Ostpreußen - Glück und Vertreibung - Irmgard Röhrig - E-Book

Ostpreußen - Glück und Vertreibung E-Book

Irmgard Röhrig

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Beschreibung

Seit Menschengedenken bringen Kriege Tod, Kummer und schreckliche Vertreibungen von Menschen aus ihrer geliebten Heimat mit sich. So erging es auch Irmgard Röhrig im Zweiten Weltkrieg. Als Deutsche in Ostpreußen geboren, musste ihre Familie all das zurücklassen, was zuvor ihr Leben bedeutet hatte. Das Schicksal meinte es wirklich nicht gut. Sie verlor Mutter und Bruder und viele gute Freunde, während der Vater im Krieg für Hitlers Wahnsinn kämpfen musste. Detailliert und verständlich macht die Autorin begreiflich, was damals um sie herum geschah, da sie selbst noch als wehrloses Kind dem Grauen ausgeliefert war. Sie spannt den familiären Bogen bis in die heutige Zeit und schreibt auch über die Erlebnisse befreundeter Familien. Zahlreiche historische Fotografien begleiten dieses menschliche Geschichtsbuch und machen es zu einem emotionalen Erlebnis.

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Irmgard Röhrig

Ostpreußen

Glück und Vertreibung

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Als Kummer noch kein Thema war

Langsam kommen die ersten Schatten

Die Schatten werden länger

Die Flucht beginnt

Der schwere Weg über das Eis

Die Russen haben uns eingeholt

Das Schicksal unserer Verwandten aus Bilshofen

Rückkehr nach Romsdorf

Wir lernen Abschied zu nehmen

Der Kampf ums Überleben

Vorbereitung und warten auf die Ausreise

Das Suchen und Finden in Marzahn

Meine Rückkehr nach Berlin

Die Zeit der ersten großen Liebe

Wir gründeten eine Familie

Großvater geht seinen letzten Weg

Der 13. August 1961

Der Unfalltod von Gerd

Wir finden den verschollenen Bruder

Wir fahren noch einmal nach Ostpreußen

Als Kummer noch kein Thema war

Das Erste, woran ich mich noch sehr gut erinnern kann, war eine Küche in deren Mitte ein großer Tisch stand. Auf diesem Tisch hatte meine Mutter vier Stühle verkehrt herum aufgestellt. In einen der Stühle hatte sie ein Kissen gelegt und mich darauf gesetzt. Durch das Fenster schien herrlich die Sonne, genau auf meinen schönen Platz. Dann fing Mutter an, den Fußboden zu scheuem und sang dabei das Lied »Ein Kind«. Dieses Lied handelte von einer Stiefmutter und einem Mädchen:

Und kämmt sie mir das Haar,

So blutets immerdar;

Doch du, lieb Mütterlein, ja du

Gabst bunte Schleifen dazu.

Und wäscht sie mir das Hemd,

So nimmt das Fluchen kein End;

Doch du, lieb Mütterlein, ja du

Sangst schöne Lieder dazu. ...

Dieser Text bekam erst viel später seine Bedeutung.

Jetzt war alles noch wunderbar für mich und meinen Bruder Heinz. Wir waren zwei glückliche Kinder. Nur manchmal ärgerte uns Herr Schiburr, unser Vermieter. Der konnte Kinder nicht leiden und hatte auf unserem Spielplatz einen großen Strauchhaufen aufgebaut.

Wir tobten natürlich trotzdem dort herum, obwohl Mutter gesagt hatte: »Reißt euch nicht die Strümpfe kaputt!«

Eines Tages war Tante Berta zu Besuch, das war die geliebte Schwester unserer Mutter. Wir saßen im Zimmer bei Kerzenschein und ließen uns den selbstgebackenen Pfefferkuchen schmecken. Plötzlich ging die Tür auf und Heinz stand da, mit zerrissenen Strümpfen. Großmutter hatte sie aus dicker Schafwolle gestrickt und nun waren sie kaputt! Der Strauchhaufen war ihnen zum Verhängnis geworden.

Unsere sonst so liebe Mutter wurde böse und sagte zu Heinz: »Geh ins Schlafzimmer und pack deine Sachen, du verlässt noch heute das Haus, ich will dich nicht mehr sehen!«

Mein Bruder ging und ich folgte ihm, um zu helfen.

Dann nahm ich all meinen Mut zusammen, lief ins Wohnzimmer zurück und fragte weinend: »Kann er nicht wenigstens noch eine Nacht hier bleiben?«

Da konnten die beiden Schwestern nicht mehr ernst sein, sie nahmen mich und den kleinen »Übeltäter« in die Arme und sagten: »Das war doch nicht wirklich so gemeint!« Wir waren damals fünf und sechs Jahre alt.

Die Hochzeit meiner Eltern

Die Hochzeit von Tante Berta

Die Hochzeit von Tante Berta

Schippenbeil 1926

Meine Mutter, ich und Heinz

Tante Berta, meine Mutter Werner, Ruth, Irmchen, Heinz und Opa

Großvater beim Pflügen

Meine Mutter und Tante Berta

Gartenarbeit

Die Familie Krauskopf

Langsam kommen die ersten Schatten

Meine Großeltern stammten beide aus ganz armen Verhältnissen. Sie lebten auf einem Gut im sogenannten »Deputaten Haus«. Dort wurden sie für ihre Arbeit mit Naturalien bezahlt und bekamen ganz wenig Geld für besondere Ausgaben. Ihre Wohnung bestand aus einer Küche und einem sehr großen Wohnzimmer. Hier lebten sie mit ihren sieben Kindern und der Urgroßmutter.

Eine Ecke des Zimmers wurde noch von einem Webstuhl ausgefüllt, daran webte die Urgroßmutter Stoffe, die für Kleidung, Bettwäsche, Handtücher und so weiter gebraucht wurden. Kaufen konnten sie sich diese Dinge nicht.

Typisch für diese Zeit war auch die Sache mit dem Hering.

Heringe waren damals eine Delikatesse, die man sich ganz selten leisten konnte. So wurden die Heringe in kleine Stücke geschnitten und jeder bekam eins. Auch der Großvater war damit zufrieden. So kochten sie sich in einen großen Topf Pellkartoffeln, es gab auch etwas Butter und alle lutschten dazu an ihrem Heringsstück.

Meine Mutter erzählte uns, dass sie trotzdem eine glückliche Familie waren, nur etwas leichter hätten sie sich das Leben schon gewünscht.

So war es dann nicht verwunderlich, dass es alle begrüßten, als Hitler an die Macht kam.

Großvater erhielt damals eigenes Land und das Geld, um ein Haus zu bauen.

Die Kinder waren alle erwachsen, bis auf den kleinen Otto.

Die großen Söhne lebten schon im Rheinland, denn dort hatten sie Arbeit im Bergbau. Doch die Töchter blieben in Ostpreußen. Berta lebte mit ihrer Familie auf dem Hof der Eltern. Unsere Mutter wohnte mit ihrer Familie in Langendorf, sechs Kilometer entfernt.

Auf Grund dieser ganzen Vorgeschichte, war es zu verstehen, dass unsere Mutter so gerne dem »Führer« ein Kind schenken wollte. Es war ja Krieg und die ganze Propaganda durchschaute die einfache Frau vom Land nicht.

Mein Vater war eine Person, die ich nicht so lieben konnte, wie meine Mutter. Er kam aus einer Familie mit vierzehn Kindern und hatte Eltern, die sich nicht so liebevoll um ihren Nachwuchs kümmerte.

Einmal hatte ich ein sehr schlimmes Erlebnis: Vater war noch nicht im Krieg, sondern zu Hause bei der berittenen Polizei. Er hatte manchmal den Auftrag, Gefangene von den Bauernhöfen zu holen, wenn der Bauer nicht mit ihnen zurecht kam. Sie waren dort als Arbeiter eingesetzt.

Eines Tages kam mir mein Vater hoch zu Ross entgegen und trieb einen Gefangenen vor sich her. Ich fand das schrecklich. Und als er bei uns zu Hause vorbeikam, machte er halt, um Mittag zu essen.

Den Gefangenen sperrte er in unserer Kammer ein.

Mutter tat der junge Mann leid und sie gab ihm auch was zu essen. Als mein Vater das bemerkte, schlug er auf die Mutter ein, ich wollte ihr helfen und biss ihm kräftig in den Handrücken.

Er war erschrocken und ließ von ihr ab.

Als ich erwachsen war, fragte ich ihn einmal, woher denn die Narbe in seiner Hand stammte. Er war verlegen und sagte nur: »Das weiß ich nicht mehr.«

Aber mit dem Kind für den Führer war auch er einverstanden.

Als dann ein kleiner Junge geboren wurde, nannten sie ihn Siegbert, vielleicht als Ohmen für das Kriegsende. Heinz und ich freuten uns auch über das kleine Wesen. Es lag da, drehte mit seinen kleinen Händchen und lachte uns an.

Auch Frau Trostmann kam, um ihn zu bestaunen. Sie trank eine große Kanne Kaffee ganz alleine aus. Mir brachte sie eine gedrehte Glasperlenkette mit grünen und weißen Perlen. Ich war richtig stolz.

Einmal fuhren wir zu den Großeltern nach Romsdorf, um mit ihnen die Ostertage zu verbringen. Das war immer etwas Besonderes, denn Tante Berta und unsere Mutter machten sich sehr viel Mühe, das Fest schön zu gestalten. Wir pusteten Eier aus, deren Inhalt für leckeren Kuchen gebraucht wurde, bemalten sie nach Herzenslust und hängten sie an Bäume und Sträucher.

Großvater wollte mit dem Pferdewagen nach Schippenbeil fahren, um in der Mühle aus einem Sack Korn Mehl mahlen zu lassen.

Dabei fällt mir ein, wie viel Spaß wir Kinder im Sommer bei der Ernte hatten. Da die Großeltern sehr sparsame Leute waren, schafften sie es nach einiger Zeit, eine große Scheune zu bauen. Die erwachsenen Söhne kamen aus dem Rheinland und aus Berlin um dabei zu helfen. Auch mein Vater und Onkel Gustav, der Mann von Tante Berta, waren durch ihre Berufe eine große Hilfe. Kein Wunder, dass alle stolz waren, als die Scheune sehr bald ihren Zweck erfüllte. Das Getreide konnte eingelagert werden und auch das Heu für den Winter bekam seinen trockenen Platz. Für uns Kinder war es immer ein großer Spaß, wenn wir auf den Heuboden klettern durften, um das benötigte Heu herunter zu werfen.

Zum Schluss sprangen wir dann auf das unten liegende Heu. Ich war dabei etwas ängstlich, aber Ruth war die mutigste von uns, wenn sie sprang, dann flogen ihre blonden Locken um ihren Kopf und sie sah aus wie ein kleiner Engel.

In der Mitte der Scheune war ein großer Betonboden, Tenne genannt. Auf diesem Boden wurde mit Dreschflegeln das Korn aus den Ähren geschlagen und dann mit großen Sieben gereinigt. Auch der Wind half manchmal dabei, die Körner sauber zu pusten. Wir Kinder hatten unsere helle Freude bei dieser Arbeit, denn Großvater bastelte an langen Winterabenden auch für uns kleine Dreschflegel und so waren wir stolz, dass wir ebenfalls bei der Ernte helfen konnten.

Später wurde dann ein Dreschkasten angeschafft. Der Fortschritt machte auch vor Ostpreußen nicht halt und das war dann bei der Ernte eine große Erleichterung.

Jetzt aber wieder zu Großvater, der mit dem Getreide zur Mühle fahren wollte.

Natürlich war Werner mit von der Partie, denn Großvater war sein bester Freund, egal, was immer er machte, Werner wollte das auch können. Auf dem Pferdewagen durfte er sogar manchmal die Zügel halten.

Als dann der Müller mit dem Getreide beschäftigt war, gingen die beiden noch zum Frisör, sie sollten doch zum Osterfest gut aussehen. Bei Großvater war das einfach, er trug einen kahlen Kopf und hatte nur über der Stirn so einen Haarpuschel.

Die Frisöse fragte Werner, wie er denn die Haare haben möchte und er sagte: »So wie Großvater.«

Die Frisöse fragte sicherheitshalber noch mal nach, doch Großvater las eine Zeitung und hörte nicht richtig zu, er sagte nur kurz: »Ja, ja.«

Werner war stolz auf seine neue Frisur und so gingen sie zum Müller, um das Mehl abzuholen. Es war in einem großen, dicht gewebten weißen Sack.

Als die beiden dann zu Hause ankamen, sprang Werner gleich vom Wagen, lief ins Haus, riss seine Mütze vom Kopf und zeigte stolz seine neue Frisur. Tante Berta und meine Mutter fielen fast in Ohnmacht und hielten dem Großvater eine schlimme »Gardinenpredigt«.

An diesem Tag gab es Grießklöße mit Blaubeeren zum Mittagessen. Alle aßen das gern, nur der Großvater nicht. Er bekam dann immer etwas anderes zu essen. Diesmal war nicht daran zu denken und er kaute mit schlechtem Gewissen auf seinen Klößen herum.

Später beruhigten sich alle wieder, dachten daran, dass die Haare ja schnell wieder nachwachsen würden und es kam dann doch noch zu einem schönen Osterfest!

Diese Idylle hielt nicht lange an. Meine Mutter wurde krank und man stellte fest, dass sie Lungentuberkulose hatte, die sehr ansteckend war. Ab sofort durften wir sie nicht mehr drücken und küssen, was mir besonders schwer fiel. Da meine Mutter den kleinen Siegbert gestillt hatte, war er bereits krank und musste in ein Krankenhaus. Unser Vater war inzwischen im Krieg, in Jugoslawien, er konnte uns nicht helfen.

So begann für uns alle ein Umzug auf den Hof meiner Großeltern. Tante Berta kam mit dem Pferdewagen und packte unsere Sachen. Für Mutter wurde ein Bett auf den Wagen gestellt, sie war in Kissen und dicke Federbetten gesteckt, denn sie hatte hohes Fieber. Wir setzten uns eingewickelt auf unsere Koffer. So fuhren wir die sechs Kilometer über Schippenbeil nach Romsdorf.

Es war kalt, die kahlen Bäume und Sträucher am Wegrand sahen gespenstisch aus und ich musste an den Erlkönig denken. Das Gedicht hatte uns Mutter mal vorgelesen und der Satz »Erreicht den Hof mit müh und Not, in seinen Armen, das Kind war tot«, hatte uns damals sehr erschreckt.

Doch wir kamen sicher bei den Großeltern an. Sie freuten sich sehr, Ruth und Werner auch. Das waren die Kinder von Tante Berta. Sie waren etwas jünger als wir, aber aus uns wurde später eine verschworene Gemeinschaft.

Meiner Mutter ging es trotz guter Pflege leider nicht besser.

Als der Frühling kam, machten alle ganz ernste Gesichter.

Vater kam wegen der Krankheit auf Urlaub. Und als ich eines Tages aus der Schule kam, wurde ich in das Krankenzimmer meiner Mutter geschoben. Sie lag da, auf einem mit weißen Laken bespannten Sandberg. Das machte man so auf dem Land, weil es keine Kühlungsmöglichkeiten gab. Meine Mutter sah aus wie Schneewittchen. Sie hatte rosa Bäckchen, schwarze Haare und in den Händen ein weißes Spitzentuch.

Sie war einfach gestorben und ich konnte mich nur noch von ihr verabschieden.

Dann gingen wir mit unserem Vater in den Wald, um Maiglöckchen zu holen.

Es war der 10. Mai und auch noch Muttertag.