Paardynamik - Renate Hutterer-Krisch - E-Book

Paardynamik E-Book

Renate Hutterer-Krisch

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Beschreibung

Dieses Buch beschäftigt sich mit verschiedenen Ansätzen der psychotherapeutischen Behandlung von Problemen der Paardynamik. Theoretische und praktische Aspekte der Behandlung paardynamischer Probleme werden aus Sicht bekannter Vertreter psychotherapeutischer Methoden tiefenpsychologi-scher, verhaltenstherapeutischer, humanistischer und systemischer Orientierung dargestellt. Diese me-thodenspezifischen Beiträge werden durch methodenübergreifende Beiträge ergänzt, wie sie sich in letzter Zeit in Fortbildungen für die Behandlung von Paardynamiken verbreitet haben. Paardynamische Konzepte und Interventionen werden dadurch für Paar- und EinzeltherapeutInnen anderer Methoden, für PsychologInnen und andere professionelle HelferInnen sowie auch für interessierte Laien transpa-rent. Das vorliegende Buch kann vielleicht bei der Entscheidungsfindung sowohl der passenden Methode als auch des passenden Settings eine wichtige Hilfe darstellen. Beide Entscheidungen können wesentlich zum Erfolg der psychotherapeutischen Behandlung beziehungsweise zum Erreichen der Ziele des Paares beitragen. Historische Beiträge und ihr Aktualitätsbezug sowie das Thema der interkulturellen Paarbildung als Folge von Globalisierung und Migration runden das Bild ab. Häufig vernachlässigten Themen der Sexualität werden eigene Kapitel gewidmet.

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EPUB

Seitenzahl: 749

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Renate Hutterer-Krisch, Gabriele Rass-Hubinek (Hg.)

Paardynamik

Renate Hutterer-Krisch, Gabriele Rass-Hubinek (Hg.)

Paardynamik

Methodenspezifische und methodenübergreifende Beiträge zur Psychotherapie im Paar- und Einzelsetting

facultas

Die Herausgeberinnen

Dr. Renate Hutterer-Krisch

Psychologin, Psychotherapeutin in freier Praxis, Integrative Gestalttherapie, Individualpsychologie, Imago-Beziehungstherapie, Supervision. Zahlreiche Lehrtätigkeiten und Publikationen, u. a. „Grundriss der Psychotherapieethik“www.paarcoaching.at

Mag. Gabriele Rass-Hubinek

Theologin, Psychotherapeutin in freier Praxis, Integrative Gestalttherapie, Systemische Familientherapie, Imago-Beziehungstherapie, Sexual Grounding und Sexualberatung am IBP-Institut in der Schweizwww.gaby.rass-hubinek.at

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr, eine Haftung der Herausgeberinnen oder des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2018

Copyright © 2018 Facultas Verlags- und Buchhandels AG

facultas Universitätsverlag, Stolberggasse 26, 1050 Wien, Österreich

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.

Satz: Wandl Multimedia-Agentur

Coverbild: Eve Gianni

Lektorat: Astrid Fischer, Berlin

Druck und Bindung: finidr, Tschechien

Printed in the EU

ISBN 978-3-7089-1685-9

Für unsere Nachkommen

Alexander

Anna

Christopher

Johannes

Vanessa

Christoph

Bastian

und

Alexander

Sanam

 

Alina

 

und

 

 

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort

Anstatt eines Vorwortes

Einleitung

Einzeltherapie versus Paartherapie – Einzeltherapie und Paartherapie? Überlegungen zur Settingentscheidung

Gabriele Rass-Hubinek

1. Historisch-soziologische Beiträge

Familiengeschichte der Paardynamiken – Paardynamiken in der Familiengeschichte

Alessandro Barberi

Wiederermächtigung der Liebe – Gefühlserbschaften des Zweiten Weltkriegs und der NS-Zeit und ihre Auswirkungen auf Paarbeziehungen heute

Bettina Alberti

Partnerschaft heute und Abgründe aus der Geschichte

Jürgen Müller-Hohagen

Migration und interkulturelle Paarbildung aus soziologischer Sicht

Günter Burkart

2. Methodenspezifische Ansätze

1. Tiefenpsychologisch-psychodynamische Orientierung

Bindungsorientierte Paartherapie im Einzelsetting

Karin Pinter

2. Verhaltenstherapeutische Orientierung

Die schematherapeutische Perspektive als Erweiterung der Verhaltenstherapie

Eckhard Roediger

3. Humanistisch-existenzielle Orientierung

Frustrationen als Chance – Paardynamische Beiträge der Integrativen Gestalttherapie

Renate Hutterer-Krisch

4. Systemische Orientierung

Systemische Paartherapie

Joachim Hinsch

3. Methodenübergreifende Ansätze

Imago-Paartherapie – Die Beziehung als gemeinsamer Entwicklungsraum

Evelin und Klaus Brehm

Das Liebeserbe – Ressourcen im Umgang mit sexuellen Paardynamiken aus der Perspektive der Sexual Grounding Therapy

Notburga und Robert Fischer

Zur Beziehungspflege durch Paar- und Familienrituale

Renate Riedler-Singer

4. Diagnose und Paardynamik

Narzissmus und Paardynamik – Wo die Liebe fehlt

Bärbel Wardetzki

Paardynamik bei strukturellen Störungen

Petra Klampfl

Scham – Das Trennende bei Sucht in Beziehungen

Barbara Stadler

Psychose und Paardynamik

Frank Schwarz

5. Spezifische Themen und Erfahrungsberichte zur Paardynamik

Intimitätsermöglichende Dynamik in leiblichen Dialogen Die Weiterentwicklung früher interaktioneller Bewegungsmuster als Chance für befriedigendere intime Beziehungen

Ingeborg Netzer

Lösbare und unlösbare Aufträge in der Paarberatung

Martin Koschorke

Begegnungszentrierte Paartherapie/Transformation (Encounter-centered Couples Therapy/Transformation, EcCT) – Ein Weg zur Beziehungsreife

Hedy Schleifer

Lernen, Lehren und therapeutische Prozesse mit Paaren und größeren Systemen – 50 Jahre Erfahrungswissen

Gesa Jürgens

6. Sexualität und Paardynamik

Sex für Nähe oder Nähe für Sex? Worum es in der Arbeit mit Paaren geht, dargestellt am Beispiel gender-spezifischer Missverständnisse

Frank-M. Staemmler

Gedanken zu sexuellen Mythen und ihren Auswirkungen auf die Paardynamik

Etta Hermann-Uhlig

Gnade vor Recht? Über das Verzeihen von Untreue

Dorit Warta

Paardynamik und gleichgeschlechtliche Beziehungen – Grundlagen, Handlungsfelder und Empfehlungen für die therapeutische Praxis

Roman Winkler

Polyamorie – Mehr als eine Liebe – Eine biographische Studie zu nicht-monogamen Beziehungskulturen

Sina Muscarina

Verzeichnis der Herausgeberinnen und AutorInnen

Geleitwort

Dieser Publikation gebe ich sehr gerne ein Geleitwort mit auf den Weg, verbunden mit der Hoffnung, dass sie viele Leserinnen und Leser finden möge, die sich von ihr anregen lassen. Warum? Paardynamik – so werden sich einige sagen – da gibt es doch schon sehr viel Literatur, warum noch ein weiteres Buch zum Thema? Dafür muss es gute Gründe geben. Und die gibt es auch. Das Buch ist im besten Sinne breit angelegt. Zentral sind für mich die Kapitel über die methodenspezifischen Ansätze – und die Herausgeberinnen berücksichtigen vier Methoden. Das ist schon einmal wohltuend allparteilich – Allparteilichkeit ist etwas, was Paartherapeutinnen und Paartherapeuten in ihrer Arbeit anstreben – und dieses Anliegen wird im ganzen Buch, ohne dass es speziell benannt würde, sichtbar. Und das macht auch das Spezielle dieses Buches aus. Dazu gehört auch, dass dann auch die methodenübergreifenden Ansätze mit interessanten Anregungen, behandelt werden, verschiedene spezifische Themen der Paartherapie in eigenen Beiträgen sorgfältig erarbeitet. Die Beiträge sind präzise, nehmen den Stand der Wissenschaft auf, sind aber so geschrieben, dass man auch ohne spezielle Vorbildung gut folgen kann – manchmal wird einem etwas aus der Praxis erzählt. Verschiedene Menschen haben naturgemäß jeweils auch eine unterschiedliche Art zu schreiben, das macht das Buch auch zusätzlich abwechslungsreich. Die Paardynamik und die Paartherapie werden aber auch in den größeren Zusammenhang von Liebe und Sexualität eingebettet, und auch die Abgründe fehlen nicht. Die verschiedenen Themen sind sehr sorgfältig erarbeitet, es wird informiert, mit Beispielen dargestellt, aber auch reflektiert – etwa in einem einleitenden allgemeinen Kapitel über die Entscheidungsfindung zu einem passenden Setting.

Es ist ein Buch, das mit großer Sorgfalt und Expertise verfasst und zusammengestellt worden ist und viele Anregungen gibt. Wann immer Fachleute, die lange in einem Bereich gearbeitet haben, ihre Erfahrungen mitteilen, dann teilen sie mit anderen Menschen ihre jeweils ganz persönlichen Erfahrungen – und das ist eine Gabe an die Leserinnen und Leser. Es mögen zum Teil Themen sein, von denen man natürlich schon anderweitig einmal gelesen hat, aber eben nicht so, aus der Sicht der einzelnen Autorinnen und Autoren. Auch das ist ein guter Grund, dieses Buch zu lesen und zu diskutieren.

Verena Kast

Anstatt eines Vorwortes

Renate: Liebe Gaby, ich denke gerade, dass wir unsere Dialoge im Vorwort erzählen könnten, wie sie sich aufgrund unserer Auseinandersetzungen in der Intervisionsrunde ergeben haben! Warum nicht interaktiv gestalten, was unsere Motive betrifft? Das passt doch zum Thema des Buches! Was hältst du davon?

Gaby: Das finde ich eine gute Idee!

Renate: Eigentlich bin ich zu unserer Intervisionssitzung mit dem Vorsatz oder – besser gesagt – Motiv gegangen, diese Buchidee wieder aufzugeben, damit ich weniger Arbeit habe. Denn es ist immer mehr Arbeit, als man vorher denkt. Und ich wollte mehr Freizeit und eine bessere Work-Life-Balance!

Gaby: Seit vielen Jahren treffen wir uns zu dritt regelmäßig zu Intervisionssitzungen, um uns auszutauschen und voneinander zu lernen. Daraus hat sich auch privat eine herzliche Freundschaft entwickelt. Wir haben alle drei die Imago-Paartherapie-Fortbildung absolviert, sind aber von unserem Hintergrund und unserem Wesen her sehr unterschiedlich. Diese Vielfalt ist bereichernd und belebend, manchmal auch anstrengend. Als Schwerpunkt unserer Arbeit hat sich das Thema Beziehung sowohl in der Paar- als auch in der Einzeltherapie herausgestellt und die Dynamik zwischen den Partnern hat uns immer mehr beschäftigt. Dann brachtest du eines Tages die Idee vor, ein Buch darüber herauszubringen.

Renate: Dein hohes Interesse und deine Begeisterung haben mich derartig bestärkt, dass ich mich kurzerhand dafür entschied, diese Buchidee doch noch zu realisieren. Ohne dich gäbe es dieses Buch nicht! Und jetzt bin ich froh, dass es da ist!

Gaby: Mir hat die Idee von Anfang an gut gefallen, allerdings bin ich eher eine Praktikerin und hätte mir das alleine nicht zugetraut. Deine Erfahrung mit Herausgeberschaft und dein theoretisches Wissen haben mich schnell zustimmen lassen. Und ich war überzeugt, dass wir uns gut ergänzen können.

Renate: Dann habe ich dir gegenüber die Ansicht vertreten, dass mir die Verbreitung der Interventionsserie zum introjizierten Beziehungsverhalten der Eltern so wichtig ist, während du die einzeltherapeutischen Sichtweisen mit paartherapeutischen Gesichtspunkten anreichern wolltest. Während meiner Recherchen für meinen Artikel finde ich plötzlich einen Vortrag, den ich im Jahre 2002 (!) gehalten habe, mit folgendem Gedanken in der Einleitung:

„Machtkämpfe in Partnerschaften sind weit verbreitet und häufig wird noch der Psychotherapeut oder die Psychotherapie im Machtkampf als Waffe missbraucht.“ In diesem Fall muss man davon ausgehen, dass Einzelpsychotherapie auch potenziell schädigend für Partnerschaften sein kann. Es ist nicht alles möglich, will man haben, dass eine Partnerschaft gedeiht. Bedingungen gelingender Partnerschaften lassen sich leicht definieren – analog dazu, wie man auflisten kann, was etwa Blumen brauchen, um gut zu wachsen (Erde mit Nährstoffen, Licht, Wasser, Rückschnitt – und das immer und immer wieder).

Ganz ähnlich wie du! Und heute schreiben wir 2018! Das war vor 16 Jahren.

Gaby: Ja, genau. Das beruht auf meiner Erfahrung, dass Einzeltherapie manchmal für die Erreichung der Paarziele nicht hilfreich ist. Paardynamisches Wissen scheint mir manchmal in der Einzeltherapie zu kurz zu kommen. Ich halte auch eine flexible Überweisung von Paar- zu Einzeltherapie und umgekehrt für wichtig, um die Behandlungsziele erreichen zu können.

Renate: Es geht dabei um die Diskussion hilfreicher und effektiver Konzepte und Interventionen, auch um die Frage der Integration störungsspezifischen Wissens, nicht um eine Belehrung von Einzeltherapeutinnen und Einzeltherapeuten. Dennoch habe ich ein Unbehagen, wenn Paardynamik in fachspezifischen Ausbildungen kein eigenes Fach ist. Analog zur Psychosenpsychotherapie etwa mit ihrem störungsspezifischen Wissen und hilfreichen Studien, Konzepten und Interventionen denke ich, dass ein integrativer Ansatz der Paartherapie und eine Integration paardynamischen Wissens – in welcher Form auch immer – in Zukunft eine noch größere Rolle spielen müssten, um unseren Klientinnen und Klienten in den Einzeltherapien gerecht zu werden.

Gaby: Was die Verwendung gendergerechter Sprache betrifft, haben wir es den Autorinnen und Autoren freigestellt, wie sie damit umgehen wollen. Da es mittlerweile ein drittes (in Deutschland) anerkanntes Geschlecht gibt, wollten wir keine Vorgaben machen, die jemanden benachteiligen könnten.

Wir bedanken uns bei den Autorinnen und Autoren für ihre wertvollen Beiträge und die gute Zusammenarbeit. Dabei möchten wir die Disziplin und auch das wohlwollende Eingehen auf einige unserer Vorschläge ausdrücklich hervorheben. Ebenso bedanken wir uns bei den Mitarbeiterinnen des Verlages, Elisabeth Klein und Victoria Tatzreiter, die uns professionell und freundlich unterstützt haben. Sie sind auch bei längeren Entscheidungsprozessen geduldig und hilfreich geblieben.

Gaby: Dir, Renate, danke ich dafür, dass du mich herausgefordert hast, etwas Neues anzugehen, und für deine Hinweise, die mich zur Genauigkeit gezwungen haben.

Ich danke auch meiner Familie, zuallererst meinem Mann, der mich in unserer heuer 32-jährigen Beziehung Paardynamik praktisch erleben lässt. Bis heute führen wir unsere „Dialoge“ und entdecken immer noch Kindheitsverletzungen, die wir gegenseitig aktivieren, ohne es zu wollen. Und natürlich sind unsere drei Kinder ein ehrlicher und guter Spiegel.

Renate: Dir, Gaby, danke ich für deine wertvollen Rückmeldungen, sowohl inhaltlicher als auch stilistischer Natur, sodass ich prägnante, verständliche Formulierungen gefunden habe.

Nicht zuletzt danke ich meinem Lebensgefährten für seine Anregungen und fallweisen Lektoratshilfen; ohne ihn hätte ich nicht dieses tiefe Verständnis für historische und ökonomische Bedingungen, soziale und regionale Normen der Zeit, in die wir hineingeboren wurden. Ganz persönlich danke ich ihm, dass er einerseits in unseren Paarkonflikten gut auf mich eingegangen, andererseits sich selber treu geblieben ist, sodass wir nunmehr seit 20 Jahren eine gute Partnerschaft leben.

Wir sind neugierig, wie die nächste Generation von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Psychologinnen und Psychologen paardynamisches Wissen neben bindungstheoretischen, traumatherapeutischen und anderen Faktoren in ihre Arbeit integrieren wird.

Wir wünschen allen viel Freude und Interesse beim Lesen, insbesondere allen interessierten Menschen, die in und um ihre Partnerschaften kämpfen!

22. April 2018

Renate Hutterer-Krisch

 

Gaby Rass-Hubinek

Einleitung

Einzeltherapie versus Paartherapie – Einzeltherapie und Paartherapie?

Überlegungen zur Settingentscheidung

Gabriele Rass-Hubinek

Du redest von der Liebe, als wäre sie die einzige Beziehung zwischen Menschen;

aber darfst du sie auch nur als das Beispiel gerechterweise wählen,

da es doch den Hass gibt?

– Solange die Liebe „blind“ ist, das heißt: solang sie nicht ein ganzes Wesen sieht, steht sie noch nicht

wahrhaft unter dem Grundwort der Beziehung. Der Hass bleibt seiner Natur nach blind; nur einen

Teil eines Wesens kann man hassen. Wer ein ganzes Wesen sieht und es ablehnen muss, ist nicht mehr

im Reich des Hasses, sondern in dem der menschhaften Einschränkung des Dusagenkönnens.

(Martin Buber)

Grenzen des Settings

Dieser Beitrag ist aus einem Dilemma heraus entstanden:

Sowohl in der Paartherapie als auch in der Einzeltherapie stößt man manchmal an Grenzen, die durch das Setting gegeben sind.

In der Paartherapie begegnet man zwei Menschen, die in einem Beziehungskontext zueinander stehen, der sich oft über Jahre eingespielt hat. Die Beziehung, der Beziehungsraum als Raum zwischen ihnen (Zinker, 1992), wird in den Blick genommen; die Aufmerksamkeit des/r Therapeuten/in richtet sich einerseits auf diesen „Raum“ zwischen zwei Menschen, andererseits auf die beiden als Individuen, die ihre jeweils eigene Geschichte, ihre eigene „Welt“ mitbringen und durch ihr emotionales Erleben und ihre Interpretationen den Raum gestalten. Daher ist es immer wieder notwendig, die Balance zu halten zwischen der Arbeit mit einem der beiden Partner, dem Eingehen auf seine/ihre Kindheitsgeschichte und die Geschehnisse in der Herkunftsfamilie sowie deren Verarbeitung, und seinem/ihrem Verhalten in der Beziehung. Dabei kommt es immer wieder vor, dass ein Partner mehr Aufmerksamkeit fordert als die Paartherapie leisten kann, ohne zur Einzeltherapie für zwei zu werden oder einen von beiden als „Problem“ erscheinen zu lassen. In diesen Fällen kann es hilfreich sein, einen Partner und bei Bedarf auch beide Partner in Einzeltherapie an eine Kollegin oder einen Kollegen zu überweisen, um focusorientiert oder auch längerfristig an einem bestimmten Thema zu arbeiten.

Ebenso ist es sinnvoll, KlientInnen, die in Einzeltherapie sind und Probleme in ihrer Beziehung haben, die sie auflösen wollen, parallel in eine Paartherapie zu überweisen.

Fehlerquellen in der Einzeltherapie als Problem für die Erreichung der Ziele des Paares

Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass durch Einzeltherapie die Gegensätze manchmal größer wurden, die Einzeltherapeuten/innen zwar stützend gearbeitet haben, aber die Klienten/innen manches Mal gegen die Paarziele unterstützt haben und dem Wunsch nach einer guten Paarbeziehung nicht gerecht geworden sind. Einige Klienten/innen haben sogar berichtet, dass es von Seiten des/ der Einzeltherapeuten/in Trennungsempfehlungen gegeben hat, „sich einen anderen Partner zu suchen, der besser zu Ihnen passt“, was unter Umständen in der eigenen Lebensgeschichte (Gegenübertragung) des/r Therapeuten/in begründet war. Einzeltherapie erschwerte so manches Mal die Paararbeit. Aus paartherapeutischer Sicht wäre in manchen Fällen weniger Unterstützung („support“) und mehr Konfrontation („skillfull frustration“) hilfreicher gewesen, wobei sich die Vorgehensweise am Strukturniveau der Klient/innen orientiert (vgl. Rudolf, 2013; Arbeitskreis OPD, 2014; Klampfl in diesem Buch).

Einzeltherapie kann die Paartherapie unterstützen, wenn der/die Einzeltherapeut/in auch das Wissen um die Paardynamik im Hintergrund hat und adäquat anwendet. Paartherapeutisches Wissen erscheint daher für Einzeltherapeuten/ innen genauso wichtig wie etwa diagnostisches Wissen oder historisches, regionales und soziales Hintergrundwissen (vgl. dazu Alberti, Müller-Hohagen und Burkart in diesem Buch).

Wir alle haben ein grundlegendes Bedürfnis nach In-Beziehung-Sein; wir sind Beziehungswesen und erleben Trennung als etwas Schmerzhaftes.

Der Wunsch nach einer guten Beziehung, nach Verbindung, ist in jedem von uns. Wir pendeln zwischen Autonomie und Bindung, zwischen Abgrenzung und Hingabe, auf der Suche nach der Fähigkeit, in Verbindung zu kommen, beziehungsweise allein zu sein ohne Angst.

Anwendungsbereiche des Wissens um die Paardynamik in Paar-und Einzeltherapie sind:

1. Das Therapieziel des/r Klienten/in

2. Bewusste und unbewusste Motive des Beziehungsverhaltens und ihre Auswirkungen auf den Paarzwischenraum

3. Überlegungen zur unbewussten Partnerwahl

4. Reduktion der bewussten Stressreaktionen in der Partnerschaft

5. Handhabung der Gegenübertragung

1. Das Therapieziel

Man kann die Ziele drei unterschiedlichen Gruppen zuordnen:

1. Zusammenbleiben

2. Prozessbegleitung

3. Trennung

1. In den meisten Fällen formulieren die Partner das Ziel, zusammenzubleiben, den Leidensdruck in der Beziehung zu reduzieren und eine gute Paarbeziehung zu führen. Manchmal, und vor allem dann, wenn das Paar in einer länger dauernden Krise ist, wissen die Klienten/innen nicht, ob sie sich trennen wollen oder nicht. Oft wollen sie zusammenbleiben, haben aber Angst vor den sich wiederholenden Verletzungen. Ein Therapieziel kann in diesem Fall sein, das herauszufinden, die Ambivalenz auszudrücken, um mit ihrer ganzen Person zu einer Entscheidung zu finden, zu der sie stehen können.

2. Gerade bei dieser Prozessbegleitung ist von Bedeutung, dass der/die Einzeltherapeut/in um die Hintergründe der unbewussten Partnerwahl und die sich daraus ergebende Paardynamik weiß, um Interventionen setzen zu können, die nicht nur zu einer momentanen Entlastung führen, sondern auch Entwicklungsmöglichkeiten aufzeigen.

3. Seltener geht es um ein bewusstes Abschiednehmen, bei dem die guten und schlimmen gemeinsamen Erfahrungen, aber auch die mit der Beziehung ursprünglich verbundenen Hoffnungen angesprochen werden. Abschied zu nehmen von diesen Erfahrungen, die damit verbundenen Gefühle zu spüren und zu zeigen, statt Du-Botschaften Ich-Botschaften zu senden kann wieder eine emotionale Verbindung zwischen den Partnern entstehen lassen. Auf diese Weise kann guter, konstruktiver Abschied gelingen, der sich im Unterschied zu einer Flucht aus der Beziehung entlastend auswirkt.

Wenn Menschen in Paar- oder Einzeltherapie kommen, ist die Anfangsphase der Verliebtheit meist vorbei und die Phase der Enttäuschung, des Machtkampfes hat begonnen oder hält schon längere Zeit an.

Einige Möglichkeiten, wann der Gedanke der Trennung auftaucht:

Partner ziehen eine Trennung in Erwägung, wenn der (Macht-)Kampf in der Beziehung unerträglich geworden ist und Flucht als einziger Ausweg gesehen wird.

Fluchtwege können Affären sein, ein Ausweichen in die Arbeit, die Kinder, der Hund, Alkohol, Drogen, Spielsucht, Krankheit, Sport, Fernsehen, PC, Internetsex … Letztendlich kann alles als Fluchtweg aus der Beziehung dienen, sobald die Aufmerksamkeit unproportional aus der Beziehung herausgenommen und woanders schwerpunktmäßig eingesetzt wird.

Der Gedanke an Trennung kann ebenfalls auftauchen, wenn sich beide Partner/innen fremd geworden sind, hauptsächlich nebeneinander leben und funktionieren, sodass sukzessive die Lebendigkeit verloren gegangen ist.

In der Phase der Enttäuschung treten oft Zweifel auf, ob man den richtigen Partner gewählt hat; man sieht die Grenzen der Entwicklung beim anderen und stellt sich die Frage, ob man nicht noch einen „besseren Partner“ findet.

Häufig führen äußere Umstände oder Ereignisse dann dazu, dass der Status quo nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Das können äußere Schicksalsschläge sein, aber auch das plötzliche Kennenlernen und Sichverlieben in jemand anderen.

Es legt den Gedanken nahe, als würde eine innere Stimme eine Änderung in der Beziehung fordern und Entwicklung notwendig machen.

2. Bewusste und unbewusste Motive des Beziehungsverhaltens und ihre Auswirkungen auf den Paarzwischenraum

Auch wenn sich der Gegenstand des Konfliktes in verschiedensten konkreten Ausformungen zeigt, liegt der Hintergrund zu einem Teil in den frühkindlichen Konflikten mit den Bezugspersonen und den dabei entwickelten Bewältigungsstrategien.

Zu den verschiedenen Abwehrmechanismen zählen z. B. Introjektion, Projektion, Konfluenz, Retroflexion, Spaltung, Verdrängung, Intellektualisierung, Identifikation mit dem Aggressor etc. (vgl. dazu Salem, 2004; Hutterer-Krisch in diesem Buch).

Harville Hendrix verweist darauf, dass im Beziehungskonflikt beide Partner (teilweise, Anm. der Verf.) unbewusst Konflikte wiederholen, die sie jeweils in ihrer frühen Kindheit mit ihren wichtigsten Bezugspersonen (in der Regel die Eltern) erlebt haben und nicht auflösen konnten. Das allen Beteiligten verborgene Ziel der aktuellen Konflikte ist dabei die gemeinsame und konstruktive Auflösung der alten und (teilweise, Anm. der Verf.) unbewussten Konflikte (Hendrix, 2007).

Zu einem anderen Teil beeinflussen die Paarbeziehungsintrojekte der Eltern, also die Art, wie die Eltern miteinander umgegangen sind, die Beziehung. Anne Teachworth sieht zum Beispiel die ungelösten Probleme der Eltern miteinander, die verinnerlichten Paarbeziehungsmuster, die vom Paar aufgrund ihrer Vorbildwirkung wiederholt werden, als Hintergrund häufiger Paarprobleme (Teachworth, 1997).

Das Erleben der totalen Einheit in der Verliebtheitsphase weicht der herben Enttäuschung, dass der eine Partner die Bedürfnisse des anderen doch nicht so erfüllt wie erwartet, sondern im Gegenteil die früher verletzenden Erfahrungen durch die Bezugspersonen (Eltern, Geschwister u. a.) analog „wiederbelebt“. Das Verhalten des anderen wird zunehmend in Richtung der eigenen Kindheitserfahrungen interpretiert, die Ängste von damals tauchen wieder auf und die Schutzmuster oder Überlebensstrategien, die damals geholfen haben, werden wieder eingesetzt (vergl. dazu Brehm in diesem Buch).

Beispiel:

Er war gewohnt, dass er als Ältester von mehreren Kindern oft nachgeben und „vernünftig“ sein musste. Seine Eltern haben geschimpft, wenn er seinen Zorn ausgedrückt hat. Um sich mit den Eltern verbunden zu fühlen, hat er ihn unterdrückt, bis er ihn mit der Zeit nicht mehr gespürt hat. Auch als Erwachsener war er nachgiebig und hat versucht, es anderen recht zu machen. Oft konnte er sich schwer entscheiden, da er nicht wusste, was er eigentlich will. Er konnte seine Gefühle, vor allem Ärger, nicht spüren und seine Wünsche und Bedürfnisse nur schwer vertreten. Die angestaute Wut kam teilweise indirekt zum Ausdruck, durch häufige Verletzungen, oder indem er seine Bedürfnisse heimlich lebte, beziehungsweise, wenn er zu stark unter Druck kam, in direkter Form, indem er die Beziehung ganz ablehnte und für ihn nur mehr eine Trennung in Frage kam.

Sie hatte eine unempathische Mutter, die ihre eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund gestellt hat. Laut ihren Angaben hätte sie, ähnlich wie ihre Mutter, eine unerfüllte Sehnsucht danach, gesehen zu werden und bei sich bleiben zu dürfen. Auch sie kennt die eigenen Bedürfnisse oft nicht oder nimmt sie zu spät wahr. Als kleines Kind wurde sie von einem älteren Buben regelmäßig verprügelt und die Eltern drohten ihr ebenfalls mit Schlägen, wenn sie noch einmal weinend zu ihnen käme. Sie bekam erst dann Mitgefühl, als sie sich ihrer Angst zum Trotz wehrte. Das ließ sie oft stärker erscheinen als sie war und ihre verletzliche Seite verbergen. Der Mutter konnte sie es nicht recht machen, aber dem Vater, der ebenfalls seinen Zorn lange zurückgehalten hat, bis er sich plötzlich an einer Kleinigkeit entlud.

In der Beziehung, die mit einem starken Gefühl der Verliebtheit begann, greifen die alten Verhaltensweisen und der/die andere wird zunehmend entsprechend der eigenen Kindheitserfahrungen interpretiert. Aus seiner Sicht lässt sie ihm keine Luft zum Atmen, da er denkt, sie gibt den Ton an und er muss es ihr recht machen. Anfangs unterwirft er sich, indem er ihr nicht widerspricht, und gibt ihr oft recht, obwohl er anderer Meinung ist. Zunehmend wird sein Ärger größer, den er aber nicht wahrnimmt, sondern ausagiert, zum Beispiel indem er immer weniger Zeit für die Beziehung hergibt. Der Zorn, der lange Zeit nicht wahrgenommen wurde und sich immer mehr aufgestaut hat, bricht irgendwann plötzlich hervor. In einem Zustand der Verzweiflung, der wie ein Wutanfall aussieht, wertet er sie und alles, was bisher war, ab und beendet die Beziehung.

Aus ihrer Sicht muss sie wie früher „die Starke“ sein und Entscheidungen treffen. Je weniger er für sie greifbar und erreichbar ist, desto stärker wird ihr Gefühl, dass sie um die Beziehung kämpfen muss. Dabei fühlt sie sich oft überfordert und fordert gleichzeitig immer mehr von ihm. Sie macht es ihm schwer herauszufinden, was er will und denkt, weil sie klare Vorstellungen hat und diese auch schnell ausdrückt. Da sie seine zurückgehaltene Aggression spürt, die nur indirekt zum Ausdruck kommt, schwankt sie zwischen Es-ihm-rechtmachen wie bei ihrem Vater und Ihn-konfrontieren wie früher bei ihrer Mutter.

Beide haben das Gefühl, dass sie sich wie in ihrer Kindheit an die Erwartungen der Eltern anpassen müssen, während das „innere Kind“ auf die Erfüllung seiner Bedürfnisse gehofft hat.

Der Wunsch, der/die andere möge die unerfüllten Bedürfnisse des „inneren Kindes“ – ohne dass sie ausgesprochen werden – erfüllen, wird immer mehr enttäuscht, beide übertragen zunehmend die eigenen Gefühle und Gedanken der Kindheit auf den Partner/die Partnerin. Der/die andere wird immer weniger in seiner/ihrer seelischen Not verstanden.

Die bewährte Strategie, mit der die alte Angst vor dem Verlust der elterlichen Zuwendung bewältigt wurde, wird erneut eingesetzt, erweist sich allerdings in der Beziehung als nicht mehr hilfreich.

Denn beide Partner haben konträre Überlebensstrategien entwickelt, die nun aufeinandertreffen. Sie kämpft, er zieht sich zurück. Je mehr er sich zurückzieht, umso mehr kämpft sie. Die Situation wird zunehmend unsicher und die Angst größer, bis (in diesem Fall) er die Trennung als einzigen Ausweg sieht.

Hendrix spricht von der Phase des Machtkampfes, die er als eine natürliche Phase einer Beziehung sieht. Er verwendet die Begriffe Minimierer und Maximierer für die beiden unterschiedlichen Bindungsstile, die in der frühen Kindheit geprägt werden (siehe dazu auch die Entwicklungsstadien der Beziehungsfähigkeit und vgl. dazu Pinter und Brehm in diesem Buch).

Der Minimierer (als Bild: Schildkröte) zieht sich zurück, wenn er sich nicht sicher fühlt, hilft sich bei Gefahr mit Rückzug und Vermeidung. Erst wenn das nicht mehr möglich scheint und er keinen Ausweg mehr sieht, geht er mit der bis dahin zurückgehaltenen Aggression zum Angriff über (unsicher-vermeidender Bindungsstil).

Der Maximierer (als Bild: Hagelsturm) wird aktiv bei Unsicherheit, fordert, diskutiert und versucht, seine Angst vor dem Verlust der Verbindung durch Aktivität zu vermindern. Die Angst, nicht gesehen zu werden, führt bei ihm zu Übertreibung, um die Wahrscheinlichkeit, gesehen zu werden, zu erhöhen. Die Aktivität dauert nur solange, bis der Minimierer sich nicht mehr weiter zurückziehen kann und angreift. Dann zieht sich der Maximierer zurück und wird zum Minimierer, die Rollen wechseln (unsicher-ambivalenter Bindungsstil).

Da die Überlebensstrategien von damals in der Beziehung nicht positiv beantwortet werden, kommt es zum Machtkampf. Beide wünschen sich vom anderen, die alten Bewältigungsstrategien aufzugeben und das Repertoire zu erweitern, sich zu entfalten.

Sie wünscht sich von ihm, dass er sich nicht unterwirft, sondern seinen Ärger wahrnimmt, für sich und seine Bedürfnisse einsteht und wenn nötig kämpft. Er wünscht sich von ihr, dass sie weniger kämpft und lernt, nachzugeben und sich anzulehnen. Beide meinen, ihr Verhalten sei bedingt durch das Verhalten des jeweils anderen. Hendrix deutet es analog zum Wiederholungszwang Sigmund Freuds und zur „offenen Gestalt“ Fritz Perls so, dass sie einander gesucht haben, um das eigene Thema immer wieder zu aktivieren (Hendrix, 2007; Freud, 1914; Perls et al., 1951).

Er versteht dieses Phänomen als den „unbewussten“ Wunsch, dass der/die andere sich entfalten und seine/ihre verlorenen und verleugneten Anteile hereinholen möge. Aus seiner Sicht appellieren sie aneinander, die alten Strategien weiterzuentwickeln und Wahlmöglichkeiten zu erhalten, sich anders als damals zu verhalten.

„Aus den Erfahrungen der Paartherapie bin ich jedoch immer wieder über die Treffsicherheit von Vorwürfen erstaunt. Diese Treffsicherheit bedarf allerdings der Relativierung durch die Treffsicherheit der Gegenvorwürfe. Die „Wahrheit“ muss im dialektischen Diskurs von den Partnern erarbeitet werden. Die Partner sind sich wechselseitig die Stimme des Unbewussten, das heißt, die Stimme des verdrängten Anteils. Sie konstellieren die Beziehung oft so, dass der andere ihnen jene Entwicklung abfordert, der sie auszuweichen neigen“ (Willi, 2004).

Man könnte auch sagen, wir „engagieren“ jemanden, der uns aus der Familienloyalität „herausholen will“ und uns herausfordert, neues Verhalten zu lernen und neue Erfahrungen zu machen. Und es ist jemand, der es uns leichtmacht, in ihn/sie die alten Bilder zu projizieren.

Jürg Willi spricht davon, dass es „insbesondere die bei der Partnerwahl vermiedenen und hintangestellten Beziehungsaspekte […] sind […], die sich unter den veränderten Umständen zur Entwicklung melden“ (Willi, 2004, S. 242).

3. Überlegungen zur unbewussten Partnerwahl

Verschiedenste Wissenschaften haben sich mit der Frage nach dem Hintergrund des Sich-Verliebens beschäftigt, ausgehend von der biologischen Sicht, dass wir uns Partner suchen, die das Überleben der Art optimal sichern, über die soziologische Theorie, dass wir uns Partner suchen, die uns in physischer Hinsicht, dem sozialen und finanziellen Status ähnlich sind etc.

C. G. Jung verwendet erstmals den Begriff „Imago“, der das innere Bild von Vater und Mutter bezeichnet, das, auch wenn die Eltern längst tot sind, in uns weiterwirkt. Die Imago-Paartherapie bezieht sich auf dieses innere Bild als ein Gesamtgedächtnis aller positiven und negativen Erfahrungen des Kindes mit den Bezugspersonen.

Je nachdem, wie das Kind die Eltern bzw. die jeweiligen Bezugspersonen in ihrem Verhalten ihm gegenüber erlebt, entsteht ein inneres Bild von Beziehung, eine Sammlung von Erfahrungen, Gedanken, Emotionen, Körperempfindungen, die eingespeichert werden und mitbestimmend dafür sein dürften, in wen man sich verliebt.

Hendrix stellt in diesem Zusammenhang folgende Überlegungen an: Je eher der Partner/die Partnerin diesem inneren Bild entspricht, desto stärker ist die Verliebtheit. „Der Teil unseres Gehirns, der die Partnersuche eigentlich leitet, ist nicht der logische, rationale, ordentliche Teil. Nein, es ist der fest mit der Vergangenheit verschaltete, äußerst selektiv wahrnehmende, alte Teil. Er hat nur ein Ziel: Für uns wieder die Lebensbedingungen herzustellen, wie wir sie in unserer eigenen Kindheit erlebt haben, um sie überarbeiten und korrigieren zu können (Hendrix, 2007, S. 51).

In der Folge trifft man aus seiner Sicht bei dem Partner/der Partnerin auf ähnliche Verhaltensweisen wie bei den Bezugspersonen. Die Eigenschaften, die als positiv erlebt wurden, werden gerne akzeptiert, während diejenigen, die als verletzend erlebt wurden, besonders treffen, weil sie auf eine alte Wunde stoßen. Da diese Kindheitsverletzungen durch den Partner/die Partnerin immer wieder aktiviert werden, kommt es zum Machtkampf. Die Partner bekämpfen einander mit den jeweiligen gegensätzlichen Überlebensstrategien (Hendrix, 2007).

Daraus ergeben sich einige grundlegende paardynamische Überlegungen für die Einzeltherapie:

Die Erfahrungen mit den Eltern oder Bezugspersonen in den verschiedenen Entwicklungsphasen lassen das Kind Bewältigungsstrategien entwickeln, die sich später in der Beziehung als nicht hilfreich erweisen. Im Gegenteil: Da es scheint, dass der Partner/die Partnerin genau gegensätzliche Strategien entwickelt hat, ist es von Bedeutung, dass auch in der Einzeltherapie der Fokus auf diese Dynamik gelegt wird.

Um statt endlosem Machtkampf und möglicher Trennung eine gute Paarbeziehung zu entwickeln, kann es hilfreich sein, den Hintergrund der Frustrationen zu beleuchten. Je stärker die Intensität der negativen Emotionen, desto wahrscheinlicher die Hypothese, dass die eigene Kindheitserfahrung sowie die dazugehörenden Bewältigungsstrategien aktiviert wurden, die die Beziehung, aber auch die eigene Entwicklung behindern. Da der Partner/die Partnerin ein Verhalten zeigt, dass von den eigenen Eltern abgelehnt und in der Folge weniger gelebt wurde, fällt es schwer, dieses unerwünschte Verhalten beim anderen zu akzeptieren.

Es liegt in der Rolle des/r Einzeltherapeuten/in, diese verlorenen bzw. verleugneten Anteile anzusprechen, spürbar zu machen und hereinzuholen. Denn es sind Anteile des Selbst, die einem fehlen bzw. einen „ganz(er)“ machen würden.

Prägend ist ebenfalls die Art und Weise, wie die Eltern (und Großeltern) miteinander umgegangen sind, die Analogie zur Paardynamik der Eltern (vgl. dazu Hutterer-Krisch und Fischer in diesem Buch).

Um eine stabile Beziehung eingehen und halten zu können, müssen bestimmte Entwicklungsaufgaben möglichst gut bewältigt werden:

Die Fähigkeit zur Selbst- und Objektwahrnehmung (Fähigkeit, sich ein Bild des eigenen Selbst zu machen und eigene Affekte differenziert wahrzunehmen), zur Selbstregulation (Fähigkeit, Impulse zu steuern), Regulierung des Objektbezugs (Fähigkeit, die eigenen Interessen in der Beziehung zu wahren und die anderer angemessen zu berücksichtigen), emotionale Fähigkeit nach innen und nach außen, die Fähigkeit zur Bindung nach innen (sich selbst trösten, sich beruhigen und helfen zu können) und nach außen (sich an jemanden binden zu können, Hilfe annehmen zu können, sich aus Bindungen lösen zu können) (vgl. Arbeitskreis OPD, 2014; Rudolf, 2013).

Hendrix und Hunt beschreiben diesen kindlichen Reifungsprozess und die verschiedenen Stadien der Entwicklung, wobei vor allem die früheren prägend sind (Hendrix & Hunt, 2008).

Die Phasen der Entwicklung beinhalten die Bandbreite der verschiedenen Verletzungsmöglichkeiten ebenso wie die Bewältigungsstrategien, die sich daraus ergeben. Die Anziehungskraft zwischen zwei Partnern ergibt sich nach Hendrix aufgrund der gegensätzlichen Erfahrungen (Bindungsstile) im Elternhaus und der sich daraus ableitenden konträren Bewältigungsstrategien.

Die Entwicklungsstadien der Beziehungsfähigkeit nach Hendrix und Hunt sind:

• Phase der Entwicklung von Bindung (0 bis ca. 18 Monate)

Beginnend mit der vorgeburtlichen Entstehung der Beziehungsfähigkeit durch die Erfahrung pränataler Sicherheit entsteht im Alter von 0–18 Monaten die Fähigkeit zur Bindung. Wenn die Bezugspersonen verlässlich, verfügbar und liebevoll sind, entsteht emotionale Sicherheit und damit Bindungsfähigkeit.

Die Verletzung des Kindes kann im Wesentlichen (mit Abstufungen) in zwei Richtungen gehen:

1. Die Bezugspersonen sind entweder nicht oder unbeständig da, und wenn, dann beständig kalt (bei Heimkindern, depressive oder narzisstische Mutter). Das Kontaktbedürfnis des Kindes wird enttäuscht, das Kind fühlt sich in seinem Selbst abgelehnt und empfindet Schmerz, wenn es versucht, näherzukommen. Es wird versuchen, Nähe und Kontakt zunehmend zu vermeiden („unsicher-vermeidend“).

2. Die Bezugspersonen sind unbeständig verfügbar und unbeständig warm agierend. Das Kind empfindet Angst vor dem Verlassen-werden und fühlt sich sicher, wenn es klammert („unsicher-ambivalent“).

Diese beiden finden sich in der Beziehung in einem stetigen Kampf zwischen dem einen, der den Kontakt vermeidet und dem anderen, der klammert. Wobei der eigentliche Wunsch des „Kontaktvermeiders“ der nach einem angenehmen, warmen Kontakt ist, und der des „Klammerers“, einmal auslassen zu können und die Verbindung dennoch zu behalten.

Beide haben Angst vor dem Verlust des Selbst.

• Phase der Exploration (18 Monate bis ca. 3 Jahre)

Es ist die Zeit, in der das Kind seine Umgebung erforscht und sich zunehmend von der Bezugsperson entfernt, um sich zwischendurch zu versichern, dass die Bezugsperson wie eine „Tankstelle“ da ist.

1. Wenn die Eltern überbehütend sind und das Kind nicht frei lassen, kann die Angst vor Vereinnahmung bewirken, dass das Kind Angst bekommt, nahe zu sein, weil es sonst absorbiert wird.

2. Wenn die Eltern das Kind zwar frei lassen, aber die „Tankstelle“ nicht da ist, wenn das Kind sie braucht, kann das vernachlässigte Kind Panik bekommen, denn „du bist nie da, wenn ich dich brauche“.

In der Beziehung zwischen dem/r einen Partner/in, der/die sich eher isoliert, und dem/r anderen Partner/in, der/die eher verfolgt, dreht sich der Machtkampf um die Angst vor Vereinnahmung und die Angst vor Trennung.

Beiden gemeinsam ist die Angst vor dem Verlust der Eltern.

• Phase der Identität (3 bis 4 Jahre)

In dieser Phase entwickelt sich der Ich-Kern, das Kind spielt die verschiedensten Identitäten durch (ich bin ein Bub, eine Katze, Superman etc.). Was es von den Eltern braucht, ist eine positive Resonanz (Spiegeln) aller Identitäten.

1. Wenn die Eltern selektiv spiegeln, fühlt sich das Kind beschämt, denn „du willst, dass ich jemand anderer bin“. Es wird das Gefühl haben, nicht ganz so sein zu dürfen, wie es ist, und entwickelt sich zum strengen Überwacher, der genau weiß, wie man zu sein hat.

2. Wenn die Eltern gar nicht oder zu wenig spiegeln, wird sich das Kind unsichtbar fühlen und alles tun, um gesehen zu werden. „Ich werde geliebt, wenn ich dir gefalle“, ist die internalisierte Botschaft und es kann zum Machtkampf zwischen dem „strengen Überwacher“ und dem „gefälligen Nachgeber“ kommen.

Beide haben Angst vor dem Verlust der elterlichen Liebe.

• Phase der Kompetenz (4 bis 7 Jahre)

In dieser Phase entwickelt das Kind Macht und Kompetenz, es lernt, Dinge zu können, und braucht Lob und Informationen.

1. Wenn die Eltern die Botschaft vermitteln, dass das Kind keine Fehler machen darf, kann die Angst vor dem Verlust der Anerkennung dazu führen, dass das Kind das Gefühl hat, es muss perfekt sein.

2. Wenn die Eltern gar nicht sehen, was das Kind kann, oder es zu wenig Anleitung bekommt, kann die Botschaft der Eltern „Sei nicht mächtig“ es dazu bringen, dass es sie scheinbar gewinnen lässt.

Zwischen dem „zwanghaften Wettkämpfer“ und dem „manipulierenden Kompromissler“ entspinnt sich die Dynamik. Beide haben Angst vor dem Verlust der elterlichen Anerkennung.

• Phase des Aufbaus von außerfamiliären Beziehungen – beste/r Freund/in (7 bis 13 Jahre)

Das Kind entwickelt die Fähigkeit, mit Personen außerhalb der Familie in Beziehung zu treten, eine/n beste/n Freund/in zu finden, und braucht dazu hilfreiche Informationen und Unterstützung.

1. Wenn die Eltern die Wahl des Kindes ablehnen, kann die Angst vor dem Verlust der Anerkennung der Eltern oder durch Gleichaltrige dazu führen, dass das Kind zum sogenannten „Einzelgänger“ wird, weil es sich nicht gemocht bzw. verurteilt fühlt.

2. Auf der anderen Seite können Eltern als desinteressiert und selbst bedürftig erlebt werden, sodass das Kind lernt, dass es geliebt wird, wenn es die Bedürfnisse der Eltern erfüllt. Es wird zum „aufopfernden Betreuer“.

Beide haben Angst vor dem Verlust der Anerkennung Gleichaltriger und der elterlichen Unterstützung.

• Phase der Ablösung von der Familie und Aufbau von Intimität (13 bis 19 Jahre)

Diese Phase ist geprägt vom Akzeptieren der ersten Sexualität und Geschlechtsreife und dem Modell-sein für richtige Grenzen in der Intimität durch die Eltern.

1. Einerseits können die Eltern überstreng kontrollierend sein und die Botschaft vermitteln: „Werde nicht erwachsen“, wobei das angsterfüllte Kind Wut empfindet, weil „ihr nicht an mich glaubt“. Die Angst, beherrscht zu werden, kann zur Rebellion gegen die übermächtigen Eltern führen.

2. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass die Eltern das Anderssein und die Individualität des Kindes kritisieren. Das „Modellkind“ fühlt zornige Selbstgerechtigkeit, weil die Eltern seine Individualität kritisieren. Die Überzeugung „Ich werde geliebt, wenn ich wie du bin“ führt zu konformistischem Verhalten.

Sie finden sich in der Paarbeziehung und der entsprechenden Dynamik. Beiden gemeinsam ist die Angst vor dem Verlust der Freiheit.

(zit. n. Buckner, 2008)

Da ein empathisches Eingehen auf die Bedürfnisse des Kindes durch die Bezugspersonen nur teilweise möglich ist, bleiben Entwicklungsaufgaben offen und werden durch Verhaltensadaptionen bzw. Überlebensstrategien ersetzt. Hendrix wie auch Vertreter anderer Therapiemethoden unterscheiden diese Überlebensstrategien, den „Charakter“, vom ursprünglichen Wesen. Diese wirken nicht nur in der Vergangenheit sondern in die Zukunft hinein. Daher kann es auch bei einer/m neuen Beziehungspartner/in zu Wiederholungen in der Beziehungsdynamik kommen.

Analogien zur Paardynamik der Eltern – der unbewusste Deal

Das Verhalten der Eltern (und Großeltern) zueinander und seine möglichen Auswirkungen auf das Beziehungsverhalten möchte ich mit Hilfe eines Beispiels verdeutlichen:

Beispiel:

Sie:

Ihr Vater war ängstlich, ihre Mutter fürsorglich. Wenn der Vater ängstlich war, bekam er mehr Fürsorge. In der Folge legte sie öfter ein Verhalten an den Tag, das dem des Vaters ähnelte. Allerdings hat sie auch die andere Seite als Bild in sich.

Er:

Sein Vater war fürsorglich, seine Mutter ängstlich. Er „entschied“ sich für den fürsorglichen Teil, analog zum Verhalten des Vaters.

Sie tragen von klein auf das Bild in sich, dass in einer Beziehung der eine Partner fürsorglich ist und der andere ängstlich. So scheint Liebe zu sein (Beziehungsintrojekt).

Ihre Botschaft an ihn ist, ähnlich wie die eines Elternteils an den anderen: Schau mehr auf dich! Seine Botschaft an sie lautet: Sei mutiger!

Die Botschaft an den anderen bedeutet aber gleichzeitig, die eigene Verhaltensweise ebenfalls zu ändern. Damit verbunden ist auch große Unsicherheit, wie Liebe neu definiert werden kann.

Da sie beide Verhaltensmuster der Eltern in sich tragen, können z. B. bei der zweiten Partnerwahl die Rollen wechseln, das heißt, in verschiedenen Partnerschaften jeweils unterschiedlich gelebt werden.

Vermutlich gibt es nicht das eine, ausschlaggebende Kriterium für die unbewusste Partnerwahl. Zinker verweist zu Recht auf die verschiedensten Faktoren wie die Lebensumstände, genetische Faktoren, den Zeitgeist u. a., die Menschen beeinflussen. „Die Lebensumstände eines Menschen und die Ereignisse lassen sich nicht wie Zahlen addieren oder eine Gerade zeichnen, die direkt vom Ursprung A zum Zielpunk B führt. […] wenn wir das ganze Muster betrachten – also die Gestalten – begreifen wir allmählich, wie komplex die Strukturen sind, aus denen die kleinen und großen Systeme – also Familien und größere Gruppierungen – bestehen“ (Zinker, 1997, S. 67).

In der Einzeltherapie kann die eigene Verletzungsgeschichte erforscht werden, so wie die Analogien zur Verletzungsgeschichte des Partners/der Partnerin, ebenso wie die Analogie zum Verhalten der Eltern und Großeltern zueinander. Letztendlich ist vielleicht der einzige Grund, sich damit zu beschäftigen, eine gelingende Beziehung führen zu können.

4. Zur Reduktion der bewussten Stressreaktion in der Paartherapie

Zu Beginn der praktischen psychotherapeutischen Arbeit liegt der Fokus darauf, Sicherheit zu schaffen und die Aufmerksamkeit dahin zu lenken, wie beide Partner den Paarzwischenraum bewusst, aber manchmal auch ohne es wahrzunehmen, beeinflussen. „Die Beziehung ist im Zwischenraum zwischen dem Ich und dem Du“ (Buber, 1979, S. 32).

Jede Geste, jede Kritik, jeder Vorwurf hat Auswirkungen auf diesen Paarzwischenraum und macht ihn sicher oder unsicher für den anderen und damit auch für die Kinder, die darin leben. Die Verantwortung für diesen Raum zu übernehmen steht zu Beginn im Vordergrund.

Um Sicherheit zu etablieren und Vorwürfe von Anfang an zu vermeiden, kann es dem Paar helfen, strukturiert mit z. B. jeweils drei Wertschätzungen anzufangen und dabei das Spiegeln einzuführen.

Interventionsvorschlag:

Eine/r von beiden beginnt, von sich zu sprechen:

„Eine Sache, die ich an dir schätze, ist … und dann fühle ich mich …“ Der/die andere spiegelt, ohne zu kommentieren:

„Was du an mir schätzt, ist … und dann fühlst du dich …“

(vgl. Brehm in diesem Buch).

Das Spiegeln:

Joachim Bauer (2016) beschreibt die weitreichende Bedeutung der Spiegelneurone. Sie ermöglichen uns, andere Menschen spontan und intuitiv zu verstehen, zu fühlen, was andere fühlen. Wir kennen solche Resonanzphänomene aus dem Alltag, unwillkürlich wird ein Lächeln erwidert, wir gähnen, wenn der andere gähnt, und Erwachsene öffnen den Mund, wenn sie ein Kind füttern. Die Fähigkeit zur emotionalen Empathie ist abhängig davon, inwieweit die Spiegelsysteme, die Mitgefühl ermöglichen, durch ausreichend zwischenmenschliche Erfahrung in Funktion gebracht wurden. Wenn einem Kind die Erfahrung fehlt, dass seine Bezugspersonen auf seine Gefühle eingehen, wird es nur schwer eigene emotionale Resonanz entwickeln können. Diese Entwicklung beginnt gleich nach der Geburt. Bis zum Auftreten des Einfühlungsvermögens zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr braucht es, wie bei allen anderen Fertigkeiten, Einübung.

Emotional verstehen heißt also, die gleichen neuronalen Systeme zu aktivieren wie der/die andere. Bei diesem Vorgang fließt gezwungenermaßen eigenes Material in die Wahrnehmung des/der anderen ein, wir projizieren.

„Wir müssen in jeder Liebesbeziehung auch projizieren“ (Willi, 2004, S. 245).

„Dort, wo die Bilder, die wir voneinander haben, nicht übereinstimmen, beginnt der Dialog“ (Buber, 1979, S. 293).

Durch das wörtliche Spiegeln des Empfängers/der Empfängerin (=des/r Zuhörenden) werden die eigenen Spiegelneurone aktiviert, auch emotional zu spiegeln. Es hilft, wirklich zu hören, was der/die andere sagt, und nicht, was man glaubt, was er/sie sagt. Der Gesprächsfluss wird dadurch langsamer und kann – je nachdem was gespiegelt wird – vertieft werden.

Der Sender/die Senderin bekommt durch den Spiegel einen Blick auf sich selbst, findet zu sich.

Eine weitere Interventionsmöglichkeit ist, eine/n von beiden aufzufordern, sich zu überlegen, was er/sie tut, dass sich der Partner/die Partnerin verletzt fühlt:

„Ich glaube, du fühlst dich verletzt, wenn ich … und du fühlst dich dann …“

Mit Hilfe der/s Psychotherapeutin/en soll von Beginn an Reaktivität vermieden und die Sichtweise des Partners/der Partnerin miteinbezogen werden.

Häufig sind es drei bis fünf Überlegungen, bis es zu Wiederholungen kommt. Der/die Empfänger/in lernt zu spiegeln, ohne zu kommentieren. Danach schätzt er/sie auf einer Skala von 1–10 den Grad der Verletzung ein. Nachdem die Einschätzung überprüft wurde, wird gewechselt.

Meist wissen die Partner sehr genau, wodurch sie ihren Partner verletzen, und in den überwiegenden Fällen ist auch die Einschätzung der Schwere der Verletzung annähernd richtig. Am Schluss ergibt sich sehr oft eine Parallelität. Beide haben zum Beispiel öfter das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, beschämt zu werden, zurückgewiesen zu werden, verlassen zu werden … (vgl. die Entwicklungsstadien der Beziehungsfähigkeit).

Die Kernverletzung wird oft bereits am Anfang sichtbar und auch die oft konträre Art der Bewältigung. Diesen „Tanz des Paares“ aufzuzeigen, kann zum Verständnis der Dynamik beitragen. Im Dialog geht es nicht nur um Kommunikation, sondern darum, das Verständnis für den anderen zu vertiefen und dadurch zu einer tieferen Verbundenheit zu gelangen.

Weitere Fragen, die zu Beginn hilfreich sein können:

• Wenn diese Arbeit Erfolg hat, wie wird unsere Beziehung aussehen? (positive Elemente, es geht darum, ein positives Ziel zu fokussieren)

• Wie fühle ich mich, wenn ich das nicht erlebe? (drei Gefühlsworte)

• Was tue ich dann, wenn ich mich so fühle? (Differenzierung zwischen Fühlen und Handeln)

• An welchen Elternteil erinnert mich das? (Bezug zur Geschichte)

• Was versuche ich damit eigentlich zu erreichen?

• Wenn ich „der beste Partner/die beste Partnerin“ wäre, wäre ich … (ungeübtes neues Verhalten, ich verändere meine Überlebensstrategien und weiche ab vom Paarbeziehungsintrojekt meiner Eltern; statt einer Konfrontation Herausarbeiten eines alternativen Verhaltens als bewusste Handlungsentscheidung)

In der weiterführenden Arbeit liegt der Schwerpunkt darauf, den Zusammenhang zwischen der Frustration mit dem Partner/der Partnerin und der eigenen Verletzungsgeschichte aufzuzeigen. Es kann hilfreich sein, zwischen 1. der Frustration, 2. dem realen Geschehen, 3. der eigenen Interpretation, 4. der dahinterliegenden Kindheitsverletzung, die zu dieser Interpretation geführt hat, und 5. der entwickelten Bewältigungsstrategie zu differenzieren.

Manchmal kann es vorkommen, dass es bei Paaren keine Konflikte, Kritik oder Aggressionen geben darf, die negativen Gefühle im Inneren der Partner anwachsen und sich indirekt äußern (passiv-aggressives Verhalten, Affairen etc.). Sich an den anderen zu sehr anzupassen, kann die Selbstentfaltung des Einzelnen in der Beziehung verhindern. In der Paartherapie können die Grenzen der Partner deutlich gemacht werden, um etwa instrumentalisierende Verhaltensweisen aufzulösen. Schellenbaum spricht vom „Nein“ in der Liebe.

„Das Nein: ,Ich bin nicht Du‘, aber in der Liebe: „Ich will mich bemühen, meine engen Grenzen nach und nach auf dich hin zu erweitern.“ Aus seiner Sicht muss „das Nein bereits gesprochen werden, solange das verbindende instinktive Ja der ersten Liebe noch stark genug ist, sonst wird dieses Ja vom trennenden Nein ohne Liebe abgelöst, aus dem es kein Zurück mehr gibt.“ „An die Stelle der Verschmelzung tritt die Spannung zwischen zwei Menschen, die zwar verschieden sind, aber nach dem bekannten Bild Platos wie die Hälften einer Kugel zueinander passen“ (Schellenbaum, 2002, S. 12).

Der Wiedervereinigungsschmerz

Im Dialog mit dem Partner/der Partnerin, wobei der/die Psychotherapeut/in dem/der Zuhörenden hilft, sich emotional in den/die Sender/in einzufühlen, kann manchmal die eigene Verletzungsgeschichte erst erinnert werden. Oft entsteht erst durch das Einfühlungsvermögen des/der Partners/in Mitgefühl für die eigene Geschichte und das Erlebte. Wenn der/die andere ein Bild entwirft, wie es gut gewesen wäre und was das „innere Kind“ eigentlich gebraucht hätte, kann es zum „Wiedervereinigungsschmerz“ kommen.

Wenn kindliche Bedürfnisse von den Eltern nicht ausreichend beantwortet wurden, lehnt das Kind nicht die Eltern ab, sondern sein eigenes Bedürfnis, das es von den Eltern trennt. Es versucht, dieses Bedürfnis möglichst nicht mehr wahrzunehmen. Wenn dann im Zuge der Arbeit die Möglichkeit greifbar wird, das zu bekommen, was man sich lange ersehnt hat, taucht die alte Angst wieder auf. Oft verhindert die Angst vor dem alten Schmerz neue Erfahrungen.

Dieser Schmerz kann unter Umständen so stark sein, dass er nur dosiert gefühlt werden darf, weil er sonst überwältigend und destabilisierend wirken kann.

Oft wird die Erfüllung der eigenen Sehnsüchte verhindert, um diesen Schmerz nicht fühlen zu müssen. Das kann unerkannt und rasch geschehen, indem erklärt wird, es sei nicht der richtige Zeitpunkt oder die Art und Weise, wie der/die andere es sagt oder tut, sei nicht entsprechend. Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang ist:

„Wie hindere ich dich daran, mir zu geben, was ich brauche?“

Wann ist zusätzliche Einzeltherapie empfehlenswert?

Geht es in der Paartherapie letztendlich um Verstehen und Einfühlen in die eigene Lebensgeschichte und die des Partners/der Partnerin, um die Fähigkeit, eigene Emotionen zu reflektieren, zu regulieren und stabilen Kontakt zu halten, so kann das in manchen Fällen Paartherapie allein nicht leisten. Menschen mit strukturellen Störungen ist es oft nicht möglich, die eigenen Ängste zu reflektieren. Sie erleben sich als abhängig vom (Fehl-)Verhalten des Partners, in Beziehungen wechseln sich das starke Bedürfnis nach Genährtwerden durch den anderen mit abrupten Distanzierungswünschen ab, die oft für den Partner/die Partnerin nicht nachvollziehbar sind (vgl. dazu Klampfl in diesem Buch). Dann kann eine zusätzliche Überweisung zur Einzeltherapie hilfreich sein.

Voraussetzung dafür ist ein entsprechender Leidensdruck und die Motivation, sich die nötige Unterstützung zu holen. Der/die Paartherapeut/in kann versuchen, die Neugier auf die eigene Lebensgeschichte und ihre Auswirkungen auf die Beziehung zu wecken.

Grundsätzlich bedarf es einer Motivationsprüfung durch den/die Einzeltherapeuten/in, ob der Impuls zur Einzeltherapie vom Klienten/von der Klientin selbst ausgeht oder möglicherweise vom Partner/von der Partnerin. Der Überweisungskontext ist für die weitere Arbeit von Bedeutung.

Mögliche Gründe für eine Überweisung zur Einzeltherapie

• Bei zu viel Impulskontrolle

Wenn es einem der beiden Partner schwerfällt, Zugang zu den eigenen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen zu finden, kann zusätzliche Einzeltherapie angezeigt sein.

Oft sind es Gefühle wie Traurigkeit, Wut oder Angst, die soweit verdrängt wurden, dass sie nur mehr teilweise oder gar nicht mehr wahrgenommen werden. Mangelnde Resonanz oder die Angst vor dem Verlust der Zuwendung durch die Bezugspersonen in der Kindheit, wenn bestimmte Gefühle ausgedrückt wurden, können Bedingungen für einen erschwerten Zugang sein. Mögliche Folgen sind Depression, Verschiebung in den Körper (Psychosomatik), Zwangshandlungen, indirekte Aggressionen gegen andere sowie Selbstverletzungen (Autoaggression).

In der Einzeltherapie kann der Klient/die Klientin in einem sicheren Umfeld seine verleugneten oder verlorenen Anteile kennenlernen, sie fühlen, im Körper verankern (wahrnehmen, wo genau und wie sie spürbar sind) und lernen, sie in geeigneter Form auszudrücken.

• Bei mangelnder Impulskontrolle

Einzeltherapie ist ebenfalls angezeigt, wenn man es mit einem Mangel an Selbstorganisation zu tun hat, also wenn der/die Klient/in im Zustand großer Verzweiflung oder Wut Dinge tut oder sagt, die er/sie eigentlich nicht meint: „Ich lass mich scheiden …“ statt „Ich habe Angst, dass du mich verlässt“ oder: „Es ist mir egal, was du tust …“ statt „Es verletzt mich, wenn du …“.

Manchmal werden in der größten Not Dinge gesagt oder getan, die einem später leidtun, die eigentlich nicht so gemeint waren, wofür man sich später schämt und die zur Zerstörung der Beziehung führen, ohne dass sie neue Einsichten oder Entwicklung bringen. Aus nichtigem Anlass heraus kann die Stimmung plötzlich umschlagen und die dahinterliegenden bedrohlichen Gefühle können hervorbrechen. Gefühlsdurchbrüche dieser Art führen zwar kurzfristig zu einer Entlastung, allerdings auf Kosten des anderen. Hunter Beaumont spricht von einer „kontaktlosen Wut fragiler Selbstorganisation, die zu Verletzung und destruktiver Kommunikation führt und die Liebe zerstört“ (Beaumont, 1999, S. 99).

Der Partner wird mit Personen aus der Kindheitsgeschichte verwechselt und bekämpft, wobei die dahinterliegenden echten Gefühle abgewehrt werden. Beaumont verweist auf den „Selbst-Verlust“, der schließlich zum Verlust des Partners führt, weil dieser nicht mehr als gut gesehen werden kann.

In der Einzeltherapie können die abgewehrten, von der Wut geschützten und oft weit schlimmeren Gefühle wie Angst (vor Abhängigkeit), Ohnmacht oder Einsamkeit aufgedeckt, zunehmend wahrgenommen und an die Kindheitsgeschichte angebunden werden. Dann muss der Partner nicht mehr für die eigene Gefühlsabwehr benützt werden, die Verantwortung für die eigenen Gefühle und die eigene Geschichte kann zunehmend übernommen und Einfühlungsvermögen in den anderen entwickelt werden (vgl. Hutterer-Krisch in diesem Buch). Allerdings ist es für Menschen mit stärkeren Persönlichkeitsstörungen tendenziell schwieriger, dauerhafte Beziehungen zu führen. Es bedarf oft längerfristiger Einzeltherapie und unter Umständen auch Unterstützung für die Partner/innen.

Beispiel:

Ein Klient verhielt sich in der Paartherapie seiner Partnerin gegenüber oft abwertend und kritisierend. Er kritisierte vor allem, dass sie zu wenig Zeit für ihn hatte und immer nur mit ihrer Arbeit beschäftigt war. Für ihn als Mann bedeutete dies eine Umkehrung der Rollen; er fühlte sich als Mann entwertet.

Wenn es von ihr aus eine Annäherung gab, machte er ihr Vorwürfe, fand einen Grund, warum er das jetzt nicht gelten lassen konnte, es zu wenig oder nicht der richtige Zeitpunkt war, und wies sie zurück. (Sie hatte ebenfalls einen zynischen dominanten Vater, der sie abwertete und bei dem sie sich „klein“ fühlte.)

Da sich sein abwertendes Verhalten wiederholte, nahm die Verletztheit der Partnerin zu, und die Paartherapiesitzungen dienten vor allem dazu, Verletzungen, die in den Pausen zwischen den Sitzungen entstanden waren, zu besprechen.

In einem solchen Fall ist zusätzliche Einzeltherapie hilfreich, um den Kreislauf zu durchbrechen.

Sein Ziel, mit dem er zu mir in Einzeltherapie kommt, ist, eine gute Beziehung mit seiner Freundin, mit der er bereits seit vier Jahren zusammen ist. Er ist 55 Jahre alt und bisher hat keine Beziehung lange gehalten. Er war bereits jahrelang in Einzeltherapie, vor allem wegen seiner schlimmen Kindheitserfahrungen. Er und seine fünf Geschwister haben die überforderte Mutter gegen den dominanten Vater beschützt. Was er in die Einzeltherapie mitbringt, ist im Wesentlichen Kritik an ihr. Sie ziehe sich zurück, gebe vor, keine Zeit zu haben, er ist frustriert und macht ihr Vorwürfe. Wenn er von ihr spricht, wertet er sie ab und ist sehr schnell mit zynischen Bemerkungen. Wenn er sie zitiert, dann tut er das mit verstellter Stimme, die das Gesagte lächerlich wirken lässt. Sein Anspruch an mich als Therapeutin ist, ich möge ihm helfen, sie zu ändern.

Im Laufe der Arbeit wird er sich bewusst, dass er „unangenehme“ Gefühle wie Schmerz, Ohnmacht und Angst hinter Wut, Angriffen und Forderungen versteckt. Dieses Verhalten kennt er von seinem Vater. Es fällt ihm anfangs schwer, seine Sehnsucht zuzugeben und die eigene Verletztheit über ihren Rückzug zu zeigen. Als Kind wurde seine Bedürftigkeit abgewertet oder ignoriert. Im Zuge des therapeutischen Prozesses fällt es ihm zunehmend leichter zu zeigen, wie es ihm wirklich geht.

Im nächsten Schritt beleuchten wir seine Interpretationen ihres Verhaltens. Diese gehen zumeist in die Richtung, dass sie ihm ihre Arbeit vorziehe, weil sie ihn nicht genug liebe. Dadurch fühlt er sich abgewertet und unwichtig, wie in seiner Kindheit. Indem er seine Gefühle an die alten Erfahrungen mit seinen Eltern anbinden kann, wird es ihm mehr und mehr möglich, seine Partnerin in ihren „alten“ Gefühlen zu sehen. Sie wurde ebenfalls abgewertet, mit Zynismus beschämt und fühlte sich unterlegen. Der Zynismus und die Dominanz ihres Vaters hat sie dazu bewogen, sich für die Mutter einzusetzen und sie und ihre Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen. In der Arbeit am „leeren Stuhl“ kann er sich in sie einfühlen und erkennen, dass sie glaubt, sie müsse sich dauernd um ihn kümmern wie um ihre Mutter. In ihrer Arbeit wird sie auch gefordert, aber da werden die Kindheitsgefühle nicht aktiviert. Dieses Gefühl kennt er gut, denn er musste sich ebenfalls um seine Mutter kümmern. Allerdings hat er seine Bedürfnisse dem Vater gegenüber durch Vorwürfe und Forderungen artikuliert, während sie ausgewichen ist und sich zurückgezogen hat.

Sein zunehmendes Einfühlungsvermögen in ihre Ängste ist die Basis für Verhaltensänderungen. Oft weiß er nicht, wie er sein Bedürfnis anders als bisher äußern kann. Im Zuge des therapeutischen Prozesses lernt er, seine Bedürftigkeit zu zeigen und Bitten zu formulieren. Und er beginnt, seine nonverbalen Botschaften zu hinterfragen.

Dazu ist es manchmal auch notwendig, ihn mit den Auswirkungen seines Verhaltens zu konfrontieren und seine Deutungen ihres Verhaltens als eigene Ängste zu entlarven. Wenn es ihm möglich wird, die Wirkungszusammenhänge zu erkennen und damit auch zu verstehen, was die Partnerin bräuchte, kann er positiven Einfluss auf die Beziehung nehmen, nicht indem er sie, sondern indem er sich ändert. Die Chance, nicht mehr ausschließlich abhängig von ihrem Verhalten zu sein, lässt ihn auch Rückschläge leichter verkraften und sich stärker in seiner Männlichkeit fühlen.

• Bei Narzissmus

Längerer Begleitung bedarf es auch, wenn die emotionale Resonanz durch die Bezugspersonen mangelhaft war und das Bedürfnis des Kindes, gesehen zu werden, wie es ist und nicht wie es sein sollte, zu wenig erfüllt wurde. Meierhofer und Keller sprechen vom „Verlassenheitssyndrom“ des Kleinkindes in Folge von Kontaktmangel und häufigem Alleingelassenwerden des Säuglings (Meierhofer & Keller, 1967).

Katrin Asper beschreibt die narzisstische Störung als eine Beeinträchtigung der Selbstliebe, bedingt durch emotionale Verlassenheit des Kindes. Zu ihr kann auch Verwöhnung beitragen, da sie auch am Wesen des Kindes vorbeigeht. Der Mangel an Einfühlung kann an der Persönlichkeitsstruktur der Mutter liegen, die oft selbst ein narzisstisch beeinträchtigtes Kind war. Ferner können Kriegserlebnisse und Verlusterfahrungen dazu beitragen, wenn das Kind bei der Verarbeitung emotional alleingelassen wird. Die schmerzlichen Erfahrungen werden abgewehrt und äußern sich in einer bei narzisstisch verwundeten Menschen meist anzutreffenden Kindheitsamnesie (Asper, 1994).

„Die Sehnsucht, geliebt zu werden, äußert sich in verschiedenen Formen. Einmal dadurch, dass insgeheim durch perfektionistische Personahaltungen (Schutzmuster, Anm. der Verfasserin) nach Echo und Anerkennung gesucht wird. Die Gier nach Echo und die übermäßige Investition in die Persona, die das ,Image‘ hochhält, zeigen sich deutlich. In solchen Haltungen schwingen Größenphantasien mit. Daneben lässt sich bei der narzisstisch beeinträchtigten Persönlichkeit eine stete Suche nach idealen Menschen und Verhältnissen beobachten“ (Asper, 1994, S. 64). Das Selbstwertgefühl des Narzissten ist demnach nicht stabil, arglos und selbstverständlich, sondern schwankt zwischen Grandiosität und Depressivität, die beide als abwehrende Schutzmechanismen verstanden werden.

Der Mangel an Gesehen- und Beachtetwerden führt dazu, dass diese Beachtung zeitlebens gesucht und der andere zur permanenten Erhöhung des eigenen Selbstwertes benützt wird. Das Einfühlungsvermögen in andere Menschen kann gestört, aber auch überdurchschnittlich gut ausgebildet sein. Allerdings fällt es den Menschen gerade in der Partnerschaft schwer, sich in den Partner/die Part-nerin einzufühlen beziehungsweise seine/ihre Andersartigkeit gelten zu lassen. Das verletzte Selbstwertgefühl macht es schwer, Kritik zu ertragen, da sie einen Angriff auf die eigene Person bedeutet, ebenso wie jede Abweichung von der eigenen Sichtweise die ganze Person in Frage stellt. Dann bedarf es einer Einschwingung (Resonanz) durch den/die Einzeltherapeuten/in über einen längeren Zeitraum, die anfangs bewusst Konfrontation vermeidet, um erst nach und nach eine Zunahme des Selbstwertes und damit verbundenen Einfühlungsvermögens zu ermöglichen. In Beziehungen fällt die mangelnde Empathie für den Partner, der Missbrauch des Partners zur Stabilisierung der eigenen Bedürfnisse und betontes Unabhängigsein auf (vgl. Wardetzki in diesem Buch).

Symington spricht auch vom „versteckten Narzissmus“, der gekennzeichnet ist durch Zurückschrecken vor Konfrontationen, Vermeidung von Selbsterkenntnis um jeden Preis und Vermeidung von Schmerz und fruchtbarer Auseinandersetzung (Symington, 1983, vgl. Hutterer-Krisch, 2007, S. 245).

Extremerfahrungen von Gefühllosigkeit und Brutalität (körperliche oder seelische Gewalt, Vergewaltigung) können eine bereits vorhandene Fähigkeit zur Empathie sekundär schädigen (Bauer, 2016). In diesem Fall kann eine Überweisung zur Traumatherapie parallel zur Paartherapie hilfreich sein.

• Bei Suchtproblematik

Wenn man bei einem/r von beiden (oder beiden) Suchtverhalten als Fluchtweg aus der Beziehung bemerkt, ist ebenfalls zusätzlich zur Paartherapie einzeltherapeutische Begleitung angezeigt. Oft befinden sich die Partner in einer gegenseitigen Abhängigkeitsdynamik, die das Suchtverhalten mit beeinflusst. Auch für den co-abhängigen Partner kann Einzeltherapie eine Unterstützung sein (siehe dazu Stadler in diesem Buch).

• Bei Affairen

Immer wieder kommt es vor, dass in der Paartherapie eine gewisse Zurückhaltung bei einem der Partner zu bemerken ist und sich trotz Bemühung wenig ändert. Manchmal kann eine bestehende Außenbeziehung der Grund für die mangelnde Vertiefung der Beziehung sein.

Auch in diesem Fall ist eine Überweisung zur Einzeltherapie hilfreich, um herauszufinden, was die Außenbeziehung bedeutet, inwieweit die Klientin/der Klient sich selbst in der Beziehung nicht „treu“ geblieben ist, und um eine bewusste Entscheidung zu erarbeiten.

Beispiel:

Eine Klientin wurde von der Paartherapeutin in Einzeltherapie überwiesen und nach einiger Zeit stellte sich heraus, dass sie jahrelang Affairen hatte, wobei die aktuelle Affaire bereits einige Jahre andauerte. Der Ehemann wusste von den Außenbeziehungen nichts. In der Einzeltherapie stand die Angst im Vordergrund, der Ehemann könnte sich von ihr trennen, wenn er davon erfahren würde. Tatsächlich reichte er sofort die Scheidung ein, nachdem sie es ihm in einer Sitzung gestand. Die starken Schuldgefühle ließen sie einer sofortigen Scheidung und einem ungünstigen Scheidungsvertrag zustimmen.

Beide Partner übergingen dabei die eigenen Gefühle und versuchten, durch Handlungen im Außen die innere Balance zu finden.

Am Beginn des psychotherapeutischen Prozesses konnte die Klientin zwar sehr viel Verständnis für den Ehemann aufbringen, aber wenig für sich. Sie gab sich allein die Schuld am Scheitern ihrer Ehe. Ihre latenten Schuldgefühle bewirkten, dass sie noch weniger imstande war, ihm entgegenzutreten und ihre Gefühle zu zeigen.

Erst nach und nach fand sie Zugang zu ihrer Unzufriedenheit, die sie innerhalb der Beziehung gehabt hatte. Sie erzählte, wenn sie anderer Meinung war, wurde ihr Mann sehr aggressiv und abwertend. Der aktuelle Umgang mit ihrem Mann war schwierig, vor allem was die Absprache bezüglich der Kinderbetreuungszeiten betraf. Er drohte, ihr die Kinder wegzunehmen, wenn sie nicht nachgiebig war und in seinem Sinn handelte.

Im Laufe des einzeltherapeutischen Prozesses gelang es ihr zunehmend, ihren Ärger, den sie anfangs nur auf sich selbst hatte, ihm gegenüber zu spüren. Anfangs merkte sie erst zeitversetzt, dass sie sich ärgerte, später bestimmte ihre Wut den größten Teil unserer Sitzungen. Ihr Zorn richtete sich manchmal auch gegen mich, wobei es gelang, ihre Kindheitsverletzung dahinter und mein Verhalten, das diese aktiviert hatte, für den psychotherapeutischen Prozess zu nützen.

Sie begann, ihrem Mann und auch den Kindern gegenüber Grenzen zu setzen. Dadurch wurde sie ein stärkeres Gegenüber für ihren Partner, der sich anfangs bedroht fühlte, es sich andererseits gewünscht hatte und auch attraktiv fand. Dies hatte zur Folge, dass der Ehemann Zugang zu seinen eigenen ängstlichen und unsicheren Gefühlen finden konnte, sodass er sich auf einer bewussten Ebene weniger stark fühlte und seinerseits Interesse an einer Weiterführung der Paartherapie entwickelte.

Beide nahmen die Paartherapie wieder auf, in der sie zunehmend auch ihre unterschiedlichen Sichtweisen, Wünsche und Bedürfnisse zeigten.

5. Überlegungen zur Handhabung der Gegenübertragung

Sowohl in der Einzeltherapie als auch in der Paartherapie bringt der/die Psychotherapeut/in immer auch die eigene Lebensgeschichte mit ein. Die eigenen Werte, die eigenen Erfahrungen und Verletzungen beeinflussen die Sicht auf das Paar oder den Einzelnen. Es gehört zur Sorgfaltspflicht des/der Psychotherapeuten/in, sich seine/ihre Gegenübertragungsgefühle bewusst zu machen.

Wenn der/die Psychotherapeut/in im Lauf der Arbeit verstärkt eigene Gefühle wie Ärger, Schmerz, Verständnis nur für einen Partner u. Ä. bemerkt, ist es günstig, in Supervision oder Intervision mit Kollegen/innen abzuklären, ob es sich etwa z. B. um diagnostische Hinweise im Sinne eines typischen Aufforderungscharakters des Paares handelt oder um Zusammenhänge mit der eigenen Lebensgeschichte. Manchmal wird es vielleicht notwendig sein, sie in einer Eigentherapie zu bearbeiten oder auch eine Therapieanfrage abzulehnen.

Auch kulturelle Verschiedenheiten des Paares können in der Gegenübertragung des/der Therapeuten/in eine Rolle spielen (vgl. Burkart in diesem Buch).

Paardynamische Fortbildung ist aus meiner Sicht für Einzeltherapeuten/innen wichtig, auch wenn sie es mit Einzelpersonen und nicht mit Paaren zu tun haben. Denn wir treffen nie nur auf einen Einzelnen, sondern immer auf Menschen, die entweder Probleme in oder mit Beziehungen oder dem Fehlen von Beziehungen haben.

Die Art und Weise, wie der/die Psychotherapeut/in damit in seinem/ihrem eigenen Beziehungsleben umgeht, kann Auswirkungen auf seine/ihre Interventionen haben. Das kann sich, wie eingangs erwähnt, in Trennungsempfehlungen äußern, aber genauso im Drängen in Richtung Zusammenbleiben um jeden Preis. Es kann aber auch sein, dass dem Aspekt des Beziehungsverhaltens zu wenig Beachtung geschenkt wird und der Fokus beim Einzelnen und seiner Kindheitsgeschichte bleibt.

Schlussbemerkung

So wichtig es ist, sich in der Einzeltherapie von dem/der Psychotherapeuten/in verstanden zu fühlen, so wichtig ist es auch, die Sichtweise des/der Partners/in einnehmen zu können. Dabei geht es nicht um „die Wahrheit“, sondern um die jeweilige subjektive Wahrheit des/der Einzelnen zu diesem Zeitpunkt.