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Aufgerüttelt durch persönliche Erfahrungen zeigt Nora Kellner in "OpferMacht", wie sich sexualisierte Gewalt – die alltäglich und in allen Bereichen unserer Gesellschaft fest verankert ist – auf das Leben von FLINTA* (Frauen, Lesben, inter*, nicht-binär, trans und agender) auswirkt. Nüchtern und sachlich beschreibt die Sozialwissenschaftlerin, wie es sich anfühlt, wenn eine sich wehrt und vor Gericht zieht und wie schmerzhaft und belastend die Bewertung der Tat durch außenstehende Menschen ist. In der Analyse ihrer eigenen Geschichte nimmt Nora Kellner immer wieder Bezug auf gesellschaftliche Debatten und konkrete Beispiele, die deutlich machen, wie sexualisierte Gewalt aufrechterhalten und reproduziert wird. Sie wirft einen Blick auf die zutiefst sexistischen Strukturen im Polizei- und Justizapparat und wundert sich darüber, warum linke Kräfte – wenn sie es ernst meinen mit der Verurteilung sexualisierter Gewalt – ihrer Verantwortung in diesem Diskurs nicht gerecht werden. Einer Gesellschaft und Kultur zum Trotz, die Betroffene systematisch zum Schweigen bringt, schreibt die Autorin – ehrlich empört und unverblümt direkt – gegen eine Vielzahl hartnäckiger Mythen an, solidarisiert sich bedingungslos mit den Opfern und pocht darauf, dass FLINTA* niemals selbst schuld sind.
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Seitenzahl: 370
Veröffentlichungsjahr: 2023
Nora Kellner
(sie/ihr)hat einen Bachelor inPolitikwissenschaft undabsolviert zurzeit einMasterstudium der Gender &Queer Studies in Köln.
Nora Kellner
OpferMacht
Klartext reden über sexualisierte Gewalt
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Nora Kellner: OpferMacht
1. Auflage, April 2023
eBook UNRAST Verlag, April 2023
ISBN 978-3-95405-150-2
© UNRAST Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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Umschlag: Felix Hetscher, Münster
Satz: Andreas Hollender, Köln
Privileg und Leere
Triggerwarnung
Vorwort
ERSTER TEIL
Die Geschehnisse
Der Einstieg – Es widerspricht allen Fasern meines Körpers
Die erste Vernehmung – Es war mir fremd und ich verstand nicht, dass ich diese Person bin
Die nächsten Tage – Ich wollte Ablenkung
Langsames Realisieren der Tat – Es fühlte sich alles so leer an und gleichzeitig so voll
Die Gerichtsverhandlung
Der Tatverdächtige und die Lichtbildvorlage – Vorher hatte ich darüber nicht nachgedacht, jetzt war es präsent
Rückkehr aus dem Urlaub und ein Brief – In diesem Moment begriff ich plötzlich, dass ich gerade meine Grenzen so intensiv kennenlerne wie nie zuvor in meinem Leben
Erstes Gespräch mit der Anwältin – Es sei besser, wenn ich ohne Beeinflussung in die Verhandlung gehe
Erster Verhandlungstag – Ich hatte Angst vor diesem Tag, weil ich nicht wusste, wie ich reagieren und ob ich den potenziellen Täter wiedererkennen würde
Der Prozessbeginn – Ich wollte, dass der Typ mich sieht und erkennt, dass ich mich wehre, dass ich mich nicht verstecke
Meine Aussage vor Gericht – Ich hatte Angst, dass mir nicht geglaubt wird
Der weitere Verhandlungsverlauf – Ich empfand die Aussage der uniformierten Polizistin als respektlos und demütigend
Zeug*innen, DNA und der unmögliche Brief – An den Schreien habe sie erkannt, dass gerade eine Frau vergewaltigt wird
Tag der Urteilsverkündung – Hieß das jetzt, dass der Angeklagte auch in meinem Fall verurteilt würde?
Resümee – Mit dem Urteil bin ich zufrieden
Mediale Berichterstattung und politische Instrumentalisierung – Dass es unter Menschen mit Fluchtgeschichte auch Arschlöcher gibt, war mir vorher schon bewusst
ZWEITER TEIL
Wie sich mein Umgang mit sexualisierter Gewalt verändert hat – Ich will dieses System, die Rape Culture, nicht länger wissentlich unterstützen
Die Rolle von cis ›Männern‹ im Umgang mit sexualisierter Gewalt – Hinterfrage dein eigenes Handeln und Verhalten
Der Umgang von FLINTA* mit sexualisierter Gewalt – Doch wir alle wissen ja, dass die Schuld nicht bei den Opfern, sondern der Fehler im System liegt
Racial Profiling und Sexismus innerhalb der Polizei – Wie kaputt ist dieses System bitte und wieso interessiert das niemanden?
Der Umgang und die Verantwortung von linken Kräften mit sexualisierter Gewalt – Es wäre ignorant zu behaupten, dass es in linken Strukturen nicht zu sexualisierten Übergriffen käme
Danksagungen
Glossar
Quellennachweise
Literaturverzeichnis
Lektüreempfehlungen
Links zu Hilfsangeboten
Anmerkungen
Für Frieda, für Maxi, für Nils und für Lilly.
Für meine Mama und für meinen Papa.
Für meine Schwester Ida.
Für alle Opfer von sexualisierter Gewalt.
Als Privileg habe ich es bezeichnet. Was für ein Begriff für das, was mir passiert ist. Es ist paradox, denn einerseits empfinde ich es wirklich als Privileg, andererseits verspüre ich nur Leere. Eine so unglaublich große und tiefe Leere. Es ist ein Gemisch aus einer Vielzahl von Emotionen, ein so großer Berg, der aus den unterschiedlichen Perspektiven entweder unüberwindbar oder als ›guter‹ Aussichtspunkt wahrgenommen werden kann.
Diese vermutlich verwirrenden Anfangssätze möchte ich in diesem Buch entwirren. Es soll klar werden, was ich meine, wenn ich von Privileg spreche. Wie mir dieser Begriff geholfen hat, mich aus meiner zunächst zugeteilten Opferrolle zu emanzipieren und wie es mir gelungen ist, mir mein ›altes‹ Leben zurückzuerkämpfen, auch wenn es niemals so sein wird wie vor der Tat. Auch das ist eine Erkenntnis, die ich schmerzlich lernen musste, und es fällt mir heute noch schwer, sie zu akzeptieren. In diesem Buch versuche ich, die Höhen und Tiefen dieses Prozesses, meines Prozesses, der individuell und sehr persönlich ist, zu beschreiben und zugleich gesellschaftliche Dynamiken sichtbar zu machen, die im Umgang mit sexualisierter Gewalt leider immer noch gang und gäbe sind.
»Trigger- und Inhaltswarnungen sollen Menschen die Möglichkeit geben zu entscheiden, ob und wann sie sich mit bestimmten Themen beschäftigen. (…) Es geht also vor allem darum Menschen vorzuwarnen, damit sie sich vorbereiten können oder ggf. kurz den Raum verlassen können.«i (Kritische Männlichkeit)
Meine Position zu Triggerwarnungen (TW) war durchaus positiv, ich hielt es für sinnvoll vor bestimmte Inhalte eine TW zu setzen, sodass Menschen selbstbestimmt entscheiden können, ob sie sich mit bestimmten Inhalten beschäftigen wollen oder nicht. Überdacht habe ich diese Haltung, als ich die Kritik von Mithu Sanyal in ihrem Buch Vergewaltigung und die kritikteilende Bezugnahme von Lilian Schwerdtner in ihrem Buch Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt gelesen habe.ii Und obwohl ich zu dem Ergebnis gekommen bin, dass TW ihren Zweck vielleicht nicht erfüllen, habe ich mich dafür entschieden, vor den nachfolgenden Text eine TW zu setzen. Dem Titel konntet ihr ja bereits entnehmen, dass in diesem Buch sexualisierte Gewalt thematisiert wird, und vermutlich ist euch bereits klar, dass ihr das Buch nur lesen solltet, wenn ihr euch gerade danach fühlt und/oder mit einer Person darüber sprechen könnt.
Ich will – und das soll auf keinen Fall die Botschaft dieser TW sein – keine Person davon abhalten, sich mit diesem Thema zu konfrontieren, sich damit auseinanderzusetzen. Ich finde es gut, wichtig und vor allem empowernd[1] sich mit sexualisierter Gewalt zu beschäftigen, und ich selbst mache das auch. Aber es gibt Tage oder Momente, an/in denen ich damit nicht und schon gar nicht ohne Vorwarnung konfrontiert werden will, und das ist auch völlig in Ordnung. Entscheidet selbstständig und selbstbestimmt, ob ihr euch grundsätzlich und jetzt gerade in der Lage fühlt, euch mit sexualisierter Gewalt zu beschäftigen. Die Auseinandersetzung kann schmerzhaft sein. Obwohl ich es euch in jedem Fall zutraue, bleibt es allein eure Entscheidung.
Es soll hier keinesfalls der Eindruck entstehen, dass Opfer von sexualisierter Gewalt nicht dazu in der Lage wären, sich mit den Geschehnissen auseinanderzusetzen. Im Gegenteil, ich sehe die Kraft und die Stärke von vielen Betroffenen und halte es auch für wichtig, sich damit zu beschäftigen, die Frage ist nur, wann und in welchem Rahmen.
Deswegen folgt hier nun die TW:
Im nachfolgenden Text kommt es zur expliziten Beschreibung von sexualisierter Gewalt, die ich selbst erlebt habe.[2] Mein Bericht ist so aufgebaut, dass er viel Raum für eine eigene Identifizierung lässt und deshalb an eigene traumatische Erlebnisse erinnern kann. Menschen, denen ich das Manuskript zum Probelesen gab, schilderten immer wieder, dass sie während der Lektüre weinen mussten, dass sie sich den restlichen Tag nicht mehr oder nur schwer konzentrieren konnten, und trotzdem fanden sie, dass es im Endeffekt wohltuend war, den Text gelesen zu haben.
Ach, übrigens richtet sich diese TW ausschließlich an betroffene Personen. Für alle anderen ist es Pflicht, dieses und/oder andere Bücher über sexualisierte Gewalt zu lesen oder sich anderweitig damit auseinanderzusetzen.
»Menschen, die sexuellen Missbrauch erfahren haben, wenden sich nicht an die Öffentlichkeit um Aufmerksamkeit auf ihre Person, sondern um Aufmerksamkeit auf das Problem zu ziehen.«iii (Helen Fares)
Es war ein innerlicher Drang, der mir keine Ruhe ließ, es musste raus. Irgendwann setzte ich mich abends, nachdem ich spazieren war, an den Schreibtisch und tippte die ersten Sätze dieses Buches. Es überkam mich, es konnte nicht länger in mir bleiben. Das ist die Antwort auf die Frage, wieso ich dieses Buch schreibe, was mich antreibt, woher meine intrinsische Motivation kommt. Ich kann und will nicht länger schweigen, ich muss sprechen. Das ist mein Kampf für Gerechtigkeit. Ich möchte und muss dieses Privileg, das ich paradoxerweise habe, nutzen.
Ich bin eines der zahllosen Opfer von sexualisierter Gewalt. Einerseits habe ich eine spezifische Erfahrung gemacht, die sehr einschneidend für mich war, die mich und mein Leben verändert hat, andererseits gehört sexualisierte Gewalt ohnehin zu meinem Alltag. Während Ersteres maßgeblicher Gegenstand dieses Buches ist, möchte ich Letzteres anhand meines vergangenen Wochenendes veranschaulichen: Beginnen wir mit Freitag. Ich war mit Freund*innen unterwegs, wir machten eine Kneipentour. Als wir von der einen zur anderen Kneipe gingen, verweilten wir ein bisschen an einer Straßenecke. Ich stand ein wenig abseits, meine Freund*innnen klärten etwas, als ein Typ mir im Vorbeigehen an den Arsch fasste. Ich konfrontierte ihn damit, fragte, was das soll, wies ihn darauf hin, dass er meinen Arsch nicht anzufassen hat. Seine erste Reaktion war Leugnung, er behauptete, er habe mich nicht angefasst. Der Freund, mit dem er unterwegs war, versuchte sofort, mich zu beschwichtigen, indem er mir versicherte, dass es ein Versehen war, dass sein Kumpel mich unbeabsichtigt am Arsch berührt hat. Sorry, aber das konnte nicht sein, ich befand mich nicht mal in einer Menschenmenge. Jetzt gab der Typ, der mich angefasst hat, auf einmal schamlos zu, mich angefasst zu haben und meinte, ich solle mich nicht so anstellen. Er fasse an, wen er wolle. Mit einem ekelhaften Grinsen auf seinen Lippen meinte er dann noch, dass ich doch zu den Bullen gehen solle, wohlwissend, dass er nicht belangt werden kann. Ich argumentierte dagegen. Zum Schluss beleidigte er mich auf niedrigstem Niveau: mich wolle doch eh niemand bumsen. Nicht überrascht, aber trotzdem schockiert über diese Gleichgültigkeit, dieses wissentliche Ausspielen seiner Macht und diese Degradierung von FLINTA* zu Objekten, ging ich zu seinem Kumpel, um ihm klarzumachen, dass er durch sein Verhalten den Täter schützt und sich mitverantwortlich macht.
Exkurs: Die Buchstabenfolge FLINTA* steht für ›Frauen‹, ›Lesben‹, ›inter*‹, ›nicht-binär‹ bzw. ›non-binary‹, ›trans‹ und ›agender‹. Mit diesem Ausdruck sind alle Personengruppen gemeint, die vom Patriarchat unterdrückt werden. Die Bezeichnung soll den Blick weiten, um nicht nur Frauen in den Fokus zu nehmen.
Inter*: Das Adjektiv ›inter*‹ steht für Personen, die sich nicht eindeutig der Kategorie ›Mann‹ oder der Kategorie ›Frau‹ zuordnen lassen. So wird bei der Geburt von Babys deren Intimbereich begutachtet, um festzustellen, ob es sich aus Sicht der Ärzt*innen um ein ›Mädchen‹ oder einen ›Jungen‹ handelt. Hierfür gibt es klare Kriterien und es wird konkret gemessen: alles bis 1 cm wird als Klitoris eingestuft und dem Geschlecht ›weiblich‹ zugewiesen und alles ab 2,5 cm wird als Penis beschrieben und dem Geschlecht ›männlich‹ zugeordnet. Kinder, deren Intimorgane davon abweichen und nicht eindeutig zugeordnet werden können, werden als ›inter*‹ bezeichnet. Dabei können die Abweichungen sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. In der Vergangenheit kam es häufig zu Operationen an gesunden Babys, um sie an die Norm anzupassen. In 90 % der Fälle wurde eine Vulvina geformt, weil dies die einfachere Operation ist. Im Laufe des Lebens dieser Personen waren weitere OPs notwendig, doch zunächst musste die Neovagina von den Eltern mit einer Art Holz- oder Plastikdildo geweitet werden, weil sie nicht mitwächst.
Eine andere Ausprägung kann darin bestehen, dass eine Person innenliegende Hoden und eine Vulvina hat. In manchen Fällen wird das nicht direkt bei der Geburt erkannt, sondern erst in der Pubertät ersichtlich, weil eine Person beispielsweise eine Vulvina hat, der Körper aber überwiegend das Hormon Testosteron produziert, das für einen Stimmbruch, Bartwuchs etc. sorgt. Und auch die Chromosomen sind nicht so eindeutig, wie das im Biologieunterricht vermittelt wird.
Seit 2021 gibt es ein Teilverbot der Operationen an Babys, die seitdem nicht mehr einfach so möglich sind. Dieses Verbot wurde von Aktivist*innen durch Klagen erwirkt und war längst überfällig. Grundsätzlich sind die OPs verboten, die Eltern haben jedoch die Möglichkeit vor Gericht zu erstreiten, dass eine Operation an ihrem Kind durchgeführt werden soll, wenn sie plausibel begründen können, warum sie mit einem inter* Kind nicht leben können.
Nicht-binär/non-binary: Personen, die sich mit dem Begriff ›nicht-binär‹ identifizieren, ordnen sich weder der Kategorie ›Mann‹ noch der Kategorie ›Frau‹ zu.
Trans: Mit dem Adjektiv ›trans‹ werden all jene Menschen bezeichnet, die sich mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, nicht identifizieren können. Ich schließe mich damit der Definition von Felicia Ewert an, die in ihrem Buch Trans. Frau. Sein. schreibt, »dass nicht-binäre trans Personen trans Personen sind und von mir keineswegs ausgeschlossen werden« (Ewert 2020: 21).
Agender: Als ›agender‹ bezeichnen sich Personen, die sich mit keinem Geschlecht identifizieren oder keine Geschlechtsidentität haben.
*: Der Asterisk steht für all jene, die sich nicht in den Kategorien von FLINTA wiederfinden, obwohl sie nicht cis männlich sind.
Samstag war hingegen vergleichsweise unspektakulär. Von einer Tanzdemo kommend und auf dem Weg zu einem Club, sagte ich zu einer Freundin: »Gute Bilanz für heute, wir wurden nur einmal gecatcalled[3]«. Allein diese Aussage sollte schon erschrecken, hellhörig machen, zu Widerstand führen.
Derlei Geschichten sind nicht neu, unter den verschiedensten Hashtags wie #Aufschrei, #MeToo oder #Männerwelten erzählen FLINTA* immer wieder von ihren Erfahrungen, machen sich nackig. Diese Informationen sind frei zugänglich, sie sollten also niemanden überraschen, doch aus ihnen müssen endlich Konsequenzen gezogen werden, die über eine kurzweilige Solidarisierung und eine überbetont überraschte Reaktion hinausgehen. Es ist anstrengend, schmerzhaft, zermürbend und frustrierend für FLINTA*, immer wieder die gleichen Geschichten zu erzählen, immer wieder antworten zu müssen: »Ja, das passiert mir wirklich. Nein, ich bin kein Einzelfall. Ja, das gehört zu meinem Alltag.« Deswegen appelliere ich an alle cis[4] Männer: Versteht und erkennt endlich an, dass uns das passiert, andauernd, und handelt entsprechend.[5]
Exkurs: Ich bestreite keinesfalls, dass es sexualisierte Gewalt gegenüber cis Männern gibt. Natürlich gibt es sie, ich markiere diesen Umstand auch sprachlich, indem ich beispielsweise Täter*innen statt Täter schreibe. Mir ist bewusst und ich erkenne ausdrücklich an, dass es im Umgang mit sexualisierter Gewalt, in denen cis Männer die Opfer sind, ebenfalls zahlreiche Probleme gibt. So gibt es beispielsweise zu wenig Zufluchtsorte für sie, auch können Väter ihre Kinder häufig nicht vor der gewaltausübenden Person schützen, weil ihren Aussagen nicht geglaubt wird. All das muss benannt und analysiert werden, und ich verurteile diese Umstände. Doch meine Kompetenzen liegen woanders, und in diesem Buch fokussiere ich mich auf sexualisierte Gewalt gegenüber FLINTA*, die in Abgrenzung zu sexualisierter Gewalt gegenüber cis Männern, strukturell verankert ist. Diese Behauptung belege ich im Folgenden an vielen Stellen.
Meine Expertise dieses Buch zu schreiben, rührt in erster Linie aus meiner eigenen mehrfachen Erfahrung mit sexualisierter Gewalt in unterschiedlicher Intensität. Darüber hinaus habe ich einen wissenschaftlichen Zugang zu dieser Thematik, da ich mich im Laufe meines Studiums und aus persönlichem Interesse intensiv mit feministischen Theorien und Diskursen auseinandergesetzt habe. In diesem Buch verbinde ich die Erkenntnisse aus beiden Welten und stelle anhand meiner Person sowie meiner Erfahrungen die Wirkungsweisen von sexualisierter Gewalt auf einer gesellschaftlichen Ebene dar, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.
Wichtig ist mir hier zu erwähnen, dass ich diese Art, ein Buch zu schreiben, nicht erfunden habe, sondern von vielen großartigen Autor*innen dazu inspiriert wurde. Sie legten die Grundsteine für meine Arbeit, ohne die es dieses Buch in dieser Form nicht geben würde. Einige möchte ich an dieser Stelle exemplarisch nennen. Allen voran sind das Alice Hasters, die das wunderbare Buch Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten geschrieben hat, und Linus Giese, der Autor des fantastischen Buches Ich bin Linus – Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war. Diese beiden beeindruckenden Menschen erzählen ihre persönliche Geschichte mit Fokus auf ihre Diskriminierungserfahrungen, einmal aus der Perspektive einer Schwarzen[6] Frau und einmal aus der Perspektive eines trans Mannes. Dabei gehen sie auf gesellschaftliche Diskurse und Machtverhältnisse ein, zeigen auf, dass ihre Erfahrungen keine Einzelfälle sind, sondern dass es sich um strukturelle gesamtgesellschaftliche Probleme handelt. Ihre Arbeiten machen Blickwinkel und Erfahrungen für Nichtbetroffene sichtbar und dienen als Inspiration und Empowerment für all jene, die ihre Erfahrungen selbst noch nicht einordnen und verarbeiten können.
Exkurs: Der englische Begriff ›Empowerment‹ wird in allen möglichen Lebensbereichen immer geläufiger und spielt auch im Feminismus eine große Rolle. Wörtlich kann er mit ›Ermächtigung‹, ›Stärkung der Selbstbestimmung‹ oder ›Unterstützung der Autonomie‹ übersetzt werden.iv Ziel dieses Konzeptes ist es, Kräfte und Ressourcen in Personen freizusetzen, um Selbstbestimmung (zurück)zuerlangen und dadurch zu autonom handelnden Personen zu werden.v
Im Folgenden werde ich immer wieder auf diesen Begriff zurückgreifen, um betroffene Personen zu stärken und zu ermutigen.
Mich haben diese beiden Bücher berührt, sie haben mich viel gelehrt und sind Vorbilder für mein eigenes Buch. Zusätzlich sind es Menschen wie Margarete Stokowski, Laurie Penny[7], Tupoka Ogette, Christina Clemm, Mithu Sanyal, Mohamed Amjahid, Max Czollek, Katja Lewina, um nur einige zu nennen, die meine Art zu Denken prägten, ohne dass ich sie persönlich kenne. Ihre Bücher haben mich durch eine entscheidende Entwicklungsphase begleitet, sie sind mitverantwortlich dafür, wie ich bestimmte Dinge sehe und bewerte. Das wird auch an der Fülle der Zitate zu erkennen sein, die ich verwende, um meinen Text zu untermauern.
Persönlich und sehr gut kenne ich hingegen meine Freund*innen und Familie, ohne die es dieses Buch in dieser Form definitiv auch nicht geben würde. Sie fingen mich auf, nachdem mir ›das‹ passiert war. Zu einer Zeit, in der ich nicht wusste, wohin mit mir, waren sie bedingungslos für mich da und unterstützten mich in meinem Kampf zurück ins Leben. Deshalb ist es mir ein Anliegen, ihre Perspektive, die ich in intensiven Gesprächen mit ihnen kennenlernen durfte, in dieses Buch einfließen zu lassen, und sie haben mir erlaubt, diese Informationen zu veröffentlichen. Die Namen meiner Freund*innen habe ich selbstverständlich geändert, genauso wie die Namen aller anderen Personen, die hier in irgendeiner Art und Weise Erwähnung finden und nicht in der Öffentlichkeit stehen.
Ich schreibe dieses Buch stellvertretend für alle FLINTA*, die sich auf irgendeine Weise mit meiner Perspektive identifizieren können. Es geht mir ausdrücklich nicht darum, meine Geschichte zu erzählen, um Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, berühmt zu werden oder Profit aus den Geschehnissen zu schlagen. Würde ich diese Ziele verfolgen, hätte ich eine andere Strategie gewählt. Die Arbeit an diesem Buch ist anstrengend, schmerzhaft und teilweise zermürbend. Ich bin beim Schreiben schon nach wenigen Stunden erschöpft. Ich beschäftige mich jeden Tag mit sexualisierter Gewalt, sei es auf theoretischer, sei es als Betroffene auf sehr persönlicher Ebene. Es ergibt demnach, wofür auch das Eingangszitat steht, für mich keinen Sinn, aus reinem Selbstzweck heraus zu handeln. Es ist mein Kampf für Gerechtigkeit, wobei ich für all jene kämpfen möchte, die nicht über die nötigen Ressourcen und Kapazitäten verfügen, um diesen Kampf selbst zu führen. Für all jene, denen Privilegien nicht zuteilwurden, aus denen ich meine Kraft nehmen kann. Das soll keinesfalls überheblich oder vermessen klingen. Mir ist bewusst, dass die Möglichkeit, dieses Buch zu schreiben, mit bestimmten Identitätsmerkmalen zusammenhängt, die ich qua Geburt erhielt. Da meine Sicht auf die Dinge von eben diesen Merkmalen geprägt ist und niemals allumfassend sein kann, ist es mir an dieser Stelle wichtig, transparent zu machen, aus welcher Perspektive ich schreibe. Ich bin eine ›weiße‹[8], ›queere‹[9], ›christlich-säkulare‹[10], ›ableisierte‹[11] ›cis‹ Frau mit reichen Eltern.[12] Diese Liste ist mit Sicherheit nicht vollständig. An dieser Stelle ist mir wichtig zu betonen, dass ich meine Privilegien anerkenne. Ich versuche mich weiterzubilden, mein eigenes diskriminierendes Verhalten zu hinterfragen, zu reflektieren und weitgehend abzulegen – stets in dem Bewusstsein, dass dieser Prozess niemals abgeschlossen sein wird. Ich habe mich bemüht, auf unterschiedliche emanzipatorische Diskurse einzugehen, diskriminierungsarme Sprache zu verwenden und Menschen eine Stimme zu geben, die nur schwer Gehör finden. Mit Sicherheit ist mir das nicht an allen Stellen gelungen und gerne bin ich bereit, weiter zu lernen. Insbesondere die Kategorien ›Mann‹ und ›Frau‹ stellten mich vor besondere Herausforderungen, da sie maßgebliche Strukturelemente unserer Gesellschaft sind und ich zuweilen auf sie zurückgreifen muss, wenn ich auf gesellschaftliche Missstände hinweisen möchte. Grundsätzlich verwende ich diese Begriffe nicht essentialisierend, d.h. ich gehe nicht davon aus, dass ›Männer‹ und ›Frauen‹ von ›Natur‹ aus festgeschriebene Verhaltensmuster, Eigenschaften oder dergleichen haben. Trotzdem kursieren bestimmte Rollenbilder und -erwartungen, die uns geprägt und die wir durch Sozialisierungsprozesse internalisiert[13] haben. Die Auswirkungen, die das auf unsere Realität hat, gilt es aufzubrechen und zu überwinden. Doch damit es gelingen kann, die Schieflage überhaupt zu beschreiben, braucht es den Rückgriff auf eben diese Kategorien. Eine zusätzliche Herausforderung ist durch die Tatsache gegeben, dass Menschen sich dieser Binarität[14] oder ihrem zugewiesenen Geschlecht entziehen und insofern die Kategorien ›Mann‹ und ›Frau‹ nicht allumfassend und somit ausschließend sind. Es gibt verschiedene Bezeichnungen und Kategorien, die diesem Problem begegnen, allerdings sind sie häufig nicht trennscharf, so dass ich in diesem Buch stellenweise an die Grenzen dieser Begriffe gekommen bin. Zuweilen experimentiere ich ein bisschen – immer mit dem Ziel, möglichst passgenau zu beschreiben, wen ich meine, ohne dabei Personen auszuschließen. Hierzu verwende ich beispielsweise das Akronym[15] FLINTA* oder Beschreibungen wie ›trans‹, ›cis‹, ›weiblich oder männlich gelesen‹[16]. Das ist alles nicht immer perfekt, die Sprache befindet sich hier in einem Wandel, und es besteht ein allgemeines Problem zwischen Theorie und Praxis. Nur um das einmal ausdrücklich zu betonen: wenn ich von Frauen oder Männern ohne Zusatz schreibe, meine ich damit alle Personen, die sich selbst als Frau identifizieren, also explizit auch trans Frauen, gleiches gilt für Männer. Şeyda Kurt schreibt dazu in ihrem Buch Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist:
»Es gibt einen Widerspruch, mit dem ich leben muss. (…) Auch ich werde mit binären Kategorien arbeiten, über Männer und Frauen sprechen (…). Denn diese Kategorien gehören zu meiner sozialen Realität. Und ich will diese soziale Realität zunächst verstehen und sie historisch entlarven, um zu wissen, wie es besser geht. Ich will nicht vor dem Jetzt kapitulieren und Sehnsüchte für die Zukunft ausmalen, die jenseits der Geschichte verortet sind, die uns gemeinsam ist.«vi
Das ist ein hochkomplexer wissenschaftlicher Diskurs, den ich versucht habe, auf wenige unkomplizierte Sätze herunterzubrechen. Wenn das nicht in Gänze verstanden wurde, ist das nicht schlimm. Mir war es vor allem wichtig, diesen Diskurs zu erwähnen, gerade gegenüber Personen, die sich bereits tiefergehend mit der Materie beschäftigt haben bzw. das noch tun wollen. Hierzu könnte man aber leicht ein eigenes Buch schreiben und deswegen setze ich hier einen Punkt in der Hoffnung, nicht für allzu viel Verwirrung gestiftet zu haben.[17]
Und schon sind wir mittendrin in der Begriffsklärung, für manche vielleicht trocken, für andere spannend. In jedem Fall wichtig, da nur eine gemeinsame Begriffsgrundlage meine Ausführungen verständlich macht. Ich bin der Überzeugung, dass Sprache wirkmächtig ist und dass die Art, wie wir sie gebrauchen, unser Denken und damit unser Handeln entscheidend prägt. An dieser Stelle könnte ich eine theoretische Abhandlung darüber verfassen, wie ich zu dieser Einstellung gekommen bin und verschiedene Studien zitieren, um das ausführlich zu begründen. Doch das ist nicht das Anliegen meines Buches, zumal u.a. Kübra Gümüşay dies in Sprache und Sein längst getan hat. Und ich werde auch nicht bereits jetzt jeden einzelnen Begriff erklären, das könnte sich wahrscheinlich sowieso niemand merken. Stattdessen habe ich Begriffe, die vielleicht neu sind, am Ende des Buches in einem Glossar zusammengefasst und bei ihrer erstmaligen Verwendung kurz in einer Fußnote erklärt. Es kann sein, dass viele Begriffe für einige neu sind, dass die Lektüre ungewohnt ist und vielleicht auch manchmal anstrengend. Das gehört dazu, denn wie Rebecca Solnit schreibt:
»Wer die Welt verändern will, muss auch die Begriffe und die Art, wie eine Geschichte erzählt wird, verändern, muss neue Namen, Formulierungen und Redewendungen finden und populär machen. Zu einem Befreiungsprozess gehört auch, neue Bezeichnungen zu prägen oder eher vage Begriffe zu konkretisieren.«vii
Trotzdem halte ich es für hilfreich, wenigstens einige wichtige Schlüsselbegriffe nachfolgend zu definieren. Einer dieser Begriffe, den ich bereits verwendet habe, ist ›sexualisierte Gewalt‹. Mit diesem grenze ich mich bewusst von dem Begriff ›sexuelle Gewalt‹ ab. Damit schließe ich mich dem feministischen Diskurs an, der darauf aufmerksam macht, dass es bei sexualisierter Gewalt nicht um Sex, sondern um Macht und letztendlich um Machtmissbrauch gehtviii. Dieser geht auf Susan Brownmiller[18] zurück, die in ihrem Buch Gegen unseren Willen, die These aufstellt, »dass Vergewaltigung nichts mit Sex zu tun habe, sondern ein reines Gewaltverbrechen sei; echter Sex basiere auf Konsens und sei frei von Gewalt«ix. Mithu Sanyal schreibt dazu:
»Das ist der Grund, warum Feministinnen heute von sexualisierter – und nicht von sexueller – Gewalt sprechen, um deutlich zu machen, dass Sex zwar die Waffe, nicht aber die Motivation bei einer Vergewaltigung ist.«x
Damit ist geklärt, wieso ich den Begriff ›sexualisierte Gewalt‹ verwende, nicht aber, was darunter zu verstehen ist. Das Kollektiv RESPONS definiert sexualisierte Gewalt wie folgt:
»Ganz allgemein verstehen wir unter sexualisierter Gewalt all diejenigen Formen eines sowohl physischen als auch psychischen sexualisierten Kontakts, die nicht auf einem konsensualen Einvernehmen beruhen. So können z.B. je nach Kontext und Situation eine sexualisierte Sprache sowie sexualisierte Bilder und Gesten als sexualisierte Gewalt erlebt werden. Sexualisierte [Gewalt] wird dabei oft von anderen Formen der Gewalt begleitet, wie z.B. verbaler, psychologischer, finanzieller und weiterer Formen physischer Gewalt. Hieraus kann sich ein Muster der wiederholten Gewalt ergeben, gerade in intimen Partner*innenbeziehungen – in romantischen Beziehungen, in Familien oder gegenüber Kindern.«xi
Lilian Schwerdtner ergänzt noch, dass sexualisierte Gewalt auch in kriegerischen Auseinandersetzungen eine entscheidende Rolle spieltxii. Hervorzuheben ist an der Definition von RESPONS, dass sie nicht nur Vergewaltigung thematisiert, sondern die verschiedenen Ebenen von sexualisierter Gewalt zum Ausdruck bringt. Max Czollek schreibt dazu in seinem Essayband Desintegriert Euch! richtigerweise:
»Den Extremfall zur Grundlage zu machen, ist, als wollte man behaupten, es liege erst dann Sexismus vor, wenn eine Frau vergewaltigt wird. Oder Rassismus, wenn Menschen als Sklaven verkauft werden. Ein Extremfall ist kein Maßstab für eine Diskriminierung, sondern ein Beispiel dafür, wie schlimm Dinge werden können.«xiii
Die Wurzeln von struktureller Diskriminierung[19] liegen also tief. Das ist ein zentraler Aspekt, denn der Verweis auf vermeintlich schlimmere Taten relativiert das eigene Handeln und legitimiert es in der Konsequenz, obwohl es der Grundstein und Nährboden für extremere Fälle ist.
Diese Definition beansprucht keine Allgemeingültigkeit. Es gibt noch andere Definitionen von sexualisierter Gewalt, wie im Folgenden zu sehen sein wird, beispielsweise, wenn ich aus bestimmten Studien zitiere. Manche Definitionen sind allgemeiner gehalten, während andere spezifischer und umfassender ausfallen. Dies nur als Disclaimer, grundsätzlich verwende und verstehe ich den Begriff, wie er oben definiert wurde.
Ein weiterer kontrovers diskutierter Begriff ist ›Opfer‹xiv, dem zuletzt größere Aufmerksamkeit durch die taz-Kolumne Du Opfer! Beschreibung von sexualisierter Gewalt von Mithu Sanyal und Marie Albrecht zuteilwurde. Darin argumentieren die Autorinnen, dass der Begriff Opfer im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt unpassend sei, da er diese auf passive, wehrlose und ausgelieferte Wesen reduziere. Doch das treffe keineswegs auf alle zu. Sanyal und Albrecht fordern einen neutralen Begriff und schlagen ›Erlebende‹ vor. Damit grenzen sie sich von bereits verwendeten Alternativen wie ›Geschädigte‹, ›Betroffene‹, ›Überlebende‹ ab, die die Autorinnen aus unterschiedlichen Gründen ablehnenxv. Besonders an dem Begriff ›Überlebende‹ üben sie viel Kritik. Dieser umfasst mehrere Ebenen. Erstens wird durch den Begriff die Verantwortung an die Betroffenen abgeschoben, indem darauf verwiesen wird, dass sie, wenn sie nur wollten, die Möglichkeit hätten, weiterhin ein glückliches Leben ohne Einschränkungen zu leben. Dadurch würden die Fälle ignoriert, die zur Folge haben, dass Menschen ihr Leben lang gebrochen sindxvi. Zweitens werde in dem Begriff eine Vergewaltigung mit dem Tod gleichgesetzt und somit das Narrativ bedient, eine Vergewaltigung bedeute das Ende des Lebensxvii. Drittens, und das ist der entscheidende Punkt, warum aus meiner Perspektive der Begriff in keinem Fall im Umgang mit sexualisierter Gewalt verwendet werden sollte, werden Menschen, die den Holocaust überlebt haben, ›Überlebende‹ genannt. Durch eine unkommentierte Verwendung des Begriffs könne der Eindruck einer Relativierung des Holocaust entstehenxviii.
Die Kolumne entfachte einen wenig konstruktiven Shitstorm, der mit vielen falschen Behauptungen sowie Vergewaltigungsdrohungen einhergingxix. Deswegen betone ich hier in aller Deutlichkeit das Ziel der beiden Autorinnen, das sie in ihrer Kolumne auch transparent machen: es geht nicht darum, Betroffenen vorzuschreiben, welchen Begriff sie für sich selbst verwenden. Es geht um die Frage, was eine gelungene, allgemeine Fremdbezeichnung sein könntexx. Tatsächlich stoße ich persönlich mich auch an dem Begriff ›Erlebende‹. Für mich beinhaltet er eine positive Konnotation, er ist für mich nicht neutral. Und darüber hinaus vermisse ich, dass die Unrechtmäßigkeit von sexualisierter Gewalt nicht zum Ausdruck kommt, und das damit einhergehende Machtgefälle, das es in jedem Fall gibt – egal, wie die Tat abgelaufen ist, egal, wie man selbst reagiert hat und egal, welche Auswirkungen die Tat hatte und hat. Zwar kann ich die Argumentation von Sanyal und Albrecht nachvollziehen, würde dem Ergebnis aber trotzdem widersprechen. Eine Option, dem von ihnen aufgezeigten Problem zu begegnen, wäre laut Schwerdtner,
»(…) die positive Aneignung bzw. Wiedereinschreibung des Begriffs ›Opfer*‹. ›Wiedereinschreibung‹ eines Begriffs bedeutet seine subversive Rekontextualisierung und Umdeutung. Beispiele für umgedeutete Begriffe sind etwa die englischen Worte ›queer‹ und ›gay‹ sowie ›schwul‹ im Deutschen. Diese haben durch die Aneignung als Selbstbezeichnung ihre negative Konnotation verloren.«xxi
Schwerdtner selbst legt sich nicht fest, gibt jedoch zu bedenken, dass sie eine erfolgreiche Positivbesetzung des Opferbegriffs für wenig wahrscheinlich hält. Ein Beispiel, das einen gescheiterten Versuch zeige, sei der Begriff ›Schlampe‹. Schwerdtner zieht das Fazit:
»Vielleicht kann dieser Raum dadurch eröffnet werden, dass sich Betroffene selbstbestimmt öffentlich zu Wort melden und ihre Position ungefiltert vertreten.«xxii
Na, dann versuch’ ich das mal. Vorweg möchte ich aber Folgendes klarstellen: Die nachfolgenden Gedanken spiegeln meine persönliche, individuelle Meinung wider. Sie beanspruchen keine Allgemeingültigkeit, ich kann nicht für andere Betroffene sprechen. Da Selbstbezeichnungen ganz grundsätzlich Fremdbezeichnungen vorzuziehen sind, war mein erster Impuls, eine positive Besetzung des Opferbegriffs anzustreben. Ich dachte viel darüber nach, führte Gespräche und Diskussionen mit Freund*innen, um mir eine Meinung zu bilden, um eine begründbare Haltung dazu zu entwickeln und nicht durch ein diffuses Gefühl bestimmt zu werden. Der Prozess ist immer noch nicht abgeschlossen und ich weiß nicht, ob die Position, die ich hier vertrete, meine endgültige sein wird. Aber zum jetzigen Zeitpunkt bezeichne ich mich selbst, wie einige aufmerksame Leser*innen vielleicht schon festgestellt haben, als Opfer. Gerne begründe ich, wie ich zu dieser Entscheidung gekommen bin. In dem Begriff ›Opfer‹ kommt zum Ausdruck, dass ein Unrecht geschehen und das vorgefallene Ereignis nicht zu rechtfertigen istxxiii. Dass diese Anerkennung von sexualisierter Gewalt in gesellschaftlichen Strukturen häufig fehlt oder relativiert wird, spielte für mich eine entscheidende Rolle bei der Suche nach einem passenden Begriff. Zwar teile ich die Kritik, dass der Begriff des Opfers eine Passivität ausdrückt und schätze das ebenfalls als Problem ein, bin aber der Meinung, dass es einen Versuch wert ist, diese Konnotation aufzubrechen. Gelingen kann das, wenn wir dem Begriff des Opfers eine empowernde Wirkung entlocken, wenn wir selbstbewusst sagen können: »Ja, ich bin ein Opfer von sexualisierter Gewalt, ja, mir ist das passiert und trotzdem bin ich nicht gebrochen, trotzdem bin ich ein selbstbestimmt handelndes Subjekt, trotzdem führe ich ein glückliches Leben.« Der Reiz, den der Opferbegriff für mich hat, liegt darin, dass er bei einer Positivbesetzung die unterschiedlichen Dimensionen von sexualisierter Gewalt vereinen kann. Mit dem Begriff sind keine Erwartungshaltungen verknüpft, weder werden Menschen ausgeschlossen, für die ihre Erfahrung mit sexualisierter Gewalt ein Bruch, ein Trauma, einen massiven Einschnitt bedeutet, noch Menschen, die kaum oder keine Auswirkungen spüren oder erleben. Für eine Wiedereinschreibung des Opferbegriffs spricht zusätzlich, dass es sich auch um einen juristischen Begriff handelt und es deshalb sowieso nicht möglich bzw. nur sehr schwer möglich wäre, ihn auszulöschen, zumal er zu dem Konzept der Täter*innen-Opfer-Umkehr[20] gehört, das im Umgang mit sexualisierter Gewalt von zentraler Bedeutung ist.[21]
Im Folgenden werde ich es so handhaben, dass ich sowohl den Begriff ›Opfer‹ als auch den Begriff ›Betroffene‹ verwende, da ich mich nicht dauernd wiederholen möchte und der Begriff ›Betroffene‹ für mich keine problematische Konnotation hat. An einigen wenigen Stellen greife ich auf den Begriff ›Geschädigte*r‹ zurück, um juristische Zusammenhänge korrekt beschreiben zu können. Alle weiteren Begriffe werden im Verlauf des Buches geklärt.
»Sexualisierte Gewalt ist politisch; sie ist eine Funktion des Patriarchats und nicht nur eine individuelle Verletzung, die einzelnen Menschen (in der Regel Männer) anderen (meist Frauen) zufügen.«xxiv (CrimethInc)
»Nach Brownmiller war Vergewaltigung Ursprung und Urszene des Patriarchats.«xxv (Mithu Sanyal)
Es war Freitagabend. Nach einer vierwöchigen Alkoholabstinenz war ich auf eine Hausparty eingeladen. Ich hatte gute Laune, super viel Lust zu feiern und mich mit meinen Freund*innen zu treffen. Zunächst kam mir alles ziemlich perfekt vor, es war ein warmer Sommerabend, ich war betrunken, und alles schien unbeschwert. Wir tanzten viel, hatten gute Gespräche und ließen den Alltag hinter uns. Die Sonne begrüßten wir mit selbstgesungenen Liedern in Begleitung eines Keyboards, bis ich schließlich hundemüde, aber voller Glück und mit Gute-Laune-Musik auf den Ohren in die Straßenbahn einstieg, um nach Hause zu fahren.
Später sollte ich in der Gerichtsverhandlung erfahren, dass bereits die Straßenbahnfahrt auffällig verlaufen war. Erinnern konnte ich mich aber erst, als mir ein entsprechendes Video gezeigt wurde. Darin zeichnete sich bereits ab, dass der Abend, der so unglaublich schön gewesen war, ein schreckliches Ende nehmen würde.
An meiner Haltestelle stieg ich nichtsahnend aus der Straßenbahn aus. Die Sonne war zu diesem Zeitpunkt bereits vollständig aufgegangen und das Leben der Stadt begann, sich langsam zu regen. Ich war immer noch supergut gelaunt und lief die sieben Minuten, die es von der Haltestelle bis zu meiner Wohnung sind, beschwingt nach Hause und hörte dabei sehr laut Musik. Kein einziges Mal drehte ich mich um. Wieso auch, das tat ich ja sonst auch nie, denn mich von der Gesellschaft einschränken zu lassen, weil ich eine Frau bin, widerspricht allen Fasern meines Körpers. Im Gegenteil: wo immer ich kann, versuche ich, mich für den intersektionalen Feminismus stark zu machen, für Gleichberechtigung zu kämpfen.
Exkurs: Das Problem, auf das intersektionale Ansätze aufmerksam machen, wurde in besonderer Weise durch eine Klage von Emma DeGraffenreid und anderen Schwarzen Frauen gegen General Motors sichtbar, bei der es darum ging, dass im Zuge von Massenentlassungen überproportional viele Schwarze Frauen entlassen worden waren. Das Gericht wies die Klage mit der Begründung ab, dass weder eine rassistische Diskriminierung vorläge, da schließlich Schwarze Männer in dem Unternehmen angestellt seien, noch eine sexistische Diskriminierung, weil weiße Frauen dort arbeiteten. Die Schwarzen Frauen könnten entweder gegen Rassismus oder gegen Sexismus als Diskriminierungsform klagen, nicht aber gegen beides gleichzeitig.xxvi
Dieses Urteil nahm Kimberlé Crenshaw zum Anlass, um in den 1980er Jahren das theoretische Konzept der ›Intersektionalität‹ zu entwickeln.xxvii Sie verdeutlichte ihren Ansatz mit folgendem Beispiel:
»Nehmen wir als Beispiel eine Straßenkreuzung, an der der Verkehr aus allen vier Richtungen kommt. Wie dieser Verkehr kann auch Diskriminierung in mehreren Richtungen verlaufen. Wenn es an einer Kreuzung zu einem Unfall kommt, kann dieser von Verkehr aus jeder Richtung verursacht worden sein – manchmal gar von Verkehr aus allen Richtungen gleichzeitig. Ähnliches gilt für eine Schwarze Frau, die an einer ›Kreuzung‹ verletzt wird; die Ursache könnte sowohl sexistische als auch rassistische Diskriminierung sein.«xxviii
Zu Beginn fokussierte der Ansatz vor allem die drei Kategorien ›gender‹, ›race‹ und ›class‹. Mittlerweile sind Kategorien wie sexuelle Orientierung, Alter, ethnische Herkunft und viele mehr hinzugekommen. Es gibt allerdings eine Debatte darüber, ob weitere bzw. welche Kategorien aufgenommen werden und welche nicht. Im Grunde geht es aber darum, dass Personen von unterschiedlichen Diskriminierungsformen betroffen sein können, es somit zu Mehrfachdiskriminierung, zu einer Verstärkung und Verschränkung der Diskriminierung kommen kann. Nicht allein aus diesem Grund sind die Erfahrungen einer Schwarzen Frau andere als die einer weißen Frau.xxix
Der Begriff ›Intersektionalität‹ und das dahinterstehende Konzept wurde darüber hinaus von Schwarzen Feministinnen wie Sojourner Truth antizipiert, die bereits 1851 mit ihrer Frage »Ain’t I a women?«xxx auf die Mehrfachdiskriminierung aufmerksam gemacht hatte.xxxi
Ich selbst verstehe unter Intersektionalität, dass verschiedene Diskriminierungsformen, egal welcher Art, zusammengedacht und sichtbar gemacht werden und dass anerkannt wird, dass es Mehrfachdiskriminierung gibt und sich die einzelnen Diskriminierungsarten gegenseitig verstärken können. Es ist wichtig zu verstehen, dass Menschen, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind, eine andere Lebensrealität haben, und es ist wichtig, dass wir uns die dahinterliegenden Strukturen genauer anschauen, bevor wir sie bekämpfen können. Zunehmend wird der Begriff der Intersektionalität dahingehend kritisiert, dass insbesondere mit der Metapher der Straßenkreuzung suggeriert werde, es gäbe eine klare Trennung der einzelnen Diskriminierungserfahrungen. Das ist selbstverständlich nicht der Fall ist, vielmehr herrscht eine komplexe Wechselwirkung und Verwobenheit. Abgeleitet daraus wird der Begriff der Interdependenz, der von Katharina Walgenbach mit geprägt wurde.xxxii
Im Grunde verbringe ich keine Zeit damit, mir Gedanken darüber zu machen, was mir alles passieren könnte, sondern versuche, mein Leben selbstbestimmt zu leben. Und dazu gehört für mich auch, dass ich alleine nach Hause gehen kann und das zu jeder Uhrzeit.
Ich ahnte also überhaupt nichts Böses, schloss die untere Tür zu dem Mehrfamilienhaus auf, in dem sich meine Dachgeschosswohnung befindet, und ging die ersten paar Treppenstufen hinauf, als mich plötzlich jemand von hinten an meinen Oberarmen packte. Ab jetzt ging alles unglaublich schnell. Ich schrie und versuchte, mich loszureißen. Der Typ, der mich gepackt hatte, fasste mir zwischen die Beine, griff meine von der Hose bedeckte Vulva, ich schrie lauter, und er packte fester zu. Es tat weh. Er drehte mich um, wollte wissen, wo meine Wohnung ist. Ich schrie, dass ich hier nicht wohne und dass er mich loslassen soll, und versuchte, mich aus seinem Griff loszureißen, schaffte es aber nicht. Er war zu stark. Ich musste verstehen, dass er mir körperlich überlegen ist. Ein Gefühl der Ohnmacht, der Machtlosigkeit durchfuhr meinen Körper. Ich fühlte mich extrem hilflos. Glaube ich zumindest, denn eigentlich weiß ich nicht mehr, was ich während der Tat gedacht habe, auch konnte ich meine Gefühle in diesem Augenblick nur schwer sortieren. Irgendwann merkte ich wie aus der Außenperspektive, dass mein Körper die Treppenstufen zu meiner Wohnung hinauflief. Anscheinend hatte ich es irgendwie geschafft, mich zu befreien, der Typ war weg, geflohen. Ich sperrte die Wohnungstür auf, schloss sie panisch hinter mir zu und sank auf dem Boden zusammen.
Exkurs: Vielleicht wundern sich einige Leser*innen darüber, dass ich den Begriff ›Vulva‹ verwende, oder sie stolpern sogar darüber. Das ist Absicht. Ich verwende den Begriff Vulva nicht zufällig, sondern es ist eine bewusste Entscheidung. Katja Lewina erklärt in ihrem Buch Sie hat Bock in dem Kapitel Gib dem Baby einen Namen. Das Unsichtbare sichtbar machen anschaulich und auf sehr witzige Art und Weise, wieso Begriffe wie ›Muschi‹, ›Pussy‹, ›Mumu‹, ›Fotze‹, ›Möse‹ oder ›Yoni‹ unpassend sind und unbedingt vermieden werden sollten. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass sie entweder niedlich klingen, etwas Kindliches haben, beleidigend sind oder esoterisch konnotiert.xxxiii
Neben Begriffen wie den oben genannten gibt es noch zwei weitere, die einigermaßen verbreitet sind: ›Scheide‹ und ›Vagina‹. Doch diese beiden Begriffe sind nicht weniger problematisch. Die Wortbedeutung von Scheide beinhaltet, dass etwas in sie hineingesteckt wird, beispielsweise ein Schwert. Übertragen auf Genitalien bedeutet das, dass die Scheide dazu da ist, von einem Penis ausgefüllt zu werden. Damit wird eine Passivität ausgedrückt, die die Lust von Personen mit Vulva unsichtbar macht. Vagina ist lediglich das lateinische Wort für Scheide, insofern ergibt sich bei dem Begriff die gleiche Problematik.
Zudem bezeichnen sowohl Vagina als auch Scheide die Verbindung zwischen äußerem Reproduktionsorgan- und der Gebärmutter. Es handelt sich hier also um den von außen nicht sichtbaren Teil des Intimorgans[22]. In der Alltagssprache wird der Begriff Vagina allerdings meistens verwendet, um den äußeren, den sichtbaren Teil zu beschreiben, der aber wird medizinisch korrekt als ›Vulva‹ bezeichnet. Und weil ich an dem äußeren, dem sichtbaren Teil angefasst wurde, spreche ich von Vulva.
Einen Begriff, der sowohl Vulva als auch Vagina benennt und dabei nicht problematisch ist, gibt es (noch) nicht. Die Kreation ›Vulvina‹, die im Jahr 2012 von Ella Berlin vorgeschlagen wurde, hat sich bisher leider nicht durchgesetzt. Ich finde, es ist langsam an der Zeit, diese wunderschöne Wortschöpfung in unsere Sprache zu integrieren und alle anderen Begriffe endgültig zu verbannen. Macht ihr mit?xxxiv
Noch im Schockzustand, völlig unkontrolliert, rief ich reflexartig meine Freundin Frieda an. An die genauen Handlungsabläufe kann ich mich nur schwer und unvollständig erinnern. Jedenfalls begriff ich in keiner Weise, was gerade passiert war. Der Zustand, in dem ich mich befand, war kaum zu greifen oder zu beschreiben, nichts fühlte sich real an, meine Rationalität war vollkommen verschwunden. Ich konnte überhaupt nicht einordnen, was gerade geschieht. Mein Körper tat Dinge, die ich nicht kontrollierte, ich sagte Dinge, die ich mir vorher nicht überlegte. Es war eine einzige Aneinanderreihung von reflexartigen, intuitiven Handlungen. Es fühlte sich an wie in einem schlimmen Albtraum, als wäre nicht ich die Person, der gerade etwas Schlimmes zugestoßen ist.
Glücklicherweise ging Frieda sofort ans Telefon und reagierte, wie man besser nicht hätte reagieren können. Auch wenn ich nicht mehr weiß, was sie im Einzelnen gesagt hat, weiß ich, dass Frieda sofort erkannte, was mir passiert war, und genau das gesagt hat, was ich in diesem Moment brauchte. Sie hat mir in dieser Situation den nötigen Halt gegeben und für mich entschieden, was ich als nächstes tun soll. Frieda war in Begleitung unserer gemeinsamen Freundin Maxi, die ebenfalls sofort reagierte, die Polizei anrief, nachdem sie mein Okay dafür bekommen hatte, und die ›Hintergrundorganisation‹ übernahm. Beide beschlossen, ihren Partyabend im Club sofort zu beenden und mit der nächsten Bahn zu mir zu kommen. Am Anfang hielt ich das für übertrieben, hatte sogar kurz überlegt, ob ich nicht besser zu Frieda fahre, weil meine Wohnung nicht aufgeräumt war. Keine Ahnung, wie es zu derart absurden Überlegungen meinerseits kam. Aber die beiden überzeugten mich, dass es besser sei, wenn sie zu mir kommen. Ab da waren sie für mich da und trafen, genau die Entscheidungen, die ich nicht treffen konnte, allerdings ohne mich zu bevormunden, denn sie sprachen alle Schritte mit mir ab. Ohne die kompromisslose und bedingungslose Hilfe meiner Freund*innen wäre ich heute nicht an dem Punkt, an dem ich bin, und ich wünsche allen Menschen auf dieser Erde, Freund*innenschaften wie diese – für mich das größte Geschenk überhaupt.
Während ich noch mit Frieda telefonierte und ihr zu erklären versuchte, was gerade vorgefallen war (auch wenn mir der Inhalt des Gesprächs nicht mehr präsent ist, erinnere ich mich daran, dass ich immer wieder hyperventilierte), klopfte es laut und stark an meiner Wohnungstür. Erneut durchfuhr eine Panikattacke meinen Körper. Ich schrie in das Telefon, dass ich nicht aufmachen will. Ich hatte Angst, dass das der Typ ist. Irgendwann nahm ich wahr, dass die Person, die so unglaublich laut an meiner Tür klopfte, sagte, sie sei von der Polizei. Ich machte, nachdem Frieda mich überzeugt hatte, die Tür auf. Allerdings war ich nicht in der Lage, mit der Person, die dort stand, zu sprechen, es gelang mir nicht, auch nur einen klaren Satz zu formulieren. Wortlos übergab ich dem Polizisten das Telefon. Frieda sollte ihm erklären, was los ist. Ich konnte das nicht. Der Polizist schien sichtlich überfordert mit der Situation und holte Verstärkung. Auch das ist eine Tatsache, die mich rückblickend den Kopf schütteln lässt. Wie kann es sein, dass ein Polizist derart überfordert mit einer solchen Situation ist? Trifft er in seinem Beruf nicht mehr oder weniger ständig auf Menschen im Schockzustand, und gehört es nicht zu seinem Aufgabenbereich, damit umgehen zu können? In dem Moment wunderte mich allerdings überhaupt nichts, ich wollte ja eh nur mit Frieda sprechen. Sie durfte auf keinen Fall auflegen. Ich brauchte sie jetzt. Eine vertraute Person, die mich durch die ganzen Geschehnisse navigieren konnte.
Ich setzte mich auf mein Bett, sah lauter fremde Menschen in meiner Wohnung. Personen von der uniformierten Polizei, der Kriminalpolizei, Sanitäter*innen und eine Frau vom Krisendienst, die sich als Martina vorstellte. Immer wieder hyperventilierte ich, sank auf meinem Bett zusammen, war nicht in der Lage, einen klaren Satz zu formulieren und wollte einfach nur, dass Maxi und Frieda endlich da sind, Menschen, die ich kenne, denen ich vertraue. Das Warten bis zu ihrem Eintreffen fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Es dauerte wohl auch eine Stunde, bis sie angekommen waren, weil die Bahnen nicht so regelmäßig fuhren. In der Zwischenzeit fragten mich die uniformierte Polizistin und auch die Kriminalbeamtin irgendwelche Sachen, was genau, weiß ich nicht mehr. Vermutlich wollten sie wissen, was passiert war, doch ich kann mich nicht daran erinnern, was ich gesagt habe. Wie auch? Ich war mit allem völlig überfordert, die Tat war noch keine zwei Stunden vergangen und nun sollte ich irgendwelche Fragen beantworten, obwohl ich mich noch im Schockzustand befand, nicht sortieren konnte, was geschehen war und auch nicht verstand, was gerade in meiner Wohnung vor sich ging. Ich konnte nicht nur meine Gedanken nicht sortieren, ich konnte überhaupt nichts, ich wollte einfach nur Frieda und Maxi in meine Arme schließen. Bis es soweit war, wurde mit meinem Einverständnis ein Alkoholtest gemacht, um zu überprüfen, ob ich überhaupt vernehmungsfähig bin. Das Ergebnis zeigte, dass ich nicht vernehmungsfähig war.