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Oswald Kollreider – Maler, Grafiker, Reisender Stets auf der Suche nach neuen Eindrücken Oswald Kollreider (1922–2017), in St. Oswald geboren, Stilvertreter der expressiven figurativen Kunst, gilt als eine Institution in der österreichischen Moderne der Nachkriegszeit. Er beherrschte früh die Technik des Sgraffito für die künstlerische Gestaltung von Fassaden und zählt somit zu den ersten Vertreter*innen dieser Kunstform im Tiroler Raum. Genauso ausdrucksvoll wie seine Kunst gestaltete Kollreider auch sein Leben. Seine Karriere begann in den 1950er-Jahren im Ruhrgebiet und entfachte in ihm eine zeitlebens umfassende Reisetätigkeit, die ihn unter anderem auf Expeditionen in die Region des Himalayas und nach Afrika führte. Seine Eindrücke aus aller Welt – festgehalten in Öl, Tempera und Aquarell – laden zum Mitreisen ein. Alltagsstudien und Porträts aus dem Arbeiter*innen- und Bäuer*innenmilieu, Landschaftsskizzen und religiöse Motive: Oswald Kollreiders Werke sind kontrastreich, farbgebend, abstrahierend – und lassen sich keinem singulären Narrativ unterordnen. Eine unüberschaubare Anzahl an öffentlichen nationalen und internationalen Aufträgen unterstreicht seine individuelle Positionierung als Maler und Grafiker. Ein vielschichtiger Künstler, dessen Lebenswerk es zu entdecken gilt Kollreiders Lebenswerk, das anlässlich seines 100. Geburtstag in einer Monografie erscheint, ist keine Retrospektive, sondern eine Möglichkeit: verschiedene Perspektiven und Einblicke in das berufliche und private Leben des Künstlers zu gewinnen. Der gleichnamige Germanist und Nachlassverwalter Oswald Leonhard Kollreider beginnt die Monografie mit persönlichen Notationen und Ansichten. Durch den Hauptteil begleitet die Kunsthistorikerin Eleonora Bliem-Scolari mit Beschreibungen von Kollreiders Gesamtwerk. Private Einblicke aus dem Familienbereich des Künstlers, gemischt mit einem distanzierteren, auf Recherchen basierenden Blick führen durch die biografischen und kunsthistorischen Stationen im Leben des Malers. In einem Beitrag widmet sich Leo Andergassen dem sakralen Werk Kollreiders, das in seinem Schaffen einen besonderen Stellenwert einnimmt. Zahlreiche Abbildungen vollenden diese bibliophile Hommage an Professor Oswald Kollreider.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Oswald Leonhard KollreiderDie zwei Türen in eine Welt, Notizen aus dem Nachlass
Eleonora Bliem-Scolari Begegnung
Stationen
Leo AndergassenKollreider sakral
Kurzbiografie
Mitgliedschaften
Auszeichnungen
Ausstellungen
Werke im öffentlichen Raum
Vor dem Elternhaus in St. Oswald, 1950er-Jahre
Die Geschwister Theresia und Oswald mit ihrer Mutter
Der Künstler sperrt die zwei Türen auf, die sein Atelier von der Außenwelt trennen. Es braucht Geschick, um die neue Welt betreten zu können. Die äußere Tür öffnet nach innen, die innere nach außen. Das unterschiedliche Schlüsselpaar zu diesem Raum gibt er ungern aus der Hand, sperrt persönlich auf und versperrt die Welt wieder, obwohl in seinem Elternhaus und all den Nachbarhäusern die Haustür niemals versperrt war. Selbst die Schwalben flogen durch eine Öffnung über der Haustür in den breiten Hausgang – die Lawe –, um dort ihr Nest zu bauen, zu brüten und die jungen Schwalben aufzuziehen, bis sie flügge waren. Oswald Kollreider erlebte sein Heranwachsen nicht wesentlich anders.
Als jüngstes Kind war er besonders im Blickpunkt seiner Mutter. Die um zwei Jahre ältere Schwester Theresia hatte zudem einen mütterlichen Auftrag, auf den Oswald zu schauen. Das Leben schien diesen Auftrag zu verstärken, denn die ältere Schwester Maria starb mit zehn Jahren, Oswalds ältester Bruder Johann verunglückte mit 23 Jahren. Der Schrecken des Zweiten Weltkriegs, die schwere Kriegsverletzung von Oswald zusammen mit den familiären Verlusten machen es verständlich, dass die beiden Geschwister ein besonderes Schutzbedürfnis und eine starke Haltung des Beschützens entwickeln. Theresia hat dies zu ihrer Lebensaufgabe gemacht; eine innige Beziehung zwischen zwei Geschwistern, die uns bei Künstlern immer wieder begegnet. »Mein geliebtes Schwesterherz« ist die Anrede in unzähligen Briefen an seine Schwester und das geliebte Schwesterherz hat sich bei Vernissagen immer neben ihren Bruder gestellt, so als wäre sie die Künstlerin oder die Ehefrau des Künstlers. Im langen gemeinsamen Leben übernahm Theresia auch das Erzählen von Oswalds Reiseerlebnissen, nur in manchen Passagen der Erzählung griff er ein und meinte, so und so sei es gewesen, schließlich habe er und nur er dies so erlebt. Die Schwester dokumentierte akribisch die Reisen ihres Bruders. Auf einer Weltkarte platzierte sie kleine Fähnchen – eine Vorwegnahme der digitalen Standortbestimmung –, auf der die aktuelle Reise nachgezeichnet worden war.
Sein Atelier, der zentrale Raum seines künstlerischen Schaffens hinter den zwei Türen, ist ein Raum mit Fenstern nach Süden. Bei Sonnenschein füllt er sich mit hellem Licht, wirkt fast sakral. Als Arbeitstisch steht ein Möbelstück mit Schubladen direkt am Fenster, darauf wird geschrieben, gezeichnet und gerahmt. Oswald Kollreider verwendet mit wenigen Ausnahmen immer dieselbe Technik, seine Bilder zu rahmen. Er zieht auf einer Pressspanplatte das Bild mit einem unterlegten Passepartout auf, fixiert die Glasscheibe mit einem weißen Papierklebestreifen, den nässt er mit einem Schwamm und zieht ihn vorsichtig und sehr genau auf die Scheibe und über den Plattenrand. Abschließend drückt er ihn mit einem Baumwolltuch fest. So entsteht ein neutraler Rahmen, der das Bild in den Mittelpunkt rückt. Das Rahmen der Bilder für eine Ausstellung war mit viel Arbeit verbunden, ein großes Gewicht ging durch die Hand des Künstlers. Immer wieder betonte er, wie viel er gearbeitet hatte. Das bezieht sich nicht nur auf sein künstlerisches Schaffen, sondern auch auf die schwere Arbeit des Rahmens der Bilder. In den Schubladen des Arbeitstisches bewahrt er seine Bilder wie in einer Schatztruhe auf.
Als zweites wichtiges Möbel steht eine Staffelei im Raum. Sie ist aus massivem Holz und ermöglicht ein freies Arbeiten, vor allem in den am meisten verwendeten Formaten 70 x 50 bzw. 100 x 70 cm. An der Westwand steht ein Ausstellungsmöbel mit raumgroßen Seiten aus Holztafeln. Hier können Interessierte die Bilder anschauen und wie in einem Buch blättern. Der Rest des Raumes ist gefüllt mit gerahmten Bildern, einer Couch, Stapeln von Druckwerken, Unüberschaubarem. An der Wand hängt ein verbrannter Christustorso, den er aus dem Brandschutt einer rumänischen Kapelle geborgen hat, dazu eine Zeichnung desselben. Zahlreiche Urkunden dokumentieren daneben die Auszeichnungen des Malers.
Und wo immer Oswald Kollreider sich aufhält, hat er ein Kofferradio bei sich. Im Atelier steht es am Fensterbrett. Ein Radio geht immer mit auf Reisen, zuhause gibt es mehrere dieser Geräte. Es sind erstklassige Modelle mit Batterien betrieben; Weltradios, die jeden Sender empfangen können. Im Atelier hört er häufig Opern- und Operettenmusik. Er singt die Lieder durchaus mit Überzeugung und mit Inbrunst im Opernton, oft zusammen mit seiner Schwester: »Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist …«, »Ach, ich hab sie ja nur auf die Schulter geküsst …«, »Wunderbar, wunderbar, diese Nacht ist sternenklar …« Das Welt-radio ermöglicht ihm die Verbindung zur kleinen lokalen und der großen weiten Welt; für einen Menschen, der ständig unterwegs ist, ein unverzichtbarer Alltagsgegenstand.
Das Reisen prägt Oswald Kollreiders Leben und Werk: Dazu gehören intensive Vorbereitungen, Materialbeschaffung – Zeichen- und Malpapier, Aquarell- und Temperafarben –, alles zusammen sehr schwer und kaum zu transportieren. Der Maler wählt deshalb oft Reisebegleiter aus seinem persönlichen Umfeld, die ihn als Träger, Chauffeure und Assistenten bei der Arbeit unterstützen. Zu den Vorbereitungen gehört auch das Impfen, besonders für die Reisen in die Tropen, dokumentiert in neun Impfpässen, darin 82 verzeichnete Impfungen durch die Amtsärzte in Lienz, Kitzbühel, Innsbruck, Guatemala und auf dem Flughafen von Singapur.
In die Welt aufgebrochen ist Kollreider mit seiner in der Kindheit geprägten Wahrnehmung. Motive, Farben und Licht hat er in St. Oswald eingesaugt. Vom Weiler St. Oswald mit den 23 Häusern sieht man weit ins Land hinein, die kürzeste Sonnenscheindauer beträgt selbst in langen Wintertagen sechs Stunden. Diesem Licht konnte er sich nicht entziehen. Licht und Farbe in allen Facetten spiegeln auch sein Inneres, seine Zerrissenheit als dieses Kind einer kleinen Welt, aber immer auch hinausgezogen in die weite Welt, von der er zurückkehrt und im Halt seiner Kindheit ankommt. Dort ist er umgeben von Alltagsreligion – religiöse Praktiken und Rituale bestimmen das dörfliche Leben –, von Pflichtbewusstsein und von einem feinen Geflecht an familiärer, dörflicher Gemeinschaft. Unmittelbar nach einer Reise besucht er als festes Ritual seine Brüder mit ihren Familien und schildert ausführlich seine Erlebnisse. Der Bericht enthält die künstlerischen Erfolge, Erlebtes in einem neuen Land, die Begegnung mit fremden Menschen, Kontakte, eine Fülle von Reiseabenteuern und schier unglaubliche Geschichten. Alle, die beim Erzählen rund um den Tisch sitzen, sind beeindruckt. Oswald hat auch für jeden ein Geschenk dabei – eine Auflistung der Mitbringsel findet sich im dokumentarischen Nachlass. Über seine Familie hinaus berichtet er von jeder größeren Reise in Form einer Ausstellung seiner unterwegs entstandenen Bilder.
Im Gegensatz zur starken familiären Bindung setzt er sich der Flüchtigkeit einer oberflächlich scheinenden Gesellschaft aus, die offen ist für die Regeln der Form, der Verehrung, der Schmeicheleien und Verlockungen. Die Anerkennung war ihm wichtig. Sein Auftreten dabei war immer elegant, für jede Ausstellung ein neues Outfit. Laut einer Übersicht der Ausgaben für eine Ausstellung in Lienz hat er den größten Geldbetrag für Anzug, Hemd, Krawatte und Schuhe ausgegeben. Auf Fotos von Veranstaltungen sieht man seine Gefühle des Stolzes und der Genugtuung, als Künstler gesehen, verehrt und auch geliebt zu sein.
Das Nebeneinander zweier Welten – einer kleinen und einer weiten – zwingt Kollreider zu einem rastlosen Leben. Erst im Alter nach einer schweren Operation und einem Unfall lässt er sich nieder. Er ist freundlich, anteilnehmend, arbeitet intensiv an seinem Gesunden, malt täglich einige kleine Aquarelle, zeichnet, greift Motive auf, die er alle schon ein Leben lang dargestellt hat. Er ist zurückgekommen, der Kreis hat sich geschlossen.
Geblieben ist eine kaum überschaubare Sammlung von Zeichnungen, von Aquarell- und Temperabildern. Ein Künstlerleben verdichtet in einer kleinen Wohnung mit drei Räumen – ein Werk, das in der ganzen Welt verbreitet ist. Bilder, Zeichnungen, Fotos von Bildern, private Fotos, Einladungskarten zu Ausstellungen, Drucke, Ausstellungskritiken, Briefe, Fotoalben, Tagebuchkalender. Ein erfülltes Leben eines Künstlers, der mit 95 Jahren verstorben ist, der die letzten 19 Jahre seines Lebens aus gesundheitlichen Gründen keine großen Arbeiten machen konnte. »Einmal wird’s schon gehen«, schreibt er mit der linken Hand in einem seiner Tagebücher, um sich selbst Mut zu machen. An schlechten Tagen reicht es nur für »Prof. Oswald Kollreider«, eine Signatur, »Ohne Fleiß kein Preis« – an guten Tagen entstehen Skizzen von Menschen in unterschiedlichen Posen. »Als Zeichen meiner Pietät und Dankbarkeit zeichne ich jetzt ein Golgotha: Ganz gut geworden. Jetzt zeichne ich noch eine Auferstehung.« Nach langen Wochen des Zeichnens schreibt er wieder seine Alltagschronik: Aufstehzeit, Schlafqualität, Wetter, Frühstück, Aufstehen der geliebten Schwester, Telefonate, Besuche …
Zeichnen und Aquarellieren als tägliche Übung, als Rücknahme seiner überbordenden Ausdruckskraft bis hin zum Strich, der Strich, der sein Lebenselixier war, die Zeichnung, die ihn charakterisiert, die seine persönliche Handschrift ist.
Der Künstler hat sein Lebenswerk seinen Nichten und Neffen hinterlassen, die die Galerie Oswald Kollreider GesbR gegründet haben. Wir arbeiten als Nachlassverantwortliche an einer Bestandsaufnahme. Wir fotografieren die Bilder, stellen sie in eine Datenbank. Fragen uns, wie umgehen mit Künstlernachlässen, wie das Werk verantwortungsvoll pflegen? Wir recherchieren, versuchen an Gedrucktes heranzukommen, führen Gespräche mit Galeristinnen und Kunsthistorikerinnen. Wir hören und lesen: Wichtig seien vor allem Ausstellungen, Publikationen, Schenkungen an Museen. So kann der Name des Künstlers präsent bleiben.
Nun erscheint diese Monografie über Oswald Kollreider. Es ist das dritte Buch über den Künstler. Dank der sorgfältigen Recherche und der genauen Analyse von Dr. Eleonora Bliem-Scolari und Dr. Leo Andergassen öffnet es eine dritte, neue Tür zu Leben und Werk des Malers Prof. Oswald Kollreider.
Oswald Kollreider beim Studieren eines Bildbandes
Die Aufnahme entstand 1961 in Leverkusen/Deutschland.
Fragt mich der Klugenach meinen Gesichtensag ich ihm nichts sonstals Farben und Licht— Josef Pedarnig1
Wenn im Lebensrhythmus eines Menschen die bildenden Künste von immanenter Bedeutung sind, dann richten sich die Blickpunkte mit gewissen Ansprüchen auf schöpferische Ausdrucksformen. Mit zunehmender Aufmerksamkeit ist man zeitlebens darum bemüht, die Arbeit der bildenden Künstlerinnen und Künstler in einem ideell strukturierten Gefüge einzureihen, um sie mit gewonnener Erfahrung, emotionaler Zuneigung, einem impulsiven Meinungsbild und aus Interesse entscheidend auszulegen. Die spontane Empfindung – Zustimmung oder Abneigung – beim Anblick eines Kunstwerks beruht jedenfalls auf diesem Erfahrungsgrad und dem Wissen um den zeitlichen Kontext. Wie überaus interessant ist es doch, sich der Lebensgliederung eines Kunstschaffenden zu nähern, dessen Persönlichkeit nun weit weniger offensichtlich erfahren wird als dessen Vergangenheit sie vorzulegen glaubt.
Aus der Perspektive der zeitweilig analytischen Betrachtung erlaubt die Sichtweise einerseits den Entfaltungsraum des Künstlers zu entdecken und andererseits den Inhalten verpflichtet, die Einordnung des Werkbestands zu formulieren.
Die Begegnung mit dem Maler und Grafiker Oswald Kollreider findet in einem erweiterten Raum statt, in dem die reflektierende, zeitgenössische Betrachtung Distanz einfordert bzw. die spannende Auseinandersetzung mit seiner Arbeit erst ermöglicht. Karl Bühler beschreibt in seinem 1922 verfassten Handbuch für Psychologie die so bezeichnete optische Freiheit eines Malers und meint: »Der Maler ist in Wirklichkeit königlich frei und Schöpfer, weil er seinen Klecksen Bildwerte verleiht in autonomer Prägungsmacht. Autonomie ist nicht Gesetzlosigkeit, die Prägungen des Malers sind systembedingt und unterstehen der Logik seiner und unserer Wahrnehmungsstrukturen.«2 Existenzielle Herausforderungen und differenzierte Lebensumstände ermöglichen bei Oswald Kollreider, wie es im Werdegang von nicht wenigen Kunstschaffenden verzeichnet ist, jenes autonome Profil zu erkennen, das im Grunde genommen als Resultat von Kunstwollen und künstlerischer Kompensation auffällt. Das Kunsterkennen und das Kunstwollen zählen zu den wichtigsten Parametern einer kultursozialisierten Gesellschaft. Die stilistische Einreihung obliegt der Künstlerpersönlichkeit, die jeweilige Zuordnung bzw. die Interpretation dessen jedoch dem Visavis des bildnerischen Ergebnisses.
Der erweiterte Schaffensprozess Oswald Kollreiders als Maler umfasst rund fünf Jahrzehnte, in denen er sich stilistisch seit dem Beginn der 1950er-Jahre konsequent einer als eigenständig definierbaren, expressiv figurativen Bildsprache verpflichtet zeigt.
Wie sehr sollen im Beschreibungsprozess jene zum Teil sehr persönlich eingebrachten schriftlichen Kommentierungen berücksichtigt werden, die weitschweifig niedergeschrieben, inhaltlich trotzdem markant autobiografischen Charakter besitzen?
Die Medien Tageszeitung und Monografie erleben dabei eine ähnliche Frequenz an Möglichkeiten, eine kunsthistorische Zuordnung vorzunehmen.
Sie geht gleichzeitig und sicher mit dem Reifeprozess des Malers einher. Der Aspekt der freundschaftlichen Verbundenheit mit dem Künstler ist dabei ein nicht zu unterschätzender Beurteilungsfaktor. Dieser kann nicht selten eine mehr oder weniger förderliche parteiische Sichtweise mit sich bringen. Als Beispiel dafür können Zeitungsartikel und vereinzelte Katalogtexte des aus Kartitsch in Osttirol stammenden Gymnasialprofessors Josef Sint genannt werden. Josef Sint schreibt gut zwei Jahrzehnte des Öfteren über diverse Ausstellungen und Jubiläen und verfolgt entsprechend den Werdegang der Künstlerpersönlichkeit Oswald Kollreider. Sein Enthusiasmus reicht bis zu den Absichten, diesen in einer Monografie, einem »Opus Magnum« nachzuzeichnen.3
Des Weiteren ist mit einigem erzählerischen Talent die Diplomarbeit des Kunsthistorikers Hans-Peter Ofer als erste umfassendere Vita über den Künstler verfasst, die anlässlich des 75. Geburtstags des Malers 1997 publiziert wird.4 Ofer und der Künstler kommen übrigens über die Arbeit im Aufbauwerk der Jugend auf Schloss Lengberg bei Nikolsdorf und im Schwedenhaus in Innsbruck in Kontakt. Sint und Ofer sind Zeitzeugen, die ihre biografischen Quellen aus unmittelbaren Zwiegesprächen mit dem Kunstschaffenden schöpfen können und damit auf Augenhöhe Zugang zu Authentischem besitzen.
Nur als marginales, aber erstaunliches (tendenziöses) Lokal- und Zeitbeispiel könnte man den Kurztext zur Biografie Oswald Kollreiders anführen, der anlässlich einer Gruppenausstellung 1978 in der Osttiroler Volksbank in Lienz dem Einladungsfolder beigelegt worden ist.
Darin werden u.a. die Viten der Kunstschaffenden Paul Flora, Othmar Eder, Wilfried Kirschl, Franz Lettner oder Reiner Schiestl skizziert.
»[Oswald Kollreider] … Besuchte die Akademie der bildenden Künste in Wien bei Prof. Sergius Pauser und Herbert Pöckl [sic!] in Wien. Lebt und arbeitet seit 1951 in Strassen/ Osttirol. Mehr über unseren ›Lokalmatador‹ zu schreiben, wäre überflüssig.«5 [sic!]
Das künstlerische Lebenswerk Oswald Kollreiders ist zeitlebens eng mit seiner Präsenz im kirchlich-sozialen Umfeld und dem Wirken in diesen Institutionen verknüpft. 1979 wird ihm in Anbetracht der Würdigung seiner Leistungen »zum Wohl und Wachstum der katholischen Kirche« das Ritterkreuz des päpstlichen Silvesterordens überreicht.
In Wertschätzung seines Engagements zeugen Ehrenzeichen, Ehrenbürgerschaften und hohe Auszeichnungen für Verdienste um die Republik Österreich – 1978 das Silberne Ehrenkreuz und 1987 der Berufstitel Professor – für Kollreiders ehrenhafte Gesinnung. Im Jahr zuvor wird der Künstler vom Land Tirol mit der Verleihung der Verdienstmedaille des Landes Tirol und zwei Jahre vor seinem Tod mit dem Verdienstkreuz des Landes Tirol gewürdigt.
Pfingstrosen, 1950
Ist eigentlich eine drängend neutrale Sichtweise auf das Werkschaffen Oswald Kollreiders überhaupt möglich, wenn wegen des überliefert gesellschaftsaffinen und auffallend polarisierenden Naturells dieser Persönlichkeit längst der Weg vorgelegt ist?
Ein Gegenentwurf zu vorherrschenden Meinungskonstellationen ist jedenfalls weniger zielführend als einen weiteren Blickwinkel auf den Schaffensprozess des Malers und Grafikers zuzulassen bzw. ihn vorzunehmen.
Die fatalen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren und die restriktive Sparpolitik der christlich-sozialen Tiroler Landesregierung führen zu einem beinahe völligen Stillstand der privaten und öffentlichen Bautätigkeit und als Folgewirkung zu massiven Einbußen in der Einkommenssituation aller Bevölkerungsschichten im Land. Im Bezirk Lienz verursacht der nahezu ungebremste Preisverfall landwirtschaftlicher Produkte Erwerbslosigkeit und Zwangsversteigerungen von zahlreichen Osttiroler Bauernhöfen und Agrarflächen. Nicht von ungefähr provozieren die wirtschaftlich schwierige Ausgangslage und die Not der Bevölkerung die politische Radikalisierung in beiden Lagern, die bis zum Anschluss Österreichs an das »Dritte Reich« im März 1938 und den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führen soll.6
Wie herausfordernd kann ein Leben beginnen und wie schicksalshaft kann sich ein Lebensbaustein nach dem anderen anreihen bis überlagern, um damit schlussendlich das Fundament für das Lebenswerk vorzubereiten?
Johann Kollreider, 1946
Maria Kollreider, 1946
Dessen Homogenität wird bei Oswald Kollreider durch großfamiliäre Strukturen beeinflusst, die besonders in der zeithistorisch prekären Situation der Zwischen- und Nachkriegszeit in Osttirol für ihn zugleich jene überlebensnotwendige Stabilität mit sich bringen.
Geboren wird er am 27. Januar 1922 als jüngster Sohn der Bergbauern Maria (geb. Klammer, 1884–1969) und Johann Kollreider (1886–1969) am heimatlichen Hof in St. Oswald im Osttiroler Hochpustertal. Der kleine Ort St. Oswald gehört zur Gemeinde Kartitsch und liegt als gewachsenes Zeilendorf auf rund 1360 m Seehöhe in den Gailtaler Alpen in sonnenexponierter Lage hin orientiert zum Pustertal. Weithin sichtbar ist die Filialkirche St. Oswald, deren bauhistorische Quellenverweise die Gründungsweihe des Vorgängerbaus zu Ehren u. a. der Hl. Dreifaltigkeit, der hl. Mutter Gottes und des hl. Oswald (nach dem König von England) im Jahr 1360 nennen.7 Von Bedeutung ist der Umstand, dass der Name Kollreider eng mit der institutionellen Aufgabe einer Mesner-Familie verbunden ist.
Maria Theresia, »Moidele«, um 1918
Die Schwester Oswalds ist im Kindesalter verstorben.
Die Überantwortung durch die Pfarrgemeinde findet bereits Mitte des 17. Jahrhunderts ihre urkundliche Erwähnung und setzt übrigens mit der Tradition der Wahl des Vornamens Oswald bis in die Gegenwart ein weiteres Zeichen. Fünf Geschwister sind im Mesnerhaus bereits vor Oswald zur Welt gekommen und prägen nicht unwesentlich den Ehrgeiz und vielleicht auch die Anpassungsfähigkeit des späteren Kunstschaffenden: Johann (1912–1935), Peter (1913–2001), Anton (1914–1999), Maria »Moidele« (1915–1926) und Theresia »Thresl« (1920–2021). Das sehr karge und spartanische Leben einer Bergbauernfamilie im Rhythmus der Jahreszeiten festigt im Grunde genommen erst durch ihren Zusammenhalt das Stehvermögen der gesamten Großfamilie. Die tief im Dorfverband verwurzelte Religiosität und eine streng exerzierte Glaubensauslegung beeinflussen zudem nicht unerheblich das Alltagsgeschehen der Menschen.
Gerade ein tragisches Ereignis um die Lebensgeschichte der älteren Schwester Maria, dem Moidele, und die Konsequenzen, das dieses mit sich brachte, führen für den kleinen Buben Oswald zu nicht unwesentlichen Lebensverbindungen, die bis ins spätere Erwachsenenalter reichen werden. Unglückliche Umstände beim Spielen mit den Nachbarskindern führen bei Maria, die noch kein Jahr alt ist und während der Feldarbeit der Eltern von den Geschwistern betreut wird, zu nachhaltigen zerebralen Verletzungen. Trotz Krankenhausaufenthalten und Heilungsversuchen verstirbt das Mädchen aufgrund der eintretenden Entwicklungsverzögerung und geistigen Beeinträchtigung einige Jahre später
im Alter von zehn Jahren. In Anbetracht der Sorge um das jüngste Kind der Bauersfrau während der Feldarbeit soll Oswald in der Obhut der um zwei Jahre älteren Schwester Theresia kein ähnliches Schicksal erfahren.8 Die festen Bande der Geschwister, die bis zum Lebensende anhalten, sind ausgewiesener Teil beider Biografien.
»Es geht dem Künstler wie jedem geistig Produzierenden. Es steht ihm keine Ausdrucksweise zu Gebote, die nicht dem Schicksale anheimfallen könnte, falsch gedeutet oder überhaupt nicht verstanden zu werden.«9 Eine Überlegung des Kunsttheoretikers Conrad Fiedler, die in einer zeitübergreifend wirkenden Sammlung von Abhandlungen aus dem Jahr 1876 nachzulesen ist.
Ein Großteil der veröffentlichten biografischen Notizen aus dem Werdegang – der Anfangszeit der schulischen Ausbildung bzw. der weiteren Abschnitte des Erwachsenwerdens – geht auf aussagekräftige Mitteilungen Oswald Kollreiders selbst zurück. Angelegt als Künstlergespräche für Textbeiträge, während Interviewsituationen, Ausstellungseröffnungen oder im Rahmen von Vortragsreihen über seine Expeditions- und Reiseerlebnisse ergeben interessante Zusammenfassungen, die teilweise emotional gestaltete Einblicke gestatten.10
Vielleicht ist es Oswald Kollreiders anpassungsfähigem Gemeinschaftsbedürfnis geschuldet, dass sein Werdegang zu einem anerkannten Kunstschaffenden durch enge Kontakte zu Familien aus dem industriellen Bürgertum oder aus Wissenschaft und Forschung unterstützt wird und ihm wie selbstverständlich Freiräume als Künstler ermöglichen. Trotz lebensbedrohender Erfahrungen in der Kriegszeit und den mit Armut geprägten Abschnitten als Akademiestudent in Wien wird ihm im Lauf der Jahrzehnte jenes unruhige Leben durch deren Engagement vielfach erleichtert. Die freundschaftliche Verbundenheit, Wertschätzung und schließlich die Erinnerungskultur überspannen dabei viele Jahrzehnte.
Beinahe jede Künstlerbiografie beginnt mit einer als Anekdote angelegten Erzählung, die über den ursächlichen Beweggrund der künstlerischen Tätigkeit informieren und aufklären soll und damit nicht unwesentliche Wertigkeit besitzt. Die Schulzeit scheint so auch bei Oswald Kollreider prädestiniert dafür gewesen zu sein, vermutlich so erfahrene frühe Unbilden des Lebens auszuschmücken oder sie sogar einzufordern.
Anlässlich der Ausstellungseröffnung zum 60. Geburtstag des Künstlers 1982 in der Lienzer Sparkasse erscheint unmittelbar darauffolgend in der regionalen führenden Wochen-zeitung »Osttiroler Bote« eine bodenständige Rezension zum Eröffnungsgeschehen. In dieser Kunstvermittlung liest man auch ausführlich über den Werdegang von »Ossi«.
Theresia Kollreider, 1956
Blumig anekdotenhaft wird über die Volksschulzeit in Kartitsch berichtet und seine weiterführende Lehre als Maler und Anstreicher bei Malermeister Josef Scherzer in Sillian. Ein Gewerbe allemal, das nicht verwunderlich bei Kunstschaffenden dieser Jahrzehnte vielfach gewählt wurde. Der Künstler wird zitiert: »Zum Zeitvertreib hat er schon damals auf einer Schiefertafel gezeichnet. In der Volksschule bekam er im Zeichnen in den ersten Jahren aber immer einen Dreier. Schuldirektor [Franz] Föger war zwar ein hervorragender Lehrer, aber er [der Lehrer!] konnte einfach nicht zeichnen. […] Kollreider war mit seinem Zeichentalent […] natürlich weit hinaus […], was bei den Mitschülern den Vorwurf erweckte, er kann alles tun, und trotzdem die Benotung drei vom Lehrer eintrug.«11 In ähnlich ausgetragener Erinnerung wird diese Geschichte um die Benotung 25 Jahre später vom Künstler in einem Radio-interview nochmals untermauert.12
Tatsächlich gestatten die Schulnachrichten Oswald Kollreiders aber eine völlig andere Sicht auf die Situation: mit dem Eintritt in die Allgemeine Volksschule in Kartitsch im Jahr 1928 und in den acht folgenden Schuljahren bis 1936 wird er im Fach Zeichnen immer mit Sehr gut beurteilt. Eher beanstandet wird in den ersten Semestern sehr wohl die »äußere Form der Arbeiten«, wobei seine Schulnoten durchwegs sehr positiv ausfielen. Mit den zwei Jahren an der Ländlichen Fortbildungsschule, die damals ebenfalls in Kartitsch situiert ist und einer Berufsschule gleichkommt, endet für den jungen Mann im April 1939 die Schulpflicht.13
Nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland 1938 wird in Österreich ab 1939 mit der obligatorischen Mitgliedschaft der jungen Burschen und Mädchen zur Jugendorganisation der NSDAP, der Hitlerjugend bzw. dem Bund Deutscher Mädel, zwischen deren 14. und 18. Lebensjahr eine vormilitärische Ausbildung vorgeschrieben.
Theresia und Oswald am Hof in St. Oswald, 1940er-Jahre
Oswald bei der Heuarbeit mit seinem Vater, Juli 1943 Wenige Wochen später wird er während eines Gefechts an der Ostfront schwer verletzt.
Nach den Erzählungen Kollreiders werden ihm die sonntäglich abgehaltenen Versammlungen der Kartitscher Jugend, deren Teilnahme ebenso verpflichtend ist, zum Verhängnis: als tiefreligiöser Katholik und Sohn des Mesners entscheidet sich der Ministrant, vorrangig den Sonntagsgottesdiensten beizuwohnen. Das spätere unpünktliche Erscheinen wird ihm als »verweigerte Teilnahme« angelastet, woraufhin er strafsanktioniert und Ende 1940/Anfang 1941 für ein Jahr zum »Reichsarbeitsdienst« nach Frankreich und Belgien eingezogen wird. Ganz im Sinn der nationalsozialistischen Erziehungsdoktrin müssen übrigens alle jungen Menschen zwischen ihrem 17. und 25. Lebensjahr diesen sechsmonatigen Arbeitsdiensten verpflichtend nachkommen.
Faktenorientiertere und erheblich aufschlussreichere Informationen zu dieser Ausnahmezeit Kollreiders gestatten Nachforschungen in den Personalakten des Bundesarchivs in Berlin.14 Die Spuren des 19-Jährigen während der Kriegszeit finden sich erstmals Ende März 1941 mit einem Hinweis auf seinen Aufenthalt in einem Lazarett in Cambrai in Nordfrankreich wieder. Von dort wird er nach dem Auskurieren einer Grippe Mitte April als »dienstfähig« zur »Truppe« in das Arbeitslager rückgestellt. Erst im Oktober 1941 erfolgt die definitive Einberufung Oswald Kollreiders zum Gefreiten der deutschen Wehrmacht. Mit der Einheit des »2. Stammkompanie Gebirgsjäger-Ersatz-Regiments 139«, welches in Klagenfurt stationiert ist, folgen von diesem zentralen Stützpunkt aus in der Zeit zwischen Februar 1942 und Frühling 1943 weitere Zuweisungen zur Marschkompanie des Gebirgsjäger-Regiments 138. Für Juli 1943 ist in den Unterlagen zu Kollreider der Zugang zur 7. Kompanie des Gebirgsjäger-Regiments 144 eingetragen.
Mit der Nüchternheit der Karteieinträge wird die Offensichtlichkeit der Ereignisse erst mit der Kenntnis darüber klarer, dass die Truppen an die Ostfront zwischen Donez und Mius vorgerückt sind und sich in bitteren Stellungsangriffen mit der Roten Armee um das Donezbecken (heute Donbass, Ukraine) befinden. Die sowjetisch militärische Operation der »Donez-Mius-Offensive« wird zu den vehementesten Rückeroberungsstrategien der sowjetischen Truppen um das vom Steinkohleabbau wirtschaftlich florierende Donezbecken gezählt. Im Lauf des Sommers bis zum Herbst 1943 versuchen Divisionen der deutschen Wehrmacht wiederholt mit Gegenangriffen, Teile der Region zurückzuerobern.
Überbegriffliche Termini wie »im Osten«, »in Russland« oder »bei Stalingrad« gelten im Grunde genommen als Orientierungshilfen, um die Lokalisierung der geografisch weit entfernten Kriegsschauplätze annähernd definieren zu können. Für Kriegsteilnehmer und deren Nachfahren sind sie außerdem wichtiger Teil der Erinnerungskultur.