Ostpreußen ist weit - Marianne Klitzka - E-Book

Ostpreußen ist weit E-Book

Marianne Klitzka

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Beschreibung

Eine wahre Familiengeschichte, verwoben mit einem dunklen Stück der Weltgeschichte In dem beschaulichen Fischerdorf Neu-Passarge am Frischen Haff in Ostpreußen scheint 1937 die Welt noch in Ordnung, auch für Josef und Rosa Rückwardt mit den sechs Kindern. Josef ist Schiffer, sein Frachtkahn »Maria Regina« ist das größte Schiff des Dorfes, und es ermöglicht der Familie sogar, bis über das Kurische Haff zu reisen. Besonders die jüngste Tochter Gertrud – fast zehnjährig – kann sich nicht vorstellen, dass sich jemals das enge, aber geordnete Leben im Dorf und in der Familie ändern könnte. Aber der Krieg macht auch vor der östlichsten Provinz des Deutschen Reiches nicht Halt, obwohl die »große« Politik noch lange trügerisch weit weg erscheint. Als die Ereignisse schließlich bis über das Ortsschild und über die eigene Türschwelle kriechen, gerät die inzwischen siebzehnjährige Gertrud – wie alle anderen Familienmitglieder – in die verschiedenen Strudel des Krieges und der Auflösung der Heimat. Und auch die »Maria Regina« wird mit hineingezogen… Eine Geschichte über Krieg, Flucht und gekappte Träume, deren Bedeutung noch bis heute Wellen schlägt.

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OST

PREUßEN

IST WEIT

Ein Biografischer Roman uber die Jahre 1937–1945

MARIANNE KLITZKA

..

Dieses Buch ist bei der Deutschen Nationalbibliothek registriert. Die bibliografischen Daten können online angesehen werden: http://dnb.d-nb.de

Im Gedenken an meine Großeltern Josef und Rosa.

Und an meine Mutter Gertrud.

Und an meinen Vater Hans.

»An den Flüssen von Babylon

saßen wir und weinten,

wenn wir an Zion dachten.«

Psalm 137

FRÜHJAHR 1937

Es fühlt sich noch an wie Frieden. Es sieht auch aus wie Frieden. Jedenfalls im fernen Ostpreußen, in dieser östlichsten Provinz des Deutschen Reiches. Und erst recht in dem kleinen Dorf Neu-Passarge, das fast vor der Haustür die Passarge ins Frische Haff fließen lässt und dadurch den Bewohnern Arbeit, Brot und viel Fisch beschert.

Und so lange, wie der Fluss in das Haff fließt, so lange, wie es hier nach Brackwasser und Fisch riecht, so lange, wie die Kühe Mist geben und die satte Erde beachtliche Kartoffeln hervorbringt, so lange, wie die Kirche im Dorf steht, so lange wird das alles so bleiben. Ein stilles 400-Seelen-Kaff am Ende der Welt.

Nein, es ist im Reich noch kein Krieg, aber Frieden ist eigentlich auch nicht. Es ist nicht so, dass die Politik im Dorf gar nicht ankommt, aber sie kommt verdünnt und leicht verdaulich an. Man hört so allerlei von Juden, liest es sogar manchmal im »Braunsberger Anzeiger«. Aber in dieses dämmrige Kaff hat sich noch nie ein Jude verirrt, die katholische Welt ist in Ordnung. Außerdem hat ja auch der Kaiser schon gegen Juden gewettert. Och wat, so schlimm wird dat alles nich kommen!

Auch Kommunisten, Künstler oder andere schräge Vögel kratzen nicht an den Mauern, sie sind weit weg, schwirren irgendwo im Reich herum. Oder sie tauchen mit ihrem Schicksal in der Zeitung auf, die man überfliegt und dann in handliche rechteckige Stücke zerreißt. Für datSchiethuus draußen hinterm Haus. Bilder von Verhaftungen, von Aufmärschen und uniformierten Fackelträgern sind dann nur noch wat fürn Oarsch.

Ja, die Parteiabzeichen auf den Revers der Sonntagsanzüge sind nicht zu übersehen, auch Tischler Heinz Hoppe trägt es mit Stolz zu seinen blank gewichsten Sonntagsschuhen. Der Führer sorgt doch für Arbeit! Und was soll daran verkehrt sein, wenn Kinder wieder Disziplin und Ordnung lernen, sportliche Ertüchtigung und Strammstehen? So ein bisschen Drill, na ja … das ist man ja schon von der Schule her gewohnt, als der Lehrer Heidemann nicht gerade zimperlich mit dem Rohrstock hantierte … oje!

Und wenn junge Studenten nach Ostpreußen als Erntehelfer geschickt werden, dann geschieht das doch freiwillig! In diese schöne Kornkammer des Reiches kommen die jungen Leute doch freiwillig! »Sollen se doch ruhig mal dat Arbeiten aufm Lande lernen! Dat hat ja noch keinem wat geschadet! Nur vom Herumdammeln kann aus der Jugend doch nuscht nix werden.« So hat es jedenfalls Tischler Hoppe neulich im »Krug« ausgedrückt, und der Fischer Franz hat dazu genickt.

Die Sätze schwirren im Dorf herum wie die Schwalben über dem Fluss und über den Scheunen. Man hört die Weisheiten auf den Fischerbooten, im Kramladen oder auf der Dorfstraße. Sie dringen durch die Wände der geduckten Häuser, von denen einige sogar noch mit Stroh bedeckt und schon ein bisschen in die Jahre gekommen sind.

Die Worte und Sätze fliegen auch dem Schiffer Josef und seiner Frau Rosa zu, die mit ihren sechs Kindern in einem holzvertäfelten Haus am Ende der Sackgasse mit dem hübschen Namen »Im Winkel« leben. Eigentlich ja nur ein unbefestigter Rumpelweg, vor dem im regnerischen Herbst sogar der Briefträger kapituliert und von seinem gelben Dienstfahrrad absteigt. (Seine blaue Uniformhose bleibt trotzdem nicht sauber.) Aber ein Haus mit einem stabilen roten Ziegeldach, mit dunkelbraunen Holzwänden, dazu weiße Sprossenfenster, recht schmuck und heimelig. Über der Eingangstür sind in einen Querbalken viele Buchstaben eingeschnitzt und mit weißer Farbe ausgemalt. Die Farbe ist schon verblichen, zum Teil abgeblättert, deshalb muss man genau hinsehen und nahe an das Haus gehen, um die fromme Balkenpoesie zu entziffern:

UND MÖGEN AUCH DIE STÜRME BRAUSEN,

HERR, LASS UNS HIER IN RUHE HAUSEN

Vielleicht wird deshalb von Politik in der Familie wenig gesprochen. Wegen der Ruhe. Mit den sechs Kindern im Haus hat man andere Sorgen als sich mit den Meinungen anderer Leute zu befassen.

Vor vier Jahren, als der Hitler an die Macht kam, ja, da hat Josef auch für ihn gestimmt. Es sollte doch endlich wirtschaftlich bergauf gehen.

»Rosa, du musst auch den Adolf wählen!«, hat er zu seiner Frau gesagt.

»Ach du Heilige Jungfrau! Der kann doch nuscht als schreien und schimpfen!«

Da kann man ja mal wieder sehen, Frauen haben von Politik keine Ahnung. Aber Josef hat geduldig geschwiegen, er ist ein gutmütiger Ehemann, der nicht einmal gegenüber seinen Kindern ausfallend wird, der sie noch nicht einmal schlägt, obwohl Kinder durchaus mal – nach pädagogischer Dorfmeinung – sone ordentliche Wucht verdient haben.

Inzwischen gesteht Josef sich sogar ein, dass Rosa vielleicht gar nicht so Unrecht hatte. Ein paar Mal hat er in der Kreisstadt an Parteiversammlungen teilgenommen. Extra mit dem Fahrrad die sieben Kilometer auf dem Damm an der Passarge entlang bis Braunsberg geradelt, nachts gegen den Wind wieder zurück, nur um Rosa dann mit zerzaustem Haar mitzuteilen, dass es dort »doch ziemlich dumm zuging und viel geschrien und geschimpft wurde«. Nein, das Grobe und Laute liegt ihm nun mal nicht. Nur einmal hat er ordentlich mit Rosa geschimpft, als sie den Kindern den »Recksack« – sein kleines Schifferklavier – zum Spielen überlassen hatte. »Wirst den Kindern wohl noch den Herrgott vom Kreuz zum Spielen reichen, was?«

Aber nein, der leidvolle Herrgott mit der Dornenkrone auf dem gesenkten Haupte blieb am dunklen Kreuz im Flur hängen, da wo er heute noch hängt, über der Küchentür, gleich gegenüber dem Hauseingang. Und das mächtige, breite Eichenholz-Kruzifix zeigt jedem Besucher, welche Präsenz der Herr Jesus in diesem Hause einnimmt.

Jetzt ist Mitte April, ein milder Sonntag mit weißen Wolken am blauen Himmel. Von Osten weht der laue Frühlingswind die Wattewolken gemächlich über das Dorf und den Fluss, dann weiter über das Frische Haff. Die Sonntagsruhe hat sich träge über das Dorf gelegt. Verschlafen liegt die Dorfstraße in der Frühlingssonne. Nur die Amseln, Meisen, Schwalben und Störche gehen munter ihrer Arbeit nach.

Josef hat die Häuser ein paar Schritte hinter sich gelassen. Ein kleiner Spaziergang nach dem Frühstück, bevor der Gottesdienst beginnt, mal durchatmen. Er bleibt auf dem Damm der Passarge stehen und blickt über den spiegelnden Fluss und über die kleine grüne Landzunge gegenüber. Dahinter tut sich die Weite des Haffes auf, überspannt von einem hohen Himmel, der am Horizont auf den Landstreifen der Frischen Nehrung trifft.

Josef atmet mit dem Geruch des feuchten Grases auch den wohligen Frieden des Morgens ein. Kein Fischerboot ist heute auf dem Haff auszumachen. Ein paar Sibermöwen kreisen lautlos über dem Fluss vor ihm, auch sie scheinen sich an die Sonntagsruhe zu halten.

Blau und glatt zeigt sich das Haff dort hinten, betörend und unschuldig, man könnte vergessen, dass es auch launisch, wütend und gefährlich sein kann: Untiefen, Sandbänke, Stürme, Nebel, Gewitter, schwere See … Oh, da weiß er Bescheid!

Die Morgenstille wird plötzlich von der bimmelnden Kirchenglocke durchbrochen: Zeit für die heilige Messe! Das ist man dem katholischen Herrgott schuldig! Josef wendet sich zum Gehen. Vor der Kirche wird er Rosa mit den Kindern treffen, um gemeinsam den Gottesdienst zu besuchen. So gehört sich dat!

Josef liebt den hellen, klaren Klang der kleinen Glocke, ein Klang nach Heimat und Ordnung. Die Glocke trägt die Inschrift »Maria Meeresstern«, der Name des Kirchleins. Es war sein Vorschlag gewesen, die Kirche 1926 so zu benennen, denn er fühlt sich der Mutter Gottes ebenso verbunden wie dem Meer, das ja die Lebensader des Dorfes ist und ihm als Schiffer Arbeit und Brot gibt. Das Haff hat schließlich eine Öffnung zur weiten Ostsee: im Nordosten bei der Stadt Pillau, ungefähr 30 Kilometer vom Dorf entfernt. Morgen wird er dort mit seinem Frachtkahn, der »Maria Regina«, im Hinterhafen festmachen, um eine Ladung Getreide zu löschen. Das Wetter scheint sich ja zu halten, es wird eine ruhige Fahrt werden. Josef könnte zufrieden sein: Die Geschäfte laufen nicht schlecht. Sand, Ziegel, Kohle, Stückgut … alles ist zurzeit gefragt und findet Platz im Bauch seines Schiffes.

Aber es bleiben ihm drückende Zweifel: Was wird die Zukunft bringen?

Das aufgewühlte Geschrei des Führers aus dem Volksempfänger … es erscheint ihm so launenhaft und trügerisch wie das Haff mit seinen Untiefen und wütenden Stürmen.

Er hat den Damm hinter sich gelassen. Über der großen Eiche am Dorfrand kreist ein Bussard. Ohne einen Flügelschlag schwebt der Segelflieger am Himmel, harmlos und elegant, und hat doch seine Beute schon im Visier, um jederzeit im Sturzflug die Krallen auszufahren und sein Opfer zu schlagen.

Josef atmet noch einmal tief die frische Morgenluft ein, und mit dem Ausatmen lässt er seine trüben Gedanken in die weißen Wolken wehen.

Das schimmernde Flusswasser und das stille Haff liegen jetzt in seinem Rücken, und sie flüstern immer noch so verführerisch von Zuversicht und Beständigkeit. Kein Sturm in Sicht. Heute will er nicht an schwere See denken, sondern sich ganz der Sonntagsruhe hingeben.

Er erreicht den schlichten viereckigen Holzturm an der Kirche, auf dem sich im Frühlingswind ein silbern blinkender Fisch dreht und die Windrichtung anzeigt: Ostwind. Und aus dem Turm heraus bimmelt die Maria-Glocke unverdrossen über das stille Dorf hinweg … ding … ding … ding … und träumt von Geborgenheit und Frieden.

Nach dem Hochamt dürfen sich die Männer mit einem Bierchen im »Krug« belohnen, die Frauen mit dem Vorbereiten des Sonntagsbratens.

»Ich bin pünktlich zum Mittag zurück«, sagt Josef zu Rosa (blauer Mantel, passender Sonntagshut). Seine sechs adretten Kinder stehen gelangweilt auf dem Kirchplatz um die Mutter herum.

»Mal sehen, was es so Neues gibt!«

»Papa, kann ich mit?«

»Nee, nee, Otto, vielleicht in einem Jahr, wenn du 17 bist.«

Rosa nickt zum Abschied, und Josef macht sich mit Tischler Hoppe auf den Weg. Der Rest der Familie schlendert nach Hause, vorneweg die beiden Großen: Elisabeth und Otto. Lieschen (Elisabeth) – die Älteste – ist mit ihren bald 18 Jahren größer als Rosa und so etwas wie die rechte Hand der Mutter, die ja schon 43 Jahre alt ist, graue Strähnen im Haar hat und manchmal ungehalten sein kann. Die vielen Kinder und die vielen Verpflichtungen! Dazu ist Rosa zart gebaut und leidet manchmal an einem nervösen Magen. Gut, dass Lieschen schon eine richtige Hausfrau ist!

Neben Lieschen geht Otto, der mit 16 Jahren gerade im Stimmbruch ist und genauso groß wie seine ältere Schwester. Otto übt manchmal heimlich das Rauchen und arbeitet schon auf dem Frachtkahn des Vaters, den er ja mal – gemeinsam mit seinem Bruder Karl – übernehmen wird. Irgendwann. Otto mault ein bisschen: Arbeiten darf er schon, aber für den »Krug« ist er noch zu jung.

Hinter Lieschen und Otto gehen Karl und Eva. Karl ist erst 13, und er muss leider noch ein Jahr in die Schule gehen, bevor er sich eine Schiffermütze aufsetzen kann und an Bord der »Maria Regina« geht.

Eva ist 14 Jahre alt und zu Ostern – vor zwei Wochen – aus der Schule entlassen worden. Die Lehrerin lobte sie oft, weil sie so glockenhell singen kann, und sogar in der heiligen Messe ist Evas schöne Stimme oft zu hören. Leider eine brotlose Kunst! Jetzt wird Eva ohne Murren bei einem Bauern ein paar Dittchen dazuverdienen. Lange Schulbesuche sind lästig, weil sie Geld kosten, und für Mädchen lohnt sich das ja sowieso nicht. Zur höheren Schule bis nach Braunsberg? Ach du lieber Himmel! Im Sommer wäre das mit dem Fahrrad zu schaffen, aber im Winter wird Ostpreußen von einer hohen Schneedecke zugepackt, da kann kein Kind bis Braunsberg durchkommen.

Dagegen kommt auch das gute Fräulein Mohn nicht an, die als Lehrerin schon so manchen Eltern die Weiterbildung ihrer Sprösslinge warm ans Herz gelegt hat. Aber meistens ist da nuscht zu machen.

Die Jüngsten der Familie Rückwardt: Maria und Gertrud, zehn und neun Jahre alt. Mariechen und Trudchen müssen heute die Hand der Mutter anfassen (wegen der besseren Übersicht). Mariechen geht nicht gerne an der Hand, aber heute fügt sie sich artig. Sie läuft eigentlich lieber voraus, alles muss immer schnell gehen. Auch auf dem Schulweg läuft Mariechen der jüngeren Schwester oft davon. »Nu komm endlich, Trudchen!«, ruft sie dann. Genauso wie morgens beim Aufstehen, wenn die Mädchen das gemeinsame Bett verlassen müssen und Trudchen sich gerne noch einmal einkuscheln würde, denn sie mag es nun mal lieber ruhig und besonnen angehen. Deshalb mag Trudchen auch die Schönschriftübungen in der Schule, anders als Mariechen, der das langsame Schreiben schwerer fällt, dafür aber in der Turnstunde flinker ist.

Gut, dass Rosa vier Töchter hat, die im Haushalt und Garten mithelfen können. Na ja, zumindest Lieschen und Eva sind schon ganz brauchbar.

Mariechen und Trudchen sind noch recht verspielt. Da kann man nichts machen. Neulich ließ sogar der Vater sich auf ein Friseur-Spiel ein. Er saß an seinem dunklen Schreibsekretär und ließ sich geduldig von den Mädels sein schlohweißes, volles Haar kämmen. Und seinen üppigen Schnauzbart, der ebenso weiß ist wie sein Haar, durften die Mädchen an den Enden nach oben bürsten wie einen Kaiserbart. Ja, Josef hat etwas übrig für verrückte Zeitverschwendungen, obwohl er schon 50 Jahre alt ist und langsam mal vernünftig werden müsste.

Rosa hätte sich für solche Sperenzchen keine Zeit genommen, und sie fragt sich manchmal, ob der Vater nicht strenger sein müsste mit den Kindern. Karl mit seinen 13 Jahren … auch noch recht kindlich. Er bastelt gerne – weltversunken – Schiffe und Leuchttürme aus Papier. Schön und gut! Bringt ihn aber nicht weiter! Na ja, wenn er erst einmal auf der »Maria Regina« mitfährt, dann wird er diese Spielereien schon ablegen! Dann beginnt auch für ihn der Ernst des Lebens.

Und dass Otto, de Jung, schon in einem Jahr mit dem Vater in den »Krug« gehen darf, nein, das ist Rosa gar nicht recht.

Das Gasthaus »Zum Krug« liegt gleich bei der Anlegestelle der Fischerboote. Das ist praktisch für die Fischer, besonders am Feierabend.

Josef spaziert mit Tischler Heinz Hoppe in Richtung Fluss, dann ein Stück am Damm entlang, schon sieht man das Gasthaus, in dem Knut, der Wirt, gewiss schon hemdsärmelig hinter seinem Tresen steht und den ersten durstigen Sonntagsgästen seine Begrüßungsformel zuruft: »Na, wat seggt de Paster?« (Er erwartet keine Antwort – zum Glück.)

Ein Bierchen oder ein Kornchen als Frühschoppen ist doch das Schönste am Kirchgang. Besonders, wenn die Amseln in der sonnigen hellgrünen Birkenkrone neben dem »Krug« ihr Frühlingslied trällern.

Der Tresen ist umstellt mit Männern in Sonntagsanzügen und weißen Hemdkragen. Die Krawatten sind nun gelockert und die Jacketts aufgeknöpft. Manche rauchen schweigend, andere unterhalten sich mit dem Nebenmann. Zwei runde Holztische sind mit schweigenden, stirngekrausten Skatspielern besetzt, die ihre Zigaretten oft in den großen Aschenbechern mit der Aufschrift »Doornkaat« ablegen und kräuselnd verglühen lassen, bis nur noch die Kippen übrig sind.

Ein mit braunen Vorhängen gerahmtes Westfenster, das durch die Rauchschwaden hindurch den Blick auf den Damm freigibt, lässt das Vormittagslicht herein, die Sonne bleibt noch draußen, so dass es im Raum dunkler als vor der Wirtshaustür ist, wo sich hinter dem Damm die Passarge von den Sonnenstrahlen verwöhnen lässt und die Fischerboote an den Holzstegen sonntäglich vor sich hin dümpeln.

Josef findet noch einen Platz am Ende des Tresens und bestellt bei Knut ein Bier, während er den Fischer Franz begrüßt, der neben ihm steht: »Na Franz, wie laufen die Geschäfte?«

»Na, ’s jeht!« Stummer Blick ins Bierglas. Als täglicher Lehrmeister das weite Haff und die wortkargen Fische. (Und früher der Lehrer Heidemann mit seinem Rohrstock.)

Als Schiffer mit einem eigenen Frachtkahn und mit Hochdeutsch sprechenden Geschäftskunden ist Josef das Reden mehr gewohnt als die Fischer.

Plötzlich wird die schwere Eichentür von draußen energisch aufgestoßen, und augenblicklich schauen alle Männer hoch – auch Knut hinter seinem Zapfhahn und die Gesichter hinter den Karten. Wer da wohl jetzt seinen polternden Auftritt in der dunklen Gaststube hat? In der Tür steht eine braune Uniform, schwarze Schaftstiefel, in denen die Hosenbeine eingeklemmt sind, Koppel um die Mitte gebunden, Schirmmütze in die Stirn gezogen. Um den linken Arm eine rote Hakenkreuz-Binde. Der rechte Arm wird vorgestreckt: »Heil Hitler!«, ruft es über die verqualmten Köpfe hinweg.

Die Männer murmeln als Antwort ein paar unverständliche Silben, nur wenige heben vorschriftsmäßig den rechen Arm. Wenn man gerade ein Bierglas, eine Zigarette oder ein Skatblatt in der Hand hält, ist man auf den deutschen Gruß nicht vorbereitet.

»Mensch, Nachbar Bruno!«, ruft Knut staunend hinter seinem Tresen der Uniform zu. »Wat ist denn nu los? So förmlich? Wir hätten dich ja beinah nicht erkannt. Willst ’n Bier?«

»Jawoll! Danke!« Nachbar Bruno stellt sich an das Ende des Tresens, genau neben Josef, und nimmt steif und ernst seine Mütze ab, um sie auf den Tisch hinter sich zu legen. Als er sein Bierglas vom Wirt zugeschoben bekommt, nimmt er es in die Hand und trinkt es gierig in einem Zug leer. Dann wischt er sich mit dem Handrücken den Schaum von den Lippen, nimmt Josefs leeres Glas vom Tresen und klopft damit leicht gegen sein Glas, so dass alle Männer durch das helle Gläserklingen aufmerksam werden und die Augen jetzt auf den Bruno Pulke in seiner schneidigen Uniform richten. An der linken Brusttasche blitzt sein rotschwarzes Parteiabzeichen.

»Ich habe heute eine Ankündigung zu machen!«, beginnt er. Er räuspert sich und fährt mit straffer Brust fort: »Unser Gauleiter Koch hat mich zum Ortsgruppenleiter ernannt. Damit unterstehen mir alle Haushalte des Dorfes. Auch der des Bürgermeisters!«

Keiner sagt ein Wort. Der junge Schnösel Bruno Pulke, der junge Bauer von nebenan, will sich also ein bisschen wichtig tun!?

Knut findet als Einziger die passenden Worte: »Na, denn gratulieren wir auch, Bruno! Äh … welche Aufgaben hat denn so ein Ortsgruppenführer eigentlich?«

»Ich hole mir meine Anweisungen von der Kreisleitung in Braunsberg.«

»Aha«, sagt Knut, als sei nun alles geklärt, und hutschelt mit einem feuchten Lappen über den Tresen.

»Die Ortsgruppendienststelle befindet sich übrigens bei mir in meinem Wohnhaus! Und zwar: mit Telefon!«

Ortsgruppendienststelle … hallt es in Josefs Kopf. Was für ein wuchtiger Name für eine schäbige Bauernkate, wo der Bruno mit seiner Mutter nun RESIDIERT. Na ja, nu wird er sich wohl bald einige Renovierungen leisten können!

»Mensch, Bruno, nun biste sogar schon zu einem Telefon gekommen!«, ruft Kalle mit den Karten und mit ehrlicher Bewunderung quer durch den Raum. Er hält sein Skatblatt in der Hand und hofft, jetzt endlich weiter reizen zu können. Genug gequasselt! (Schließlich ist man so ungefähr der beste Skatspieler ganz Ostpreußens).

Der neue Ortsgruppenleiter Bruno Pulke – mit Verbindung in die weite Welt – gibt jetzt eine Lokalrunde »Doornkaat« aus. Na denn: »Wohl bekomm’s, Männer!«

(Hach ja: Wird doch alles nicht so heiß gegessen, wie’s gekocht wird!)

Zum Mittagessen sitzt Josef wieder zu Hause am Küchentisch. Den duftenden Rinderbraten mit der braunen Bratensoße, das Wurzelgemüse und die gelben Kartoffeln hat man doch mit der Familie gemeinsam einzunehmen, und zwar heiß, sonst könnte es Ärger und Schimpfe geben, und die Sonntagsruhe wäre futsch.

Nachdem Rosa, Josef und die Kinder gesättigt sind und Lieschen die leeren Teller ineinander gestellt hat, fragt Rosa: »Nu erzähl mal: Was gibt’s denn Neues?« Irgendetwas an Klatsch und Gerede wird Josef doch wohl an den Küchentisch mitgebracht haben? So ein bisschen lustvolles Weitertratschen gehört ja zum Dorf wie das Zwitschern der Spatzen auf dem Strommast!

»Es gibt Neues von der Familie Pulke«, antwortet Josef und trinkt einen Schluck Wasser. Eva und Lieschen verteilen die Schüsseln mit Schokoladenpudding.

»Also, wat ist mit den Pulkes? Geht’s der Mutter schlecht?«

»Nee, nee … ich glaub, der Mutter wird’s jetzt richtig gut gehen. Ihr Bruno ist nämlich unser neuer Ortsgruppenleiter geworden.«

»Der Bruno? Der ist doch man erst 25 Jahre alt!«

Josef zuckt mit den Schultern und genießt den Pudding. »Mädels, ihr habt wirklich gut gekocht.«

Nach einer Weile sagt Rosa: »Na, ick seh die Pulksche schon durchs Dorf gehen. Stolz wie Gräfin Mariza.« (Den klangvollen Namen hat sie neulich in der Zeitung gelesen.)

»Wolln wir doch erst mal abwarten, Rosa«, meint Josef und nimmt sich noch etwas von dem süßen, köstlichen Schokoladenpudding.

Für Bruno Pulke stellt sich die Frage, ob er jetzt nicht sogar auf einer Stufe mit den Autoritäten des Dorfes – dem Pastor, dem Bürgermeister und dem Lehrer – steht. Oder steht er gar darüber?

Über dem Lehrer steht er ganz gewiss, denn der Lehrer ist ja seit vier Jahren eine LehrerIN, Fräulein Mohn. Sie ist keine rechte Autorität, viel zu gutmütig. Eben nur ein Fräulein. Sie hat zwar ein richtiges Lehrerinnenseminar in Elbing besucht, ja gewiss, aber man sagt, sie könne mit dem Rohrstock nicht recht umgehen.

Na, da war der frühere Lehrer Heidemann ein ganz anderes Kaliber! Da flutschte aber der Rohrstock! Und wenn der Herr Lehrer in der Schulpause das Wirtshaus aufsuchte, dann dauerte die Pause ein bisschen länger, und der Herr Lehrer war dann ein bisschen betrunken, und der Rohrstock flutschte dann noch ein bisschen besser.

Das muss man dem Fräulein Mohn ja nun lassen: Bei ihr riecht es im Klassenraum nie nach Fusel, nur nach Kreide, abgewetzten Holzbänken und im Sommer nach ungewaschenen Schülerfüßen. Wäre ja auch noch schöner: ein betrunkenes Fräulein! Da hätte der Schulrat aber einen Riegel vorgesetzt! Aber ruckzuck!

Der Pastor Sauer ist auch keine Konkurrenz. Er kommt nur zu den Gottesdiensten mit einem Auto aus Braunsberg angebrummt. Dann steht sein schwarzer Ford Olympia wie ein Fremdkörper an der Dorfstraße, wird von einigen Rotznasen beglotzt, bis der Herr Pastor wieder mit diesem Wunderwerk der Technik abdampft und das Dorf und seine Schäfchen mit einer stinkenden Abgaswolke hinter sich lässt.

Und der Bürgermeister? Der hat ja nun auch nicht mehr das letzte Wort.

So ist man nun tatsächlich aus seinem kleinbäuerlichen Leben aufgestiegen, um höheren Idealen zu dienen. Jawoll!

Und für die rechte Achtung, die man ihm als Autorität im Dorf entgegenzubringen hat, dafür wird er schon sorgen!

Am Geburtstag des Führers, am 20. April, hat Rosa mit dem Stecken von Kartoffeln zu tun. Mit Lieschen und Eva steht sie am Nachmittag im Garten, alle drei lockern mit einem Spaten die Erde auf. Sie beeilen sich, mit der Arbeit fertig zu werden, bevor es regnen wird.

Bruno Pulke schreitet mit harten Stiefelschritten durchs Dorf, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und begutachtet die roten Hakenkreuzfahnen. Jedes Haus ist verpflichtet, mindestens eine Fahne heraushängen zu lassen. Ansonsten gibt es einen Vermerk in der Einwohnerkartei. Oh, oh, oh, da muss man von Anfang an konsequent sein! Man hat viel zu tun als Ortsgruppenleiter!

Die Störche auf den Dächern, die wie jedes Jahr als Dauermieter ihre Nester belegt haben, wundern sich heute. Was da alles so störend rot-schwarz-weiß im Wind herumflattert? Die Farben hat der liebe Gott doch eigentlich für die Störche ausgewählt! Sie strecken ihre Hälse und klappern laut und aufsässig in die Frühlingsluft hinein und scheren sich einen Dreck um den festlichen Führergeburtstag.

Ach ja, die Störche: Sie haben die älteren Rechte und lassen ihren feuchten Schiet auf die Fahnen klatschen. Dagegen ist sogar der Bruno machtlos.

Stolz schreitet er durch sein Revier, viele sehen es ihm mit einem schiefen Lächeln nach. Klappern gehört zum Handwerk, und das Angeben kennt man ja: Jeder Hahn auf dem Hof lässt sich gerne von den Hühnern bewundern, er präsentiert seinen roten Kamm, plustert sich auf und kräht laut rum. Dat is joa bi den Menschen nich viel anners!

Über Josefs rotem Ziegeldach weht vorschriftsmäßig eine Hakenkreuzfahne. Hinter dem Haus an der kleinen Veranda gibt es einen Fahnenmast, der das Haus überragt. Als Rosa und Josef 1917 – vor 20 Jahren – geheiratet haben, bekamen sie vom Bürgermeister die schwarz-weiß-rote Flagge des Kaiserreichs überreicht, und Josef zog die Flagge bei jedem Geburtstag seiner Kinder auf. Schon oft wehte die Flagge, denn Rosa hat acht Kinder zur Welt gebracht. Ein Mädchen und ein Junge sind aber inzwischen gestorben: Luzia und Kurt. Zwei traurige Geschichten.

Die Kaiserflagge liegt jetzt zerschlissen in der Schublade des Sekretärs.

Bruno ist zufrieden mit seinem geschmückten Dorf. Er bleibt vor Rosas Garten stehen und schaut hoch zur Fahne. »Heil Hitler!«, ruft er Rosa über den Staketenzaun zu.

Sie richtet sich auf, streckt kurz ihren Rücken und geht ein paar Schritte auf Bruno zu. Sie trägt eine graue Gartenschürze. Ihre aschblonden Haare mit den grauen Strähnen sind im Nacken zu einer dünnen Rolle gedreht und mit Haarnadeln festgesteckt. »Na, Bruno, wie geht’s der Mutter?«

»Vielen Dank, sehr gut. Wollte noch sagen, dass ich nächste Woche die Stuben kontrolliere.«

»So, so … Und … warum dat?«

»Jeder Haushalt ist verpflichtet, ein Hitlerbild in vorgeschriebener Größe aufzuhängen. Das ist ja schließlich nicht neu. Wir schulden unserem Führer Respekt und Anerkennung für sein großartiges Wirken.«

Mein Gott, ein Tonfall wie ein Feldherr! Und eine Haltung, als hätte er eine Zaunlatte verschluckt! Das schmale mittelblonde Bärtchen an der Oberlippe ist noch etwas mickrig, aber es lässt schon das modische Vorbild erkennen.

»Na denn, Grüße an die Mutter!«, sagt Rosa schnell und schlurft mit ihren Gartenschlorren wieder zu Lieschen und Eva. Und zu den Steckkartoffeln, die in einem Drahtkorb warten. Die ersten Regentropfen fallen auf die frische dunkle Erde. Das ist gut für die Kartoffeln, aber schlecht für die Hakenkreuzfahnen: Heute Abend werden sie schlapp vom Fahnenmast oder aus den Fenstern baumeln, unansehnlich wie vergessene, nasse Wischlappen.

Am nächsten Sonntag erscheint Bruno nicht zur heiligen Messe. Und der Platz seiner Mutter bleibt auch leer! Dat is ja nu gediegen!

Aber den Frühschoppen lässt er sich nicht entgehen, und so erscheint er als Erster im »Krug«, stellt sich in voller Montur an den Tresen und muss sich Knuts Begrüßungsformel anhören:

»Na, wat seggt de Paster?«

»Gar nuscht!«, kommt die barsche Antwort, und Knut denkt sich seinen Teil und füllt schon mal ein Bierglas.

Etwas später hat sich der Tresen gefüllt, und Bruno nimmt sein Glas in die Hand und prostet Knut und Tischler Hoppe zu, der direkt neben ihm steht. »Prost, Männer! Auf die neue Zeit!« Er leert das halbe Glas, dann blickt er zu Tischler Hoppe: »Es ist ja so … der sonntägliche Kirchgang passt nicht mehr in unsere neue Zeit. Das solltest auch du wissen!«

»Na, na, na«, murmelt Tischler Hoppe. Auch Knut und der Fischer Franz haben die Worte gehört, sagen aber nichts. Hmm … da geht die neue Zeit aber ein bisschen zu weit!

»Heil und Segen bringt euch nicht die Kirche, sondern der Führer, das ist doch der Punkt!«, posaunt Bruno und bestellt sich das nächste Bier.

Wat? Die Männer am Tresen schütteln innerlich den Kopf. Sündige Gotteslästerung muss beim Pastor Sauer gebeichtet werden! Glaubensfragen diskutiert man nicht und fertig und Punkt! Einen festen Kosmos verlässt man nicht so einfach, ohne zum Außenseiter zu werden. Aber das scheint dem Herrn Ortsgruppenführer egal zu sein.

Schon am Montag hört Rosa von den lästerlichen Bemerkungen des Bruno Pulke, beim Einkauf im Kramladen an der Dorfstraße, wo die Frau Kramer täglich mit weißer Schürze hinter dem Tresen steht und immer offene Ohren und einen offenen Mund für Neuigkeiten hat, während sie Zucker, Backpulver oder Kaffee für ihre Kunden auf den Tresen legt, oder manchmal Butterkekse für kranke, appetitlose Kinder.

Während des Abendessens berichtet Rosa ihrem Mann über Brunos Abkehr von der Mutter Kirche. »Was bildet der Junge sich bloß ein? Nu darf sein Muttchen wohl auch nicht mehr zur Messe gehen, was?«

Und während Josef seine Bratkartoffeln mit Speck isst, runzelt er die Stirn, als ob der junge Bruno ihm persönlichen Kummer bereite. Er schaut seine sechs Kinder an: »Na, Kinder, ich denke, die Kirche sollten wir mal hübsch im Dorf lassen, was?«

Die kleine Trudchen nickt dem Vater zu, lächelt ihn an, obwohl sie nicht genau versteht, was er damit meint. Aber der Vater ist eine Respektsperson. Gutmütig, fromm und liebevoll. Und der Vater und die Kirche haben immer Recht. Da gibt es rein nuscht dran zu rütteln.

FRÜHSOMMER 1937

Am Morgen des Fronleichnamsfestes steht Josef am Küchenfenster, bekreuzigt sich, faltet seine Hände und schaut versunken in den sommerlichen Garten. »Kinder, is dat schön, wenn die Natur so grön!«, ruft er der versammelten Familie am Frühstückstisch zu.

Trudchen – noch im rosafarbenen Nachthemd – bestreicht sich eine Scheibe Brot mit Erdbeermarmelade und freut sich, dass der Vater so schön reimen kann. So ein Häppchen väterliche Poesie als Morgenandacht ist doch bekömmlicher und einprägsamer als lange Litaneien, die man in der Kirche aushalten muss. Die kleine poetische Glücksdosis vermengt sich mit dem süßen Geschmack des Marmeladenbrotes und breitet sich wohlig in ihrem Magen aus.

Nach dem Frühstück dürfen Mariechen und Trudchen für den Gottesdienst ihre weißen Kommunionkleider anziehen. Wie zwei kleine Bräute. Lieschen hilft beim Festklemmen der grünen Buchsbaum-Kränze im Haar der Mädchen und legt ihnen die Halskette mit dem Bernsteinkreuz um den Hals. »Fast wie Zwillinge«, sagt sie, und ihre dunklen Augen lächeln mütterlich stolz. »Und hier sind eure Blumenkörbchen. Denkt daran: nicht alle Blüten auf einmal verstreuen! Der Prozessionsweg ist lang!«

Ja, mit fast 18 Jahren weiß man Bescheid. Heute hat sich Lieschen in ihr leicht gewelltes Haar ein paar zusätzliche Locken gedreht. Ist ja Feiertag. Ihre langen dunklen Zöpfe hat sie sich schon vor zwei Jahren abschneiden lassen, und weil es viel praktischer ist, haben vor einigen Monaten die drei jüngeren Mädchen eine platte Kurzhaarfrisur verpasst bekommen. Das ist ganz schön modern, und Rosa kann alle paar Wochen nachschneiden, wobei die Linie unterhalb der Ohrläppchen als grobe Orientierung dient.

»Kinder, die Glocke läutet schon, wir müssen los!«, ruft der Vater.

Die Eltern setzen ihre Sonntagshüte auf, Rosa nimmt ihre weiße Handtasche, und schon tritt die herausgeputzte Familie in den bimmelnden, lieblichen Junimorgen.

Gestern wurde das Dorf mit Türkränzen und Blumen geschmückt, und besonders die vier Häuser, vor denen je ein Altar aufgebaut ist, zeigen sich ordentlich hergerichtet: Fenster, Türen, Gehwege, alles blank geputzt. Mit Pferd und Wagen rumpelten gestern Abend jede Mengen Birkenreiser ins Dorf. Damit steckten die Männer die Wege der Prozession ab. Von der Kirche wird es heute über den kleinen Stichweg zur Dorfstraße gehen, dann bis zu dem Haus der Familie Schmidt, wo der erste Altar aufgebaut ist. In diesem Jahr liegen alle vier Altäre an der Dorfstraße, was dazu geführt hat, dass die unscheinbare, unbefestigte Straße heute so schön aussieht wie eine mickrige Braut, die man ordentlich herausgeputzt hat.

Nach getaner Arbeit standen gestern Abend Josef und Tischler Hoppe an der Kirche, um sich noch mit einem mitgebrachten Schlückchen zu belohnen. Trudchen wollte den Vater zum Abendessen abholen und hörte ihn sagen: »Wollen wir denn Fräulein Mohn nicht auch einen Schnaps anbieten? Sie hat doch auch viel geholfen!«

Tischler Hoppe schüttelte den Kopf: »Ein Fräulein trinkt nicht!« Ach so.

Der Hoppe muss es wissen, denn das Fräulein Lehrerin hat eine Wohnung über seiner Werkstatt. Wie ein Heinzelmännchen hat sie sich nach getaner Arbeit schnell wieder unsichtbar gemacht.

Wie schön sich die zarten grünen Zweige der Birkenreiser im Frühsommerwind wiegen, denkt Trudchen, die an Evas Hand geht. Die große Schwester Eva: In ihrem roten Kleid und mit den schwarzen Haaren sieht sie aus wie Schneewittchen. Im Sommer ist sie immer so braun gebrannt, dass sie sich früher auf dem Schulhof oft anhören musste: »Siehst ja aus wie ’ne Zigeunersche!« Ja, wer etwas auf sich hält, hat blond zu sein. Mindestens aschblond wie die Mutter und wie Mariechen. Leider hat der liebe Gott bei Trudchen auch kein Einsehen gehabt und hat sie mit platten braunen Haaren ausgestattet. Und nicht eine einzige Locke!

Vor der Kirche hat Fräulein Mohn – die auch Küsterin ist – die gelb-weiße Kirchenflagge am Fahnenmast hochgezogen. Gelb und weiß wie der Sommer, viel schöner als eine Hakenkreuzfahne. Etwas schlaff hängt die Flagge am Mast, denn heute ist es fast windstill und noch leicht diesig über dem Fluss und über den Gärten. Die Frösche quaken laut in der nahen Lehmkuhle, und die Störche sind auf Beuteflug, ständig unterwegs zwischen ihren Nestern und den feuchten Wiesen. Sie haben viel zu tun, denn die Nester sind jetzt im Juni mit hungrigem Nachwuchs gefüllt. Für die Tiere gilt keine Feiertagsruhe.

Die Fischerboote dümpeln an der Anlegestelle beim »Krug«. Die Bauern lassen heute ihr Gespann in der Scheune stehen, und die Schwalben können ungestört im Hof oder in den Stallungen umherschwirren. Die »Maria Regina« döst etwas weiter flussaufwärts an ihrer Anlegestelle in der Passarge. Heute wird sie weder be- noch entladen, schließlich ist sie ein katholisches Schiff.

Auch im Nachbardorf gegenüber – in ALT-Passarge – nur vom Fluss getrennt, ist das helle Läuten der Kirchenglocke noch zu hören. Aber es ist ein evangelisches Dorf, und deshalb liegt nicht nur die Passarge zwischen den Dörfern, sondern ein ganzer Ozean. Alt-Passarge, Heilige Jungfrau, das ist so etwas wie Ausland, wo ein vernünftiger katholischer Mensch nichts zu suchen hat. Nur die Störche halten sich nicht daran. Sie staksen hüben wie drüben stolz durch das Ufergras und geben ihre Konfession nicht preis.

In Alt-Passarge ist heute ein ganz normaler Werktag. Ach je! Ein Feiertag, der gar kein Feiertag ist!

Befremdend, dass von drüben eine Kirche mit einem grauen Schieferturm herübergrüßt, größer und höher als die eigene bescheidene Kirche »Maria Meeresstern«. Und an Sonntagen läutet drüben sogar die Kirchenglocke! Zum Glück eine halbe Stunde später als in Neu-Passarge, sonst würden sich die Klänge der beiden Kirchenglocken womöglich über dem Fluss vereinigen! Na, das gäbe ein Durcheinander!

Gleich hinter der evangelischen Kirche, wo das Dorf Alt-Passarge schmal ausläuft, liegt das Frische Haff. Heute gehen auf dem Wasser nur evangelische Fischerboote ihrer Arbeit nach. Und die Kirchenglocke bleibt stumm.

Auch Pulkes Bruno kommt heute mit dem katholischen Glockenklang aus seiner Kate. Nanu? Kein feiner Sonntagshut? Zerknautschte Arbeitsmütze? Graues Arbeitshemd, darüber breite braune Hosenträger, grobe Arbeitshose, erdige Schlorren an den Füßen!

Er steigt auf sein Pferdegespann und lenkt es Richtung Dorfstraße. In tadelloser Haltung zieht er jetzt mit seinem Ackergaul an den erstaunten Gläubigen rumpelnd vorbei, eine Staubwolke hinter sich herziehend.

»Nu kiek moal an!«, ruft Rosa erstaunt, als die Familie schon fast bei der Kirchentür angekommen ist. »Der Bruno! Wie eine Primadonna!«

Da rumpelt und staubt sie also, die Neue Zeit, und ruft ohne Worte über die Dorfstraße den geöffneten Mäulern zu: Für Volk und Vaterland! Forsch an die Arbeit! Keine unnützen Feiertage!

Rosa und Josef drehen die Köpfe und schauen dem beherzten jungen Mann nach, der die Zügel fest in den Händen hält. »Jesses Maria, wat is bloß in den Kerl gefahrn?«

Während Bruno seiner nationalsozialistischen Pflicht nachgeht und auf seinem Acker schwitzt, beginnt in der Kirche der Gottesdienst: Aufstehen, Eingangslied. Trudchen singt andächtig mit, stolz auf ihr eigenes neues Buch (mit Goldschnitt-Seiten). Pastor Sauer steht mit dem Rücken zur Gemeinde vor dem Altar, die sechs Ministranten knien auf der untersten Altarstufe nieder.

»In nomine Patris et Filii, et Spiritus Sancti. Amen.«

Otto und Karl als Messdiener antworten murmelnd, den Kopf andächtig geneigt, die weißen Hände vor der Brust gefaltet: »Ad Deum, qui laetifat juventutem meam …« Ein bisschen mühsames Kirchenlatein hat noch keinem wat geschadet!

Endlich Ende der Messe, jetzt beginnt die Prozession: Das Kirchenportal öffnet sich, und sogar der Pastor Sauer freut sich über die frische Luft, die hereinströmt und die letzten Weihrauchschwaden und die letzten lateinischen Worte hinausweht. Otto – als ältester Ministrant und Kreuzträger – erscheint zuerst in der milden Frühsommerluft. Danach kommen schon die herausgeputzten Kommunionkinder und die anderen Kinder, gefolgt von den jüngeren Ministranten und schließlich, unter einem Baldachin, der von vier kräftigen Männern getragen wird, der würdige Herr Pastor Sauer mit dem golden glänzenden Allerheiligsten in der Hand. Um die Schulter trägt er eine goldene Brokat-Stola, und wie ein König von Gottes Gnaden schreitet er in Richtung Dorfstraße. Die übrigen Gemeindemitglieder trotten hinterher. Tischler Hoppe wischt sich beim Gehen den Schweiß von der Stirn. Seine Sonntagsschuhe drücken, verdammt noch mal, dabei kann doch kein Mensch seine Andacht bewahren, und man sitzt in Gedanken schon im »Krug«.

So, Trudchen und Mariechen, jetzt könnt ihr endlich eure schönen Blumen auf den Weg streuen! Die Malven, die über die Gartenzäune gucken, nicken freundlich. Vogelgezwitscher liegt in der Luft, ein Specht klopft, auf den Wiesen zirpen die Feldgrillen, bis die fünfköpfige Blaskapelle diese Idylle zerstört. Vorspiel … jetzt der alljährliche Choral, der Trudchen zu Herzen geht und auch Eva in schönsten Tönen jubilieren lässt:

»Lasst Christen hoch den Jubel schallen

und schwingt die Seele himmelan!

Gott ist mit uns und uns vor allem

hat seine Huld sich kundgetan ...«

Die herrliche Blasmusik (als Posaunist der Fischer Franz mit dicken Backen; mindestens einmal haben die schwitzenden Dorfmusikanten im »Krug« geübt) und der Gesang wehen hinauf bis zum Sommerhimmel, der inzwischen aufgeklart hat. Von dort oben bringen die Sonnenstrahlen und die Musik ein Stück des Himmels mit, das Trudchen dankbar in ihr Herz strömen lässt. Sie fühlt sich leicht wie die kleine weiße Wolke dort oben, alles ist unschuldig und harmonisch, weiß und festlich wie ihr Kommunionskleid. Sparsam streut sie die bunten Blüten aus, die so zart und filigran im Blumenkörbchen liegen und doch eigentlich viel zu schade sind, um von den schwarzen Schuhen des hochwürdigen Pastors plattgetreten zu werden. Platt wie bunte Briefmarken, die auf der Dorfstraße kleben bleiben. Sie schaut zu Mariechen, die neben ihr geht. Na typisch! Ihr Blumenkörbchen ist bereits leer.

Die Blasmusik weht auch über das sommerliche Wasser der Passarge bis ins Nachbardorf, wo sogar die Hofhunde die Ohren spitzen. Hanna, die betagte Hebamme aus Alt-Passarge, die gerade mit dem Jäten in ihren Gemüsebeeten beschäftigt ist, richtet sich auf und legt die Hand über die Augen, um besser über den Fluss schauen zu können. »Na ja, feiern könn se ja, die Katholschen da drüben!« Hanna nickt, sie war oft genug drüben und hat die Kinder geholt, denn am Anfang des Lebens plärren und pupen die Menschen alle gleich.

Das wandernde Volk Gottes ist inzwischen erschöpft beim letzten Altar angekommen. Pastor Sauer spricht den Segen über das Dorf und die Felder, und der Wind trägt den Segen weiter über das Wasser nach drüben, auch zu den Evangelschen. Das kann nicht einmal der Pastor Sauer unter seinen schweißtreibenden Gewändern verhindern.

Endlich geht es zurück in die Kirche. Pastor Sauer kommt am Altar zum Abschluss: »Dominus vobiscum …«

Antwort: »Et cum spi-ri-tu-o … Amen.« Geschafft! Raus in die Luft!

Plaudereien auf dem Kirchenvorplatz, zerknüllte Zigarettenpackungen werden aus den Jacketttaschen genestelt.

»Hallo, Elisabeth!« Lieschen dreht sich um, blickt dem Sohn der Witwe Müller in die Augen, nickt ihm freundlich zu. Paul ist fünf Jahre älter, in Uniform, fesch …! Ein Marinesoldat, der nur ein paar Tage auf Urlaub ist. Dunkle Augen und dunkle Haare hat er, wie Lieschen. Und nicht nur ein breites Lächeln, sondern auch noch breite Schultern, schließlich ist er Berufssoldat. »Hast Lust auf einen kleinen Spaziergang?« Einem Urlauber in Uniform muss man natürlich jeden Wunsch erfüllen und gut, dass sie sich heute so schöne Locken ins Haar gedreht hat!

Die beiden verlassen den Kirchplatz. Die Witwe Müller schaut ihnen argwöhnisch hinterher. Lieber Himmel! Will ihr so ein Frauenzimmer etwa den einzigen Sohn wegschnappen?

»Na, Josef, kommst mit nach’n ›Krug‹?« Tischler Hoppe steckt sich eine Zigarette zwischen die schmalen Lippen.

»Och nee, Heinz, heut nich!« Heute geht der Vater nämlich mit Trudchen an der Hand nach Hause, Eva und die Mutter folgen ihnen brav. Nur Mariechen muss natürlich wieder aus der Reihe tanzen.

Der rundliche Pastor Sauer sitzt in der Sakristei an dem kleinen, weiß gedeckten Tisch und ist zufrieden: Er labt sich an dem appetitlich duftenden Frühstück, das Fräulein Mohn ihm serviert hat: Eier, Speck und Brot. Und so wird sein schwarzer Ford Olympia heute noch ein bisschen länger in der Sonne stehen und glänzen wie eine Christbaumkugel und gemeinsam mit den bunten Briefmarken die staubige Dorfstraße schmücken.

Heute sind auch die Ministranten zufrieden, denn es bleiben noch reichlich Eier und Brot für sie übrig. Und Otto und Karl haben den Verdacht, dass Fräulein Mohn eine extra große Portion zubereitet hat.

Der gesättigte Pastor Sauer ist jetzt sogar bei außerordentlich guter Laune und steckt Otto und Karl jedem ein Dittchen zu, worauf die beiden befriedigt ihren Heimweg antreten. Es lohnt sich, in der Messe zu dienen! (Dafür wird man bis zum nächsten Mal das lateinische Stufengebet noch einmal lernen – aber ganz bestimmt sogar!)

Trudchen ist nicht nur zufrieden, sie ist glücklich an diesem Tag: Sie fühlt sich aufgehoben an der Hand des großen Vaters, aufgehoben in ihrem sommerlich geschmückten Dorf, zwischen ihren Geschwistern und den vielen anderen Kindern. Sonnenstrahlen auf ihrem weißen Kleid, das leere Blumenkörbchen in der Hand, die Blasmusik und die festlichen Kirchenlieder noch in den Ohren … das ergibt eine Glücksdosis, die sie noch Jahrzehnte später sagen lassen wird: Es war wie im Himmel!

Wunderbar, dass so viele Menschen an diesem sonnigen Festtag mit sich und der Welt im Reinen sind!

Und was ist mit dem Bruno bei seiner einsamen Feldarbeit?

Die forsche Blasmusik, der Gesang, die Gebete, alles klang nur allzu vertraut. Vertraut wie der Geruch seines Ackerbodens. Einem sentimentalen Feiertagsgefühl konnte er sich jedoch mannhaft widersetzen. Aber jetzt … ein Bierchen … ah … vielleicht ein kühles Feiertagsbierchen?

Soll er mit seiner verschwitzten Arbeitskleidung, mit seinen schmutzigen Schlorren in der Gaststube erscheinen? Die schrägen Blicke und die Sticheleien der anderen Männer ertragen? Nein, die Blöße wird er sich nicht geben. Lieber tapfer für das Vaterland weiterschwitzen. Was würde der Führer dazu sagen? Feiern statt arbeiten?

Och, Bruno, das musst du nun mit dir ganz alleine ausmachen. Mit dir und der neuen Zeit!

»Is der Kerl nu ganz verrückt geworden?«, fragt Rosa kopfschüttelnd nach dem Mittagessen. »Den Feiertag nicht zu heiligen!?«

Josef blickt nachdenklich auf seinen leeren Teller mit dem braunen Soßenrest. Er grübelt weniger über Bruno, sondern mehr über seine beiden Söhne. Schon vor zwei Jahren hat der Führer die Wehrpflicht wieder eingeführt. Otto und Karl sollen die »Maria Regina« einmal übernehmen. Da gehören sie hin und nicht in irgendeine Uniform.

»Ach, Rosa«, seufzt Josef und blickt seine Frau an. »Ick weiß auch nich! Wo soll dat nu bloß alles hinführn?«

Heute Abend wird er diese Frage mal mit Tischler Hoppe und Michel Meyer erörtern, wenn sie zum Skat vorbeikommen. Mal ein ernstes Gespräch unter Männern! Michel Meyer ist schließlich auch nicht auf den Kopf gefallen. Er besitzt ein weißes Ausflugsschiff – die »Braunsberg« – und fährt damit Ausflügler von der Kreisstadt Braunsberg über Neu-Passarge zur Nehrung rüber, und er kommt mit vielen erfahrenen Menschen zusammen.

Am Abend müssen die Männer wieder einmal feststellen, dass Skatkarten höchste Aufmerksamkeit erfordern und andere Themen erst mal unter den Spieltisch fallen. Vor dem Mischen der Karten werden sich die drei Männer allerdings noch schnell einig: »Dat wird woll den Menschen nicht gut bekommen, wenn se den wahren Glauben wie son olles Gartenhemd ablegen«, meint Tischler Hoppe mit dem Skatblatt in der Hand. »Dat wird woll auch uns Adolf einsehen!« Alle nicken geflissentlich und warten darauf, dass er jetzt endlich die Karten mischt.

Gegen Ende des gemütlichen Abends trinken die Männer noch ein paar Schlückchen Kräuterlikör und rauchen eine Zigarre. Der Qualm dringt durch die Türritzen bis in Rosas Küche, wo sie mit Näharbeiten und Strümpfestopfen beschäftigt ist. Sie steht auf und geht zu den dampfenden Männern in die Stube, um zu lüften. Jesses Maria! Tagelang wird der Zigarrengestank im Haus liegen, und das bekommt ihrer Nase, ihren Nerven und ihrem Magen gar nicht gut. Die Männer sind im Gespräch nun bei der Politik angekommen, und sie setzt sich an den dunklen Sekretär und vergisst erst einmal die dicken Qualmwolken.

»Vor einem Jahr, bei den Olympischen Spielen, da is uns Adolf ja als friedliebender Staatsmann aufgetreten. Hat keinen schlechten Eindruck gemacht«, meint Tischler Hoppe und saugt mit vorgestülpten Lippen und zerzaustem grauen Haarkranz an der Zigarre.

Rosa erinnert sich, dass die Männer aufmerksam vor dem Volksempfänger saßen und der forschen Eröffnungsrede lauschten.

»Trotzdem! Mir macht die Wiedereinführung der Wehrpflicht Sorge«, meint Josef.

»Tja«, meldet sich Michel Meyer zu Wort, »aber auch dabei betonte der Adolf, er wolle nuscht als den Frieden. Wir haben doch die Rede aus dem Reichstag gehört.«

Die Männer nicken. Jaja, ist aber schon zwei Jahre her. Gilt das noch?

Michel Meyer leert sein Likörglas. Auf seinem vollen dunklen Haar zeichnet sich wie eine Wasserwelle der Mützenrand seiner Schiffermütze ab, die er wahrscheinlich nur ablegt, wenn er Karten spielt oder abends zu seiner Frau ins Bett steigt. Mit seinen gewaltigen buschigen Augenbrauen und seinem kräftigen Körperbau sieht er wirklich wie ein respektabler Kapitän aus, der immer weiß, wo es langgeht.

»Ich weiß nich recht.« Josef zuckt mit den Schultern. »Der Kaiser hat auch immer so viel von Frieden und deutscher Ehre palavert, und dann kam der Krieg. Ihr wisst, wie wir in der Schule den Kaiser verehrt haben?«

Oh ja, das wissen die Männer noch zu gut. Sie sind fast gleichaltrig und waren zu Kaisers Zeiten Schulkinder beim Lehrer Heidemann. Der großartige Kaiser mit Pickelhaube, Zwirbelbart und starren Augen hing an der Wand, da wo jetzt das Führerbild auf die Kinder herniederblickt. Ebenso streng und freudlos wie das Kaiserbild.

»Und wie gerne haben wir als Kinder die Kaiserhymne gesungen!«, ruft Michel Meyer in sentimentaler Stimmung. »Wisst ihr noch?« Seine Augen leuchten, seine Brauen heben sich, und schon stimmt er mit kräftiger Bassstimme an:

»Heil dir im Siegerkranz,

Herrscher des Vaterlands!

Heil, Kaiser, dir!

Fühl in des Thrones Glanz

die hohe Wonne ganz,

Liebling des Volks zu sein!

Heil, Kaiser, dir!«

Nach dieser Strophe gönnt sich Michel noch ein Kräuterlikörchen. Er ist sonst eher wortkarg, aber der Alkohol hat seine Zunge gelöst. »Es ist schon verrückt«, sinniert er vor sich hin, »früher sollte uns der Wilhelm das HEIL bringen, jetzt ist es das Adolfchen.« Die Männer nicken.

»Und die Republik …?« Tischler Hoppe wiegt den Kopf. »Nu ja, nu ja … dat war doch nuscht Verninftiges.«

»Was ist denn mit der Besetzung des Rheinlandes?«, fragt Josef plötzlich in die Runde hinein. »Das galt doch als entmilitarisierte Zone. Das ist doch nicht gerade geeignet, uns Heil und Frieden zu bringen?«

»Ach, dat Rheinland!« Tischler Hoppe schlägt mit der Hand. »Fest steht die Wacht am Rhein … das haben wir ja auch schon zu Kaisers Zeiten in der Schule gelernt, wisst ihr noch?«

Da müssen die Männer wieder lächelnd nicken. Gelernt ist gelernt! Auch Rosa kennt das Lied aus der Schule, und als Tischler Hoppe nun mit glühenden Wangen anfängt zu singen, stimmen alle mit ein:

»Es braust ein Ruf wie Donnerhall,

wie Schwertgeklirr und Wogenprall:

Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!

Wer will des Stromes Hüter sein?

Lieb Vaterland, magst ruhig sein,

fest steht und treu die Wacht am Rhein!«

Die erste Strophe und den Refrain kennen alle noch auswendig. Danach bricht die Wacht am Rhein jäh ab, und es wird nun das allerletzte Gläschen geleert. Es ist aber auch immer zu und zu gemütlich bei Josef!

»Wird schon werden! Ach ja«, seufzt Michel Meyer und steht auf. »Ich muss nu leider los.« Er setzt sich seine schwarze Schiffermütze auf die dunkle Wasserwelle. Auf dem Mützenrand prangt die weiß bestickte Aufschrift BRAUNSBERG.

»Lieb Vaterland, magst ruhig sein!«, sagt er scherzhaft zum Abschied. »Schlaf gut, Josef! Gute Nacht, Rosa!«

Josef nickt: »Wolln wir’s Beste fürs Vaterland hoffen.«

»Na, und für uns auch!«, ergänzt Rosa, die jetzt endlich ein Fenster aufreißt. Es kommt nicht nur ein frischer Luftzug herein, sondern auch der schietige Geruch des Misthaufens vom Nachbargrundstück. Ein ständiges Ärgernis für Rosa.

Tischler Hoppe ist nun auch aufgestanden, streicht seinen mickrigen Haarkranz glatt und rümpft die Nase: »Josef, du musst mal mit dem Bauernführer reden. Son Misthaufen fast unter eurem Fenster, dat geht doch nich!«

Darin sind sich alle einig. Das Problem des dampfenden Misthaufens liegt ja auch näher als der Schiet, der sich fernab im Reich auf-türmt und übel vor sich hin dünstet.

Aber dass dieser Schiet einmal über das Ortsschild, über die Dorfstraße und weiter bis über die Gartenpforte und durch alle Ritzen des Hauses kriechen wird – wie der Zigarrenqualm durch Rosas Küchentür –, das ist in den kühnsten Träumen nicht vorstellbar.

SOMMER 1937

Am letzten Schultag stimmt Fräulein Mohn noch einmal Trudchens Lieblingslied an und versucht sich – am Lehrerpult stehend – im Dirigieren:

»Geh aus mein Herz und suche Freud

in dieser lieben Sommerzeit

an deines Gottes Gaben,

schau an der schönen Gärten Zier

und siehe wie sie mir und dir

sich ausgeschmücket haben,

sich ausgeschmücket haben …«

»Dieses schöne alte Lied, Kinder, hat der Pastor Paul Gerhardt nach dem Dreißigjährigen Krieg als Trost für seine Gemeindemitglieder gedichtet und komponiert«, erklärt Fräulein Mohn anschließend. »Ach, wie viele Kriege hat dieses Lied inzwischen überdauert! Nun Kinder, behaltet diese gläubigen, aufmunternden Zeilen in euren Herzen!«

Trudchen weiß jetzt, dass es auch Fräulein Mohns Lieblingslied ist. Sommer, Wärme, Helligkeit, endlich kann man wieder barfuß in der Schule sitzen und am Nachmittag – nach den häuslichen Pflichten – in der Passarge plantschen. Und »der schönen Gärten Zier« ist nicht nur eine Augenweide, sondern sie sorgt auch für gefüllte Gemüseteller am Mittagstisch.

Bevor die Schüler der Klassen eins bis vier aus dem gemeinsamen Klassenraum endgültig in die Sommerferien entlassen werden: Aufstehen zum Deutschen Gruß! Ernst nach vorne zum Lehrerfräulein blicken! Rechten Arm heben! »Heil Hitler, Kinder.«

»Heil Hit-ler, Fräu-lein Mohn!«

Als Dank für das vergangene Schuljahr legen einige Kinder Geschenke für das Lehrerfräulein auf das Lehrerpult: Eier, Speck oder Käse. Und Fräulein Mohn muss sich fragen, wie sie die insgesamt 70 Eier wohl heil nach Hause kriegen soll.

Die Kinder strömen lärmend aus dem Schulgebäude. Nun wird der arme Führer auf dem großen Wandbild neben dem Lehrerpult sechs Wochen lang ganz allein mit argwöhnischen Augen in den leeren Raum auf verlassene, zerkratzte Schülerbänke blicken müssen.

Viele Kinder versammeln sich erst einmal an der Dorfpumpe vor der Schule, um bei der Sommerhitze ein Schluckchen Wasser zu schlabbern oder sich von den großen Jungens mit viel Gekreische und Gejuche nassspritzen zu lassen.

»Kinder, wollt ihr wohl nicht so albern sein?«, ruft Fräulein Mohn energisch von der Schultür herüber. »Was werden eure Eltern schimpfen, wenn ihr mit nassen Hosen oder nassen Schürzen nach Hause kommt?«

Trudchens Schürze bleibt sauber und trocken. Sie geht den großen lauten Jungs lieber aus dem Weg. Nur Mariechen muss zu Hause das Gezeter der Mutter ertragen. Aber Lieschen, die liebe große fürsorgliche Schwester, wird die Schürze wieder in einen tadellosen Zustand versetzen! Ohne Schimpfe! Sie ist ja schließlich schon eine richtige Hausfrau.

Wie verbringt das gute Fräulein Mohn die Sommerferien? Hat sie Interesse, die Welt außerhalb Ostpreußens kennenzulernen? Ist sie jemals gereist bis an den Maas?

Bis an die Memel oder an deren Mündung ins Kurischen Haff wird sie vielleicht schon gekommen sein, das liegt nicht gar so weit weg, obwohl es ja auch schon zum Ausland – nämlich zu Litauen – gehört.

Aber nach Frankreich oder England reisen … das liegt außerhalb ihres Vorstellungsvermögens. Viel zu teuer, außerdem: feindliche Länder! Völkerverständigung ist ja auch in den Lehrplänen gar kein Thema. Nein, dann lieber ein paar Tage nach Zoppot? Das ist mit der Eisenbahn von Braunsberg gut zu erreichen, noch nicht einmal 100 Kilometer Luftlinie. Allerdings: Für eine Dorfschullehrerin vielleicht doch ein etwas zu mondänes Ostseebad. Was würden die Dorfbewohner wohl darüber tratschen!

Am einfachsten zu erreichen ist die Frische Nehrung mit ihren beeindruckenden Sanddünen. Bei klarem Wetter ist die Nehrung deutlich am Horizont zu sehen, sie liegt gewissermaßen vor der dörflichen Haustür. Man kann mit dem Dampfer die sieben Kilometer hinübersetzen. Michel Meyers weißes Ausflugsschiff »Braunsberg« hält am Ausflugslokal »Pfahlbude«, dort, wo die Passarge ins Haff übergeht. Bis »Pfahlbude« sind es – auf dem Damm entlang – nur zwei Kilometer.

Warum nicht mal in dem bescheidenen Fischerdörfchen Narmeln auf der Nehrung ein Zimmer für zwei oder drei Nächte nehmen? Ah ja, mal die hohe Düne überqueren, die mit Kiefernwald bewachsen ist, um den Sandkörnern das Weiterwandern zu verwehren. Barfuß dann im feinen, weißen Sand bis an die Ostsee wandern, den strengen Haarknoten öffnen und vom Wind zerzausen lassen, und schließlich ein sommerliches Bad im weiten, kühlen Meer nehmen … Vielleicht würde man anschließend einen ausgiebigen Spaziergang am Nehrungsstrand machen und sogar Bernstein finden? Die Wellen branden unablässig an den Strand, und manchmal spülen sie ihre Schätze freigiebig für den aufmerksam Suchenden heran. Abends dann vom Fischer eine frisch geräucherte Flunder kaufen. Wie das duftet! Oder besser noch: Abends kann man wieder den Dampfer besteigen und die Flunder am häuslichen Küchentisch gemeinsam mit der Schwester verspeisen. In dem eigenen Bett zu schlafen ist eigentlich auch ganz schön. Tu Huus is doch tu Huus!

Ja, so eine Überfahrt mit der »Braunsberg« kostet nur ein paar Dittchen, und das kann sich wohl auch Fräulein Mohn leisten.

Josef steuert jetzt im Sommer mit der »Maria Regina« Tolkemit, Frauenburg, Elbing, Pillau, Königsberg und Rossitten an. Sein Kahn ist 1926 aus Eisen gebaut und mit 165 Tonnen und 120 Pferdestärken das stärkste Schiff des Ortes und übersteigt damit die dörfliche Norm. Ach herrje, was wurde damals spöttisch geredet im Kramladen oder auf der Dorfstraße! (Man hat gefälligst immer schön durchschnittlich zu sein! Bloß nicht auffallen! Lieber wegducken!) Das lustvolle Gerede ist inzwischen längst versiegt, abgeprallt an den Eisenwänden des Schiffes.

Josef kennt sich nicht nur im Frischen Haff aus, sondern auch im Kurischen Haff, er kennt die größeren und kleineren Orte an ihren Küsten. Tagelang ist er im Sommer unterwegs, und wenn er zurückerwartet wird, laufen Mariechen und Trudchen an die Passarge, um den Papa und den großen Bruder Otto willkommen zu heißen.

So haben die beiden Mädchen es auch heute gemacht, und nun gehen sie gemeinsam den kurzen Weg von der Anlegestelle nach Hause, Mariechen an der rechten Hand des Vaters, Trudchen an der linken. Otto bleibt noch an Bord. Er will in Ruhe auf den heimatlichen Fluss schauen, sich dabei eine Zigarette in den Mundwinkel schieben und dem Kreischen der Möwen lauschen. Es ist ja nicht immer leicht, gemeinsam mit dem Vater an Bord zu arbeiten, wenn man 16 Jahre alt ist und eigentlich gerne ein wenig die eigenen Flügel ausprobieren möchte.

Der Vater umarmt die Mutter. »Müde kehrt ein Wandersmann zurück«, lacht er. »Was gibt’s denn zu essen, Rosachen?«

Rosa hat eine gute Mahlzeit mit gekochtem Aal in schöner weißer Dillsoße zubereitet. Der Aal war noch vor wenigen Stunden ganz lebendig und schwamm munter und glitschig im Haff herum. Der Dill ist frisch aus dem Garten. Dazu gelbe mehlige Kartoffeln, nicht zu knapp. Etwas Köstlicheres kann es doch auf der ganzen Welt nicht geben!

Und da freut sich auch Otto, als er endlich mit Verspätung an den Küchentisch kommt und nach Rauch riecht. Die Mutter unterdrückt heute ihr Schimpfen, und so können alle ungestört zulangen, bis auf den Tellern nur noch die sauber abgelutschten Gräten zurückbleiben.

Am nächsten Morgen sagt der Vater beim Frühstück zu seinen beiden jüngsten Töchtern: »Mädchen, übermorgen fahre ich wieder los. Ein paar Tage danach werdet ihr mit Muttchen von Braunsberg mit dem Zug nach Königsberg reisen und dort zu mir an Bord kommen. Von dort geht es dann weiter bis zur Kurischen Nehrung, nach Rossitten.«

»Bis zur Kurischen Nehrung? So weit?« Die Mädchen staunen und freuen sich, bis zum Ende der Welt mit ihren Eltern reisen zu dürfen. So weit wird bestimmt kein anderes Kind während der Sommerferien aus dem Dorf herauskommen! Trudchen will vom Vater wissen, ob Rossitten wohl eine große Stadt sei. Vielleicht mit richtigen Bürgersteigen?

»Nein, Kindchen, Rossitten ist nur ein Fischerdorf von ungefähr 850 Einwohnern, ist also etwa zweimal so groß wie unser Dorf.« Na immerhin! Und Sommergäste soll es da geben, Leute, die dafür bezahlen, dort für ein paar Tage oder gar Wochen in einem Fremdenzimmer wohnen zu dürfen.

»Lieschen und Eva müssen zu Hause bleiben«, erklärt der Vater kauend. »Auf dem Schiff sind ja gar nicht genügend Kojen, und außerdem muss sich um das Haus und den Gemüsegarten gekümmert werden. Das Schwein, die Hühner und die Kaninchen sind zu versorgen, das Haus und die Wäsche zu reinigen … es wird Lieschen nicht langweilig werden. Und Eva muss ja auf dem Hof arbeiten.«

»Und Otto und Karl?«, fragt Trudchen und nimmt sich noch eine Scheibe Brot.

»Otto und Karl gehören zur Besatzung. Ihr Mädchen und die Mutter seid sozusagen meine Feriengäste an Bord.«

Na, das klingt doch gar nicht schlecht! Und das Ferienfrühstück schmeckt gleich noch ein bisschen besser.

Am Tag vor der Abreise wird die Kartoffelkiste an Bord aufgefüllt, Karotten aus dem Gemüsebeet gezogen und in der Passarge von der frischen Gartenerde gereinigt. Lieschen und die Mutter haben reichlich Klopse gebraten und Kuchen gebacken, was alles jetzt gebunkert werden kann.

Otto und Karl müssen vor der Fahrt alles an Bord auf Vordermann bringen. Laderaum reinigen, Deck scheuern, die Kojen in Ordnung bringen, die enge Kombüse und das messinggerahmte Bullauge putzen, die Fenster des Ruderhauses zum Glänzen bringen … Da kann man bei den ostpreußischen Sommertemperaturen ganz schön in Schweiß geraten. Zur Abkühlung mal ein Bad in der Passarge, dann noch schnell die Trinkwassertonne auffüllen …

Am nächsten Morgen steht die »Maria Regina« bereit wie eine fein geputzte Dame vor dem Ausgehen. Otto trägt seine blaue Schiffermütze auf den kurz rasierten dunklen Haaren und das lässt ihn in Karls Augen schon seemännisch erwachsen aussehen. Beneidenswert!

So, ihr Männer, nun an Bord und die Leinen los! Das Stückgut wartet in Frauenburg und will nach Königsberg gebracht werden!

Rosa steht mit ihren vier Töchtern auf dem Damm und winkt der »Maria Regina« hinterher, die jetzt langsam an den letzten Häusern in Richtung »Pfahlbude« tuckert, wo sie dann – sobald sie das Ausflugslokal passiert hat – in das weite Haff einlaufen wird, Kurs Südwest, Richtung Frauenburg. Na denn, ihr Lieben: Ahoi und gute Fahrt! Und habt immer einen günstigen Wind im Rücken!

Einige Tage später lässt sich Rosa mit ihren beiden jüngsten Töchtern nach Braunsberg zum Bahnhof bringen. Von Nachbarn Fritz, der Pferd und Wagen besitzt (und leider auch den Misthaufen vor dem Fenster).

»So, Kinder, nun aber einsteigen in den grünen Personenwagen der Reichsbahn und aus dem Fenster schauen, damit ihr sehen könnt, wie schön eure ostpreußische Heimat an euch vorbeifliegt!«

Wiesen und Wälder stehen in saftigem Grün, auf den gelben Kornfeldern liegt die Sonne und strahlt herüber durch das Eisenbahnfenster bis in die offenen Zugabteile. Ostpreußen ist reich an Kornfeldern, das können die Mädchen bezeugen, die ihre Nasen am Eisenbahnfenster plattdrücken.

Nach anderthalb Stunden Fahrt erreicht der Zug Königsberg. So ein großer Bahnhof! Es riecht nach Rauch, nach Kohlen und nach Eisen. Und wie viele Menschen sich hier auf den Bahnsteigen tummeln! Alle scheinen eilig unterwegs zu sein, mit Koffern und Taschen in der Hand. Manchmal werden die Reisenden von einem Gepäckträger mit Schirmmütze zu den Bahnsteigen oder zum Ausgang begleitet. Das sind doch bestimmt so viele Menschen wie es Einwohner in Neu-Passarge gibt!

Josef holt seine drei Mädels vom Bahnsteig ab und geht mit ihnen durch die moderne Bahnhofshalle. Trudchen an seiner linken Hand, Mariechen an der rechten. Neben den Wartesälen der ersten und der zweiten Klasse gibt es sogar eine Buchhandlung. Trudchen lässt die Hand des Vaters los und läuft zum großen Schaufenster. Bestimmt gibt es hier in der Stadt auch Bücher für Kinder? Aber so aufmerksam sie auch durch die Schaufensterscheibe blickt, von Kinderbüchern keine Spur. Auf dem Einband eines dicken Buches buchstabiert sie: »R a s s e n k u n d e.« Was mag das bedeuten? Sie kennt Heimatkunde aus der Schule, und auch Pflanzenkunde hat Fräulein Mohn schon einmal erwähnt … Ist nun etwa R a s s e n kunde auch ein Schulfach, mit dem sich Schüler aus Neu-Passarge bald abplagen müssen? »Papa, wat is R a s s e n k u n d e?«, fragt sie den Vater, der mit Mariechen hinter ihr steht.

»Dat is … Ach, dat is nich wichtig. Nu komm man weiter!«

Trudchen würde gerne so ein großes Buchgeschäft einmal von innen sehen, aber nun drängelt auch noch Mariechen: »Nu komm endlich, Trudchen!«

Na ja, wahrscheinlich ist das dicke Buch nur etwas für ganz kluge Leute, für Professoren, die hier an der Universität lehren. Und zwei kleine Mädchen aus Neu-Passarge werden sich mit dem Lehrstoff einer Universität nie beschäftigen müssen.

Von Bücherverbrennungen haben die Kinder noch nichts gehört, sonst hätten sie sich gewundert, dass es überhaupt noch so viele Bücher zu kaufen gibt. Erst vor einigen Jahren sind hier in Königsberg vor der Albertus-Universität ganze Bücherberge einfach ins Feuer geworfen worden. Und das hatte nicht einmal Immanuel Kant – der berühmte Gelehrte der Universität – verhindern können. Aber der Philosoph ist ja auch schon seit über 230 Jahren mausetot. Auf jeden Fall hätten ihn die brennenden Bücher vorzeitig in sein Grab im Schatten des Doms gebracht, denn so ein kluger Philosoph, der liebt ja die Bücher.