.

Tanjung lauschte gespannt den Meldungen, die aus dem Lautsprecher seines Walkie-Talkies drangen, und bejubelte jede erfolgreiche Phase ihrer Operation.

»Wir haben die gesamte Mannschaft in unserer Gewalt«, sagte Commander Kersen. »Bringt sie in die Messe. Tanjung, wie sieht es bei dir aus?«

»Ich halte meine Position neben dem Schiff. Ansonsten tut sich hier nichts.«

»Gut. Wir sperren die Crew in der Messe ein, während wir die Bomben verteilen. Danach bringen wir die Leute zu dir aufs Boot.«

»Jawohl, Sir.«

Sie hatten drei Bomben vorbereitet, die präzise platziert werden mussten, um ein Schiff dieser Größe zu versenken, und sie mussten ausgelöst werden, ehe die Küstenwache oder Abwehrstreitkräfte am Ort des Geschehens eintrafen, da sie davon ausgingen, dass die Dahar den Überfall längst über das Ship Security Alert System gemeldet hatte. Wie sie den Berichten über vorangegangene Schiffsüberfälle in dieser Gegend entnehmen konnten, hatten sie etwa eine Stunde Zeit, um den Tanker zu evakuieren und zu ihrer Landbasis zurückzukehren.

Da die Schiffscrew sicher hinter Schloss und Riegel saß, konnte sich Tanjung entspannen. Er legte sein Sturmgewehr beiseite, suchte sich einen gemütlichen Platz auf dem Deck und öffnete einen Frischhaltebeutel, um sich einige wohlverdiente Klepons zu genehmigen, die seine Mutter für ihn und seine Kameraden zubereitet hatte. Die süßen Reisbällchen waren mit Kokosraspeln bedeckt, die an seinen Fingern kleben blieben. Als er sich die Hände an seiner Hose abwischte, fiel ihm ein Frachtschiff auf, das hinter ihnen am Horizont erschienen war.

Tanjung glaubte, dass ihm seine Augen einen Streich spielten, denn es kam ihm vor, als ob der Frachter mit atemberaubendem Tempo auf sie zugerauscht kam. Jedes Mal, wenn er wegsah, um sich von seinem Snack zu bedienen, und dann wieder das Schiff ins Auge fasste, schien es um einiges näher herangekommen zu sein.

Er zuckte die Achseln. Wahrscheinlich bildete er sich das nur ein. Schließlich war dies einer seiner ersten Einsätze bei einer solchen Operation. Ein Schiff von dieser Größe konnte nicht mehr als zwanzig Meilen in der Stunde zurücklegen. Sie hätten mit ihren Geiseln längst das Weite gesucht, ehe das Schiff in ihre Nähe gelangte. Und von einem gewöhnlichen Frachtschiff ginge sowieso nicht die geringste Gefahr aus.

Nachdem er seinen Imbiss verzehrt hatte, knüllte er den Plastikbeutel zusammen und warf ihn über Bord.

In diesem Moment blieb sein Blick an einer seltsamen Turbulenz im Wasser hängen. Er stand auf und ging zur Reling.

Das Wasser schäumte leicht von platzenden Luftblasen, als stiege ein Seeungeheuer aus der Tiefe empor.

Ein langes, flaches Objekt erschien neben seinem Boot dicht unterhalb der Wasseroberfläche. Dem Augenschein nach konnte es ein verirrtes Stück Treibgut sein, das von einem der zahlreichen Frachtschiffe über Bord geworfen worden war, die durch die Meerenge pflügten.

Tanjung fiel auf, dass das Gebilde nicht vollkommen flach war. An einem Ende befand sich eine kurze Kuppel mit kleinen runden Fenstern. Zu seinem Schrecken sah er ein Augenpaar, das ihn interessiert betrachtete. Es gehörte einem älteren männlichen Weißen mit roten Wangen und einem rötlichen Haarkranz auf seinem kahlen Schädel.

Für einen kurzen Moment schoss Tanjung der Gedanke durch den Kopf, dass jemand seine Klepons mit Drogen versetzt hatte. Aber diese Vermutung verflüchtigte sich schlagartig, als auf dem länglichen Objekt eine Klappe aufgestoßen wurde und er erkennen musste, dass er ein Unterseeboot vor sich hatte, das wie aus dem Nichts erschienen war.

Eine ganz in Schwarz gekleidete Gestalt, den Kopf mit einer Sturmhaube bedeckt, kam durch die Öffnung wie ein Dämon ans Tageslicht hoch und richtete eine Pistole auf ihn.

Tanjung warf sich herum und streckte die Hände nach seinem Sturmgewehr aus, aber er reagierte zu spät. Er hörte noch ein Zischen und spürte einen stechenden Schmerz in seinem Rücken, als eine Nadel durch die Haut drang. Dann griff er nach hinten, um den Pfeil herauszuziehen, aber innerhalb von Sekunden gaben seine Knie nach, und er brach auf dem Bootsdeck zusammen.

Er verlor zwar nicht das Bewusstsein, aber er sah seine Umgebung nur noch wie durch einen Nebel, und sein Mund fühlte sich an, als sei er mit Watte gefüllt.

Der Mann in Schwarz schwang sich über die Reling, beugte sich über ihn und kam ihm wie ein Riese vor. Er bückte sich, pflückte den Pfeil aus Tanjungs Rücken und drehte den Terroristen um.

Der fremde Besucher schleuderte das Sturmgewehr über Bord, ehe er auf die Knie herunterging und Tanjung von stechend blauen Augen fixiert wurde. Der Mann sagte etwas auf Englisch, das Tanjung nicht verstand.

»Kein Englisch«, hörte Tanjung sich erwidern, doch die Worte schienen aus dem Mund eines anderen zu dringen. Der Mann wechselte in eine andere Sprache, die Tanjung als saudiarabischen Dialekt identifizierte.

»Wie viele von euch sind auf der Dahar?«

Tanjung wollte nicht antworten, aber er verspürte den übermächtigen Drang, alles von sich zu geben, was er wusste.

»Sieben.«

»Versuch gar nicht erst, dich dagegen zu wehren«, sagte der Fremde. »Die Droge in dem Injektionspfeil macht dich nicht nur bewegungsunfähig, sie wirkt gleichzeitig wie ein Wahrheitsserum. Glaub mir, ich habe es selbst ausprobiert. Was ist euer Plan?«

»Bomben. Drei Stück. Wir versenken den Tanker.«

»Und die Mannschaft? Ist sie noch am Leben?«

»Ja. In der Messe.«

»Gut. Du wirst mir verraten, wo ihr die Bomben versteckt habt.«

Der Mann zog sich die Sturmhaube vom Kopf. Zum Vorschein kamen kurz geschnittenes blondes Haar und braun gebrannte, markante Gesichtszüge. Die wachen, intelligenten Augen strahlten eine unerschütterliche Selbstsicherheit aus.

Selbst noch in seinem benommenen, halb betäubten Zustand reagierte Tanjung überrascht, dass der Mann die Maske abnahm und sein Gesicht zeigte.

»Wer sind Sie?«, fragte Tanjung. Die Worte kamen lallend aus seinem Mund. Aus irgendeinem Grund glaubte er, noch etwas hinzufügen zu müssen. »Ich bin Tanjung.«

»Mein Name ist Juan Cabrillo, und ich habe die Absicht, dich und deine Terroristenfreunde aus dem Verkehr zu ziehen. Dass ich dich so offen darüber informiere, ist eigentlich bedeutungslos.« Cabrillo lächelte, als bereitete es ihm ein besonderes Vergnügen, ein sorgsam bewahrtes Geheimnis zu verraten. »Die Droge, die momentan in deinen Adern kreist, löscht auch dein Gedächtnis aus. Wenn du in ein paar Stunden mit rasenden Kopfschmerzen wieder zu dir kommst, wirst du dich nicht mehr an mich erinnern.«

4

Drei Personen in identischen schwarzen Overalls, ausgestattet mit kugelsicheren Westen, Datenbrillen und Sturmhauben, kletterten aus dem Tauchboot, ließen nur den Lenker zurück und folgten Juan auf das Piratenboot, wo er dem immer noch desorientierten Terroristen bereits die Füße und Hände mit Kabelbindern gefesselt hatte. Jeder von ihnen trug eine MP5-Maschinenpistole über der Schulter und eine Betäubungspistole in einem Gürtelhalfter an der Hüfte. Nichts unterschied sie voneinander, außer dass eine der drei Personen einen halben Kopf kleiner war als ihre beiden Partner.

»Sieht so aus, als sei das Betäubungsmittel tatsächlich so wirksam, wie die Werbung versprochen hat«, sagte der Kleinste der drei mit hoher Stimme.

Juan stand auf und sagte: »Mit diesem Zeug könnte ich sogar Colonel Sanders dazu bringen, mir seine geheimen Rezepte für sein Original und sein Extra Crispy Chicken zu überlassen. Tanjung hat mir verraten, dass sieben mit AK-47ern bewaffnete Terroristen an Bord sind. Benutzt die Betäubungspistolen, solange das Überraschungsmoment auf unserer Seite ist.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich kenne die Verstecke der Bomben. Tanjung meinte, wir hätten etwa fünfzehn Minuten Zeit, um die Zeitzünder zu deaktivieren. Außerdem hat er erwähnt, dass Kersen, der Anführer ihrer Terrorzelle, als Rückversicherung einen Fernzünder bei sich hat. Offensichtlich traute er niemandem und befürchtete, dass jemand das Schiff in die Luft sprengen könnte, solange er noch an Bord ist. Ihr erkennt ihn daran, dass ihm das linke Ohr fehlt.«

Mit der Zungenspitze tippte Juan auf das Zahnmikrofon in seinem Mund. Der Transceiver erlaubte ihm nicht nur, sein Funkgerät zu benutzen und dabei jederzeit die Hände frei zu haben, sondern er übertrug den Ton auch durch die Schädelknochen, sodass er sogar bei extremem Lärm einwandfrei mit seinen Leuten kommunizieren konnte.

»Ist das Deck frei?« Er blickte zum Himmel, aber die kleine graue Quadrokopterdrohne schwebte zu hoch über ihnen, um für sie sichtbar zu sein.

»Keinerlei Bewegung«, erhielt er als Antwort.

»Hält sich jemand auf der Kommandobrücke der Dahar auf?« Juan und sein Team wären beim Übersteigen der Reling sofort zu sehen, falls sich Terroristen in diesem hoch gelegenen Vorbau befänden.

»Ich verschaff mir mal einen besseren Überblick.« Kurze Pause. »Die Brücke ist leer.«

Juan zog sich die Sturmhaube über den Kopf, fixierte darunter eine AR-Brille und fütterte sie mit den Positionsdaten der Bomben. Sie hatten sich auf dem Weg zum Ort des Geschehens bereits einen schematischen Lageplan des Tankers aus der Datenbank der Reederei heruntergeladen, sodass ihre Brillen sie durch die Laufgänge und Korridore des Schiffsinneren führen konnten. Nun erschien in einem Augenwinkel der Decksplan der Dahar, mit dessen Hilfe er sich orientieren konnte.

»Dann wollen wir mal«, sagte Juan.

Er ging zur Leiter der Terroristen, ergriff die erste Sprosse und begann mit dem Aufstieg. Juan betrachtete es als seine Pflicht, der Erste von ihnen zu sein, der das Schiff betrat.

Sie alle gehörten der Corporation an, und Juan war der Chef dieses Unternehmens, sein »Chairman« – Entscheider und alleiniger Träger des wirtschaftlichen Risikos. Er empfand diese Bezeichnung, die viele seiner Leute verwendeten, wenn sie mit ihm kommunizierten, als einen Ehrentitel, dem er in jeder Hinsicht gerecht werden wollte. Strenggenommen waren sie Söldner, aber Juan hasste diesen Begriff. Söldner stellten sich in den Dienst des Höchstbietenden ungeachtet der moralischen Grundsätze und der Ziele ihres jeweiligen Auftraggebers.

Stattdessen war die Corporation eine privatwirtschaftliche Firma, deren Personal aus Veteranen des amerikanischen Militärs und ehemaligen CIA-Agenten bestand. Sie zeichneten sich durch ungewöhnliche Fähigkeiten und Fertigkeiten aus und wurden immer dann für die Regierung tätig, wenn Geheimhaltung das Gebot der Stunde war und von staatlicher Beteiligung geschweige Auftragsvergabe nicht das Geringste an die Öffentlichkeit dringen durfte. Eine solche Operation war ein minutiös vorbereiteter Überfall auf eine syrische pharmazeutische Fabrik gewesen, in der das Nervengas Sarin produziert wurde. Bei dieser Gelegenheit war eine begrenzte Menge des Betäubungsserums in den Besitz der Corporation gelangt, und nun setzte sie es bei dieser Befreiungsaktion ein. Außerdem nahm die Corporation Aufträge von verbündeten Nationen oder privaten Institutionen an, solange sie den Interessen ihres Heimatlandes dienten.

Juan Cabrillo war nicht nur der Vorstand der Corporation, sondern zugleich ihr Herz und ihre Seele. Als ehemaliger CIA-Agent nicht allein mit den administrativen, sondern auch mit den praktischen Anforderungen des Tätigkeitsbereichs vertraut, den die Corporation abdeckte, führte er die Organisation mit straffer Hand und ungewöhnlichem Weitblick, sodass er seinen Gegnern stets um mindestens einen Schritt voraus zu sein schien. Er hatte eine hochkarätige Truppe um sich versammelt und konnte darauf vertrauen, dass jeder Angehörige der Corporation sein Möglichstes tat, um seinen ihm zugewiesenen Job zu erledigen. Dies brachte ihm den Respekt und die Bewunderung seiner Leute ein, von denen ihn die meisten als einen Freund betrachteten.

Als wirtschaftliches Dienstleistungsunternehmen war die Corporation insofern absolut einmalig, weil sie auf einem Schiff beheimatet war – der Oregon. Genauer gesagt: der neuen Oregon.

Nach dem tragischen Verlust ihres ersten Schiffes, das sie im Laufe der Jahre als schwimmende Heimat lieb gewonnen hatten, konnten Juan und die restliche Crew kaum erwarten, sich einen Eindruck davon zu verschaffen, was das neue Schiff leistete. Seine erste Reise sollte eine simple Probefahrt sein, um die Maschinen und die durch technische Aktualisierungen erzielten Leistungssteigerungen zu testen, ehe es in ein malaysisches Trockendock zurückkehrte, wo letzte Hand angelegt und es für seine reguläre Indienststellung vorbereitet werden sollte. Die Information über einen unmittelbar bevorstehenden Piratenüberfall in der Straße von Malakka zwang sie jedoch, in See zu stechen, ehe das Schiff vollständig ausgerüstet war. Daher befand sich die Oregon zu diesem Zeitpunkt auf Jungfernfahrt, auch wenn viele ihrer Mannschaftsmitglieder noch gar nicht an Bord waren.

Die Terroristen hatten geplant, die Sprengladungen zu verstecken und das Schiff mit den Geiseln längst verlassen zu haben, ehe die Rettungstruppen eintrafen. Aber der Indo Jihad hatte keine Ahnung, dass in seinen Reihen ein Maulwurf der Corporation aktiv war, daher rechnete er nicht damit, dass irgendjemand ihre Party sprengen würde. Obgleich Juans Team zahlenmäßig unterlegen war, konnte es den entscheidenden Vorteil, bestehend aus einer perfekten Tarnung und dem Überraschungsmoment, nutzen.

Als alle das Deck des Tankers erreicht hatten, teilten sie sich in zwei Paare auf. Juan und Hali Kasim begaben sich zum Maschinenraum, während die anderen den Weg zum Bug einschlugen.

Juan und sein Partner erreichten eine Zugangstür zum hinteren Decksaufbau.

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte Juan, während sie sich neben der Tür an die Stahlwand pressten.

Sich aktiv an Kommandounternehmen zu beteiligen, gehörte eigentlich nicht zu Halis regulärem Tätigkeitsbereich auf der Oregon. Der im Libanon geborene Amerikaner war der Kommunikationsoffizier des Schiffes und hatte in dieser Funktion den Notruf der Dahar aufgefangen. Obgleich zur Besatzung der Oregon ein Team ehemaliger Angehöriger der Special Forces gehörte, die Missionen wie diese gewöhnlich durchführten, nahmen sie alle zu diesem Zeitpunkt an einem Einsatz in Bali teil.

Doch jeder Angehörige der Corporation war für die Teilnahme an aktiven Kampfeinsätzen ausgebildet, und Hali Kasim hatte sich in der Vergangenheit bereits bei zahlreichen gefährlichen Operationen bewährt.

»Mir geht es ausgezeichnet«, antwortete Hali. »Aber wenn ich ehrlich bin, freue ich mich schon darauf, mit den Kopfhörern auf den Ohren wieder in meinem gemütlichen Sessel im Operationszentrum zu sitzen.«

»Bleiben Sie nur in meiner Nähe, und wir werden schon klarkommen. Denken Sie daran, kein Risiko einzugehen.«

Juan öffnete die Tür, und sie fanden die nächste Treppe hinunter in den Bauch des Schiffes. Mit der schussbereiten Betäubungspistole in der Hand und Hali im Schlepptau folgte Juan dem in eins seiner Brillengläser projizierten Lageplan des Tankers.

Als sie die Tür zum Maschinenraum erreichten, war das Vibrieren der Stahlwände deutlich wahrzunehmen. Wenigstens hatten die Terroristen die großen Dieselmotoren nicht ausgeschaltet, als sie das Schiff stoppten. Wenn sie sich Zugang verschafften, würde der Lärm alle anderen Geräusche übertönen.

Juan sah Hali fragend an, der daraufhin mit einem Kopfnicken bestätigte, dass er bereit sei. Juan ging auf ein Knie herunter und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Der Klang lauter Turbinen füllte seine Ohren.

Die Tür bot Zugang zu einem schmalen Laufgang, von dem aus man den gesamten Maschinenraum überblicken konnte, aber das dichte Gewirr von Rohrleitungen, Verstrebungen und anderen technischen Aggregaten sorgte dafür, dass sie von unten nicht auf Anhieb zu sehen waren.

Zuerst schlichen sie zum Kontrollraum, und Juan wagte einen Blick durch das Sichtfenster. Niemand hielt sich im Innern auf.

Hali tippte ihm auf die Schulter, und Juan wandte sich um und entdeckte zwei Piraten, die sich über etwas beugten, das sie an der wuchtigen Treibstoffleitung befestigten, die die Maschinen speiste. Es passte zu dem, was ihnen der Terrorist auf dem Boot verraten hatte. Sie wollten das Schiff versenken und ein Inferno entfesseln, das meilenweit zu sehen wäre.

Die Piraten etwa sieben Meter unter ihnen waren derart beschäftigt, dass sie ihrer Umgebung keinerlei Beachtung schenkten. Juan gab Hali durch eine Geste zu verstehen, dass er den Mann auf der rechten Seite ins Visier nahm, während Hali den Mann auf der linken ausschalten solle.

Sie zielten durch das Geländer des Laufgangs. Juan drückte ab. Sein Pfeil traf den Terroristen im Nacken. Er fuhr im gleichen Moment herum, als Halis Pfeil in den Rücken seines Komplizen drang. Innerhalb von drei Sekunden brachen sie beide auf dem Deck des Maschinenraums zusammen.

In geduckter Haltung dem Laufgang folgend, suchten Juan und Hali den restlichen Maschinenraum ab. Sie konnten niemanden entdecken.

Über eine schmale Stahltreppe gelangten sie auf den Boden des Maschinenraums hinunter, wo die beiden Terroristen kauerten und halblaut vor sich hin murmelten. Laut den Informationen des Mannes auf dem Boot hätten sie im Maschinenraum zwei Teams beim Anbringen von Sprengladungen antreffen müssen. Er konnte nicht gelogen haben, daher hatte er entweder den Plan nicht richtig verstanden oder man hatte ihm nicht die Wahrheit gesagt.

Während Hali die Bombe inspizierte, wandte sich Juan an die Indonesier.

»Wo sind eure Kameraden?«, fragte er auf Arabisch.

Beide antworteten in einem indonesischen Dialekt. Juan beherrschte Arabisch, Spanisch und Russisch fließend, aber Indonesisch gehörte nicht zu seinem Repertoire. Er holte ein kleines Tablet mit Übersetzungssoftware hervor, wählte indonesisch und wiederholte die Frage in sein Mikrofon.

Das Tablet gab über seinen Lautsprecher die Übersetzung aus. Nach einer kurzen Pause antworteten die Männer, aber auf dem Schirm des Tablets erschien eine Fehlermeldung.

Sprache nicht erkannt.

Juan las sie Hali halblaut vor, der nicht von der Bombe hochblickte.

»Wahrscheinlich irgendein ungewöhnlicher Dialekt, den der Computer nicht versteht.«

»Dann haben wir ein Problem«, sagte Juan. »Vorausgesetzt, im Bug befindet sich eine Bombe, so fehlt noch immer die dritte.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Und wir haben nur noch zehn Minuten Zeit, sie zu finden.«

Hali richtete sich auf. »Ich glaube, wir haben ein noch größeres Problem.«

»Und … welches?«

»Ich kann die Bombe nicht deaktivieren. Sie ist raffiniert konstruiert und vollständig eingekapselt. Irgendwelche Drähte durchzuknipsen ist keine Option. Und wenn wir probeweise Zahlencodes eintippen, um sie zu entschärfen, könnten wir sie genau damit zünden.«

Juan bückte sich, um die Höllenmaschine zu untersuchen. Mit ihrer transparenten Hülle aus Polykarbonat und einem digitalen Tastenfeld erschien sie weitaus komplizierter als eine herkömmliche Rohrbombe. Sie besaß keine Countdown-Uhr, sondern eine Reihe blinkender Balken ähnlich der Akkuleistungsanzeige bei einem Mobiltelefon. Vier von fünf Balken waren noch übrig.

»Lässt sich die Bombe bewegen?«

»Ich bin kein Sprengstoffexperte, aber ich kann nichts erkennen, das auf einen Quecksilberschalter hinweist. Ich denke, dass wir ungefährdet damit herumhantieren können, aber hol lieber eine zweite Meinung ein.«

»Die werden wir bald haben. Sie bleiben hier, bis wir wissen, dass wir sie aus ihrer augenblicklichen Position entfernen können. Inzwischen mache ich mich auf die Suche nach dem anderen Bombenleger-Team.« Er warf einen Blick auf die Sprengladung und sah, wie der zweite Balken nach einem letzten Aufblinken erlosch. »Wenn nur noch ein Balken blinkt, verschwinden Sie von hier und schicken Sie die Mannschaft ins Rettungsboot.«

Hali nickte und betrachtete voller Sorge die Bombe. »Wenn Sie darauf bestehen.«

Während Juan die Treppe zum Ausgang des Maschinenraums hinaufeilte, aktivierte er sein Zahnmikrofon. »Linda, die Situation hier ist um einiges komplizierter, als wir angenommen hatten.«

Nichts.

»Linda, hören Sie mich?«, wiederholte er den Ruf.

Die Stille in seinem Ohr war unheimlich, aber er musste sich in diesem Augenblick ausschließlich darauf konzentrieren, die dritte Bombe zu finden. Das Team im Bug der Dahar war drei Footballfelder weit von ihm entfernt. Wenn es sich in Schwierigkeiten befand, gab es nichts, was er hätte tun können, um ihm zu helfen.

5

Dass Juan von Linda Ross keine Antwort erhielt, lag nicht daran, dass sie ihn nicht hörte. Der Grund war, dass sie kein Wort sagen konnte. Selbst hörbares Atmen hätte sie und Eric Stone das Leben kosten können.

Die beiden lagen zusammengekrümmt im Schatten einer dicken Rohrleitung und starrten in die Mündung eines AK-47-Sturmgewehrs. Der Terrorist, dem die Waffe gehörte, konnte sie in diesem Moment zwar nicht sehen, aber eine Bewegung – oder auch nur ein winziger Laut –, und er würde erkennen, wer sich dort versteckte, und abdrücken.

Linda Ross war die Vizepräsidentin der Corporation und eine Navy-Veteranin. Sie hatte, seitdem sie zur Mannschaft der Oregon gehörte, mehr Kampfeinsätze zu verzeichnen als während ihrer gesamten militärischen Dienstzeit, aber sie konnte sich noch immer nicht damit anfreunden, dass eine Waffe auf sie gerichtet wurde.

Momentan kniete sie dicht neben Eric unter den Anschlussköpfen der Ölpumpenanlage am Bug des Tankers. Keiner von ihnen beiden hatte freies Schussfeld auf den Mann, der von dem Klirren einer eisernen Kette irgendwo hinter ihm abgelenkt worden war. Ein dichtes Bündel Rohre schirmte seinen Körper zum größten Teil ab, sodass ein sicherer Treffer mit einer ihrer Betäubungspistolen eher unwahrscheinlich wäre.

Der Terrorist ließ den Lauf seiner Kalaschnikow herumwandern, sah und hörte nichts besonders Verdächtiges und kehrte dann in das Gehäuse zurück, in dem sein Partner damit beschäftigt war, die Bombe an einem der mächtigen Auslassventile zu befestigen.

Linda wagte es schließlich, so flach wie möglich einzuatmen. »Das war knapp«, sagte sie im Flüsterton zu Eric. Dabei klang ihre hohe Stimme vollkommen ruhig und kontrolliert. Sie tippte mit einer Fingerspitze gegen ihre Sturmhaube. »Nur gut, dass ich dieses Ding trage.«

Linda war dafür bekannt, dass sie je nach Stimmung ziemlich regelmäßig ihre Haarfarbe wechselte. Zurzeit trug sie ihr Haar kurz geschnitten und hatte sich für ein helles Grün entschieden, das dem Terroristen sicherlich sofort aufgefallen wäre, wenn sie die Kopfbedeckung nicht getragen hätte.

»Ich werde dem Kapitän der Dahar einen geharnischten Brief schreiben, dass er in Zukunft strenger darauf achten soll, dass seine Mannschaft ihr technisches Gerät auf angemessene Weise sichert und einschließt«, sagte Eric.

Eric Stone hatte ebenfalls in der US Navy gedient und mittlerweile die Position des Steuermanns der Oregon inne. Bekleidet war er gewöhnlich mit einem konservativen Oberhemd mit Button-Down-Kragen und khakifarbener Chino. In Kampfkleidung – so wie in diesem Moment – sah man ihn so gut wie nie. Er und sein bester Freund Mark Murphy waren die Intelligenzbestien der Oregon und hatten normalerweise die Aufgabe, für die Probleme, mit denen die Oregon konfrontiert wurde, technische Lösungen zu suchen und zu entwickeln, anstatt sich mit bewaffneten Terroristen auseinanderzusetzen.

Ebenso wie Linda hatte er im Laufe der Jahre bei der Corporation einiges an Kampfpraxis sammeln können, und der Chairman hatte dafür gesorgt, dass das hohe Niveau ihrer praktischen und waffentechnischen Einsatzfähigkeit durch entsprechendes Training erhalten blieb, während der Bau ihres neuen Schiffes vollendet wurde. Sie war froh, Eric an ihrer Seite zu haben, und zwar nicht nur auf Grund seiner Kenntnisse auf dem Sprengstoff- und Bombensektor, sondern auch wegen seines ausgeprägten taktischen Instinkts.

Nun mussten sie sich nur noch einen Plan zurechtlegen, wie sie sich unbemerkt an die Terroristen heranarbeiten könnten.

Die Pumpenmechanik befand sich in einem kleinen, hüttenähnlichen Aufbau, der den empfindlichen Ventilen Schutz vor dem schädlichen Einfluss der Elemente bot. Rohrleitungen schlängelten sich von dem Aufbau ausgehend in alle Richtungen zu den mächtigen Öltanks unter ihren Füßen. Eine Bombe, wenn sie an diesem Punkt hochging, würde ein Dutzend Leitungen zerfetzen, das Rohöl entzünden, mit dem die Tanks gefüllt wurden, und dem Öldunst in den Tanks ausreichende Mengen an Sauerstoff zuführen, der für eine gigantische Explosion sorgen würde. Der Feuerball wäre von der Küste Malaysias auf der einen Seite der Meerenge und der Küste Indonesiens auf der anderen deutlich zu sehen.

»Ich bin zu klein, um über diese Rohre zu klettern«, sagte Linda.

»Ich könnte nachhelfen und dich hochstemmen«, sagte Eric. Er selbst war nicht besonders groß, aber Linda war ein Federgewicht und zweifelte nicht im Mindesten daran, dass er es schaffen könnte.

»Die Gefahr, gesehen zu werden, wäre zu groß«, wandte sie ein.

»Drum herumzuschleichen, würde zu lange dauern.«

»Dann kriechen wir drunter her.« Sie deutete auf eine Lücke zwischen den Rohren und dem Deck. Es war nur ein schmaler Spalt, aber auf dem Bauch würden sie sich hindurchschlängeln können.

Juans Stimme erklang wieder in der Leitung. »Linda, hören Sie mich? Wir haben bis jetzt zwei Hijacker ausgeschaltet. Bleiben noch insgesamt fünf.«

Linda aktivierte ihr Zahnmikrofon. »Ich habe verstanden, Chairman. Zwei von den Typen haben wir vor uns. Wir wollten gerade starten.«

»Gute Jagd«, sagte er. Der Wunsch »Viel Glück« war auf der Oregon verpönt. Sich auf sein Glück zu verlassen, schien närrisch. Obgleich es nicht schadete, bei einem solchen Einsatz auch ein wenig Glück zu haben, predigte Juan seinen Leuten unermüdlich, dass Vorbereitung, Training, Teamwork und praktische Fertigkeiten wesentlich wichtiger waren, um eine Mission erfolgreich abzuschließen.

»Wir geben Bescheid, wenn wir die Bombe kassiert haben, Chairman«, sagte Linda.

»Verstanden.«

Sie und Eric robbten zu dem Abschnitt, wo der Abstand zwischen den Rohren am größten war. Eric machte den Anfang, während Linda sich bemühte, ihm trotz des knappen Raums zwischen den Rohrleitungen mit ihrer MP5-Maschinenpistole Feuerschutz zu geben. Das Rohrventilgehäuse war etwa zehn Meter weit entfernt, und sie hatte nicht die Absicht, durch eine derart schmale Lücke mit der Betäubungspistole einen Fehlschuss zu riskieren.

Nachdem er sich durch den Spalt geschlängelt hatte, überwand Eric im Laufschritt die freie Fläche und bezog neben dem Gehäuse in Kauerhaltung Position.

Linda schob sich den Tragriemen der MP5 über die Schulter, streckte sich auf dem Bauch liegend aus und zwängte sich unter dem Rohr hindurch. Der beißende Geruch von Rohöl und Schmierfett drang in ihre Nase.

Als sie sah, wie einer der Terroristen in Eric Stones Rücken hinter dem Ventilgehäuse erschien, bereitete sie sich darauf vor, sich unter dem Rohr hervorzurollen. Er war derart überrascht, an dieser Stelle jemanden in Kampfkleidung anzutreffen, dass er nicht sofort schoss, was Eric das Leben rettete.

Als er die Schritte hörte, fuhr Eric herum und brachte seine MP5 in Anschlag, aber der Terrorist schlug sie ihm mit dem Kolben seines AK-47 aus den Händen. Eric ließ ihm keine Gelegenheit, die Kalaschnikow auf ihn zu richten. Er kam aus der Hocke hoch, warf sich dem Piraten entgegen und brachte ihn zu Fall. Ein heftiger Ringkampf entbrannte, als jeder versuchte, die Waffe in seine Gewalt zu bringen.

Linda lag noch halb unter dem Bündel Rohrleitungen und kann nicht an ihre Maschinenpistole heran. Stattdessen angelte sie die Betäubungspistole aus dem Holster, aber Eric und sein Gegner rollten hin und her, sodass sie keinen sicheren Schuss anbringen konnte.

In diesem Augenblick kam der zweite Terrorist hinter dem anderen Ende des Gehäuses hervor. Er musste die Kampfgeräusche gehört haben und erschien, um nachzuschauen, wobei er sein eigenes AK-47 zurückließ.

Immer noch auf dem Deck liegend, feuerte Linda aus der Betäubungspistole einen Schuss ab. Viel ungünstiger konnte der Winkel nicht sein, und so bohrte sich der Pfeil in den breiten Ledergürtel des Terroristen, wo er auch stecken blieb.

Der Mann hörte den Einschlag, begriff jedoch nicht, dass er getroffen worden war. Dann sah er Linda unter den Rohren hervorkriechen und rannte auf sie zu. Sie schaffte es gerade noch aufzuspringen, als er sie erreichte und rücklings gegen das Rohrbündel schleuderte.

Mit einem kraftvollen Schlag prellte er ihr die Betäubungspistole aus der Hand, presste seinen Unterarm gegen ihren Hals und schnitt ihr die Atemluft ab. Sein heißer Atem, der ihr Gesicht traf, roch nach Tabak und Curry. Linda versuchte, seinen Arm wegzuhebeln, aber der Mann war zu stark für sie. Es würde nur noch Sekunden dauern, bis sie das Bewusstsein verlor.

Sie ließ seinen Arm los, fuhr mit der Hand an seinem Oberkörper hinab, bis sie den Gürtel erreichte. Sie ergriff den Betäubungspfeil, der aus dem Ledergürtel ragte, und zog ihn heraus. Während ihr Sichtfeld sich wegen des Luftmangels zu einem schmalen Tunnel verengte, stieß sie die Spitze des Betäubungspfeils in den Hals des Terroristen.

Seine Augen weiteten sich im Schock, und sofort zog er sich den Pfeil aus dem Hals, aber es war bereits zu spät. Da der Pfeil seine Arterie getroffen hatte, setzte die Wirkung der Droge augenblicklich ein. Der Mann sank auf die Knie und kippte in Zeitlupe um.

Linda machte einen tiefen Atemzug, schaute sich um und konnte verfolgen, wie der Pirat, mit dem Eric gerungen hatte, sich von ihm wegrollte und die Hand nach der MP5 ausstreckte. Er brachte sie an sich und wollte sie schon abfeuern, als Linda die Betäubungspistole vom Deck aufhob und ihm in den Rücken schoss.

Der Terrorist wollte ergreifen, was immer ihn gestochen hatte. Er starrte Linda mit einem Ausdruck namenloser Überraschung an, dann verdrehten sich seine Augen so weit, dass nur noch das Weiße zu sehen war, während er gleichzeitig in sich zusammensackte.

Linda ging zu Eric hinüber und reichte ihm die Hand, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Eric massierte seinen Hinterkopf.

»Bist du okay?«, fragte Linda.

»Er hat mich mit dem Kolben des AK erwischt, aber ich werde es überleben.« Eric blickte sich um und sah die zwei Terroristen auf dem Deck liegen. »Offenbar hast du beide erwischt. Echte Meisterschüsse.«

Sie grinste ihn an. »Wusstest du nicht, dass Annie Oakley meine Urgroßmutter war?«

»Man könnte es fast glauben.«

»Komm schon. Sehen wir uns die Bombe an.«

Sie betraten das Blechgehäuse und stellten fest, dass die Bombe direkt unter dem Hauptventil platziert worden war, an das die Leitungsrohre angeschlossen waren. Linda richtete den Lichtstrahl ihrer Stablampe darauf, während Eric sie eingehender untersuchte. Auf einem Display blinkten zwei Balken.

Linda schaltete ihr Zahnmikrofon ein. »Chairman, unsere Gegner sind kampfunfähig, und die Bombe liegt direkt vor uns.«

»Gut gemacht. Was wissen wir über die Bomben? Können wir sie bewegen?«

Eric, der Juan ebenfalls hören konnte, nickte zustimmend. »Davon kann man wohl ausgehen. Ich sehe jedenfalls keine Schaltkreise oder G-Sensoren, die die Bombe im Fall einer Bewegung auslösen könnten.«

»Haben Sie das gehört, Hali?«, fragte Juan.

»Ich habe verstanden«, erwiderte Hali Kasim. »Ich komme mit der Bombe nach oben. Sollen wir sie über Bord werfen?«

»Das würde ich nicht empfehlen«, sagte Eric, hob die Bombe auf und verstaute sie in dem Stoffsack, in dem die Terroristen sie transportiert hatten.

»Warum nicht?«, wollte Juan wissen.