Panther im Keller - Amos Oz - E-Book

Panther im Keller E-Book

Amos Oz

4,5

Beschreibung

Israel zur Zeit der englischen Besatzung: Profus hat sich mit einem englischen Sergeanten angefreundet. Eines Morgens steht an der Hauswand: »Profus ist ein gemeiner Verräter«. Das ist so ziemlich der gemeinste Vorwurf für einen Zwölfjährigen, der ganz in der Vorstellung lebt, ein Untergrundkämpfer zu sein. Unterstützung findet er bei Jardena, der schönen Nachbarstochter. Amos Oz greift ein brisantes Thema auf : Ist es vorstellbar, daß ein Feind sich menschlich zeigt? Und wie würde man selbst darauf reagieren? »DIE BESTEN 7 BÜCHER FÜR JUNGE LESER«, AUSGEWÄHLT VON FOCUS UND DEUTSCHLANDRADIO

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"Profus ist ein gemeiner Verräter" steht eines Morgens an der Hauswand. Das ist so ziemlich der schlimmste Vorwurf für einen Jungen, der in der Vorstellung aufgeht, ein Untergrundkämpfer zu sein. Profus lebt nämlich ständig in dem Traum, Anführer einer Organisation zu sein, die zwar bloß aus ihm und seinen Freunden Ben Hur und chita besteht, aber um so abenteuerlichere Anschläge gegen den Feind plant. Solche Phantasien sind nur allzu verständlich, denn die Atmosphäre unter den erwachsenen Juden in Erez Israel ist extrem angeheizt. Sie fordern endlich den ihnen versprochenen Staat und fühlen sich von der britischen Ordnungsmacht okkupiert. Schwäche zu zeigen ist da eine Sünde. Und mit dem Feind zu reden ist ein Tabu. Aber genau das hat Profus gemacht - und dabei den Feind aus den Augen verloren.

Amos Oz

Panther im Keller

Aus dem Hebräischen von

Vera Loos und Naomi Nir-Bleimling

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel panter bamartef im Verlag Keter Publishing House, Jerusalem

ISBN 978-3-446-25523-4

© Amos Oz und Keter Publishing House 1995

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München Wien 1997/2016

Umschlag: Quint Buchholz

Satz: Satz für Satz. Barbara Amann, Leutkirch

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Für Dean, Nadav und Alon

1

Viele Male in meinem Leben hat man mich Verräter genannt. Das erste Mal, als ich zwölfeinviertel Jahre alt war und in einem Stadtteil am Rand von Jerusalem wohnte. Es war in den Sommerferien, weniger als ein Jahr, bevor die britischen Machthaber das Land räumten und aus dem Krieg der Staat Israel geboren wurde.

Eines Morgens erschien in schwarzer, fetter Farbe auf der Mauer des Hauses, in dem wir wohnten, unter dem Küchenfenster eine Aufschrift: »Profus ist ein gemeiner Verräter«. Das Wort gemein ließ eine Frage aufkommen, die mich auch jetzt, da ich hier sitze und diese Geschichte niederschreibe, interessiert: Kann es sein, daß ein Verräter nicht gemein ist? Wenn nicht, warum hatte Chita Resnik (ich hatte seine Handschrift erkannt) sich dann die Mühe gemacht, das Wort gemein hinzuzufügen? Und wenn ja, wann ist ein Verrat keine gemeine Tat?

Der Spitzname Profus hing mir an, seit ich diese Eigenart entwickelt hatte. Er kam von der Abkürzung für Professor und rührte von meiner Manie her, Worte genauen Untersuchungen zu unterziehen. (Bis heute hege ich eine Vorliebe für Worte, liebe es, sie zu sammeln, zu arrangieren, zu mischen, zu drehen, zusammenzufügen. Ungefähr so, wie die Liebhaber des Geldes es mit Münzen und Scheinen tun und die Freunde des Kartenspiels mit den Spielkarten).

Vater hatte um sechs Uhr dreißig das Haus verlassen, um die Zeitung zu holen, und die Aufschrift unter dem Küchenfenster entdeckt. Beim Frühstück, als er gerade dabei war, eine Scheibe Schwarzbrot mit Himbeermarmelade zu bestreichen, steckte er jäh das Messer fast bis zum Schaft ins Marmeladenglas und sagte mit seiner gemessenen Stimme: »Sehr schön. Eine Überraschung. Was hat Seine Exzellenz denn angestellt, daß uns diese Ehre zuteil wird?«

Mutter sagte: »Quäl ihn nicht schon am frühen Morgen. Es genügt, daß die Kinder ihm zusetzen.«

Vater trug khakifarbene Kleidung wie die meisten Männer unseres Viertels in jenen Tagen. Er hatte die Gebärden und auch die Stimme eines Menschen, der vollkommen im Recht ist. Er förderte mit seinem Messer einen zähen Himbeerklumpen vom Boden des Glases, bestrich beide Hälften der Brotscheibe gleichermaßen und sagte:

»Die Wahrheit ist, heutzutage nimmt nahezu jedermann das Wort Verräter allzu leicht in den Mund. Wer ist eigentlich ein Verräter? In der Tat. Ein ehrloser Mensch. Ein Mensch, der heimtückisch, hinterhältig, für irgendeinen zweifelhaften materiellen Vorteil dem Feind behilflich ist, gegen das eigene Volk zu handeln. Oder seiner eigenen Familie und seinen Freunden Schaden zuzufügen. Schmählicher als ein Mörder. Bitte iß dein Ei auf. In der Zeitung schreiben sie, daß in Asien Menschen vor Hunger sterben.«

Mutter zog meinen Teller zu sich heran und aß das Ei und den Rest der Marmeladenschnitte, nicht aus Appetit, sondern aus Friedfertigkeit. Und sagte: »Wer liebt, ist kein Verräter.«

Dieser Satz war weder an mich noch an Vater gerichtet, sondern ihrem Blick zufolge an den Nagel, der über dem Eisschrank in der Küchenwand steckte und keinerlei Funktion erfüllte.

2

Nach dem Frühstück machten meine Eltern sich auf den Weg zur Arbeit und eilten zur Bushaltestelle. Ich blieb zu Hause und war frei. Bis zum Abend hatte ich ein Meer von Zeit, denn wir hatten Sommerferien. Als erstes räumte ich den Tisch ab und alles, was in den Eisschrank gehörte, in den Eisschrank, was in die Schränke kam, in die Schränke, und was gespült werden mußte, in den Spülstein, denn ich genoß es, den Tag über aller Verpflichtungen entledigt zu sein. Das Geschirr wusch ich ab und stellte es verkehrt herum in den Ablauf. Dann ging ich von Zimmer zu Zimmer und schloß Läden und Fenster, um mir bis zum Abend eine Höhle zu schaffen. Sonne und Wüstenstaub konnten Vaters Büchern, die die Wände bedeckten und unter denen sich seltene Exemplare befanden, schaden. Ich las die Morgenzeitung und ließ sie sorgfältig gefaltet auf der Ecke des Küchentischs liegen, Mutters Brosche legte ich zurück in ihre Schublade. All dies verrichtete ich nicht wie ein Verräter, der für seine Niedertracht Buße tat, sondern aus Liebe zur Ordnung. Bis heute habe ich die Gewohnheit, jeden Morgen und jeden Abend eine Runde durch das Haus zu machen und jeden Gegenstand an seinen Platz zu legen. Vor fünf Minuten habe ich hier etwas über das Schließen von Läden geschrieben, worauf ich meine Arbeit unterbrach, da es mir in den Sinn kam, aufzustehen und die Badezimmertür zuzumachen, die wohl lieber offen geblieben wäre: So jedenfalls klang ihr Jammern, als ich sie schloß.

Jenen ganzen Sommer über gingen Vater und Mutter um acht Uhr früh aus dem Haus und kamen um sechs Uhr abends zurück. Im Eisschrank wartete ein Mittagessen auf mich, und die Tage waren frei bis zum Horizont. Man hätte zum Beispiel mit einer Handvoll Soldaten, fünf oder zehn, auf der Strohmatte ein Spielchen beginnen oder mit Pionieren, Landvermessern, Erbauern von Straßen, Errichtern von Schützengräben in aller Ruhe die Naturgewalten bezwingen und ein paar Feinde besiegen, sich dann zum Herrscher über die Weiten des Landes machen, Städte und Dörfer hochziehen und Straßen zwischen ihnen planieren können.

Vater arbeitete als Korrektor und ging ein wenig dem Lektor eines kleinen Verlags zur Hand. Nachts pflegte er, umgeben von den Schatten seiner Bücherregale – den Körper in der Dunkelheit versunken und nur das graue Haupt im Lichtkegel der Schreibtischlampe, mit geneigten Schultern, als schleppe er sich müde durch die Schlucht zwischen den sich auf seinem Pult türmenden Bücherbergen –, bis zwei oder drei Uhr morgens dazusitzen und Karteikärtchen oder Merkzettel mit Notizen zu beschriften, als Vorbereitung für sein großes Werk über die Geschichte der Juden in Polen. Er war ein prinzipientreuer, konzentrierter Mensch, der sich hingebungsvoll der Idee der Gerechtigkeit verschrieben hatte.

Mutter hingegen liebte es bisweilen, ihr halbleeres Teeglas vor die Augen zu heben und hindurch in das blaue Licht im Fenster zu schauen. Manchmal brachte sie das Glas an ihre Wange, als schöpfe sie aus dieser Berührung Wärme. Sie war Lehrerin und Betreuerin in einem Heim für neueingewanderte Waisen, denen es gelungen war, sich in Klöstern oder abgeschiedenen Dörfern vor den Nazis versteckt zu halten, und die, nach Mutters Worten, »geradewegs aus dem finsteren Tal der Todesschatten« zu uns gekommen waren. Worauf sie sich umgehend verbesserte: »Die von Orten kommen, in denen der Mensch des Menschen Wolf ist. Sogar der Flüchtende des Flüchtenden, selbst das Kind des Kindes Wolf.« Ich fügte in meinen Gedanken die abgeschiedenen Dörfer mit den Horrorgestalten von Wolfsmenschen und der Finsternis des Tals der Todesschatten zusammen. Ich mochte die Worte finster und Tal; unverzüglich hatte ich ein in Dunkelheit gehülltes Tal vor Augen, voller Klöster und Kellergewölbe. Und der Begriff Todesschatten zog mich an, weil ich ihn nicht verstand. Wenn ich ihn flüsternd wiederholte: Todesschatten, konnte ich beinah einen tiefen, dumpfen Laut vernehmen, ähnlich dem Klang, der von der letzten Taste, der dunkelsten, des Klaviers ausgeht. Dem Laut, der eine Schleife dunkler Echos nach sich zieht: als sei ein Unglück geschehen, das nicht wiedergutzumachen war.

Ich ging zurück in die Küche. In der Zeitung stand, daß wir in einer schicksalhaften Zeit lebten und darum unsere letzten Kräfte mobilmachen müßten. Und noch etwas stand dort geschrieben: daß die Schandtaten der britischen Regierung schwere Schatten würfen und das hebräische Volk aufgerufen sei, sich der ihm auferlegten Prüfung zu stellen.

Ich ging aus dem Haus, sah mich nach allen Seiten um und versuchte, wie im Untergrund üblich, zu prüfen, ob mich jemand beschattete: ein Fremder mit Sonnenbrille, hinter einer Zeitung versteckt, verborgen im Schatten des Hauseingangs zu einem der umliegenden Gebäude. Die Straße schien mir jedoch in ihre eigenen Angelegenheiten vertieft: Der Gemüsehändler war dabei, aus leeren Kisten eine Mauer zu errichten. Der Laufbursche vom Laden der Brüder Sinopski zog einen knarrenden Handwagen hinter sich her. Die einsame Alte Fanni Ostrowska fegte beharrlich das Fleckchen Gehweg vor ihrer Haustür, wohl schon zum dritten Mal an diesem Morgen. Frau Doktor Gripius, die ledige Ärztin, saß auf ihrem Balkon und füllte Karteikarten aus, Vater hatte sie ermutigt, Material zu sammeln und den Versuch zu unternehmen, Erinnerungen an das jüdische Leben in ihrer Heimatstadt Rosenheim festzuhalten. Der Ölhändler kam langsam mit seiner Droschke vorbei, die Zügel schläfrig auf den Knien, und bimmelte mit einer Handglocke, während er seinem Pferd eine Art jiddischen Sehnsuchtsgesang vortrug. Und ich stand da und studierte abermals, aufs gründlichste, die schwarze Aufschrift »Profus ist ein gemeiner Verräter«. Vielleicht gab es irgendein winziges Detail, das die Sache in neuem Licht erscheinen ließe. Vor Hast oder Angst war der letzte Buchstabe des Wortes boged, Verräter, beinah zu einem r geraten, so daß man in mir keinen gemeinen Verräter, boged, sondern einen gemeinen Erwachsenen, boger, sehen konnte. An jenem Morgen hätte ich alles, was ich besaß, darum gegeben, ein Erwachsener zu sein.

Folglich war es Chita Resnik wie in »Bileams Geschichte« ergangen.

Serubbabel Gichon, unser Lehrer in Bibelkunde und Judentum, hatte uns im Unterricht erklärt: »Bileams Geschichte ist die: Er hatte die Absicht, einen Fluch zu sprechen, der ihm zu einem Segen geraten ist. Wie der britische, feindlich gesinnte Minister Ernest Bevin, der im Londoner Parlament geäußert hat, die Juden seien ein verbissenes Volk. Dem ist auch Bileams Geschichte passiert.«

Herr Gichon hatte die Angewohnheit, seinen Unterricht mit Scherzen zu würzen, über die niemand lachen konnte. Oft mußte, wenn er zur allgemeinen Belustigung beitragen wollte, seine Frau herhalten. So auch, als er uns den Satz aus dem Buch der Könige erklären wollte: »›Mein Vater hat euch mit Peitschen gezüchtigt, ich will euch mit Skorpionen züchtigen.‹ Peitschen und Skorpione. Skorpione sind hundertmal schlimmer. Ich quäle euch mit Peitschen und werde von meiner Gnädigsten mit Skorpionen gezüchtigt.« Oder: »Nehmen wir den Satz, ›denn wie das Krachen der Dornen unter den Töpfen, so ist das Lachen der Toren‹. Der Prediger Salomo 7. Man stelle sich Frau Gichon vor, wenn sie ein Lied anstimmt.«

Einmal sagte ich beim Abendessen: »Es vergeht kaum ein Tag, an dem Gichon seine Frau nicht vor der Klasse betrügt.«

Vater sah Mutter an und sagte: »Dein Sohn ist zweifellos nicht ganz bei Trost.« (Vater liebte die Formulierung zweifellos und auch die Worte buchstäblich, wahrhaftig und durchaus.)

Mutter sagte: »Warum versuchst du nicht herauszubekommen, was er uns sagen will, statt ihn zu beleidigen? Nie hörst du ihm richtig zu. Auch mir nicht oder sonst jemandem. Höchstens den Nachrichten im Radio.«

»Alles«, sagte Vater langsam und bedächtig, da es seiner grundsätzlichen Art entsprach, sich nicht in einen Streit verwickeln zu lassen, »alles auf der Welt hat mindestens zwei Seiten, wie jedermann weiß, abgesehen von irgendwelchen fiebrigen Gemütern.«

Ich wußte nicht, was fiebrige Gemüter waren, aber ich verstand, daß dies wohl kaum der rechte Augenblick war, nachzufragen. Also ließ ich die beiden sich nahezu einen ganzen Moment lang anschweigen, sie brachten bisweilen ein Schweigen zuwege, das gewisse Ähnlichkeiten mit Ellenbogendrücken aufwies.

Erst dann sagte ich: »Außer einem Schatten.«

Vater, die Brille auf der Nasenspitze und von oben nach unten mit dem Kopf nickend, warf mir einen schrägen, argwöhnischen Blick zu, einen von denen, die sagen wollten, was wir bereits im Bibelunterricht durchgenommen hatten, nämlich daß er gehofft hatte, sein Weinberg brächte gute Trauben, es aber schlechte gewesen seien. Und über die Brillenränder hinweg blickten mich seine blauen Augen an, bloßgelegt, von mir und der ganzen Jugend enttäuscht und auch vom Erziehungswesen, dem er einen Schmetterling anvertraut und das ihm eine Motte zurückgegeben hatte.

»Was redest du da? Wo siehst du einen Schatten?«

Mutter sagte: »Statt ihn zum Schweigen zu bringen, solltest du lieber versuchen herauszufinden, was er sagen will. Schließlich will er uns etwas mitteilen.«

Und Vater: »Na schön. Durchaus. Nun, worüber hat der Verehrteste heute abend bitte schön die Güte, eine Meinung zu haben? Über welchen mysteriösen Schatten wünscht er sich diesmal auszulassen? Über die Schatten der Berge, die für Berge gehalten werden? Oder über den Schatten, nach dem der Knecht sich sehnt?«

Ich stand auf, um zu Bett zu gehen. Er hatte keine Erklärung aus meinem Munde verdient. Gleichwohl ließ ich Gnade vor Recht ergehen und sagte:

»Außer Schatten, Vater. Du hast gerade gesagt, daß jede Sache auf der Welt mindestens zwei Seiten hat. Du hattest nur fast recht. Du hast vergessen, daß ein Schatten zum Beispiel immer nur eine Seite hat. Geh und sieh nach, wenn du mir nicht glaubst. Vielleicht machst du sogar ein, zwei Experimente. Schließlich hast du selbst mir beigebracht, daß es keine Regel ohne Ausnahme gibt und daß man Verallgemeinerungen zweifellos vermeiden sollte. Du weißt schon nicht mehr, was du mir beigebracht hast.«

Das waren meine Worte. Ich trug das Geschirr zum Spülstein und ging auf mein Zimmer.

3

Ich saß auf Vaters Stuhl an seinem Schreibpult, zog das große Wörterbuch und die Enzyklopädie aus dem Regal und begann, wie ich es von ihm gelernt hatte, auf einem leeren Kärtchen eine Wortliste anzulegen:

Verräter. Denunziant. Verleumder. Spion. Verschwörer. Deserteur. Fünfte Kolonne. Kollaborateur. Hochverräter. Spitzel. Doppelagent. Messer in den Rücken. Abtrünniger. Feind Israels. Religionsschänder. Seelenverkäufer. Maulwurf. Provokateur. Brutus (siehe unter Rom). Quisling (siehe unter Norwegen). Treuebrecher. Im Bereich des Ehelebens: unterhält Beziehungen zu einem Dritten. Ehebrecher. Auf Abwege Geratener oder Geratene. Metaphorisch: Ehrabschneider. Scheinheiliger. Speichellecker. Radfahrer. Januskopf. Tartüff. Judas Iskarioth (nur im christlichen Sprachgebrauch). ›Auf einen Treulosen hoffen zur Zeit der Not‹ (Die Sprüche Salomos, 25.19).

Ich klappte das Wörterbuch zu: Schwindelanfall. Die Liste, die ich auf Vaters leerem Kärtchen angelegt hatte, erschien mir wie ein undurchdringlicher Wald, in dessen Schatten sich unzählige Wege gabelten, von denen mehr und mehr Pfade abzweigten, die sich in der Dunkelheit des Dickichts verloren, sich wanden, sich trafen, sich für einen Augenblick vereinten und wiederum auseinanderliefen, zu Schlupfwinkeln führten, wo es Höhlen, Farne und Labyrinthe gab, Nischen, Felsvorsprünge, entlegene Täler und Staunen und Wundern darüber, wie sich Feind, Verkäufer und Radfahrer, Agent und Messer, Speichellecker und Maulwurf, Schänder und Verführer plötzlich überschnitten? Und was bedeutete »Tartüff«? Was waren die düsteren Taten, die Brutus und Quisling begangen hatten? Und auch: Windung. Gabelung. Kreuzung. (Bis zum heutigen Tag darf ich während der Arbeit keine Enzyklopädien und Wörterbücher aufschlagen. Wenn ich anfange, in ihnen zu blättern, ist ein halber Tag verloren.) Es war schon nicht mehr wichtig, was ich war, ein Verräter, ein Maulheld, ein übergeschnappter Junge, denn an jenem Morgen segelte ich über die Breiten der Enzyklopädie, stieß auf meiner Reise zu den Stämmen der Wilden von Papua in Kriegsbemalung, auf seltsame Krater glühender Planeten, die in vulkanischen Höllenfeuern loderten, oder umgekehrt auf solche, die eisig waren und von ewiger Finsternis umgeben (lag dort der Todesschatten?), ich strandete auf Inseln und irrte durch ewige Sümpfe, gelangte zu Menschenfressern und asketischen Höhlenmönchen, zu dunkelhäutigen, gottverlassenen Juden aus den Tagen der Königin von Saba, las über die Kontinente, die unentwegt Jahr um Jahr einen halben Millimeter voneinander abrücken. (Wie lange konnte dies Abstandnehmen fortdauern? Zu guter Letzt würden sich die Kontinente in Milliarden von Jahren aufgrund der Kugelform der Erde von der anderen Seite wieder annähern!) Dann suchte und fand ich Brutus und Quisling und wollte mich auch nach Judas Iskarioth umtun, aber unterwegs wurde ich von den Lichtjahren aufgehalten, die mich mit überwältigender, süßer Lust durchbohrten.

Gegen Mittag trieb mich der Hunger von den Ursprüngen des Universums in die Küche. Ich verschlang das Essen, das Mutter mir in den Eisschrank gestellt hatte, im Stehen: Graupen. Fleischklops. Suppe. Nicht vergessen, alles ein paar Minuten auf dem Petroleumkocher warm zu machen, und zum Schluß dran denken, den Kocher wieder abzudrehen. Ich machte nichts warm: schade um die Zeit. Ich beeilte mich, alles aufzuessen und zu den unsichtbaren kosmischen Nebeln zurückzukehren. Da entdeckte ich unter der Tür einen gefalteten Zettel, auf dem in Ben Hurs Schrift stand: »Nachricht für den gemeinen Verräter. Finde Dich heute um sechs Uhr dreißig an dem Dir bekannten Treffpunkt Tel Arsa ein, um Dich unverzüglich vor dem Standgericht der Anklage des schlimmen Verrats nach Paragraph Freuntschaft mit dem britischen Feind zu stellen. Gezeichnet: FOT Organisation – Hauptquartier – Abteilung Innere Sicherheit und Ermittlungen. P.S.: Bewaffne dich mit Pullover, Wasserflasche und hohem Schuhwerk, vielleicht wirst Du die ganze Nacht verhört.«

Zuallererst korrigierte ich mit Bleistift: Freundschaft, nicht Freuntschaft. Bewaffne und nicht bewafne. Als nächstes lernte ich vorschriftsmäßig den Inhalt des Zettels auswendig und verbrannte ihn in der Küche, die Asche streute ich in die Toilette und zog an der Wasserspülung, so daß keinerlei Beweismaterial blieb, für den Fall, daß die britische Mandatspolizei eine Hausdurchsuchung machte. Darauf kehrte ich zurück zum Schreibtisch und versuchte zu den Himmelskörpern und den Weiten der Lichtjahre zurückzukommen. Aber die kosmischen Nebel zerstoben, und die Lichtjahre erloschen. Also konfiszierte ich ein weiteres leeres Kärtchen von Vaters kleinem Haufen und notierte: Die Lage ist kompliziert und besorgniserregend. Und ich schrieb: Unsere Häupter werden sich aber nicht beugen. Dann vernichtete ich das Kärtchen und stellte Wörterbuch und Lexikon zurück an ihre Plätze. Angst!

Sie unverzüglich zu überwinden war meine Pflicht.

Aber wie?

Ich beschloß, ein wenig meine Briefmarken zu sortieren: Barbados und Neu-Kaledonien waren in der Sammlung mit je einer Marke vertreten. Es gelang mir, beide Länder in dem großen deutschen Atlas aufzufinden. Nach Schokolade suchte ich ohne Erfolg. Schließlich ging ich wieder in die Küche und schleckte zwei Löffel von Vaters Himbeermarmelade.

Nichts wollte helfen. Schlecht.

4

So habe ich Jerusalem im letzten Sommer der britischen Mandatszeit in Erinnerung: eine steinerne Stadt über die Hänge der Berge verstreut. Nicht wirklich eine Stadt, eher vereinzelte Stadtteile, durch Distelfelder und Felsgestein voneinander getrennt. An den Straßenecken hier und da britische Panzerwagen, die Luken, wie vom Licht geblendete Augen, fast gänzlich geschlossen. Maschinengewehre ragten aus den Stirnseiten der Panzerwagen wie Finger, die sagen wollten: du.

Früh am Morgen schwärmten junge Burschen aus, um Plakate der Untergrundbewegung an Mauern und Strommasten zu kleben. In unserem Hof diskutierten an Samstagnachmittagen unsere Gäste, begleitet von Konvois dampfender Teegläser und Kekse, die Mutter zu backen pflegte (wobei ich ihr durch das Aufdrücken von Stern- und Blumenformen in die weiche Teigfläche zur Hand ging). Bei diesen Debatten benutzten Besucher und Eltern Worte wie Verfolgung, Vernichtung, Erlösung, Mandatspolizei, Vermächtnis, illegale Einwanderer, Belagerung, Demonstrationen, Hadsch Amin, Extremisten, Kibbuzim, White-Paper-Politik, Verteidigung, Zurückhaltung, Besiedlung, Horden, Weltgewissen, Pogrome, Proteste und wieder illegale Einwanderer. Manchmal kam es vor, daß einer der Gäste sich ereiferte, mitunter war es gerade einer der Schweigsamen – ein hagerer, blaßgesichtiger Mann, zwischen seinen Fingern zitterte eine Zigarette und an seinem Hemd, das bis zum Hals zugeknöpft war, steckten die Taschen voller Notizblöcke und Zettel. Plötzlich brauste er auf, schrie Ausdrücke wie Lämmer zur Schlachtbank und Schutzjuden in höflichem Zorn und fügte sogleich, als wolle er den schlechten Eindruck ein bißchen zurechtbiegen, eilfertig hinzu, man dürfe sich dennoch, Gott behüte, auf gar keinen Fall spalten, da man in ein und demselben Boot sitze.

In dem verlassenen Trockenspeicher auf dem Dach unseres Wohnblocks wurden ein Waschbecken und eine Glühbirne installiert: Dort zog Herr Lazarus aus der Stadt Berlin ein, seines Zeichens Herrenschneider, ein kleinwüchsiger, augenzwinkernder, nickender Herr, der der sommerlichen Hitze zum Trotz stets ein gräuliches Jackett und darunter obendrein eine Art enganliegende, geknöpfte ärmellose Variante trug. Um seinen Hals hing, wie eine Kette, immerzu ein grünes Metermaß. Hitler, so erzählte man sich, hatte seine Frau und seine Töchter ermordet. Wie war eigentlich Herrn Lazarus die Rettung gelungen? Man tuschelte darüber. Erzählte sich dies und das. Zweifelte. Und ich wurde argwöhnisch: Was wußten sie denn? Schließlich hatte Herr Lazarus niemals ein Wort über das, was geschehen war, verloren. Er hatte im Treppenhaus ein Pappschild aufgehängt, auf dem halb in deutsch, das ich nicht verstand, halb auf hebräisch, das aufzuschreiben er meine Mutter gebeten hatte, stand: »Schneidermeister, Zuschneider und Näher aus Berlin nimmt Bestellungen aller Art an zum Nähen und Ausbessern nach der allerneusten Mode. Günstige Preise, auch Kredit möglich.« Nach ein, zwei Tagen riß jemand die deutsche Hälfte des Schildes ab, denn die Sprache der Mörder ertrug man hierzulande nicht.

Vater kramte aus seinem hintersten Schrank eine abgetragene Winterjacke hervor und schickte mich damit aufs Dach, Herr Lazarus solle so gut sein, die Knöpfe auszuwechseln und die Innennähte zu verstärken. »In der Tat, sie ist fast schon ein Lumpen, und es ist fraglich, ob sie überhaupt noch von Nutzen sein kann«, sagte Vater, »aber er hat da oben anscheinend nicht einmal das liebe Brot, und ein Almosen hat immer etwas von einer Beleidigung. Dann werden wir sie ihm eben schicken. Damit er die Knöpfe wechselt. Damit er bei uns ein paar Groschen verdient. Damit er fühlt, daß er hier etwas wert ist.«

Mutter sagte: »Na schön. Neue Knöpfe. Aber warum das Kind schicken? Geh selber nach oben, plaudere ein wenig und lad ihn zu uns ein auf ein Glas Tee.«

»Zweifellos«, sagte Vater verlegen, und nach einer Weile fügte er mit Bestimmtheit hinzu: »In der Tat. Zweifellos werden wir ihn einladen.«

Herr Lazarus hatte die hinterste Ecke des Dachs mit alten Eisenteilen von Sprungkästen abgetrennt, die er mit Drähten zusammenfügte, und so eine Art vergitterten Verschlag oder Käfig gebaut, dann hatte er Stroh aus einer ausgedienten Matratze hineingestreut, sechs Hennen hergebracht und Mutter gebeten, auf der verbliebenen Hälfte des Schildes zu ergänzen: »Und frische Eier zu verkaufen.« Aber niemals, nicht einmal vor den Feiertagen, war er bereit, ein Huhn zum Schlachten zu veräußern. Im Gegenteil: Man munkelte, Herr Lazarus habe jeder Henne einen Namen gegeben und nachts stehe er auf und trete auf das Dach hinaus, um nachzusehen, ob die Hühner friedlich schliefen. Einmal hatten wir, ich und Chita Resnik, uns zwischen die Wasserbehälter geschmuggelt und zugehört, wie Herr Lazarus mit dem Federvieh Streitgespräche führte. Auf deutsch. Er hatte geklagt, gefleht, erklärt und gar ein Lied zum besten gegeben. Ab und zu stieg ich hoch aufs Dach und brachte trockene Brotkanten oder einen Teller mit schlechten Schwarzen, die Mutter mich aus den Hülsen zu lesen geheißen hatte. Während ich die Hühner fütterte, war es ein-, zweimal geschehen, daß Herr Lazarus sich zu mir gesellte und unvermittelt meine Schulter mit den Fingerspitzen berührte, die er eilends wieder zurückzog und schüttelte, als habe er sich eine Brandwunde zugezogen. Bei uns sprachen viele Menschen mit der Luft. Oder zu jemandem, der nicht vorhanden war.

Auf dem Dach, hinter dem Hühnerstall von Herrn Lazarus, hatte ich mir einen Beobachtungsposten eingerichtet, von dem aus ich ausgezeichnete Kontrolle über das Dächerrevier hatte und sogar Einblick in das Lager der britischen Armee. Dort stand ich, zwischen den Wasserspeichern versteckt, und belauschte ihren Abendappell, machte Vermerke in ein Notizbuch, peilte die Soldaten mit einem Scharfschützengewehr an und vernichtete sie auf einen Schlag mit einer sparsamen, präzisen Salve.

Auf meinen Dachposten blickten aus der Ferne auch einige über die Hänge verstreute arabische Dörfer, der Skopus- und der Ölberg, hinter deren Gipfeln plötzlich die Wüste begann. Und in weiter Ferne, in südöstlicher Richtung, verbarg sich der Berg des bösen Rates, über dem der Palast des britischen Hochkommissars prangte. In jenem Sommer war ich mit der Ausfeilung letzter Einzelheiten für den Plan zum Sturmangriff auf diesen Palast befaßt, der aus drei Himmelsrichtungen erfolgen sollte, und ich bereitete die Kurzfassung einer Erklärung vor, die ich dem Hochkommissar unversehens abgeben würde, nachdem er gefangengenommen und zu einem Verhör zu mir hier auf den Dachposten gebracht worden wäre.

Einmal hatte ich von meiner Stellung aus das Fenster von Ben Hur observiert, weil ich die Befürchtung hegte, er werde beschattet, da erschien anstelle Ben Hurs seine große Schwester Jardena in der Fensteröffnung. Sie stand in der Mitte des Zimmers und beschrieb auf Zehenspitzen zwei kokette Kreise um die eigene Achse wie eine Ballerina, als sie plötzlich im nächsten Augenblick den Knoten ihres Morgenrocks löste, ihn auszog, ein Kleid überstreifte und den Reißverschluß zuzog. Zwischen dem Zeitpunkt des Morgenrocks und dem des Kleids leuchteten für einen kurzen Augenblick auf ihrer weißen Haut ein paar dunkle Inseln in den Schatten ihrer Arme und eine, schwindelerregend, auf ihrem Bauch, die jedoch sofort von dem Kleid verschlungen wurden, das wie ein Vorhang von ihrem Hals auf ihre Knie fiel, noch ehe ich Gelegenheit hatte, zu sehen, was sich meinen Augen bot, oder mich von meinem Posten zurückzuziehen oder wenigstens die Augen zu schließen. Denn die hätte ich zweifellos zugemacht, aber alles ereignete sich in einem einzigen Augenblick und war blitzschnell vorüber. Auf der Stelle dachte ich: Ich sterbe. Denn dafür hatte ich den Tod verdient.