Palace of Blood - Die Königin - C. E. Bernard - E-Book

Palace of Blood - Die Königin E-Book

C. E. Bernard

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Beschreibung

Keine Krone der Welt ist es wert, den Menschen zu verlieren, den man am meisten liebt!

Der Kampf um den englischen Thron ist entbrannt. Als der entrückte König den Befehl erteilt, Jagd auf seinen eigenen Sohn zu machen, greift die Königin zum Äußersten: Sie lässt ihren Mann ermorden und plant, anstelle des flüchtigen Kronprinzen selbst zu regieren. Robin hingegen wünscht sich nichts mehr, als in Frieden mit der Liebe seines Lebens zusammen zu sein. Mit Rea, der gefürchteten Magdalena. Mit Rea, der zukünftigen Königin. Mit Rea, die zum ersten Mal in ihrem Leben frei sein darf. Doch am Tag ihrer Vermählung wird Rea Opfer eines schrecklichen Anschlags – und der gläserne Palast verwandelt sich an einen Ort des Schreckens, des Verrats und des Blutes.

Alle Bücher der »Palace-Saga«:
Palace of Glass. Die Wächterin
Palace of Silk. Die Verräterin
Palace of Fire. Die Kämpferin
Palace of Blood. Die Königin

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Buch

Der Kampf um den englischen Thron ist entbrannt. Als der entrückte König den Befehl erteilt, Jagd auf seinen eigenen Sohn zu machen, greift die Königin zum Äußersten: Sie lässt ihren Mann ermorden und plant, anstelle des flüchtigen Kronprinzen selbst zu regieren. Robin hingegen wünscht sich nichts mehr, als in Frieden mit der Liebe seines Lebens zusammen zu sein. Mit Rea, der gefürchteten Magdalena. Mit Rea, der zukünftigen Königin. Mit Rea, die zum ersten Mal in ihrem Leben frei sein darf. Doch am Tag ihrer Vermählung wird Rea Opfer eines schrecklichen Anschlags – und der gläserne Palast verwandelt sich in einen Ort des Schreckens, des Verrats und des Blutes.

Autorin

C. E. Bernard ist das Pseudonym von Christine Lehnen, die 1990 im Ruhrgebiet geboren wurde und seitdem in Kanada, den Vereinigten Staaten, Australien und Paris gelebt hat. Ihre Kurzgeschichten wurden mit den Literaturpreisen der Jungen Akademien Europas und der Ruhrfestspiele Recklinghausen ausgezeichnet. Seit 2014 lehrt sie Literarisches Schreiben an der Universität Bonn. Daneben studiert Christine Lehnen Englische Literatur und Politikwissenschaft, schreibt fürs Fernsehen und inszeniert Theaterstücke mit der Bonn University Shakespeare Company. Zurzeit arbeitet sie an einer neuen fantastischen Trilogie.

Weitere Informationen unter: http://de.cebernard.eu/

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C. E. Bernard

PALACEofBLOOD

Die Königin

Deutsch von Charlotte Lungstrass-Kapfer

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Copyright der Originalausgabe © 2019 by Christine LehnenCopyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Angela KuepperUmschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, Inkcraft, unter Verwendung eines Motivs von iStock.com/wraggBL · Herstellung: samSatz: Mediengestaltung Vornehm GmbH, München
ISBN 978-3-641-25259-5V002
www.penhaligon.de

Dies ist das Ende, das ich mir gewünscht hätte.

Kapitel 1

Rea

Der erste Schuss ist der lauteste.

Dieser Kampf ist anders als alles, was ich bisher erlebt habe. Kann man es denn überhaupt einen Kampf nennen, wenn eine Seite mit Pistolen, Gewehren und Schwertern bewaffnet ist und die andere mit nichts als blanken Fäusten und ein paar roten Seidenbändern?

Ja, dieser Kampf ist anders als alles, was ich bisher erlebt habe, vollkommen anders. Bei meinen bisherigen Kämpfen konnte ich mich wehren. Da bestand zumindest theoretisch die Chance auf einen Sieg.

Diesen Kampf können wir nicht gewinnen.

Nach dem ersten Schuss folgt ein zweiter. Schreiend suchen wir Deckung: hinter Bäumen, unter dem Pavillon, an den gläsernen Wänden der Ställe und der Außengebäude des Buckingham Palace. Wir ducken uns hinter Bänke, hinter niedrige Mauern, hinter weiß angestrichene Bäume. Mitten in London verkrieche ich mich hinter einem Haufen Stühle – ich, Rea Emris, die Anführerin der Widerstandsbewegung. »Feuerschwester« haben sie mich genannt. Aber was soll selbst eine Feuerschwester tun, wenn sie sich einer solchen Übermacht königlicher Ritter gegenübersieht, die das Feuer auf unbewaffnete Menschen eröffnen?

Ich habe keine Ahnung, wo Robin ist. Oder Ninon, Blanc. René und der Comte. Als ich Liam, meinen Bruder, das letzte Mal sah, rannte er panisch los, um seine Violine zu retten, dieser entgeistigte Narr.

Die Schüsse verstummen. Vielleicht sollten sie nur eine Warnung sein? Zadie, meine frühere Kollegin in Róisíns Laden, die sich uns angeschlossen hat, hockt mit mir hinter den Stühlen. Fest hält sie meine Hand umklammert. Während die Schüsse verhallen, bleibt mir gerade genug Zeit, um festzustellen, dass ihr Geist genauso umwerfend ist, wie ich ihn mir immer vorgestellt habe: ordentlich und wunderschön. Wie in einem Museum ist alles ausgeleuchtet, ein grandioser Schatz. Doch hier gibt es keine Glaskästen, alles schwebt frei im Raum, umgeben von hellem Licht, und verändert stetig seine Form.

»Ich wünschte, ich hätte dir früher vertraut«, flüstere ich ihr in dem schmerzlichen Bewusstsein zu, dass ich später vielleicht keine Gelegenheit mehr haben werde, es ihr zu sagen.

Dass ich vielleicht nie wieder die Gelegenheit haben werde, jemandem irgendetwas zu sagen. Keiner meiner Freunde ist hier bei mir, weder mein Bruder noch mein geliebter Robin, der ehemalige Kronprinz.

Zadie setzt zu einer Antwort an: »Rea …«

Der Rest des Satzes geht unter in dröhnenden Schüssen.

Sie haben das Feuer wieder eröffnet.

Also waren es nicht nur ein paar Warnschüsse.

Ganz in der Nähe ertönt ein Schrei. Ich fahre herum. René hat sich mit der alten Klavierstimmerin hinter dem Flügel verschanzt, den sie gestern Abend aus Little Justus hergeschafft hat. Er trägt eine Warnweste, auf die mit schwarzem Edding das Wort Arzt gekritzelt ist. Unter diesem Beschuss ist das Wort der Inbegriff von Machtlosigkeit.

Wenn uns nicht bald jemand zu Hilfe kommt, sind wir erledigt. Während ich zu René hinüberschaue, werde ich plötzlich von einer Erinnerung heimgesucht. Ich sehe meine Mutter vor mir, wie sie mir von der Seidenrebellion erzählt, als sie vor sechsundzwanzig Jahren mit meiner Großmutter auf die Straße ging. Mit meiner Großmutter Eira Emris, die noch immer eine Legende ist unter den Magdalenen, weil sie sich gegen den Weißen König aufgelehnt hat. Gegen ebenjenen König, der jetzt auf uns schießen lässt. Meine Mutter musste zusehen, wie meine Großmutter mitten auf der Straße verblutete. Der Weiße König ließ sie niederschießen, sie und alle anderen Widerständler, die unter dem Banner der Feuerseide marschierten.

Eine Kugel fliegt knapp an meinem Kopf vorbei und bohrt sich in einen Stuhl. Holzsplitter treffen meine Wange. Die Kugel war so nah, dass ich ihre brennende Hitze spüren konnte.

Esprit, wir brauchen nicht bloß Hilfe.

Wir brauchen ein Wunder.

Teil I

Die Königin

Hör, mächt’ge Königin, uns flehen,

wie die Zeiger stets sich drehen,

führe Du die Zeiten an,

erschaffe neu, was ist vertan.

WILLIAMSHAKESPEAREzugeschrieben

Kapitel 2

Die Königin

Die Königin von England hält das aus.

Ihr Leben lang wurde ihr beigebracht, dabei zu sein, mitzuerleben, wie andere über sie entscheiden, und sich zu fügen. Man hat sie gelehrt, zuzusehen und zu schweigen, immer zu schweigen, egal, was sie sieht, egal, was sie davon hält. Königinnen sind nicht glücklich, Maria, hat ihre Mutter die Kaiserin ihr gesagt und ihr gezeigt, wie man sich in die Schatten zurückzieht und selbst in den gläsernen Räumen und Fluren des Buckingham Palace feine Netze aus Intrigen spinnt, um zu bekommen, was man will. Man fragt nicht. Man fordert nicht. Und niemals, unter keinen Umständen, bettelt man darum.

Nun ist die Königin von England zum ersten Mal in ihrem Leben nicht sicher, ob sie das noch länger aushält.

Ob sie weiter schweigend danebenstehen, vom Gläsernen Turm im Herzen des Buckingham Palace aus zusehen kann, wie die Ritter des Königs ihre Waffen auf ein Häufchen Demonstranten richten, naive Gutmenschen, die glauben, man könne die Welt verändern, indem man sich auf der Straße zusammenrottet, Banner schwenkt und rote Seidenbänder im Wind flattern lässt.

Wenn nur nicht ihr Sohn einer von ihnen wäre. Wenn sie doch nur nicht wüsste, dass diese Waffen auch auf den Kronprinzen gerichtet sind und auf die Zwillinge. Ihre Kinder.

Robin. Victoria und William.

Stumm steht die Königin vor den Gemächern ihres Ehemannes, ganz oben im Gläsernen Turm, und blickt auf die Constitution Hill hinab, auf die vielen Ritter, die auf der breiten Straße angetreten sind. Auf die Widerständler in Hyde Park Corner. Von Tag zu Tag werden es mehr, schon jetzt besetzen sie beinahe den gesamten Park. Bald werden es so viele sein, dass nicht einmal der König von England sie einfach alle erschießen lassen kann. Schon jetzt ist die Unterstützung durch den Adel recht brüchig geworden. Viele wenden sich von ihm ab, befürchten, vom Zorn des Volkes hinweggerafft zu werden. Selbst unter den Rittern regen sich erste Zweifel, wenn man ihnen befiehlt, Gewehre und Schwerter auf jenen Mann zu richten, den zu schützen man sie stets angewiesen hat – ihren Kronprinzen. Und Sir George, seines Zeichens Lord of Buckingham und ihr Captain, tut nichts, um diese Zweifel zu zerstreuen.

Ein entschlossener König hätte die Sache vielleicht selbst in die Hand genommen, hätte seine Männer mit einer leidenschaftlichen Ansprache zum Mord angestachelt. Aber der Weiße König verkriecht sich seit drei Tagen in seinen Gemächern, und wenn er sie einmal verlässt, wirkt er regelrecht gepeinigt. Wann immer Sir George ihn nach neuen Befehlen fragte, saß der König reglos da und starrte auf seine Füße. Irgendwann stand er auf, sah sich teilnahmslos um. »Sie hat mein Leben verschont.« Mehr war ihm nicht zu entlocken, bevor er wieder in seine Gemächer zurückkehrte und noch einen Tag ohne Entscheidung verstreichen ließ.

So geht das nun seit drei Nächten und vier Tagen. Doch gestern Abend wurde der Königin von ihrem treuen Fähnrich das Gerücht zugetragen, der König wolle im Morgengrauen neue Befehle ausgeben.

Nun bricht der Morgen an. Die Sonne steigt über den Horizont, während die Königin die kleinen schwarzen Punkte auf der Straße und überall in Hyde Park Corner mustert. In der vergangenen Nacht hat sie ihren Ehemann aufgesucht. Hat ihn gebeten, ihr ihren Wunsch zu erfüllen. Hat darum gebettelt.

Keinen Schießbefehl. Erteile keinen Schießbefehl.

Unten auf der Straße heben die Ritter ihre Waffen. Rot gleiten die Sonnenstrahlen über die Dächer der Stadt, lassen das Glas des Palasts funkeln. Rotes Licht und rote Seide in den Bäumen, an den Hauswänden. Rot wie Blut.

Die Königin hält den Atem an.

Sie hat gebettelt, ihn angefleht. Nie mehr hat sie ihren Mann um irgendetwas gebeten, nie mehr seit jenem einen Mal, als sie ihrem Erstgeborenen die Schmach ersparen wollte, von einem Schnüffler betatscht zu werden, kaum dass sie ihn geboren hatte.

Damals schwang der König höchstpersönlich die Peitsche, mit der ihre Strafe vollzogen wurde. Sie hat ihre Lektion gelernt: Du darfst nicht betteln. Niemals.

Zumindest ist die Königin nicht allein. Neben der Tür steht eine zweite Frau, eine Frau, auf die sie sich in diesen Tagen mehr und mehr verlässt. Eine Frau mit einer silbernen Maske. Die Königin nennt sie Madame Hiver und stellt nicht allzu viele Fragen.

Eine Zeit lang verharren die Ritter in ihrer Stellung. Sie haben sie schon öfter eingenommen, haben mit ihren Waffen gedroht, um die Demonstranten zu vertreiben. Die Feuerschwestern, wie sie jetzt schon genannt werden.

Doch es sieht so aus, als ließen sich die Feuerschwestern nicht vertreiben.

Vielleicht ist das Gehabe der Ritter wieder nur eine leere Drohung, überlegt die Königin, während sie die Männer durch das zierliche Opernglas in ihrer Hand beobachtet. Sie werden nicht schießen.

Sie hat ihn angefleht, nicht auf ihre Kinder zu schießen.

Die Königin zwingt sich, die Hände sinken zu lassen, sie ruhig zu halten und nicht herumzuzappeln wie ein beschränkter Bauerntrampel. Sie ist die Tochter mächtiger Herrscherinnen. Sie zappelt nicht herum. Nein, sie wird in ihre Gemächer zurückkehren, wird sich nicht dazu treiben lassen, hier oben zu bleiben und den ganzen Tag auf eine Straße zu starren, auf der nichts passieren wird. Entschlossen wendet sie sich ab.

Drei Schritte weit schafft sie es, will Madame Hiver gerade sagen, dass sie ihr folgen möge, als sie das Geräusch hört.

Ein Schuss.

Sie fährt herum.

Die Ritter haben das Feuer eröffnet.

Starr blickt die Königin die Straße hinunter. Hört die Schreie, sieht, wie die schwarzen Punkte zusammenbrechen, wie sie nach Deckung suchen, wie sie sich panisch zerstreuen. Wie die weiße Straße rot wird. Doch es ist nicht das Morgenlicht, nicht die rote Seide. Es ist Blut. Echtes, bei jedem Schuss aufspritzendes Blut.

Königin Maria hat ihr Leben lang alles ausgehalten.

Damit ist jetzt Schluss.

Ohne zu zögern, dreht sie sich um, fixiert die Tür, hinter der sich ihr Ehemann versteckt. Sie hat schon viel zu lange gewartet. Es wird Zeit, der erbärmlichen Kreatur ein Ende zu machen, die ihr Leben in eine Hölle auf Erden verwandelt hat.

Noch wölbt sich ihr Bauch nicht, aber sie trägt ein Kind unter dem Herzen, das alle für einen Sprössling des Königs halten, sogar Seine Majestät selbst. Er hat ihre Geschichte bestätigt, ebenso teilnahmslos, wie er Sir George weitere Befehle verweigert hat.

Die Königin, eine Erscheinung ganz in Weiß, blass geschminkt, mit weißen Perlen und funkelnden Diamanten behangen, verharrt vor der Tür ihres Mannes. Mit einer Stimme, so schneidend wie eine Klinge, so tödlich wie Gift, zitiert sie Madame Hiver an ihre Seite. Ihr Blut kocht. Sie ist der Engel des Todes, und nun wird sie sich den König holen.

Und ohne es zu ahnen, wird sie das Wunder vollbringen, für das Rea Emris gebetet hat.

Eine Stunde später ist es geschehen. Der König wird in seinen Gemächern aufgefunden, mit einem Strick um den Hals. Den Schießbefehl hat er zuvor zurückgezogen, über Funk. Er schien dabei nicht ganz er selbst zu sein, weshalb Sir George, Lord of Buckingham, beschloss, nach ihm zu sehen.

So hat er ihn gefunden. Der einst so stolze Mann baumelt tot und leblos von der Decke.

Die Königin wird umgehend verständigt. Sie befindet sich in ihren Gemächern, zusammen mit ihrer Mutter, der Kaiserin, und der französischen Diplomatin Madame Hiver. Natürlich wollen sie sich sofort zum König begeben, aber Sir George versichert ihnen, dass Seine Majestät keinen schönen Anblick bietet.

Dann sinkt er vor der Königin auf die Knie. Die Ritter, mit denen er gekommen ist, tun es ihm gleich. Jetzt, wo Seine Majestät nicht mehr ist und seine Erben entweder durch die Straßen marschieren oder noch im Leib der Königin heranwachsen, macht das Gesetz sie zur Regentin des Englischen Reiches. Der Captain der königlichen Rittergarde streckt ihr den Siegelring Seiner Majestät entgegen. Sie warten ab, bis die Königin ihn angelegt hat; er passt auch mit Handschuh nur an ihrem Daumen.

»Eure Majestät«, setzt Sir George an, und die anderen Ritter sprechen ihm nach: »In Zeiten des Lichts und der Dunkelheit schwören wir Euch Ergebenheit. In Zeiten der Freude und Zeiten der Klage gehört Euch unser Leben bis zum letzten Tage. Der Krone aller Könige leisten wir den Eid, empfangen von Gott und der Mutter Heiligkeit.«

Zum ersten Mal in ihrem Leben fällt es der Königin schwer, ihr Lächeln zu verbergen.

»Ich nehme Ihren Schwur an«, sagt sie leise und gestattet ihnen, den Ring zu küssen.

Hinter ihr verbeugt sich Madame Hiver tief. Sie macht sich nicht die Mühe, ihr Lächeln zu verbergen.

»Was soll mit den Demonstranten geschehen, Eure Majestät, nachdem nun nicht mehr geschossen wird?«, fragt Sir George, als seine Ritter sich wieder erhoben haben.

»Wie viele Tote?«

Sir George zögert. Der Puls der Königin schießt in die Höhe. Sie bemüht sich, tief durchzuatmen. »Sir George? Wie viele Tote gab es? Wie viele Verletzte?«

»Wir wissen es nicht, Eure Majestät«, antwortet er leise.

»Was ist mit meinen Kindern?«

»Und mit Miss Emris?«, fragt Madame Hiver, was die Königin doch sehr überrascht. Sicher, sie sind sich in Paris ein paar Mal begegnet, aber abgesehen davon wüsste sie nicht, was für eine Verbindung zwischen den beiden bestehen könnte.

Allerdings ist Madame Hiver eine kluge Frau und hat sicher bereits erkannt, wie gut es ihnen zupasskäme, wenn Miss Rea Marian Emris, die all diesen Ärger verursacht hat, die den Sohn der Königin verführt hat, getötet worden wäre. Genüsslich stellt sich Königin Maria vor, wie Miss Emris bleich und steif in ihrem eigenen Blut auf der Straße liegt. Robin würde sicher irgendwann darüber hinwegkommen.

Eines ist jedenfalls sicher: Solange Maria unter den Lebenden weilt, wird Rea Emris niemals Königin werden.

In gedämpftem Tonfall setzt Sir George zu einer Antwort an: »Madame, Eure Majestät …«

»Sir George – wo ist mein Sohn?«, wiederholt die Königin mit ungewöhnlicher Dringlichkeit in der Stimme.

»Eure Majestät …« Er windet sich. Würde der Mann sich so winden, wenn sie alle unversehrt geblieben wären?

Nein, denkt sie. Robin darf nicht gefallen sein.

»Ich habe aus Ihrem Mund noch nie ein solches Gestammel gehört, Sir George. Antworten Sie Ihrer Königin«, fordert sie so schneidend, dass ihr Captain zusammenzuckt.

»Die Situation ist unübersichtlich, Eure Majestät«, gesteht er schließlich ein. »Wir haben den Kronprinzen bislang nicht gefunden. Aber wir haben es auch noch nicht geschafft, die Toten zu sichten.«

Das Herz der Königin setzt einen Schlag aus.

»Dann werde ich hinausgehen und sie selbst sichten«, verkündet sie.

Kapitel 3

Die Königin

Gemeinsam mit Madame Hiver, Sir George und einer Eskorte verlässt die Königin den Buckingham Palace – die Ritter zu Pferde, die Damen in einer schnellen weißen Kutsche, die eher für Spazierfahrten durch die Palastgärten geeignet ist als für die Begutachtung eines Schlachtfeldes.

Während sie die Constitution Hill hinauffahren, blickt die Königin starr nach vorne. Sie spürt, wie ihr Herz sich zusammenkrampft. Dort sind sie. Dort stehen sie.

Die Feuerschwestern haben Hyde Park Corner nicht aufgegeben. Noch immer drängt sich eine abgerissene Gruppe Demonstranten um den Pavillon am Ende der Straße. Ihre Kleidung und ihre bunten Bänder sind verdreckt, in ihren Gesichtern spiegeln sich Trauer und Wut. Ganz oben in einem Baum weht ein rotes Seidenband. Diese Menschen sehen nicht aus wie Sieger. Diese Menschen sehen aus wie Verlierer.

Was sie verloren haben, wird schnell klar: Sie haben ihre Toten auf roten Seidenbahnen aufgereiht. Sir George versichert, dass die Verletzten bereits in die umliegenden Krankenhäuser gebracht worden seien. Die Königin zählt zwölf dieser Totenbetten, doch sie kann die Gesichter nicht erkennen. Sie weiß nur, dass Victoria und William in der ersten Reihe standen, als die Ritter das Feuer eröffneten.

Ich war nicht schnell genug, denkt sie, von Angst getrieben. Madame Hiver steht auf, um sich einen besseren Blick auf die Totenbetten zu verschaffen. Ihre Hände zucken voller Ungeduld.

»Halt!«

Die Königin kennt diese Stimme. Nun steht Madame Hiver so dicht neben ihr, dass sie den Schauer spürt, der die Französin überläuft. Sie beide kennen diese entgeistigte Stimme. Bei der heiligen Maria, wie gut sie diese Stimme kennen.

Eine Gestalt drängt sich durch die Reihen der Demonstranten, eine Frau. Sie trägt ein schwarzes Cape und schwere Soldatenstiefel. Hände, Gesicht und Hals sind unbedeckt, die Haare kurz. Während sie auf die Straße tritt und sich der Kutsche nähert, sieht die Königin das Feuer, das in ihren blauen Augen lodert. Schmutz haftet an ihren Wangen, sie hat Blutflecken auf der Kleidung. Und an ihrem Hals leuchtet die Feuerseide, zusammen mit vier anderen Bändern, ganz offen, sodass jeder sie sehen kann: violett, gelb, grün, blau.

Hinter ihr wenden sich die Feuerschwestern der Kutsche und den Rittern zu. Sie heben die Hände, sodass die Frau von wehender roter Seide umspielt wird, während sie die Constitution Hill hinuntergeht. Mitten auf der weißen Straße bleibt sie stehen: eine schwarze Flamme, deren grelle Glut das Glas und die weiße Farbe ringsum zu versengen scheint.

Rea Emris.

Ihre Körperhaltung verrät, dass sie verletzt ist. Irgendwo unter ihrer Kleidung fließt Blut. Vielleicht aus einer Schulterwunde, aber Maria kennt sich in diesen Dingen nicht besonders gut aus. Rea Emris atmet schwer, doch sie hält sich aufrecht, richtet den Blick aus ihren brennenden Augen auf die Königin und reckt stolz den Kopf.

»Keinen Schritt weiter«, befiehlt sie mit wütender Stimme. Ihre Tränen ziehen helle Bahnen durch den Schmutz auf ihren Wangen.

Sir George pariert sein Pferd durch. Die Ritter und der Kutscher folgen seinem Beispiel.

Einen Moment lang sagt niemand etwas, dann erhebt sich Maria langsam. Schließlich ist es ihr Vorrecht, das Gespräch zu eröffnen.

Anscheinend hat niemand Rea Emris über die königlichen Privilegien informiert. »Was wollt Ihr?«, fragt sie. »Macht schnell, wir betrauern hier unsere Toten, die Ihr habt abschlachten lassen.«

Die Königin hält inne. Würde Rea Emris weinen, wenn nicht jemand gefallen wäre, der ihr nahesteht? »Wo ist mein Sohn? Wo sind meine Kinder?«, ruft sie. Doch ihre Stimme ist nicht daran gewöhnt, weite Strecken zu überwinden. Sir George wiederholt die Frage für sie.

Niemand rührt sich, nicht einmal Rea Emris, deren Hände sich zu Fäusten geballt haben. Reglos sieht sie der Königin in die Augen.

Dann kommt Bewegung in die Menge der Demonstranten. Die Menschen treten beiseite, der Pulk teilt sich. Zwei Gestalten werden sichtbar, eine von ihnen kommt langsam auf die Kutsche zu.

Die Königin lässt sich zurück auf ihren Sitz fallen. Ihr ist schwindelig vor Erleichterung. Da sind ihre Söhne, sie sind beide am Leben. William, der Größere der beiden, rührt sich nicht, hebt nicht einmal den Kopf. Er sitzt auf dem Boden und hat das Gesicht in den Händen vergraben.

Nicht so Robin. Er schiebt sich die Kapuze vom Kopf und baut sich mit wehendem Cape an Reas Seite auf. Wo in ihren Augen noch Flammen lodern, hat die Hitze in seinen bereits alles verbrannt. Sobald er neben ihr steht, greift er nach ihrer Hand.

»Warum bist du gekommen, Mutter?«, wiederholt er die Frage von Miss Emris. »Was könntest du uns noch sagen wollen, nachdem die Gewehre der königlichen Ritter eine so deutliche Sprache gesprochen haben?«

»Robin«, erwidert die Königin, einfach nur, um seinen Namen auszusprechen. »Robin, William. Ich bin gekommen, um euch Neuigkeiten zu bringen. Euch und euren treuen Gefolgsleuten.«

Ein deutlich hörbares Schnauben ertönt. Dann tritt der Weiße Ritter aus der Menge. Blanc. Bei seinem Anblick steigen warme Erinnerungen in der Königin auf – ungewollt und störend. »Arschkriecherei bringt dir hier gar nichts, Maria. Du solltest besser zum Punkt kommen.«

Er stellt sich zu Rea und Robin, und das nicht allein, denn er wird von zwei weiteren Mousquetaires flankiert: dem Comte de l’Aisne, seinem Lieutenant, und einem zweiten Mann in gelber Weste, auf der vorne und hinten Arzt steht. Ihre Uniformen sehen ziemlich mitgenommen aus, ihre Augen sind glasig. Der Arzt schwankt sogar leicht. Die Königin hört, wie der Comte de l’Aisne mahnend seinen Namen murmelt: »René.«

Doch René lässt sich anscheinend nicht davon abhalten, seinen Kameraden zur Seite zu stehen. Blanc schont seinen linken Arm, scheint ansonsten aber unverletzt zu sein.

Die Königin lässt ein paar Sekunden verstreichen. Dann setzt sie wieder zum Sprechen an, nun schon mit kräftigerer Stimme: »Der Weiße König ist tot.«

Ein gedämpftes Raunen läuft durch die Menge. Robin weicht unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Was?«

Neben ihm ringt Rea Emris um ihr Gleichgewicht; offenbar ist sie so erleichtert, dass sie weiche Knie bekommen hat.

Noch einmal ruft die Königin: »Der Weiße König ist tot!«

Die Nachricht wird weitergegeben, verbreitet sich wie ein Lauffeuer unter den Feuerschwestern. Freudenrufe werden laut, in denen unüberhörbar Triumph mitschwingt. Nur William rührt sich nicht. Robin kommt ein Stück weit auf die Kutsche zu, hält sich dann aber mühsam zurück. Noch immer hat Rea Emris seine Hand gepackt. »Wie?«

»Er hat sich das Leben genommen. Die Krone wünscht kein weiteres Blutvergießen. Sie wünscht das Wohlergehen ihrer Untertanen«, erklärt die Königin. Das ist ihre Gelegenheit. Sie richtet sich zu ihrer vollen Größe auf. »Ich habe den Rittern sofort befohlen, sich zurückzuziehen. Man hätte niemals auf euch schießen dürfen. Die Krone wünscht kein weiteres Blutvergießen.« Nach einer wohlkalkulierten Pause fügt sie hinzu: »Der König ist tot. Die Königin ist gekommen, um Frieden zu bringen!«

Während einige Feuerschwestern ganz hinten in der Menge noch skandieren: »Der Weiße König ist tot!«, greifen sie vorne bereits ihre Worte auf: »Die Königin bringt Frieden!« »Frieden!« »Der König ist tot! Lang lebe die Königin!«

Nur Miss Emris starrt sie wutentbrannt an. Oder gilt ihr Blick etwa Madame Hiver? Was verbindet diese beiden Frauen so eng miteinander?

»Und welchen Preis wird Euer Frieden fordern, Eure Majestät?«, fragt sie mit klarer Stimme. »Welchen Preis, zusätzlich zu den zwölf Toten, die hier vor Euch liegen? Welchen Preis, zusätzlich zu all den Verletzten? Welchen Preis neben meinem Bruder und der Duchesse d’Orléans, die im Krankenhaus sind? Meinem Bruder, der vielleicht seinen Arm verliert, wenn nicht sogar sein Leben?« Ihr versagt die Stimme. Blanc legt ihr eine Hand auf die Schulter und drückt sie sanft. »Was verlangt Ihr noch von uns, Eure Majestät?«, fragt Rea Emris zitternd.

Die Königin schüttelt den Kopf. »Ich verlange gar nichts von euch«, sagt sie sanft. »Ich verlange überhaupt nichts von dir, Robin. Stattdessen habe ich eine Bitte: Würden dein Bruder und du zu mir kommen, um alles weitere auszuhandeln? Morgen Vormittag? Wenn wir Frieden schaffen wollen, müssen wir entscheiden, wie das vonstattengehen soll.«

Robins Miene verfinstert sich. William hebt den Kopf, doch die Königin beachtet ihn nicht weiter. »Nur mit Rea an meiner Seite«, fordert Robin.

Nachgiebig neigt die Königin den Kopf. Mit so etwas hat sie gerechnet, seit klar ist, dass Miss Emris lebt. Sie muss ihren Söhnen ja nicht sagen, dass diese Frau niemals ihre Krone tragen wird, solange sie es verhindern kann. »Selbstverständlich. Die Feuerschwester ist im Buckingham Palace willkommen. Ich werde den Rittern befehlen, sich vollständig zurückzuziehen. Von dieser Stunde an soll niemand in diesem Königreich mehr in Angst leben müssen. Wir werden einen Frieden aushandeln, der uns allen gerecht wird.«

Robin wendet sich Rea zu. Zwischen den beiden scheint eine Art stummer Zwiesprache stattzufinden. Dann dreht sich Rea wieder zur Königin um.

»Wir werden morgen Vormittag in den Palast kommen, Eure Majestät. Für den Frieden.«

»Für den Frieden!«, jubelt die Menge.

»Für den Frieden«, wiederholt Madame Hiver beinahe selbstvergessen. Die Königin gestattet sich ein kleines Lächeln, dann weist sie Sir George an, die Kutsche wenden zu lassen. Sie haben sich schon beinahe ganz von den Demonstranten abgewandt, als ein lauter Schrei ertönt: »Willst du denn gar nicht nach Victoria fragen?«

Sofort dreht sich die Königin um. Es ist William. Nie zuvor hat sie ihn schreien gehört, ihn so aufgewühlt erlebt. Die Haare fallen ihm in wilden Locken in die Stirn, sein Mantel hängt offen herab. Tiefe Kratzer ziehen sich über sein Gesicht. Er ist aufgesprungen und zu seinem Bruder gerannt, steht nun schwer atmend neben ihm. »Willst du dich nicht einmal nach ihr erkundigen?«, wiederholt er. In seiner Stimme schwingt Verzweiflung mit, doch sein Blick ist leer.

Die Königin presst die Lippen aufeinander. »Wo ist deine Schwester, William?«, fragt sie.

Er wendet sich einem der Totenbetten zu, doch Robin packt ihn drängend an der Schulter. »Nein, William. Noch ist sie nicht tot. Sie tun alles, um sie am Leben zu erhalten. Sie werden sie retten.«

»Aber sie hat so viel Blut verloren«, erwidert William, seine Stimme zitternd vor Wut und Erschöpfung.

»Uns bleibt die Hoffnung«, betont Robin.

»Ich habe keine mehr«, flüstert sein Bruder. Die leisen Worte erreichen gerade noch die Kutsche.

Bis zum Abend hat die Königin den Rückzugsbefehl für die Ritter ausgegeben, den Thronsaal für die morgigen Verhandlungen vorbereiten lassen, die ersten Gespräche mit den Adeligen geführt, die es zu überzeugen gilt, und eine neue Krone in Auftrag gegeben. Eine Krone für eine Königin, nicht diesen grauen Stahlklumpen, den der König für eine angemessene Kopfbedeckung hielt. Diese Krone wird aus Glas sein, wird das Licht brechen wie ein Diamant: kühl und tugendsam wie die Königin selbst.

Natürlich wird sie vorgeben, die Krone nur zu verwahren, bis die Ehefrau des in ihr heranwachsenden Sohnes sie tragen kann. Aber in Wirklichkeit wird sie herrschen – Königin Maria I., auch ohne offiziellen Titel. Solange sie die Adeligen hinter sich weiß, wird ihr niemand den Titel streitig machen können. Ihre Mutter die Kaiserin wird stolz auf sie sein.

Die Kaiserin ist nach Berlin gereist. Es war unabdingbar, dass sie an ihren eigenen Hof zurückkehrt, um ihre Marine in Alarmbereitschaft zu versetzen; nur für den Fall, dass die Legitimität des Thronanspruches ihrer Tochter im Ausland angezweifelt wird. Deshalb leistet nun lediglich Madame Hiver der Königin in ihren Gemächern Gesellschaft. Schon morgen wird die Königin in die Räumlichkeiten des Königs übersiedeln und sie ähnlich einrichten lassen wie den Neuen Hof in Berlin. Weg mit dem Glas.

Madame Hiver kreiert geschickt eine Flechtfrisur für die Königin. Sie trägt Handschuhe, sodass ihre schnellen Finger vollkommen harmlos wirken. Doch die Königin weiß, wozu diese Hände in der Lage sind. Erst heute Morgen hat sie es gesehen: Sobald Madame Hiver das Gesicht des Königs berührte, verdrehte er willenlos die Augen, wurde zu Wachs in ihren Händen.

Die Königin vermutet, dass er den Kampf aufgegeben hat. Das hat sie an seinem Blick erkannt, als sie auf ihn zumarschiert sind. Sein Gesicht hat einfach nur müde ausgesehen. Er hat den Arm nach ihr ausgestreckt, um sie noch einmal zu berühren.

Sie hat ihm vor die Füße gespuckt.

Er hat sich nicht einmal gewehrt. Vielleicht ist Madame Hiver deshalb gelungen, wofür Rea Emris beinahe ihr Leben gegeben hätte: den Geist des Weißen Königs zu bezwingen. Er hat den Schießbefehl aufgehoben und ohne weitere Anleitung nach dem Strick gegriffen.

Oder Madame Hiver ist mächtiger, als die Königin es sich vorstellen kann. Deshalb ist sie froh, dass Madame nun wieder Handschuhe trägt.

»Was werdet Ihr Euren Kindern sagen, wenn sie morgen kommen, Majestät?«, fragt die französische Diplomatin sie. Ihre Stimme ist wirklich hinreißend. Es überrascht die Königin nicht, dass le Roi, der König von Frankreich, dieser Frau verfallen ist. Neben ihr fühlt sich selbst Königin Maria I. einen Moment lang unzulänglich. Kennt denn nicht eigentlich nur eine Frau wie Madame Hiver wahre Macht? Eine Frau, die durch bloße Berührung Könige vom Thron stoßen kann? Sie braucht nicht mehr als einen nackten Finger dazu.

Wenn ich doch nur auch über diese Macht verfügen würde, denkt die Königin. Wenn ich doch nur auch damit geboren worden wäre.

Natürlich ist allein der Gedanke grotesk. Wäre sie als Magdalena geboren worden, wäre sie niemals Königin geworden. Dann hätte sie die Glasbläserzeremonie nicht überlebt, wäre nie mit dem Weißen König vermählt worden.

»Ich werde ihnen dauerhaften Frieden anbieten, was sonst?«, antwortet Königin Maria.

Im Vergleich zu Madames Stimme klingt ihre kalt und schal. Madames Stimme ist die reine Verführung. Als sie sich nun vorbeugt und der Königin die nächste Frage ins Ohr flüstert, kann die sich ihrem zarten Sog, der subtilen Verheißung, kaum entziehen.

»Und wenn sie mehr verlangen, als Ihr zu geben bereit seid?«

Über diese Möglichkeit hat die Königin sich bereits Gedanken gemacht, und sie fühlt sich gerüstet.

»Ich kann gut damit leben, wenn sie das Berührungsverbot aufheben, solange sie im Gegenzug sämtliche Thronansprüche an mein ungeborenes Kind abtreten.« Es ist wichtig, dass sie Regentin bleibt. Dass weder Robin noch William die Krone für sich fordern. Vor allem Rea Emris darf nicht einmal daran denken, dem Thron zu nahe zu kommen, den sie unwiederbringlich besudelt hat. »Und genau diesen Handel werde ich ihnen vorschlagen: Aufhebung des Berührungsverbotes gegen die Krone. Körperliche Berührung kann ruhig legalisiert werden, vor allem mit einer ausreichend langen Übergangszeit. Und wenn ich den zerstörerischen Einfluss durch Rea Emris erst einmal eliminiert habe, werden meine Söhne sich sicherlich wieder meiner Sicht der Dinge anschließen«, fasst sie gelassen zusammen.

Madames Hände halten nicht eine Sekunde inne. »Und wie genau wollt Ihr sie loswerden?«

»Feuer muss man mit Feuer bekämpfen.« Die Königin dreht sich um und versucht, ihrer Stimme einen ähnlichen Tonfall zu verleihen wie Madame Hivers. »Sie haben mir dabei geholfen, einen König zu töten, Madame. Würden Sie mir die Ehre erweisen, mein Steward zu werden? Mein erster Minister? Meine engste Beraterin?«

Nun kommen Madames Finger doch zur Ruhe. »Euer Auftragsmörder?«

»Falls nötig.«

Madame Hiver scheint sich das Angebot durch den Kopf gehen zu lassen.

»Ist es denn nicht genau das, was Sie wollen?«, hakt die Königin nach. Sie kennt Frauen wie Madame Hiver. Kennt sie gut, weil sie selbst eine von ihnen ist: Frauen, die vor nichts zurückschrecken, weil ihnen bereits alles genommen wurde. »War das nicht der Grund, warum Sie mir geholfen haben?«

»Ihr glaubt, ich strebe danach, eine Mörderin zu sein, Majestät?«

»Nein. Ich glaube, Sie streben nach Macht, Madame.«

Madame Hivers Finger widmen sich wieder den goldenen Haaren der Königin. »Und die könnt Ihr mir zusichern?«

»Solange ich Regentin bin, ja.«

Mit einer schnellen Handbewegung beendet Madame ihre Flechtarbeit. »Dieses großzügige Angebot will wohlüberlegt sein, Majestät, immerhin habe ich bereits einem anderen Monarchen einen Diensteid geleistet.«

Für einen Moment wird die Königin von Zweifeln heimgesucht. Hat sie sich etwa verschätzt? Sollte Madame sich nicht freudig auf diese Gelegenheit stürzen? Was will sie denn in Frankreich, an der Seite eines Königs, der sämtliche Macht seinem Parlament überlassen musste?

Kann es sein, dass Madame den französischen König tatsächlich liebt?

Doch dann fällt ihr wieder ein, was für eine lächerliche Gestalt dieser Mann ist: seine Tobsuchtsanfälle, sein gesamtes Wesen, dieser Schnurrbart … Nein, eine Frau wie Madame Hiver könnte einen solchen Mann niemals lieben, ganz gleich, wie viel Macht er ihr verspricht. Ein solcher Mann kann nie mehr für sie sein als ein Sprungbrett zu Höherem.

»Lassen Sie sich nur nicht allzu viel Zeit«, erwidert die Königin eisig, um ihre Zweifel zu überspielen. »Ein solches Angebot mache ich nicht jedem, und ich tendiere nicht dazu, mich zu wiederholen.«

Damit steht sie auf. Aus dem Augenwinkel registriert sie, wie extrem tief Madame Hivers Verbeugung ausfällt. Was das wohl zu bedeuten hat? Und was könnte sie Madame noch anbieten? Die Königin will – nein, braucht – sie an ihrer Seite.

Obwohl … Vielleicht gibt es da noch einen anderen Kandidaten. Noch jemanden, den sie zu ihrer rechten Hand machen könnte, der ihr treu ergeben dienen würde.

Und der Miss Emris töten würde, ohne zu zögern.

Aus dieser Überlegung heraus dreht sich die Königin noch einmal zu Madame Hiver um. Auf ihrem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. »Lassen Sie nach meinem Fähnrich schicken, wenn Sie gehen.«

Kapitel 4

Die Königin

Die Königin weiß, wie unerschrocken ihr Fähnrich ist.

Beschränkt, aber unerschrocken.

Er ist ein Mann voller Überzeugungen; ein weit verbreiteter Fehler unter Menschen, die es im Leben nicht weit bringen, wie die Königin festgestellt hat. Aber sie ist bereit, ihm in dieser Hinsicht zu helfen. Diesen Ritter anzuleiten. Denn als sie ihm bei seinem Eintritt in die GVK, der Guard of Virtous Knights, unter die Arme gegriffen hat, geschah das nicht allein aufgrund seiner Dienstbeflissenheit, die sich natürlich noch als nützlich erweisen würde, da seine Loyalität voll und ganz ihrer Person gilt. Nein, die Förderung einzelner Auserwählter gehörte schon immer zu ihrer Machterhaltungsstrategie. Schließlich konnte ihr nie ein offizieller Eid geschworen werden.

Dennoch war seine Beflissenheit nicht der einzige Grund. Noch etwas anderes hat sie dazu verleitet:

Er hat sie an James erinnert.

Selbstverständlich hat der Fähnrich rein gar nichts mit James gemeinsam. Die Königin ist stolz auf ihre Menschenkenntnis, die sie innerhalb kürzester Zeit das Wesen anderer durchschauen lässt. Aber vielleicht hat die Erinnerung an James bei der ersten Begegnung mit dem Fähnrich diesen klaren Blick ein wenig getrübt. Oder vielleicht hat auch sie selbst sich verändert; vielleicht würde sie James, wenn sie ihn heute kennenlernte, nicht mehr dieselben Gefühle entgegenbringen wie damals.

Vielleicht hat sie endlich gelernt, dass man niemandem trauen darf.

Jedenfalls ist es nicht verwunderlich, dass die beiden Männer sich so unähnlich sind. James war ebenfalls unerschrocken und loyal, aber er hatte Verstand. Dem Fähnrich hingegen ist es lieber, wenn andere das Denken übernehmen.

Was vermutlich auch nicht das Schlechteste ist, sagt sich die Königin, während sie in majestätischer Aufmachung in ihren Gemächern wartet, mit breitem Rock und kostbaren Juwelen, das Haar noch immer sorgfältig geflochten. Nur das Make-up hat sie entfernt. Sie kann die dicke weiße Farbschicht auf der Haut einfach nicht mehr ertragen. Darunter glaubt sie zu ersticken. Nein, der Fähnrich ist wohl nicht der schlechteste Kandidat. Bei jemandem wie Madame müsste sie stets auf der Hut sein; bei ihrem Fähnrich ist das nicht nötig. Er liebt sie bedingungslos.

Eine knappe Stunde nach Madame Hivers Aufbruch ist er vor ihren Gemächern erschienen und steht dort nun seit fast einer Viertelstunde bereit. Sie lässt ihn warten. Einen Großteil der Zeit durfte er ihre würdevolle, hochherrschaftliche Silhouette bewundern, die sich hinter den weißen Vorhängen an den Glaswänden ihrer Räumlichkeiten abzeichnet. Jetzt löscht sie allerdings das Licht, lässt nur eine der Lampen brennen. Was sich gleich hinter diesen Wänden abspielen wird, soll niemand sehen. Sie weiß, dass es ihn erregt, ihr beim Löschen der Lampen zuzusehen. Gleichzeitig ist es eine Qual für ihn, sie nun nicht mehr sehen zu können. Je länger sie unsichtbar bleibt, desto größer wird seine Angst werden, dass sie ihn vielleicht doch abweist, dass er sie gar nicht mehr zu Gesicht bekommen wird, dass er nicht berühren darf, wonach er sich so sehr verzehrt.

Es ist beinahe zu leicht, diese Spielchen mit ihm zu spielen. Maria lässt eine weitere Viertelstunde verstreichen. Beobachtet nun seine Silhouette, die immer unruhiger wird. Sieht zu, wie er von einem Fuß auf den anderen tritt, wie er sich den Wachen vor ihrer Tür zuwendet, nur um dann schnell den Kopf zu senken. Reglos zu verharren, beschämt, weil er so undiszipliniert ist. Wütend, dass sie seine Schwäche bemerkt haben. Sicherlich ist er rot geworden, von den Wangen bis hinunter zum Hals.

Lächelnd weist sie endlich die Wachen an, ihn einzulassen.

Das bedeutet aber auch, dass ihr Fähnrich die Tür selbst öffnen muss. Mit schamroten Wangen greift er nach der Klinke, um die Tür hinter sich zu schließen; das registriert die Königin sogar in dem sanften Licht der letzten noch brennenden Lampe.

Dass er sich vor seiner Königin so weit erniedrigen muss, die doch niemals etwas so Unreines wie einen Türknauf berührt hat … Gewiss eine abgrundtiefe Schmach für ihn.

Auch jetzt würde die Königin einiges dafür geben, solche Kräfte wie Madame Hiver oder Miss Emris zu besitzen. Zu gerne würde sie seine bloße Haut berühren und herausfinden, ob ihre Vermutung richtig ist, ob er wirklich etwas in dieser Art denkt.

Andererseits spielt es keine Rolle. Ob sie den Fähnrich nun richtig deutet oder nicht, sie weiß genau, wie sie mit ihm umzugehen hat. Sein Devotionsknicks fällt so tief aus, dass seine Stirn beinahe den weißen Teppich berührt. Dabei hält er die Hände perfekt hinter dem Rücken gekreuzt. Keine Sekunde gerät er ins Wanken, was sie jedes Mal wieder beeindruckend findet.

»Zu Euren Diensten, Majestät.«

Die Königin schweigt. Diese Strategie wendet sie gerne an, weshalb altgediente Höflinge bereits daran gewöhnt sind. Sie fahren dann nicht fort, plappern nicht einfach drauflos, wie der Fähnrich es nach einem peinlichen Moment der Stille tut: »Ich gehöre ganz Euch, Majestät. Kein Wunsch von Euch ist zu gewöhnlich, zu riskant, zu finster für diesen Ritter. Ihr seid meine Königin.« Er sinkt auf die Knie. »Gestattet mir, es auszusprechen, Eure Majestät. Ich flehe Euch an: Erlaubt mir, Euch die Treue zu schwören, wie mein Captain es bereits getan hat. Gewährt mir dieses Privileg, diese Freude, diese Ehre.«

Einen Moment lang wirkt das Lächeln der Königin beinahe traurig. Welch ein unerschrockener junger Mann. Welch ein dummer junger Mann.

In diesem Moment ist sie fast versucht, ihn wieder fortzuschicken.

Aber nur fast.

»Erhebe dich, Fähnrich.«

Er zuckt kurz zusammen, gehorcht aber.

Dem Beispiel von Madame Hiver folgend, senkt sie die Stimme, als sie befiehlt: »Tritt näher.«

Diesmal gehorcht er nur zu gerne. Die blauen Augen, die blonden Haare, das hübsche Gesicht. Er glaubt zu wissen, was jetzt kommt. Schließlich durfte er sie schon öfter berühren.

Schließlich wächst sein Kind in ihrem Bauch heran.

Als nur noch wenige Zentimeter sie trennen, hebt er die Hand. Ihre schneidende Stimme lässt ihn erstarren. »Mit diesen beschmutzten Fingern willst du mich berühren?«

Der vernichtende Tonfall scheint ihn nur noch stärker zu erregen. Er steht so still, dass seine Glieder leise zittern. Nach genau dieser Erregung hat sie sich gesehnt. Das war ihr Wunsch: voller Begehren und Bewunderung im Blick betrachtet zu werden, nicht voller Herablassung, weil sie eine machtlose Frau ist. Oder voller Furcht vor der mächtigen Königin.

»Nur wenn Ihr es wünscht, Majestät«, antwortet er.

»Ich werde dir den Eid abnehmen«, fährt sie fort. »Den Eid, dass ich deine Herrscherin im Thronsaal sein werde. Dass du jede Tat vollbringen wirst, die ich dir auferlege, jeden meiner Befehle ausführen wirst, egal, worum es sich handelt. Diesen Eid werde ich dich schwören lassen, und dann …«

Die Spannung ist förmlich greifbar. Sie spürt die Wärme seiner Haut. Die Kraft seiner jungen Muskeln. »Dann will ich dich«, beendet Maria den Satz. Die Lust hat ihren gesamten Körper erfasst, lässt ihr Blut pulsieren. Diese Lust gehört ihr allein: Maria von Berlin, wie sie genannt wurde, bevor sie Königin wurde.

Der Fähnrich sinkt wieder auf die Knie und legt den Eid ab. Anschließend verharrt er in dieser Stellung, unter ihren Röcken, bis ihre Knie weich werden. Erst dann gestattet sie ihm, aufzustehen und sie vor sich her zu schieben. Als er sie hochhebt, spürt sie wieder seine harten Muskeln, die Hitze der eigenen Haut. Gierig drückt er seine Lippen auf ihre, Lippen, auf denen ein Lächeln liegt. Er ist glücklich.

In diesem Moment sehnt sich Maria nach James. Nach dem Gefühl, das seine Berührungen in ihr ausgelöst haben. Dieser Intimität. Dieser Unschuld.

Glücklich.

Königinnen sind niemals glücklich.

Maria beißt ihn in den Hals, bis es wehtut, und keucht atemlos: »Jetzt wirst du mir wehtun.«

»Eure Majestät«, protestiert er, obwohl sie nicht zum ersten Mal solche Forderungen an ihn stellt.

»Hör auf, mich wie eine Porzellanpuppe zu behandeln!«, erwidert sie scharf.

Er gehorcht ihrem Befehl. Legt sie auf den weißen, von Schuhen beschmutzten Teppich. Zerrt an ihrem Kleid, bis es beinahe reißt. Packt ihre Haare, bis sich die Zöpfe lösen, biegt ihren Kopf nach hinten. Ihr blasser Körper wölbt sich ihm entgegen. Erst als sie splitternackt ist, schließt sich sein Handschuh um ihren Hals und drückt zu, bis sie kaum noch Luft bekommt. Dabei schmiegt er seinen noch immer voll bekleideten Körper an ihren, lässt sie flehend aufstöhnen. Nun vergisst Maria, dass sie eine Königin ist, und erinnert sich daran, dass sie auch jemand anderes hätte sein können. Jemand vollkommen anderes.

Hinterher legt er sie in die weichen Kissen, wo Maria ihm schließlich einen letzten Kuss gewährt.

»Schwöre, dass du meine Krone bis zu deinem letzten Atemzug verteidigen wirst.« Die Königin sieht den Fähnrich eindringlich an.

»Ich schwöre es bei meinem Leben«, antwortet er. »Selbst wenn außer mir niemand bliebe – ich werde Euch niemals im Stich lassen. Ihr seid die Einzige, die diese Krone tragen darf. Ihr und das Kind in Eurem Leib.«

Er sagt nicht unser Kind. Diese Freiheit hat er sich nur ein Mal herausgenommen. Doch diese Worte hat sie einzig und allein James zugestanden.

Maria schließt die Augen. Jetzt muss sie ihm den Befehl erteilen. Den Befehl, am nächsten Morgen Miss Emris zu töten.

Stattdessen bleibt sie liegen und denkt an James, als er jene fatale Kugel abfing, die eigentlich für Robin gedacht war. Damals hat sie geschrien, obwohl seit Jahren kein Laut dieser Art mehr ihre Kehle verlassen hatte. Nicht einmal, als ihre Mutter den Dienstboten befohlen hatte, Spinnen über den nackten Körper der nicht einmal zwölfjährigen Maria krabbeln zu lassen. Die Tochter einer Kaiserin darf sich nicht fürchten, vor gar nichts.

Als ihr Schrei schließlich verstummte, war sie innerlich leer. Vollkommen leer. Das konnte doch nicht Liebe sein. Wenn doch, dann war der Schmerz, der mit der Liebe kam, nicht eines der vielen Lieder wert, die über sie gesungen wurden.

Nicht das unbeschwerte Lächeln liebte sie am meisten an James, auch nicht seinen ernsten Blick oder die herrlich komischen Parodien, mit denen er Höflinge, Adelige und sogar Könige nachäffte.