Österreichs Geschichte - Georg Kugler - E-Book

Österreichs Geschichte E-Book

Georg Kugler

4,8

Beschreibung

In diesem Buch versammeln die renommierten und bekannten Historiker Georg Kugler und Herwig Wolfram die wichtigsten und spannendsten 99 Fragen zur österreichischen Geschichte. "Woher kommt der Titel Erzherzog in Österreich?", "Wie kam Österreich zu seinem Namen, was bedeutet er und wo ist er entstanden?" sind nur zwei der Fragen, die die Autoren beantworten und damit einen Bogen vom Beginn Österreichs bis heute spannen. Sachkundig und kompakt!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 322

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
15
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch

In diesem Buch versammeln die renommierten und bekannten Historiker Georg Kugler und Herwig Wolfram die wichtigsten und spannendsten 99 Fragen zur österreichischen Geschichte. „Woher kommt der Titel Erzherzog in Österreich?“, „Wie kam Österreich zu seinem Namen, was bedeutet er und wo ist er entstanden?“ sind nur zwei Fragen, die die Autoren beantworten und damit einen Bogen vom Beginn Österreichs bis heute spannen. Sachkundig und kompakt!

INHALT

VORWORT

GESCHICHTE UND MYTHOS

1 Welche Geschichtsmythen werden über Herkunft und Anfang erzählt? · 2 Welche Verbindung besteht zwischen der österreichischen und der deutschen Geschichte? · 3 Welche Öffentlichkeit besitzt das österreichische Mittelalter? · 4 Wer war Bischof Otto von Freising (1138–1158)? · 5 Wodurch unterscheiden sich Annalen von Chroniken? · 6 Worüber geben römische Inschriften Auskunft? · 7 Worin besteht der Wert der urkundlichen Überlieferung und wie unterscheidet sie sich von den Akten? · 8 AEIOU · 9 Was weiß man über den Vers Bella gerant alii, tu felix Austria nube? · 10 Wozu braucht man einen Stammbaum? · 11 Was erzählen die Wappen der österreichischen Bundesländer?

RÄUME UND LÄNDER

12 Was ist über Österreichs Grenzen zu sagen? · 13 Wie sah die römerzeitliche Ordnung unseres Landes aus? · 14 Wie endete die Römerzeit in Donauösterreich? · 15 Wie sah die frühmittelalterliche Ordnung unseres Landes aus und wie wirkte sie weiter? · 16 Wurde das heutige österreichische Staatsgebiet bereits im Spätmittelalter vorbestimmt? · 17 Wann teilten die Habsburger im Spätmittelalter die »Herrschaft zu Österreich«? · 18 Wozu brauchte der Mensch den Wald? · 19 Wozu brauchte der Mensch das Wasser?

DIE NAMEN UND IHRE GESCHICHTE

20 In welcher Bedeutung überlebten Rätien, Norikum und Pannonien die Antike? · 21 Wann sind die heutigen österreichischen Bundesländer zum ersten Mal als Länder bezeugt und was bedeuten ihre Namen? · 22 Wann sind die Namen der österreichischen Landeshauptstädte zum ersten Mal bezeugt und was bedeuten sie? · 23 Wie kam Österreich zu seinem Namen? · 24 Warum bezeichnen die Tschechen und Slowaken ihre österreichischen Nachbarn als Raabser? · 25 Gibt es wirklich keine Kängurus in Austria?

DIE VÖLKER UND IHRE SPRACHEN

26 An welche Völker erinnern die österreichischen Orts- und Gewässernamen? · 27 Wer waren die Bayern? · 28 Wer waren die Alemannen? · 29 Wer waren die Karantanen? · 30 Wer waren die Awaren? · 31 Seit wann leben Juden nachweisbar in Österreich? · 32 Wann gab es in Österreich Judenverfolgungen vor der Shoah? · 33 Wer waren die Ungarn, als sie nach Europa kamen? · 34 Was bedeutete Burgund? · 35 Welche Sprache sprechen die Wiener? · 36 Was kommt den Österreichern spanisch vor und was wurde in Österreich offiziell als spanisch bezeichnet?

DAS CHRISTENTUM UND SEINE HEILIGEN

37 Was weiß man von den Anfängen des Christentums in Österreich und wie war es organisiert? · 38 Wann entstanden die ältesten österreichischen Klöster? · 39 Was bedeutet Heiligkeit historisch? · 40 Wer war der heilige Florian? · 41 Wer war der heilige Severin? · 42 Wer war der heilige Rupert? · 43 Wer war der heilige Virgil? · 44 Wer war der heilige Leopold?

PRIVILEGIEN UND INSTITUTIONEN

45 Was war die Ministerialität? · 46 Was ist das Privilegium minus und welchen Konflikt löste es? · 47 Was ist die Georgenberger Handfeste? · 48 Was bewirkte das Stapelrecht? · 49 Welche Epoche wird als österreichisches Interregnum bezeichnet? · 50 Wie kam es zur Fälschung des Privilegium maius?

RECHT UND GESETZ

51 Woher kommt der Titel Erzherzog von Österreich? · 52 Was ist die Pragmatische Sanktion? · 53 Was war die Erbhuldigung? · 54 Wer waren die wichtigsten Berater Maria Theresias? · 55 Welche Bedeutung haben Metternich und sein »System« für Österreich? · 56 Warum k. u. k. und k. k.? · 57 Was war der Hofstaat und welche Aufgaben erfüllte er? · 58 Weshalb wurde 1848 eine Deutsche Nationalversammlung einberufen und was bedeutete sie für Österreich? · 59 Welche parlamentarischen Vertretungen gab es in Österreich? · 60 Welche Bedeutung hat der »Ausgleich« mit Ungarn für die politische Entwicklung Österreichs nach 1867? · 61 Was führte zur Namensgebung der Republik Deutschösterreich? · 62 Seit wann gibt es eine österreichische Währung?

HERRSCHER UND GESCHLECHTER

63 Was bedeutet der Bayernherzog Tassilo III. für die österreichische Geschichte? · 64 Wie wurden die Babenberger Babenberger? · 65 Wie merkt man sich die Namen der Babenberger? · 66 Woher und wie kamen die Habsburger nach Österreich? · 67 Was bedeutete das gespannte Verhältnis Rudolfs des Stifters zu seinem Schwiegervater Karl IV. für Österreich? · 68 Was weiß man von der Persönlichkeit Maximilians I. (1459–1519)? · 69 Was leistete Maximilian I. für das Haus Österreich und die Erblande? · 70 Was weiß man von der Persönlichkeit Ferdinands I. (1503–1564)? · 71 Wie führten die Brüder Karl V. und Ferdinand I. ihre Ehen? · 72 Was bewirkte Ferdinand I. (1503–1564) für seine Königreiche und Länder? · 73 Was bedeutete die Länderteilung zwischen Karl V. und Ferdinand I. im Jahre 1522 für Österreich? · 74 Wieso kam es zu einem »Bruderzwist« im Hause Habsburg? · 75 Wie verlief das Leben der Töchter Maria Theresias?

HERRSCHER UND UNTERTANEN

76 Woher kommt der Begriff »Biedermeier« und welche Lebens- und Geisteshaltung prägt die Epoche? · 77 Wer musste zur Audienz beim Kaiser, wer konnte, wenn er wollte? · 78 Warum tragen die neuzeitlichen Habsburger das »Goldene Vlies«?

KRIEG UND FRIEDEN

79 Welche historische Wende bedeutete die erste Türkenbelagerung Wiens? · 80 Welche Rolle spielt die Zweite Türkenbelagerung von 1683 im historischen Bewusstsein der Österreicher? · 81 Kann man von Österreich als einer Weltmacht des Barock sprechen? · 82 Warum war Prinz Eugen von Savoyen der bedeutendste kaiserliche Feldherr? · 83 Wer kämpfte an der Seite Österreichs gegen Napoleon? · 84 Welche Staaten nahmen am Wiener Kongress teil? · 85 Wer schloss die Heilige Allianz und welches Ziel verfolgten die Bündnispartner? · 86 Welche Rolle spielte Österreich gegenüber dem Risorgimento? · 87 Welche Rolle spielte Österreich bei der Gründung der modernen Balkanstaaten? · 88 Wie konnte es zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs kommen?

KUNST UND WISSENSCHAFT

89 Was ist der Tassilo-Kelch? · 90 Welche heute noch existierenden Bauwerke und Kunstwerke verdanken wir den Babenbergern? · 91 Seit wann kann von österreichischer Kunst, von österreichischen Baumeistern, Bildhauern und Malern gesprochen werden? · 92 Warum erlangte die »Wiener medizinische Schule« des 19. Jahrhunderts Weltgeltung und wer waren ihre bedeutendsten Vertreter? · 93 Welche Architekten bauten die Ringstraße? · 94 Warum löste der Bau des »Looshauses« einen Skandal aus? · 95 Welche Stellung nimmt der Wiener Jugendstil in der europäischen Kunst ein?

LITERATUR UND MUSIK

96 Welche Minnesänger lebten und wirkten im Gebiet des heutigen Österreich? · 97 Wer sind die bedeutendsten Dichter Österreichs? · 98 Welche großen Komponisten waren Österreicher der Geburt nach, welche wählten Österreich bzw. Wien zu ihrer Wirkungsstätte? · 99 Welche Bedeutung haben die Neue Wiener Schule und Arnold Schönberg in der Musikgeschichte?

LITERATUR

REGISTER

VORWORT

Der Verlag stellte 99 Fragen an die österreichische Geschichte frei und zwei Autoren suchten sie auf ihre Weise auszuwählen und zu beantworten. Die beiden sind Freunde und Kurskollegen, das heißt Absolventen des 48. Kurses 1957–1959 des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung an der Universität Wien. Der eine von ihnen ist als Kulturhistoriker und Ausstellungsmacher des österreichischen Spätmittelalters und der Neuzeit ausgewiesen, der andere für das Jahrtausend zwischen der römischen Kaiserzeit und dem 11. Jahrhundert. Ihre Fragen entsprechen daher ihrer unterschiedlichen Kompetenz und ihrem besonderen Interesse, sollten aber nicht nur das Kuriositätenkabinett einer fernen Vergangenheit aufschließen, sondern das Nachwirken früherer Zeiten bis herauf in unsere Gegenwart vermitteln. Dabei wurde selbstverständlich nicht enzyklopädisch vorgegangen. Die Summe der Fragen bietet keine, wenn auch noch so kurze, Fassung der österreichischen Geschichte von der Venus von Willendorf bis zu den Powerfrauen unserer Tage. Man möge sich aber nicht wundern, wenn Maximilian I. (Frage 68 und 69) zwei und Ferdinand I. (Frage 70 bis 73) vier Fragen gewidmet sind. Der Grund liegt in der Überzeugung der Autoren, dass unter den Baumeis-tern Österreichs diese beiden Herrscher zu den wichtigsten zählen.

Zu danken haben die Autoren ganz besonders Angela Bergermayer, Ernst Hanisch, Harald Prickler und nicht zuletzt Helmut Rumpler für Auskunft, Rat und Kritik. Ebenso gebührt Dank Fritz Panzer und Alfred Schierer, vor allem aber Irmgard Dober, die die Mühen des Lektorats auf sich nahm und so vortrefflich bewältigte.

Georg Kugler

Herwig Wolfram

GESCHICHTE UND MYTHOS

1

Welche Geschichtsmythen werden über Herkunft und Anfang erzählt?

Mythos und Logos bedeuten beide »das Wort«. Während aber der Logos einen Anfang hat, auf ein Ziel gerichtet ist und als Erlöser wirkt, bleibt der Mythos in der »Ewigen Wiederkehr« einer Vergangenheit ohne Anfang und Ende gefangen. Aus der Verbindung von Mythos und Geschichte entstehen die Geschichtsmythen, die den Historiker, der sich um eine logische Geschichte bemühen muss, mit einem doppelten Widerspruch konfrontieren. Zum einen handeln Geschichtsmythen mit Vorliebe von Anfang und Herkunft. Zum anderen stiften sie ethnische und nationale Identitäten. Oder, mit den Worten von Isaiah Berlin: Eine Nation besteht aus denjenigen Personen, die der gemeinsame Irrtum über ihre Ursprünge eint. Seit Bruno Kreisky die Keltizität seiner Landsleute verkündete, wollen die Österreicher Kelten sein. Dazu bemerkte 1976 Erich Zöllner (1916–1996), die Nachkommen der Kelten »in der Bretagne, Wales und Irland bedrohten eben niemanden mit Anschluss und Krieg. Daher passt die keltische Herkunft ausgezeichnet zur österreichischen Neutralität«, die ebenfalls ein Geschichtsmythos sei. Eine lokale Form des Keltenmythos ist die Behauptung, der Ire Virgil (Frage 43) sei deswegen zum Bischof von Salzburg berufen worden, weil es hier noch Menschen gegeben habe, die Keltisch gesprochen hätten. Eine Annahme, die durch die historischen wie linguistischen Quellen eindeutig widerlegt wird. Vielmehr trafen die germanischen und slawischen Einwanderer in den römischen Donau- und Alpenprovinzen (Frage 13) nur noch auf romanisch sprechende Einheimische. Von Letzteren handelt ein Geschichtsmythos besonderer Hinterhältigkeit, der da lautet, im Jahre 488 seien alle Römer/ Romanen aus unserem Land nach Italien »heimgekehrt« (Frage 14). Tatsächlich war die Bevölkerung der römischen Provinzen fast vollständig romanisiert und hier seit langer Zeit zu Hause. Daher macht die Vorstellung von der »Heimkehr« der Römer, die historische Quellen und Ortsnamen (Frage 26) überdies eindeutig widerlegen, alle unliebsamen Einheimischen – gleichgültig ob in Gegenwart oder Vergangenheit – zu Fremden, für die eine andere Heimat konstruiert wird, in die sie gefälligst »heimzukehren« hätten. Aber auch die slawische Vergangenheit des Landes wird mythisiert. Obwohl slawische Ortsnamen außer in Nordtirol und Vorarlberg überall in Österreich vorkommen, hätten Slawen auf österreichischem Boden stets »nur dünn« gesiedelt und sich vor den Bayern »jahrhundertelang in die Berge« zurückgezogen. Man fragt sich, wie ein einzelner Slawe beides schaffte.

Nicht auszurotten ist die schöne Legende, wonach Leopold III., der Heilige (Frage 44), auf dem Kahlenberg seine Residenz errichtet habe, von wo der Wind den Schleier seiner Gemahlin Agnes in die Donauau entführte. Dort ließ das Lüfterl das Tuch auf einen Holunderbusch fallen, damit es der jagende Markgraf finde und an diesem Platz das Stift Klosterneuburg errichte. Es gab aber keine Residenz auf dem Kahlenberg und auch die Gründung Klosterneuburgs geschah als Prozess und nicht auf Knopfdruck. Der Babenberger dürfte vielleicht erst 1113 in den Besitz des Gebiets der ehemaligen römischen Siedlung in der Nähe des Donauufers gekommen sein und eine »Neue Burg« als seine Residenz neben einer bereits bestehenden geistlichen Stiftung errichtet haben. Diese begann er 1114 von Grund auf neu zu bauen und zu gestalten, sodass Leopold III. und seine Frau Agnes als Stifterpaar Klosterneuburgs gelten.

Aber auch Georg Franz Kolschitzky hat 1683 weder für seine Kundschafterdienste die scheinbar nutzlosen Kaffeebohnen verlangt, die das Entsatzheer im verlassenen Türkenlager erbeutete, noch mit diesem Stoff das erste Wiener Kaffeehaus gegründet noch dort die ersten Wiener Kipferl gleichsam als Siegeszeichen über den türkischen Halbmond servieren können. Die Legende vom Maria-Theresien-Orden mag zwar typisch für den Österreicher sein, der seine Obrigkeitshörigkeit mit einer heimlichen Befehlsverweigerung zu kompensieren sucht. Es ist aber dennoch nicht richtig, dass der Orden für kriegerische Erfolge verliehen wurde, die gegen Befehl errungen wurden. Vielmehr stiftete Maria Theresia den Orden am 18. Juni 1757, am Tag der siegreichen Schlacht von Kolin, für eine »besonders herzhafte Tat«, die unter gewöhnlichen Bedingungen nicht zu verlangen war und eine außerordentlich wichtige Entscheidung bewirkte. Und zu bella gerant alii, tu felix Austria nube (Frage 9) lässt sich nur sagen, dass keine europäische Großmacht der Neuzeit mehr Erbfolgekriege führte als die Habsburgermonarchie. Schließlich – im Jahre 2009 nicht zu vergessen – der Mythos Andreas Hofer, den Josef von Hormayr gegen den kaiserlichen Willen begründete und der erst verhältnismäßig spät Teil der Tiroler Identität geworden ist.

2

Welche Verbindung besteht zwischen der österreichischen und der deutschen Geschichte?

Geschichte ist das menschliche Handeln, das der Erinnerung würdig ist. Während menschliches Handeln in der Vergangenheit abgeschlossen und unveränderbar aufgehoben bleibt, ist dies für die Erinnerung daran keineswegs der Fall. Im Gegenteil, es ist die jeweilige Gegenwart, die die Erinnerung durch neue Erfahrungen und die davon abhängigen Fragestellungen ständig verändert. Die Menschen finden Verschiedenes zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten und unter verschiedenen Namen der Erinnerung für würdig. Daher unterliegt auch die Geschichte in ihren Einzelheiten wie als Ganzes ständigen Veränderungen und muss stets neu geschrieben werden. Die Geschichte und ihre Veränderungen werden durch das Wir-Bewusstsein vor allem einer Nation bestimmt, wie sie sich seit dem europäischen 18. Jahrhundert in ihren vielfältigen, historisch bedingten Formen gebildet hat. Indem die Österreicher heute eine eigene und eigentümliche Nation sind, ist ihre Geschichte, soweit sie sich mithilfe der historischen Wissenschaften zurückerinnern können, eine österreichische. Die Probe aufs Exempel bietet die Österreichische Geschichte des Ueberreuter Verlags in ihren 15 Bänden von der Urgeschichte bis in die Gegenwart. Die Reihe entstand in verhältnismäßig kurzer Zeit (Wien 1994–2006), nachdem zahlreiche ältere Versuche gescheitert waren. Ein namhafter Historiker und eindeutiger Vertreter der österreichischen Identität, Jahrgang 1912, nannte dafür auch den Grund: Es bedurfte dazu einer Autoren-Generation, für die Österreich selbstverständlich geworden war.

Die österreichische Geschichte enthält nämlich viele Geschichten, aktuell die der einzelnen Bundesländer (Frage 21), aber auch solche, die in ihr begonnen wurden und zu Ende gegangen sind. Das gilt etwa für die keltische, römische, völkerwanderungszeitliche, alemannisch-bayerische, fränkische, romanische, slawische, ungarische und nicht zuletzt auch für die deutsche Geschichte unseres Landes. Um die erste Jahrtausendwende begannen sich die ostfränkischen Völker gemeinsam als Deutsche zu verstehen, ohne ihre jeweils alemannisch-bayerische, fränkische, sächsische, friesische oder thüringische Identität aufzugeben. Mehr oder weniger wirkten alle diese Völker auch am Werden unseres Landes mit, für dessen unterderennsischen Teil der Name Österreich ebenfalls um das Jahr 1000 zum ersten Mal bezeugt wird (Frage 23). Im österreichischen Raum gab es aber – wie im gesamten römisch-deutschen Reich – auch Romanen und Slawen, die sich nicht als Deutsche fühlten und ihre eigene Identität behaupteten. Für alle diese österreichischen Völker, ob nun deutscher oder nichtdeutscher Herkunft, begann um 1000 die deutsche Geschichte und blieb für viele Jahrhunderte bestimmend. In deren Verlauf ging aber die deutsche Geschichte in nicht wenigen Gebieten des römischdeutschen Reichs, in der Schweiz und den Niederlanden bereits 1648, zu Ende. Auch in Österreich vollzog sich dieser Prozess, als dessen markante Ereignisse man nennen könnte: die gemeinsame Abwehr der Türken durch die österreichischen Völker und die Reformen Maria Theresias und Josephs II. (Frage 54), beides Geschehen, die den aufkeimenden partikularen Nationalismus zugunsten von multinationaler Solidarität und übergeordneter Staatlichkeit zurückdrängten. Die Niederlegung der Krone des römisch-deutschen Reichs 1806. Die Unmöglichkeit, dieses Reich auf dem Wiener Kongress 1815 wiederherzustellen. Den schwachen Ausweg, dafür den Deutschen Bund zu gründen. Die seit 1800 zunehmende Entwicklung des Begriffes »deutsch« im Sinne eines Nationalismus, den die österreichischen Abgeordneten nicht mittragen konnten, wie ihre Distanzierung von der Paulskirche 1848 (Frage 58) zeigte. Das erzwungene Ausscheiden Österreichs aus dem Deutschen Bund 1867 und dessen Liquidierung zugunsten eines nationalen Deutschen Reichs. Den Untergang der Monarchie 1918 und vor allem die Katastrophen, die unser Land 1934/38 bis 1945 – nicht ohne eigene Schuld – heimsuchten.

Nach 1945 wurde daraus die Lehre gezogen und an frühere, zum Teil sehr alte Bestrebungen und Überzeugungen angeknüpft. Dort, aber nur dort, wo sich das Deutsche vom Reichsdeutschen völlig getrennt hat, besitzt der Begriff auch im heutigen Burgenland, Kärnten und in Südtirol regionale Bedeutung für die Bezeichnung einer von zwei oder drei Sprachgruppen. In diesem Sinne wurde auch in der k. u. k. (Frage 56) Armee zwischen deutschen und ungarischen Regimentern unterschieden. Der Staatsvertrag von 1955 beschleunigte die Entstehung einer fraglos gewordenen österreichischen Nation einschließlich inzwischen lieb gewordener Geschichtsmythen (Frage 1). Die österreichische Nation ist allerdings im Unterschied zu anderen kleinen Nationen in der Nachbarschaft traditionell übernational und in ihrer besten Ausprägung europäisch bestimmt. Daher ist auch die österreichische Geschichte offen genug, den in ihr eingeschlossenen und beendeten Geschichten weder nachzutrauern noch sie zu verleugnen.

3

Welche Öffentlichkeit besitzt das österreichische Mittelalter?

Für das österreichische Mittelalter gibt es so gut wie keine gesamtstaatliche Öffentlichkeit; vielmehr ist diese Periode Ländersache. Das burgenländische Mittelalter ist im Ungarischen aufgehoben. Eigenständig wird ein Salzburger, Tiroler, Vorarlberger, Kärntner, ein steirisches und oberösterreichisches Mittelalter vertreten. Das österreichische wird als niederösterreichisches Mittelalter behandelt und umgekehrt. So blieben 1996 die Feiern und Forschungen zu »1000 Jahre Österreich« gleichsam stillschweigend der »mittelbaren Bundesverwaltung« des niederösterreichischen Landeshauptmanns überlassen. Allerdings setzt die Einschätzung des Mittelalters als unbekannte Vergangenheit der Republik Österreich nur eine habsburgisch-monarchische Tradition fort. »Österreichs angewandte Aufklärung« (Grete Klingenstein) wollte das Mittelalter zum Wohle der Gesamtmonarchie überwinden. Maria Theresia meinte, »dass die ständische per abusum eingeschlichene allzu große Freiheit an dem Verfall meiner Erblande hauptsächlich die Schuld trage«. Folgerichtig wurden die Länderrechte »zugunsten der Befugnisse der Zentrale beschnitten und der Landespatriotismus (der sich zu Recht auf das Mittelalter berief) als eine Beeinträchtigung der Gesamtstaatsidee betrachtet« (Othmar Hageneder). Dazu kommt, dass die österreichische Öffentlichkeit und ihre Politiker allgemein ein gespaltenes Bild von der Vergangenheit besitzen und sich nur schwer auf eine gemeinsame Geschichte einigen können. Eine Identitätsfigur, wie der gallische Held Asterix, wäre bei uns ebenso undenkbar wie das englische »1066 and all that« von Sellar/Yeatman. Der alte Herr Hofrat Franz Grillparzer, in der Stille des Hofkammerarchivs Aufklärer und aufmüpfiger Beamter seiner Apostolischen Majestät und »wohl der größte Dichter, den Österreich hervorgebracht hat« (Alphons Lhotsky), schreibt: »Abendländische rohe Kraft, in Verbindung gebracht mit einer morgenländischen spitzfindig-asketischen Religion; Brutalität, moderiert durch Absurdität; aus diesem Gesichtspunkte erklärt sich das ganze Mittelalter so bis aufs Kleinste, dass alle weitwendigen [aufwendigen] Forschungen der neuesten Zeit als ein reiner Luxus erscheinen. Damit sind dieser Übergangsperiode nicht alle guten Seiten abgesprochen. Der Mensch ist immer von Gott, aber die Zeit war des Teufels.« Sieht man von König Ottokars Glück und Ende ab (Frage 49), widmete sich Grillparzer sehr wohl mittelalterlichen Themen und behandelte in seinem »klassischen« Lustspiel Weh dem, der lügt und in seiner Libussa Stoffe aus der Frankengeschichte, besser, aus der Kirchengeschichte von Gregor von Tours (gestorben 593/94) und der Böhmenchronik des Cosmas von Prag (gestorben 1125). Dazu kommt Die Jüdin von Toledo, und geradezu enthusiastisch wird der Dichter bei der Besprechung von Rey Bamba, dem Schauspiel von Lope de Vega über den Westgotenkönig Wamba (672–680): »Die Wunder des Katholizismus und die Großtaten des spanischen Altertums, das Sagenhafte ihrer Geschichte war seinem Publikum so geläufig, dass er [Lope de Vega] anklingen konnte, wo er wollte, und sicher war, in jeder Brust Verständnis und Widerhall zu finden.« Nur scheinbar paradox ist der Widerhall, den das österreichische Mittelalter, das aus dem Schulunterricht so gut wie verbannt ist oder zu Geschichtsmythen (Frage 1) mutierte, unter österreichischen Bildungspolitikern sowie Spitzenbeamten findet. Sie fördern die akademische Mediävistik wie sonst nirgendwo im deutschen Sprachraum. Dieser Widerspruch ist vielleicht nicht Bestandteil der »Österreichischen Seele«, aber sicher der von ihr geschaffenen Realität.

4

Wer war Bischof Otto von Freising (1138–1158)?

Otto kam nach 1110 und vor 1115 als dritter Sohn des Markgrafen Leopold III., des Heiligen (1095–1136) (Frage 44), und der Kaisertochter Agnes (Frage 64) zur Welt. Einer seiner zahlreichen Brüder war der erste österreichische Herzog Heinrich II. (1141/56–1177). Der für die geistliche Laufbahn bestimmte Otto wurde bereits 1126 formeller Propst von Klosterneuburg. Er ging 1127 mit ansehnlicher adeliger Begleitung zum Studium nach Paris. Auf dem Heimweg trat Otto mit den Seinen 1132 in das Zisterzienserkloster Morimond ein, wo er anfangs 1138 Abt, jedoch noch im selben Jahr Bischof von Freising wurde. Auf Ottos Betreiben gründete sein Vater zwischen 1133 und 1135 mit Mönchen aus Morimond das Kloster Heiligenkreuz. Die älteste babenbergische Zisterze wurde 1137/38 die Mutter von Zwettl. Gerade Bischof von Freising geworden, traf Otto am 19. Juli 1139 zu Nürnberg seinen Halbbruder König Konrad III. (1137–1152). Ebenfalls anwesend oder vertreten waren die wichtigsten regionalen wie überregionalen Repräsentanten des jungen Zisterzienserordens. Die Versammlung legte die künftige Reichspolitik gegenüber den Zisterziensern fest, wie sie im königlichen Privileg für Zwettl vom Oktober 1139 ihren Niederschlag gefunden hat. Obwohl Otto in seiner Diözese kein Zisterzienserkloster gründete, kann seine Bedeutung für den neuen Reformorden in Österreich nicht überschätzt werden. Die eigentliche Größe des gelehrten Babenbergers bestand jedoch darin, dass er als philosophierender Geschichtsschreiber von keinem anderen mittelalterlichen Historiographen erreicht, geschweige denn übertroffen wurde. Er war der Erste, der Werke des Aristoteles den Deutschen vermittelte, aber auch der Erste, der die Geschichte – entgegen der aristotelischen Tradition – in den Rang einer wissenschaftlichen Disziplin erhob. Sein langjähriger Notar Rahewin bezeichnete Otto, dessen bis 1156 reichenden Gesta sive Cronica Frederici, über die Taten Friedrich Barbarossas (1152–1190), er fortsetzte, als »unter den Bischöfen Deutschlands entweder ersten oder unter den ersten«. Die Gesta Frederici enthalten die genaueste, obgleich manchen nicht genügend genaue Darstellung der Erhebung Österreichs zum Herzogtum (Frage 46). Ottos literarischer Ruhm und Nachruhm beruhen freilich auf seiner Historia sive Cronica de duabus civitatibus, seiner Augustinus interpretierenden Weltgeschichte der beiden Gesellschaften (nicht: Staaten). Demnach erfüllt die Auseinandersetzung der himmlischen mit der irdischen Gesellschaft die Geschichte, die in vier Reichen von der Schöpfung bis zum Jüngsten Tag verläuft. Otto von Freising nahm am zweiten Kreuzzug von 1147/49 teil und starb 1158 in Morimond.

5

Wodurch unterscheiden sich Annalen von Chroniken?

Annalen und Chroniken sind die beiden wichtigsten literarischen Quellen des europäischen und daher auch österreichischen Mittelalters. Sie haben einen oder mehrere, bekannte oder unbekannte Autoren, die sie mit der Absicht (Intention) verfassten, Geschichte für die Nachwelt zu schreiben (Frage 1). Wodurch sich Annalen von Chroniken unterschieden, meint jedermann zu wissen, doch wird es ihm schwerfallen, eine inhaltliche Definition zu geben. Kein Wunder, dass man im Mittelalter, das keine festen Buchtitel kannte, beide miteinander verwechselte und Annalen als Chroniken und umgekehrt bezeichnete. Man wird an das Wort des heiligen Augustinus erinnert, er wisse nur, was die Zeit sei, solange ihn niemand frage. Mit der Zeit haben freilich beide Quellen schon vom Wort her zu tun: Die Annalen bieten, wie ihr Name sagt, nach Jahren geordnete Geschichtsschreibung. Die Chronik kommt auf Latein zumeist als sächliches Mehrzahlwort chronica vor und leitet sich vom Plural des griechischen Eigenschaftsworts chronikà ab, das zu tà chronikà bíblia, Zeitbuch, zu ergänzen ist. Demnach wollte ein Chronist die Geschichte einer Epoche mit einem Anfang, und sei er bei Adam und Eva, und mit einem Ende, und sei es das Jüngste Gericht, als ein durchkomponiertes Ganzes bringen. Eine Chronik ist versehen mit einem Vorwort, das die Beweggründe für seine Abfassung mitteilt, und meist mit einem Schlusswort, das »die Moral von der Geschichte« vorträgt. Dazu kommt in vielen Fällen eine literarische Ordnung nach Büchern und Kapiteln. Dagegen ist die Jahreszahl das einzige Merkmal, das ein zumeist von anonymen Autoren verfasstes Annalenwerk gliedert.

Die österreichische Annalistik beginnt in Salzburg und reicht bis ins 8. Jahrhundert zurück. Ihr werden viele wichtige Daten verdankt, darunter die mögliche Erstnennung Wiens im Jahre 881 (Frage 22). Nicht in Österreich entstanden, aber für die Geschichte unseres Landes im 8. und 9. Jahrhundert von Bedeutung sind die Reichsannalen (741–829) und die sogenannten Fuldaer Annalen. Sie bringen vor allem für die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts wertvolle Nachrichten über den Osten Österreichs und die Nachbarländer. Die hochmittelalterliche Klosterannalistik setzte um 1100 im Benediktinerkloster Göttweig ein, erreichte aber an Intensität und Dauer ihre Spitze in Melk, wo Annalen bis ins 16. Jahrhundert geführt wurden.

Die fast 100 000 Verse zählende Steirische Reimchronik verfasste auf Deutsch der gelehrte und weltgängige Otakar aus der Geul am Beginn des 14. Jahrhunderts. Das Werk diente dem »Buch sicherer Geschichten«, dem Liber certarum historiarum, des Zisterzienser-Abtes Johann von Viktring (gestorben 1345/47) als wichtige Quelle. Diese Chronik eines wohl aus dem französisch-deutschen Grenzgebiet Lothringens stammenden Mannes ist eine Glanzleistung der mittelalterlichen Chronistik. Ein sonderbares, aber aus der Zeit verständliches Werk stammt vom Augustiner-Eremiten und Theologen Leopold von Wien, früher mit dem herzoglichen Hofkaplan Stainreuter identifiziert. Er schrieb um 1388/94 in deutscher Sprache eine in fünf Bücher gegliederte Österreichische Landeschronik der 95 Herrschaften. Das heißt, der Autor postulierte für Österreich vor den Habsburgern und Babenbergern nicht weniger als 93 Dynastien, um die Altehrwürdigkeit und damit den hohen Rang des Landes zu beweisen. Die geistige Nähe zu den Erfindungen rund um das Privilegium maius (Frage 50) ist seit Längerem bekannt, aber ebenso als ein mögliches Vorbild der tschechische Dalimil. Diese Fabelchronik entstand zu Beginn des 14. Jahrhunderts am Prager Hof und deutete die böhmischen Ursprünge, die Cosmas von Prag (gestorben 1125) mit einem der Arche Noah entstiegenen Boemus begründete, in eine tschechische Herkunftsgeschichte um, die ihr Autor mit nicht weniger als 80 erfundenen Herrschergenerationen bereicherte. Das 15. Jahrhundert ist das Zeitalter der großen lateinischen Chroniken in Salzburg wie in Österreich. Unter ihren Verfassern befand sich mit seiner Historia Austrialis (Frage 25) auch der Humanist Aeneas Silvius de Piccolominibus, in gebräuchlicherer, wenn auch unbelegter Nennung Aeneas Silvius Piccolomini, der spätere Papst Pius II. (1458–1464).

6

Worüber geben römische Inschriften Auskunft?

Auf den ersten Blick sind römische Inschriften von ermüdender Eintönigkeit, wegen ihrer zahlreichen Abkürzungen in lateinischer oder griechischer Sprache schwer oder gar nicht zu entziffern und noch weniger zu verstehen. Mit nur einigen Grundkenntnissen in Latein, Griechisch und Epigraphik (Inschriftenlehre) vermitteln die Steine jedoch eine erstaunliche Fülle an Informationen. Die Weiheinschrift auf dem Oberschenkel der Kopie des »Jünglings vom Magdalensberg« gibt Auskunft über die Personen, die intensiven Handel zwischen dem vorrömischen Norikum und Norditalien betrieben. Mit der Errichtung der römischen Provinzialverwaltung ging die Romanisierung der Einheimischen Hand in Hand. Viele von ihnen wurden römische Bürger und folgten der römischen Namenmode. Trotzdem wurden weiterhin keltische Götter und Göttinnen verehrt, lebten keltische Personennamen fort, deren Träger zu Lebzeiten wie Asterix und Obelix Wildschweine gejagt hatten. Freigelassene germanischer Herkunft kamen zu einem bescheidenen Wohlstand, der es ihnen erlaubte, ihren einstigen Herren einen Grabstein zu setzen. Meilensteine mit Entfernungsangaben vermitteln Hinweise auf Stadtbezirks- und Provinzgrenzen. Inschriften, die die Ämterlaufbahn, den cursus honorum, von Angehörigen der römischen Hochbürokratie wiedergeben, informieren über die zivile Organisation der Provinzen und darüber, welche Legionen und Hilfstruppen wo und wann stationiert waren. Man erfährt die Namen und den Rang der Statthalter, aber auch von Veränderungen der Organisationsformen. Am Beginn des 4. Jahrhunderts wurde die Provinz Norikum entlang des Alpenhauptkamms geteilt (Frage 13). Den Namen des ersten Statthalters von Binnennorikum kennt man, weil er Kaiser Konstantin dem Großen (306–337) eine Ehreninschrift stiftete. Literarische Quellen berichten von der in Carnuntum abgehaltenen Kaiserkonferenz von 308. Das nach dem freiwilligen Rücktritt Diokletians 305 eingetretene politische Chaos wurde dadurch beseitigt, dass man ihn aus der Pension holte und unter seinem Vorsitz die Kaiserfrage regelte. Danach wurde Mithras, dem Wohltäter des Reiches, fautor imperii, ein Altar mit einer Weiheinschrift im Namen der anwesenden wie abwesenden Herrscher errichtet. Inschriftlich ist von einem Bürgermeister aus Iuvavum/Salzburg bekannt, dass er eine regionale Getreideknappheit und die dadurch drohende Hungersnot erfolgreich bekämpfte. Ein Soldat verliert seinen fünfjährigen Sohn, dessen Tod er tief betrauert. In der Grabinschrift tröstet sich der Vater damit, dass der Bub auch keine Mutter mehr hatte, die ihm die Speisen vorgekaut hätte. Keine andere Quelle berichtet so unmittelbar über die Art der römischen Kleinkindernährung. Eine Inschrift aus Ovilava/Wels, ebenfalls von einem Soldaten in Auftrag gegeben, berichtet um 400 von einer 40-jährigen Frau, die im Kindbett starb. Sie hieß Ursa und war die erste »österreichische« Christin, deren Namen überliefert ist. Aus der Gotenzeit, da Binnennorikum noch zu Italien gehörte, stammte die letzte datierte römische Grabinschrift unseres Landes, der Nonnosus-Stein aus Molzbichl unterhalb von Spittal an der Drau. Am 2. September, wohl im Jahr 532, starb der Diakon Nonnosus und wurde am 20. Juli 533 »auf diesem Platz« beigesetzt. »Dieser Platz« muss freilich nicht die frühmittelalterliche Kirche von Molzbichl gewesen sein. Aber die Verbringung des Steines an diesen Ort spricht für eine deutliche Kontinuität, woran eine Klostergründung des 8. Jahrhunderts anknüpfen konnte.

7

Worin besteht der Wert der urkundlichen Überlieferung und wie unterscheidet sie sich von den Akten?

Man hat vereinfachend, aber doch nicht zu Unrecht das Mittelalter das Urkundenzeitalter und die Neuzeit das Aktenzeitalter genannt. Die Akten repräsentieren die schriftliche Geschäftsführung einer Behörde, bilden daher stets eine Mehrzahl und dokumentieren die Handlungen, wie ihre deutsche Übersetzung lautet. Sie sind die Grundlage für rechtliche Entscheidungen. Dagegen trägt die Urkunde, die als Einzelstück auftritt, das Recht in sich.

Sie ist ein in bestimmten Formen abgefasstes Schriftstück über Vorgänge rechtlicher Natur und – wie die Akten – eine funktionale Quelle, die nicht in der bewussten Absicht (Intention) entstand, Geschichte zu überliefern. Sofern sie echt ist, verbrieft sie einen tatsächlichen Zustand, ist sie falsch oder verfälscht, einen erwünschten Zustand. Dazu einige Beispiele: Der echte Teil der Gründungsurkunde für Kremsmünster von 777 (Frage 38) überliefert die mit Abstand älteste Nennung des wohl turksprachlich-awarischen Würdenamens Župan. Die einzige bekannte Nennung von awarischen Siedlungen steht in einer Regensburger Urkunde von 808, die das heutige Nordburgenland betraf. In der Nähe von Pöchlarn erwähnten 832 und 853 zwei Königsurkunden je einen Ortsnamen, der längst vor der Karolingerzeit nach den Harlungen benannt wurde. Die Harlungen gehörten zum Sagenkreis um den Ostgotenkönig Ermanerich (gestorben 376), dem sie in tragischer Weise zum Opfer fielen. Harlungennamen kommen im gesamten deutschen Sprachraum vor, an der Erlaufmündung aber befinden sich die – weil urkundlich gesicherten – ersten zeitlich genau datierbaren Erwähnungen. Das Gleiche gilt von der Erstnennung Karantaniens 811 (Frage 29) oder der von Ostarrîchi 996 (Frage 23). Die Gründungsurkunde, die König Konrad III. auf Betreiben seines Halbbruders Leopold IV. (Frage 4) im Herbst 1139 für das Kloster Zwettl ausstellte, ist eines der ersten Zeugnisse für die Politik der Reichsgewalt gegenüber dem jungen Orden der Zisterzienser. Das Privilegium minus (Frage 46) ist die Herrscherurkunde, in der 1156 die Umwandlung der Mark in das Herzogtum Österreich festgehalten wurde. Der Fälschungskomplex des Privilegium maius (Frage 50) ist ein Musterbeispiel für die Darstellung eines erwünschten Zustandes.

Urkunden und Urkundenbearbeitungen überliefern die ältesten Zeugnisse für die Orts- und Gewässernamen (Frage 26), aber auch Namenmaterial, das auf gesprochenes Romanisch und Slawisch sowie die rechtliche und soziale Stellung ihrer Sprecher schließen lässt. Wer ethnische und verfassungsgeschichtliche Fragestellungen, wie etwa die nach den Völkern auf österreichischem Boden (Frage 26), ja selbst die nach der Entstehung des fränkischen Lehenwesens, bearbeitet, kommt ohne die Urkundenüberlieferung nicht aus. Ungemein reich ist das sozial- und wirtschaftshistorische Quellenmaterial, eine Urkunde von um 850 enthält sogar Bestimmungen zum Schutz der Fischlaichplätze im Wolfgangsee. So sind die Urkunden die wichtigste Quelle für die frühe österreichische Geschichte; ohne sie wäre für diese Zeit keine historische Erzählung möglich.

8

AEIOU

Mit den fünf Vokalen hat Friedrich III. (1439–1493, deutscher König 1442, Kaiser 1452), Gegenstände und Gebäude meist in Verbindung mit einer Jahreszahl bezeichnet. Was bedeuten sie?

Auf der ersten Seite seines 1437 begonnenen Notizbuches macht der 22-jährige Herzog von Innerösterreich eine wichtige Angabe (in modernes Deutsch gefasst): »Auf Gebäuden, Silbergeschirr, Kirchengewändern oder anderen Kleinodien, auf welchen a e i o u, der Strich und die fünf Buchstaben, steht, das ist mein, des Herzogs Friedrich des Jüngeren, Eigentum oder ich habe dasselbe erbauen oder machen lassen.« – Also ein Eigentumszeichen und ein Zeichen für Stiftungen ohne jeden politischen Bezug!

Zum ersten Mal begegnet uns dieses Zeichen 1438 auf einem elfenbeinernen Sonnenquadranten mit Monduhr, in den folgenden Jahren im Inneren oder auf Einbänden zahlreicher Bücher, 1446 z. B. auf den silbernen Schließen des für Herzog Albrecht III. (1365–1395) (Frage 17) von Johannes von Troppau illuminierten Evangeliars. Von den kostbaren Gefäßen, die das Vokalsymbol zeigen, gibt ein Deckelpokal, möglicherweise ein Geschenk Herzog Karls des Kühnen von Burgund, zusätzlich eine Deutung. An ihm sind neben Wappen und Hoheitszeichen die fünf Vokale, von Engeln gehalten, angebracht und darüber Spruchbänder mit: Aquila Eius Iuste Omnia Vincet (»Sein Adler besiege gerechterweise alle«), eine Auflösung, die als anerkannte zeitgenössische Deutung gelten könnte, aber nicht von Friedrich selbst stammen muss. Friedrich ließ sein Fünfvokalzeichen auch auf einem Objekt anbringen, das an sich schon einzigartig ist, auf dem vergoldeten, mit Wappen geschmückten Aufsatz für den Einzugswagen seiner Gemahlin, der Prinzessin Eleonore von Portugal (Joanneum in Graz). Wie im Notizbuch angekündigt, ließ Friedrich zahlreiche Gebäude bezeichnen, z. B. die Wiener Neustädter Burg an der großen Wappenwand der Georgs-Kapelle, den Grazer Dom am Westportal, das Friedrichstor der Burg zu Linz.

Es ist nicht erwiesen, dass Friedrich mit den fünf Vokalen Initialen eines Sinnspruches festhielt, einer sogenannten Devise, deren Wortlaut er für sich behalten wollte. Zumal eine echte Devise Friedrichs überliefert ist: »Rerum irrecuperabilium summa felicitas est oblivio«, was so viel heißt wie »Glücklich ist, wer vergisst …«

Es scheint, dass Friedrich, rätselhaft wie er war oder sich geben wollte, Deutungen anderer Personen erwartete, von denen manche Lebensweisheiten des introvertierten Habsburgers getroffen haben mögen. Obwohl alle Welt von dem Vokalsymbol des Kaisers wusste und es sah, war es niemandem der Erwähnung wert, auch nicht seinem Sekretär Aeneas Silvius Piccolomini. Kaiser Maximilian I. hat es nie aufgegriffen, ebenso wenig spätere habsburgische Herrscher. Deren Emblematik wurde von den Symbolen des Ordens vom Goldenen Vlies bestimmt. Das spricht dafür, dass man das Vokalzeichen nicht als eine politisch-dynastische Aussage, sondern als eine geheimniskrämerische oder abergläubische Markierung von Eigentum und Urheberschaft ansah.

Erst Petrus Lambeck, Präfekt der Hofbibliothek, gab dem unbeachteten Symbol neue Bedeutung, als er im Jahre 1665 Kaiser Leopold I. bei einem Besuch der Bibliothek das jüngst erworbene Notizbuch Friedrichs III. zeigte und auf eine zweisprachige, wie er meinte authentische Deutung hinwies, die lautete: Al(le)s Erdreich ist Österreich underthan / Austrie est imperare orbi universo. Hier begegnet uns das erste und einzige Mal im Umkreis des Hofes eine anspruchsvolle politische Deutung. Sie stammt aber aufgrund textkritischer Untersuchungen des Notizbuches nicht von Friedrich. Und das wäre auch unverständlich, denn als er 1437 in seinem Notizbuch die erwähnte Anwendung seiner Vokale erklärte, konnte selbst er für Österreich nicht den geringsten Anspruch auf die »Weltherrschaft« stellen. Mit Kaiser Siegmund regierte das Haus Luxemburg im Reich, in Böhmen und Ungarn, und das Haus Österreich war in drei Linien geteilt!

Dessen ungeachtet wurde die »Devise Kaiser Friedrichs III.« als beliebig lösbares Rätsel betrachtet und zahlreiche Deutungen wurden versucht, die wenigsten sinnreich, die meisten gequält. Alphons Lhotsky hat 1952 halbwegs vernünftige, 72 in lateinischer und 16 in deutscher Sprache, veröffentlicht. Der Historiker Willy Lorenz hat im Jahre 1970 eine für den Leser dieses Büchleins bedenkenswerte hinzugefügt: Allen Ernstes ist Österreich unersetzlich.

9

Was weiß man über den Vers Bella gerant alii, tu felix Austria nube?

Der Wahlspruch lautet vollständig Bella gerant alii, tu felix Austria nube. / Nam quae Mars aliis, dat tibi regna Venus. »Andere mögen Kriege führen, du, glückliches Österreich, heirate. Die Königreiche nämlich, die Mars den anderen gibt, gibt dir Venus.«

Mit Austria ist hier wohl im Hinblick auf die Heiratspolitik der Habsburger das »Haus Österreich« gemeint. Es verschmelzen Land und Herrscherhaus schon in der Zeit Kaiser Maximilians I. (1493–1519) zu einem politischen Begriff, wenn auch erst Maximilians Enkel, Ferdinand I. (1521–1564), den Staat Österreich im modernen Sinn geschaffen hat und der bedeutendste »Österreicher« unter den Habsburgern wurde. Man hat daher von einem »habsburgischen Heiratsdistichon« gesprochen.

Eine geschickt eingefädelte und erfolgreich abgeschlossene Heiratspolitik hat man schon König Rudolf von Habsburg (1273–1291) zugeschrieben, doch kann sich dieser Vers nicht auf ihn beziehen, denn alle mittelalterlichen Dynastien hatten das Ziel, Macht und Herrschaft zu vergrößern: entweder mit Krieg und Friedensschlüssen oder mit Heiraten und Erbverträgen. Naheliegenderweise hat man den Leitspruch auf Maximilian I. und seine Heiratspolitik bezogen, die seine Enkel Karl und Ferdinand, allerdings infolge nicht vorhersehbarer Ereignisse, zu den mächtigsten Herrschern Europas, Karl zum König des spanischen Weltreiches machten.

W. Stirlings Klosterleben Karls V. (deutsch Leipzig 1853) (und Büchmann) nennt ohne quellenmäßige Begründung Matthias Corvinus als Verfasser des Distichons. Die Zuordnung wäre an sich nicht unwahrscheinlich, da der ungarische König (gestorben 1490 in Wien) humanistisch sehr gebildet und Zeitgenosse der erfolgreichen Heiratspolitik des von ihm im Kampf besiegten Gegners Friedrichs III. war. Diesem war es geglückt, seinen Sohn Maximilian mit Maria, der Erbin Burgunds, zu verheiraten. Matthias Corvinus hatte hingegen keinen männlichen Erben, war »nur« kriegerisch erfolgreich.

Auch der Versuch, den Vers im historiographischen Werk des Wiener Humanisten und Diplomaten im Dienst Maximilians I. Johannes Cuspinianus zu finden, war vergeblich. Dank intensiver Forschungen über neulateinische Dichtungen am Institut für Klassische Philologie der Universität Wien weiß man, dass Bella gerant alii, tu felix Austria nube zum ersten Mal 1654 in einer der im Barock beliebten Sammlung von Sinnsprüchen (sogenannte Devisen) nachweisbar ist, mit ausführlichem Bezug zu den Ehen der Habsburger sogar erst 1680 in einem Werk des krainischen Gelehrten Johannes Ludovicus Schönleben. Es könnte sich also um eine barocke Huldigung an das friedliche Herrscherhaus handeln, ein älteres Vorbild für den habsburgischen Lobspruch ist aber nicht ausgeschlossen. Immerhin hat man festgestellt, dass felix Austria erstaunlicherweise bereits 1363 auf einem Siegel Herzog Rudolfs IV., des Stifters (Frage 51), aufscheint. War Österreich schon damals eine »Insel der Seligen«?

Der Anfang der Devise folgt wörtlich Ovids Jugendwerk, Heroides (Briefe mythischer Frauen 13, 84), wo es heißt: Bella gerant alii, Protesilaus amet