Parteienkrieg und Verzögerungsbomben im Wirtschaftsstrafprozess - Marc Jean-Richard-dit-Bressel - kostenlos E-Book

Parteienkrieg und Verzögerungsbomben im Wirtschaftsstrafprozess E-Book

Marc Jean-Richard-dit-Bressel

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Beschreibung

Der Tagungsband der 15. Schweizerischen Tagung zum Wirtschaftsstrafrecht greift die drängendsten Herausforderungen der modernen Strafjustiz auf. Im Mittelpunkt steht das Spannungsfeld zwischen Effizienzstreben und der zunehmenden „Konfliktverteidigung“ im Wirtschaftsstrafprozess, die den Justizapparat an seine Belastungsgrenzen bringt. Im ersten Teil des Werks analysieren erfahrene Fachleute die Ursachen und Folgen dieser Entwicklungen. Von digitalen Verzögerungsstrategien über die Rolle der Verteidigung bis hin zu Lösungsansätzen wie Standardisierungen und technologischem Fortschritt bietet dieser Abschnitt tiefgehende Einblicke in die Dynamiken und Konflikte, die die Praxis im Wirtschaftsstrafrecht prägen. Im zweiten Teil des Bandes werden aktuelle Trends und Entwicklungen im Strafrecht beleuchtet. Namhafte Autorinnen und Autoren greifen neue Impulse aus den vielfältigen Teilbereichen des Wirtschaftsstrafrechts auf und zeigen so, wie dieses sich den Herausforderungen der heutigen Zeit anpasst. Dieser Tagungsband ist ein unentbehrliches Kompendium für Praktikerinnen und Praktiker, die den wirtschaftsstrafrechtlichen Diskurs und dessen Weiterentwicklung aktiv mitgestalten möchten.

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Seitenzahl: 217

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Parteienkrieg und Verzögerungsbomben im Wirtschaftsstrafprozess Copyright © by Marc Jean-Richard-dit-Bressel und David Zollinger is licensed under a Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International, except where otherwise noted.

© 2024 – CC BY-NC-ND (Werk), CC BY-SA (Text)

Herausgeber: Prof. Dr. Marc Jean-Richard-dit-Bressel, David Zollinger – Europa Institut an der Universität ZürichVerlag: EIZ Publishing (eizpublishing.ch)Produktion, Satz & Vertrieb:buchundnetz.comISBN:978-3-03805-766-6 (Print – Softcover)978-3-03805-767-3 (PDF)978-3-03805-768-0 (ePub)DOI: https://doi.org/10.36862/eiz-766Version: 1.01 – 20241218

Das Werk ist als gedrucktes Buch und als Open-Access-Publikation in verschiedenen digitalen Formaten verfügbar: https://eizpublishing.ch/publikationen/parteienkrieg-und-​verzoegerungsbomben-​im-wirtschaftsstrafprozess/.

Zitiervorschlag:Normalzitat: Autor/in, Beitragstitel, WIST 15 (2024), Seitenzahl;

Angaben zum Band im Abkürzungsverzeichnis oder bei Erstnennung: Marc Jean-Richard-dit-Bressel/David Zollinger (Hrsg.), Parteienkrieg und Verzögerungsbomben im Wirtschaftsstrafprozess, Tagungsband zur 15. Schweizerischen Tagung zum Wirtschaftsstrafrecht 2024, Zürich 2024, hiernach WIST 15 (2024).

1

Vorwort

Die Überlastung der Strafjustiz wird in den Medien als rechtsstaatliches Problem kritisiert. Besonders das Wirtschaftsstrafrecht ist berüchtigt für ausufernde, endlose Verfahren. Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass die komplexeren Strafverfahren in der Regel viel zu lange dauern und dass dadurch die Wirkungsziele des Strafrechts beeinträchtigt werden, namentlich die Prävention und die Sicherung des Rechtsfriedens. Uneinig sind sich die verschiedenen Berufsgruppen, die am Strafprozess mitwirken, über die Ursachen. Bei den Strafverfolgungsbehörden herrscht die Meinung vor, es liege vor allem am Ressourcenmangel, der Schwerfälligkeit des Strafprozessrechts und der Zunahme von „Konfliktverteidigungen“. In Verteidigungskreisen klingt es anders. Die Verteidigungsrechte seien nicht verhandelbar und deren Auswirkungen würden von den Strafverfolgern dramatisiert. Deren Überlastung sei vor allem die Folge von unzweckmässigen Arbeitsmethoden und falscher Prioritätensetzung.

Im Teil I des vorliegenden Tagungsbandes gehen namhafte Praktikerinnen und Praktiker aus den verschiedenen Sparten den organisatorischen, methodischen und rechtlichen Ursachen des Missstandes auf den Grund.

Claire A. Daams bietet einen umfassenden Blick auf die komplexe Dynamik zwischen den Verfahrensbeteiligten im Wirtschaftsstrafprozess. Sie beschreibt die Spannungsfelder, die durch den öffentlichen Auftrag der Staatsanwaltschaft und die unterschiedlichen Interessen der beteiligten Parteien entstehen. Dieser Beitrag lädt die Leserschaft dazu ein, über die Grenzen und die Balance zwischen staatlichen und individuellen Interessen nachzudenken, die häufig zu Konflikten im Verfahren führen.

Cédric Remund vertieft das Spannungsfeld zwischen der Strategie der Obstruktion und dem Streben nach Effizienz im Wirtschaftsstrafverfahren. Er beschreibt Taktiken, die von Verteidigungen eingesetzt werden, um Verfahren zu verzögern, und stellt innovative Lösungsansätze vor, die Justizbehörden nutzen können, um solchen Strategien standzuhalten. Insbesondere hebt er hervor, wie digitale Instrumente und KI-gestützte Technologien die Ermittlungen unterstützen können. Der Beitrag bietet einen vielversprechenden Ausblick auf den möglichen Ausbau der Schnittstelle zwischen Technologie und Strafverfolgung.

Tanja Knodel und Gregor Münch beleuchten den Strafprozess kritisch aus Sicht der Verteidigung. Sie argumentieren, dass Verzögerungen im Strafprozess oft nicht nur der Verteidigungsstrategie zuzuschreiben sind, sondern dass die Struktur und der Ablauf des Verfahrens ebenso dazu beiträgt. Sie erläutern, wie moderne technische Hilfsmittel und eine angemessene Ressourcenverteilung auch die Effizienz auf Seiten der Verteidigung steigern können. Dieser Beitrag ist ein überzeugendes Plädoyer für die Notwendigkeit der Verteidigungsrechte und ein Zeugnis über die verfahrensbedingten Konflikte, die es bei der Verteidigungsarbeit zu meistern gilt.

Abschliessend stellt Marc Jean-Richard-dit-Bressel die Fokussierung der Untersuchung auf das Erforderliche als Lösungsansatz zur Diskussion. Doch das gezielte Offenlassen von Lücken braucht Mut. Dieser soll durch ein Kompendium von bewährten Standards gefördert werden, das auf der Grundlage einer schweizweiten Sammlung gelungener Untersuchungskonzepte aufzubauen ist. Ferner wird de lege ferenda ein Phasenmodell vorgeschlagen, welches geeignet ist, das Konfliktpotenzial der Doppelfunktion der Staatsanwaltschaft als Verfahrensleiterin und künftige Anklägerin zu entschärfen.

In Teil II zeigen ausgewiesene Fachleute aktuelle Entwicklungen in wichtigen Teilgebieten des Wirtschaftsstrafrechts auf.

Der im letzten Tagungsband eingeführte Zitiervorschlag „WIST 14 (2024)“ hat sich bewährt. Die Abkürzung WIST für „Wirtschaftsstrafrecht Schweizerische Tagung“ gefolgt von der Ordnungsnummer der Tagung und dem Erscheinungsjahr des Bandes wird deshalb nicht nur fortgesetzt, sondern auch rückwirkend empfohlen:

WIST 1 (2007):Wohlers Wolfgang (Hrsg.), Neuere Entwicklungen im schweizerischen und internationalen Wirtschaftsstrafrecht, Zürich 2007WIST 2 (2008):Ackermann Jürg-Beat/Wohlers Wolfgang (Hrsg.), Umfangreiche Wirtschaftsstrafverfahren in Theorie und Praxis, 2. Zürcher Tagung zum Wirtschaftsstrafrecht, Zürich 2008WIST 3 (2009):Ackermann Jürg-Beat/Wohlers Wolfgang (Hrsg.), Finanzmarkt ausser Kontrolle? Selbstregulierung – Aufsichtsrecht – Strafrecht, 3. Zürcher Tagung zum Wirtschaftsstrafrecht, Zürich 2009WIST 4 (2010):Ackermann Jürg-Beat/Wohlers Wolfgang (Hrsg.), Korruption in Staat und Wirtschaft, 4. Zürcher Tagung zum Wirtschaftsstrafrecht, Zürich 2010WIST 5 (2011):Ackermann Jürg-Beat/Wohlers Wolfgang (Hrsg.), Konkurs und Strafrecht: Strafrechtliche Risiken vor, in und nach der Generalexekution, 5. Zürcher Tagung zum Wirtschaftsstrafrecht, Zürich 2011WIST 6 (2012):Ackermann Jürg-Beat/Hilf Marianne Johanna (Hrsg.), Geldwäscherei Asset Recovery, 6. Schweizerische Tagung zum Wirtschaftsstrafrecht, Zürich 2012WIST 7 (2014):Ackermann Jürg-Beat/Hilf Marianne Johanna (Hrsg.), Alles Betrug? – Betrug, Betrüger und Betrogene in der Strafrechtspraxis, 7. Schweizerische Tagung zum Wirtschaftsstrafrecht, Zürich 2014WIST 8 (2015):Ackermann Jürg-Beat/Hilf Marianne Johanna (Hrsg.), TOP SECRET Geheimnisschutz und Spionage, 8. Schweizerische Tagung zum Wirtschaftsstrafrecht, Zürich 2015WIST 9 (2017):Ackermann Jürg-Beat/Hilf Marianne Johanna (Hrsg.), Umwelt-Wirtschaftsstrafrecht, 9. Schweizerische Tagung zum Wirtschaftsstrafrecht, Zürich 2017WIST 12 (2022):Jean-Richard-dit-Bressel Marc/Zollinger David (Hrsg.), Rechnungswesen und Kapitalschutz im Strafrecht, 12. Schweizerische Tagung zum Wirtschaftsstrafrecht, Zürich 2022WIST 13 (2023):Jean-Richard-dit-Bressel Marc/Zollinger David (Hrsg.), Nur gut gemeint? – Vorsatz, Absicht und Schuld im Wirtschaftsstrafrecht, 13. Schweizerische Tagung zum Wirtschaftsstrafrecht, Zürich 2023WIST 14 (2024):Jean-Richard-dit-Bressel Marc/Zollinger David (Hrsg.), Finanzmarkt und Strafrecht, 14. Schweizerische Tagung zum Wirtschaftsstrafrecht, Zürich 2024

Wir hoffen, dies möge die Zitierung des reichhaltigen Fundus dieser Tagungsbände erleichtern.

Wetzikon und Zürich, im November 2024

David Zollinger

Marc Jean-Richard-dit-Bressel

2

Inhaltsübersicht

Teil 1: Beiträge zum Schwerpunktthema

Die Positionen der Beteiligten im Wirtschaftsstrafprozess: Austausch, Konflikt oder „Rosenkrieg“?

Dr. Claire A. Daams, MA, LL.M., Oberstaatsanwältin, Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsstraffälle und Organisierte Kriminalität Thurgau, Frauenfeld

Strategie der Obstruktion vs. Effizienz in Wirtschaftsstrafverfahren – Herausforderungen und Lösungsansätze im digitalen Zeitalter

Dr. Cédric Remund, Rechtsanwalt, Staatsanwalt des Bundes, Deliktsfeldverantwortlicher Allgemeine Wirtschaftskriminalität, Bundesanwaltschaft, Bern

Konflikte und Verzögerung im Wirtschaftsstrafprozess aus Sicht der Verteidigung

Tanja Knodel, Rechtsanwältin, Fachanwältin SAV Strafrecht, Cognitor Rechtsanwälte, ZürichGregor Münch, Rechtsanwalt, Fachanwalt SAV Strafrecht, Münch Singh Rechtsanwälte, Zürich

Standardisierung und Phasenmodell zur Beschleunigung und Konfliktverhütung

Prof. Dr. Marc Jean-Richard-dit-Bressel, LL.M., Staatsanwalt, Abteilungsleiter bei der Staatsanwaltschaft III des Kantons Zürich, Titularprofessor an der Universität Zürich

Teil 2: Beiträge zu aktuellen Entwicklungen

Strafprozessrecht

Konrad Jeker, Rechtsanwalt, Executive M.B.L.-HSG, Fachanwalt SAV Strafrecht, Gressly Rechtsanwälte, Solothurn

Strafprozessrecht

Prof. Dr. Marc Jean-Richard-dit-Bressel

Verwaltungsstrafrecht

Friedrich Frank, Rechtsanwalt, Fachanwalt SAV Strafrecht, Jetzer Frank Rechtsanwälte, Zürich

Steuerstrafrecht

Daniel Holenstein, Rechtsanwalt, dipl. Steuerexperte, NSF Rechtsanwälte AG, Zürich

Unternehmens‑, Korruptions- und Insiderstrafrecht

Simone Brunner, M.A. HSG in Law, B.A. HSG in Law & Economics, Certified Business Educator, Universität St. Gallen

Vermögensabschöpfung, Geldwäscherei und Internationale Rechtshilfe

David Zollinger, Rechtsanwalt, Capt Zollinger Rechtsanwälte, Wetzikon

Vermögens- und Urkundenstrafrecht

Prof. Dr. Marc Jean-Richard-dit-Bressel

I

Teil 1: Beiträge zum Schwerpunktthema

Die Positionen der Beteiligten im Wirtschaftsstrafprozess: Austausch, Konflikt oder „Rosenkrieg“?

Claire A. Daams

Claire A. Daams, Dr. iur., MA, LL.M., Oberstaatsanwältin für Wirtschaftsstraffälle und Organisierte Kriminalität des Kantons Thurgau. Die Autorin vertritt in diesem Beitrag ihre eigenen Standpunkte die nicht per se identisch sind mit diejenigen der Staatsanwaltschaft Thurgau. Verweise auf Literatur, Rechtsprechung und sonstigen Quellen sind auf dem Stand vom 31. August 2024.

Inhalt

EinleitungKonflikte innerhalb der StrafverfolgungAufgabenstellungInterne Vorgaben und ZielsetzungenHeterogene Landschaft der WirtschaftskriminalitätCovid-19-Fälle – ein zusätzliches FallsegmentRessourcenEinstieg in die StrafverfolgungDigitalisierung und andere technologischen MittelÜberlastung der StrafverfolgungsbehördenKonflikte mit VerfahrensbeteiligtenVerfahrensdauerVerständnis des Fair-trial PrinzipsErwartungshaltung und RollenverständnisWeiteres KonfliktpotenzialNemo teneturBeweisanträgeSiegelungsbegehrenFazit und EmpfehlungLiteraturverzeichnis

Einleitung

Bekanntlich erfolgt die Verfolgung und Beurteilung von Straftaten durch die Strafverfolgungsbehörden des Bundes und der Kantone.[1] Vorbehaltlich der Bundeskompetenz nach Art. 24 StPO, werden Fälle im Bereich der Wirtschaftskriminalität durch die kantonalen Strafverfolgungsbehörden geführt. Diese führen dazu eine Strafuntersuchung durch, die der materiellen Wahrheitsfindung nach Massgabe der gesetzlichen Vorgaben dient.[2] Anders als im Zivilprozess ist im Strafprozess kein Platz für eine Darstellung des Sachverhalts durch die Parteien.[3] Daraus folgt, dass die Aufgabenstellung der Strafverfolgungsbehörden, die immerhin das öffentliche Interesse zu berücksichtigen haben, grundlegend von derjenigen der anderen Verfahrensbeteiligten abweicht. Denn diese haben sich allesamt gemeinsam und einseitig auf die Vertretung der individuellen Interessen einer Person zu konzentrieren. Dabei ist gegen eine frühe Involvierung der Verteidigung, sei es in Form des Anwalts der ersten Stunde[4] oder gegebenenfalls durch die Bestellung einer notwendigen Verteidigung[5] nichts einzuwenden.

Der Austausch zwischen der Staatanwaltschaft und den Verfahrensbeteiligten findet im Vorverfahren üblicherweise im Rahmen der Ermittlungen und weiteren Verfahrenshandlungen statt. In Ausnahmenfällen und eingegrenzt durch die Art. 76 f. StPO (Protokollierung), sind Gespräche informellerer Natur nicht a priori ausgeschlossen.[6]

Unter Umständen kann sich im Laufe des Verfahrens eine von Konflikten geprägte Dynamik entwickeln.[7] Die Ursachen dafür können facettenreich sein und z.B. aus moralischen Dilemmata stammen.[8] Volumen, Komplexität und Dauer des Verfahrens bieten, gerade in Wirtschaftsstraffällen, einen weiteren Nährboden für Konflikte. Ausserdem liegt es in der Natur der unterschiedlichen Rollen und der Interessen der Beteiligten, dass es zu Konflikten kommen kann. Dennoch sollten Konflikte im Interesse aller Verfahrensbeteiligter konstruktiv ausgetragen werden können. Ob nun seit dem 1. Januar 2011 die Anzahl Konflikte real oder empfundener Weise zugenommen hat oder nicht kann in diesem Beitrag offengelassen werden. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass sobald Konfliktsituationen bis zur Zerfleischung führen, der Rosenkrieg also ausgebrochen ist, weder Verfahrens- noch Beteiligteninteressen mehr gedient sind. Im Gegenteil, gerade in grösseren Verfahren im Bereich der Wirtschaftskriminalität kann die Auswirkung lähmend sein.

Möglicherweise liegt der Ursprung für solche Konflikte zumindest teilweise innerhalb der Strafverfolgungsbehörden (siehe unten, II.). Teilweise entstehen sie, insbesondere in Wirtschaftsstrafverfahren, die durch umfangreiche Beweiserhebungen und grosse Datenmengen gekennzeichnet werden, erst im Austausch mit den Parteien (siehe unten, III.). Neben einem grosszügigen Verständnis für diese potenziellen Konfliktfaktoren empfiehlt sich eine Rückbesinnung auf das ultima ratio-Prinzip und die Suche nach „common grounds“ (siehe unten, IV.).

Konflikte innerhalb der Strafverfolgung

Die für die Strafverfolgung in Wirtschaftsstraffällen zuständigen Behörden von Bund und Kantone wurden einleitend bereits erwähnt.[9] Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden im Folgenden einige Aspekte innerhalb dieser Strafverfolgungsbehörden beleuchtet, die zu Konflikten in den Verfahren beitragen könnten.

Aufgabenstellung

Die Aufgabenstellung der Staatsanwaltschaft divergiert grundsätzlich von derjenigen der Parteivertretung. So geht es der Verteidigung einzig und allein um die Vertretung von Parteiinteressen.[10] Die Staatsanwaltschaft ist jedoch zur materiellen Wahrheitsfindung verpflichtet und hat während der gesamten Untersuchung unparteilich sprich neutral zu sein. Sie vertritt dabei öffentliche Interessen. Beauftragt sie die Polizei in Anwendung von Art. 312 Abs. 1 StPO mit Ermittlungen[11], hält sie dies in einem schriftlichen polizeilichen Ermittlungsauftrag fest. Obwohl Art. 6 Abs. 2 StPO, nach welchem die belastenden und entlastenden Umstände mit gleicher Sorgfalt zu untersuchen sind, auf sämtliche Strafbehörden und damit auch auf die Polizei unverkürzt anwendbar ist, erfolgt ein entsprechender Hinweis in Ermittlungsaufträgen an die Polizei zunehmend expressis verbis. Die beschuldigte Person kann die Aussage und Mitwirkung verweigern.[12] Häufig wird ihr von der Verteidigung ausdrücklich dazu geraten, keinerlei Aussagen zu machen, solange noch keine Akteneinsicht gewährt ist.[13] Sofern im weiteren Verlauf der Untersuchung Aussagen oder gar Geständnisse erfolgen, ist dies teilweise dem Umstand geschuldet, dass es manchmal gar nicht anders geht. Eingestanden wird, was sich nicht wegdiskutieren lässt. Bereits aufgrund des Grundsatzes nemo tenetur se ipsam accusare ist eine solche Verteidigungsstrategie nicht zu beanstanden. Trotzdem kommt man nicht umhin festzustellen, dass diese Haltung, welche die Strafverfolgungsbehörden zu respektieren haben, zu Konflikten beitragen kann. Einerseits durch entstehende Verwirrung oder sogar Irritationen, insbesondere, wenn vorab eine vollumfängliche Kooperation in Aussicht gestellt wurde. Andererseits, weil Verzögerungen aufgrund erneuter Befragung oftmals die Folge sind. Eine Konsequenz, die von der Verteidigung hinzunehmen ist. Auch wenn eine beschuldigte Person die Unwahrheit sagen sollte, ist dies (unaufgeregt) hinzunehmen, solange die Grenzen der falschen Anschuldigung und der Irreführung der Rechtspflege dabei nicht überschritten werden.[14]

Interne Vorgaben und Zielsetzungen

Innerhalb der Strafverfolgungsbehörden kommen unterschiedliche Methoden, um mit der sog. Fallbelastung[15] umzugehen, zur Anwendung. Gewisse Kantone auferlegen ihren Staatsanwaltschaften strikte Vorgaben hinsichtlich der Anzahl der zu erledigenden Verfahren in einem Jahr. Eine so formulierte Zielsetzung, oft in Anwendung von sog. SMART Kriterien[16], soll zu höheren Erledigungszahlen führen. Das kann zwar eine stimulierende Wirkung entfalten, aber es gilt gleichzeitig zu berücksichtigen, dass die Strafverfolgung keine Produktionsstätte ist, in der alles linear verläuft. Verfahrenshindernisse können jederzeit auftreten, ein noch dringenderer Fall eintreffen, die Umstände sich ändern, die Planung muss angepasst werden oder die Beweise lassen sich nicht wie geplant erheben – um nur einige Faktoren zu nennen. Im Wissen, dass solche Vorgaben oftmals zu konfligierenden Prioritätensetzungen führen, dabei nur wenig zu der eigentlichen Erledigung beitragen, und sich bei (vor‑)bestehender hoher Fall-Last als zusätzliche Stressfaktoren eher negativ auf Motivation, Qualität der Arbeit und Gesundheit der Mitarbeitenden auswirken, lassen andere Kantone solche Vorgaben gleich bleiben.

Ähnlich verhält es sich mit dem Messen der Anzahl Verfahrensschritte in einer gewissen Zeitperiode; eine vielverwendete, allerdings hoch umstrittene Methode, um in Erfahrung zu bringen, ob ein Verfahren vorangetrieben wird. Denn zum Ersten ist längst bekannt, dass damit wohl eher Aktivität anstelle von Produktivität gemessen wird. Zum Zweiten kommt es nicht selten vor, dass über Wochen (Monate) stets am selben Verfahrensschritt, z.B. die (umfangreiche) Anklageschrift weitergearbeitet wird. Beim Messen der Anzahl Verfahrensschritte kommt dies gar nicht zum Ausdruck, was fälschlicherweise den Eindruck erwecken kann, dass das Verfahren nicht vorangetrieben werde. Abgesehen davon, dass es im Straf- und Strafprozessrecht um anderes geht, wäre eine geeignetere Methode dennoch hilfreich, schon alleine um über die Dauer bzw. Durchlaufzeit einer Untersuchung verlässliche(re) Annahmen treffen und infolgedessen den Ressourcenbedarf adäquater definieren und planen zu können.[17] Dabei wäre einzukalkulieren, dass zahlenmässige Erledigungsvorgaben stets eine Abhängigkeit von anderen Faktoren wie z.B. die Beweiserhebung, Rechtsmittel, Zugang zu den involvierten Parteien zwecks Befragung, etc. aufweisen.

Heterogene Landschaft der Wirtschaftskriminalität

Was unter Wirtschaftskriminalität verstanden wird, variiert unter den dafür zuständigen Strafverfolgungsbehörden. Die einen betrachten sämtliche strafbaren Handlungen gegen das Vermögen als solche, andere konzentrieren sich auf sämtliche qualifizierte Formen von internationaler und inter- bzw. innerkantonaler Wirtschaftskriminalität. Anders gesagt: Die Landschaft der Wirtschaftskriminalität ist heterogen. Dieser Charakterzug hat Folgen für die notwendige Strafverfolgungserfahrung, die vorausgesetzt werden kann und muss[18], aber auch für die Frage wie und mit welchen Mitteln Fälle der Wirtschaftskriminalität untersucht werden sollen. In diesem Zusammenhang kann sich eine kritische Hinterfragung und gegebenenfalls Anpassung der internen Abläufe ohne Weiteres lohnen. Eine einheitliche, standardisierte Aktenführung, wobei in sämtlichen Fällen dieselben Aktoren immer am gleichen Ort zu finden sind, kann zur Steigerung der Effizienz beitragen. Zudem erleichtert es sowohl der Verteidigung als auch den Gerichten, die jeweiligen Aktenstücke zu finden. Nicht zuletzt erleichtert eine vollständige Digitalisierung sämtlicher Verfahren die Arbeit in mehrfacher Hinsicht.[19] Dies gilt sowohl für die Ermittlungstätigkeit als auch gegenüber Gerichten und der Verteidigung. Die Gewährung des Akteneinsichtsrechts kann unter gleichzeitiger Weiterführung des Verfahrens stattfinden, denn die Abwesenheit des Aktenbestandes entfällt. Während Einvernahmen lassen sich die relevanten Aktenstücke projizieren.[20] Trotzdem entspricht dies (noch) nicht dem gesamtschweizerischen Standard.

Covid-19-Fälle – ein zusätzliches Fallsegment

Im Zusammenhang mit den während der Covid Pandemie gewährten Covid-Krediten, ist ein zusätzliches Fallsegment, das der Covid-19-Fälle, entstanden. Soweit der Verdacht vorliegt, dass die entsprechenden Kreditanträge aufgrund falscher Angaben erwirkt worden sind, im Zusammenhang damit eine Urkundenfälschung vorliegt und/oder der Kredit missbräuchlich verwendet worden ist, kommt es zu Anzeige solcher Sachverhalte bei den Strafverfolgungsbehörden.[21] Die Gesamtzahl dieser Fälle kann noch nicht abschliessend beurteilt werden, denn auch in den nächsten Jahren werden weitere Anzeigen in diesem Zusammenhang erwartet.[22]

Gewiss haben diese Fälle eine Zunahme der Fall-Last bei den betroffenen Staatsanwaltschaften zur Folge, was sich logischerweise auch auf die Bearbeitung bzw. Erledigung anderer Fälle auswirkt. Nur wenige Kantone scheinen erfolgreich zusätzliche personelle Ressourcen für diese Fälle beantragt zu haben.[23] Mit der Bearbeitung dieser Fälle, die häufig mit weiteren strafbaren Handlungen gepaart sind, sind die Strafverfolgungsbehörden voraussichtlich noch Jahre beschäftigt, in vielen Kantone ohne zusätzliche Ressourcen. Das wird sich unweigerlich bei der Abwägung, welche Fällen in welcher Reihenfolge zu untersuchen sind, auswirken.

Ressourcen

Einstieg in die Strafverfolgung

Will man das Handwerk der Strafverfolgung erlernen, verlangt dies nicht nur grundlegende Kenntnisse der Materie, sondern extensive Erfahrung, die nur durch Übung und Zeit gewonnen werden kann. Mit anderen Worten sagte der ehemalige Berner Richter Dr. Jörg Sollberger dazu:

„Einst wurde man beim Einstieg in die Strafjustiz einfach ins kalte Wasser geworfen und erfolgte die Ausbildung ganz nach dem Konzept ‚learning by doing‘. Wie man eine Strafuntersuchung angeht, eine Lage beurteilt, anschliessend einen Entschluss fasst und die notwendige Aufträgen erteilt, davon hatten die jungen Strafverfolger noch nie etwas gehört.“[24]

Nicht anders verhält es sich mit Konzepten wie z.B. die Erstellung einer Verfahrensplanung, welche die wichtigsten Schritte der Beweiserhebung und Schnittstellen bzw. Abhängigkeiten definiert und diese auf eine Zeitachse stellt.[25] Das scheint heute nicht anders als damals. Verständlicherweise, denn dies wird den Studierenden während des Ius-Studiums auch gar nicht beigebracht. Wie auch. Die Universitäten sind bereits dermassen gefordert das materielle Recht ausreichend zu vermitteln, das für das – für eine gerechte und zeitgemässe Strafverfolgung oh so wichtige – prozessuale Recht keine Zeit bleibt. Eine intellektuelle Verknüpfung der beiden Rechtsgebiete darf dann auch nicht von Anfang an erwartet werden.

Es dauerte bis weit in die 90er-Jahre bis ein ganzheitliches Ausbildungskonzept auf die Beine gestellt wurde. Allerdings ist auch heute zu berücksichtigen, dass die auf die Strafverfolgung fokussierten CAS und MAS in den meisten Fällen erst nach Abschluss der universitären Ausbildung und dem Einstieg in die Strafverfolgung besucht werden, von den Staatsanwaltschaften nach unterschiedlichen Modalitäten „angeboten“ werden[26], und die neuen Strafverfolger/Innen sich nicht selten 1-2 Jahre auf einer Warteliste gedulden müssen, bis sie einen Kursplatz einnehmen können. Es darf dann auch niemanden wundern, dass ihre Unsicherheit so gross, wie ihre Erfolgschancen gegen echte Kriminelle (aber ebenso gegenüber einer durchtriebenen Verteidigung) gering sind.

Das altvertraute „Learning by doing“ hat in der Praxis an Aktualität kaum verloren und eine intensive Begleitung, sowohl in inhaltlicher als auch in zeitlicher Hinsicht, durch erfahrene Strafverfolger bleibt mithin eine ausgeprägte Notwendigkeit. Das bleibt nicht ohne Auswirkung auf die Ressourcen der letztgenannten Gruppe und auf die Strafverfahren, für die sie zuständig sind.

Sodann kann bedauerlicherweise und seit geraumer Zeit festgestellt werden, dass immer weniger der Studienabgänger und –abgängerinnen sich für eine Karriere in der Strafverfolgung entscheiden. Eine Tatsache, die bei der Besetzung ausgeschriebener Stellen immer wieder zum Tragen kommt, obwohl es an Detailwissen über die Ursachen dafür noch hapert.[27]

Digitalisierung und andere technologischen Mittel

Positiv zu erwähnen ist die zunehmende Tendenz zur vollständigen Digitalisierung der Verfahren. Geht dies gepaart mit dem Einsatz von analytischer Software im Ermittlungsbereich, z.B. zur Analyse von Zahlungsflüssen bei umfangreichen Transaktionsströmen und Durchsuchung grosser Datenvolumen, kann die Effizienz der Verfahren erheblich gesteigert werden.[28] Die Beschaffung solcher Software-Lösungen verlangt den Erwerb der notwendigen Lizenzen, deren Anschaffung teilweise hohen Kosten mit sich bringt. Strafverfolgungsbehörden, die nicht über entsprechende technische Lösungen verfügen, befinden sich unter Umständen gegenüber Verteidigungsteams, die ebensolche haben, im Nachteil.

Überlastung der Strafverfolgungsbehörden

Als letzter Punkt dieser Auswahl sei die Überlastung der Strafverfolgungsbehörden, die seit geraumer Zeit bekannt ist und in der Öffentlichkeit diskutiert wird, erwähnt.[29] Zur Ergründung deren Ursachen wurde bereits einen runden Tisch eingesetzt um Ideen für effizientere Verfahren auszuarbeiten. Die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren bewilligte am 12. April 2024 ein Projekt welches Daten zur Problematik in der ganzen Schweiz sammeln und Vorschläge zur Lösung vorbringen soll.[30]

Konflikte mit Verfahrensbeteiligten

Verfahrensdauer

Ganz ohne Zutun einer der Parteien dürfte der erste Konflikt bereits darin bestehen, dass Prozessmaximen per se miteinander konfligieren. So steht das Beschleunigungsgebot in einem besonders angespannten Verhältnis zu der Maxime der Wahrheitsfindung[31], insbesondere in komplexen, internationalen Wirtsschaftsstraffällen, deren Ermittlungsdauer nicht selten mehr als sechs Jahre beansprucht, bevor sie überhaupt angeklagt werden. Der Sachverhalt, in dem am 28. August 2024 vom Bundesstrafgericht ergangenen Urteil im Fall 1MdB wegen Betrugs zum Nachteil des Malaysischen Staatsfonds in Höhe von 1.75 Milliarden USD geht gar fünfzehn Jahre, bis in den Sommer 2009 zurück.[32] Diese international längst be- und anerkannte Tatsache[33] hat die zuständige Strafverfolgungsbehörde nicht stets zu verantworten, auch wenn sie in diesem Zusammenhang wegen der sog. (über)langen Verfahrensdauer gerne kritisiert wird und eine Reduktion der Sanktion unter Umständen die Folge ist.

Verständnis des Fair-trial Prinzips

Bei der Prozessmaxime des „Fair Trials“ handelt es sich um einen Grundsatz mit einer verfassungs- und konventionsrechtlichen Grundlage. Solche Maximen stellen, gemäss Wohlers, sowohl für den Gesetzgeber als auch für den Rechtsanwender verbindliche Vorgaben dar.[34] Der Anspruch von Art. 6 Ziff. 1 EMRK ist in Art. 6 Ziff. 2 und 3 EMRK mit relativ vagen Detailvorgaben versehen. Sind diese erfüllt, wird davon ausgegangen, dass ein Strafverfahren als fair eingestuft werden kann. In diesem Zusammenhang sind jeweils die Konkretisierungen, die sich aus der Rechtsprechung der EMRK ergeben, zu berücksichtigen und der subjektiven Wertung des Rechtsanwenders voranzustellen.[35] Ein Blick in die Literatur und die Rechtsprechung zeigt:

„Der Grundsatz des fairen oder gerechten Verfahrens ergibt sich aus Art. 29 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 IPBPR. Auf das Strafverfahren bezogen findet sich die Prozessmaxime in Art. 3 StPO. Aus ihm folgt der Grundsatz der Waffengleichheit. Er besagt, dass der Beschuldigte im Strafverfahren dem Ankläger möglichst gleichgestellt sein und gleich lange ‚Spiesse‘ haben müsse wie dieser. Die Maxime des fairen Verfahrens gilt im ganzen Verfahrensablauf für alle Verfahrensbeteiligten.“[36]

Ergo besteht ein rundum bzw. 360°-Anspruch auf ein faires Verfahren und zwar in jedem Stadium des Strafverfahrens. Das Bundesgericht nuanciert dies sodann noch in derselben Erwägung, indem es ausführt:

„Im Strafprozess ist eine Gleichstellung der Verfahrensbeteiligten zwar anzustreben, doch lässt sie sich nicht in jedem Stadium des Verfahrens verwirklichen. Der Grundsatz findet insbesondere im Untersuchungsverfahren nur bedingt Anwendung, weil eine Strafuntersuchung namentlich durch die Möglichkeit der Anordnung von Zwangsmassnahmen wie Untersuchungshaft gekennzeichnet ist.“[37]

Der Auftakt des Verfahrens ist dann schon vorbei, wird doch mit der Eröffnung grundsätzlich Thema und Umfang der Strafuntersuchung, wenn auch nicht unveränderlich, aber immerhin nicht beschwerdefähig[38], festgelegt.[39] Aber anders als oft angenommen wird, kann auch die Staatsanwaltschaft aufgrund des Anklageprinzips nicht frei über das Prozessthema disponieren.[40] Der von ihr als Ergebnis der Untersuchung etablierten und angeklagten Sachverhalt gibt keine absolute oder wahrnehmungsevidente Wahrheit wider.[41] Nur schon allein deswegen trifft man in der Rechtsprechung gelegentlich auf die Feststellung, dass zu prüfen sei, ob sich der Anklagesachverhalt aufgrund der vorhandenen Beweismittel und nach den von Lehre und Praxis entwickelten Grundsätzen rechtsgenüglich erstellen lasse.[42]

Konflikte in diesem Bereich können insbesondere dann entstehen, wenn der Strafrechtspraktiker, der wissen möchte was in einem konkreten Fall gilt, eine eigene Konzeption der Fairness des Strafverfahrens entwickelt bzw. im Verfahren vorbringt. Um dies zu vermeiden kann und muss verlangt werden, dass substantiiert dargelegt wird mit welchen Vorgaben die infrage stehende Verfahrensweise der Strafverfolgungsbehörden in Konflikt gerät.[43]

Erwartungshaltung und Rollenverständnis

Spätestens mit der Einführung der Eidgenössischen StPO, die am 1. Januar 2011 in Kraft trat, wurden die Weichen zur gesamtschweizerischen Einführung (soweit nicht bereits vorhanden) des sog. monistischen Staatsanwaltschaftsmodells gestellt. Die Wahl des Strafverfolgungsmodells wurde als zentraler Baustein des Vorverfahrens betrachtet und führte zum Entscheid nur eine einzige Behörde das Vorverfahren führen und leiten zu lassen, die zudem – vorbehaltlich eines Abschlusses dieses Verfahrens mittels Einstellung oder den Erlass eines Strafbefehls – anschliessend Anklage erhebt und diese anlässlich des Hauptverfahrens vor Gericht vertritt.[44] Dies wurde insbesondere mit dem erwarteten Effizienzgewinn begründet:

„Durch die Einheitlichkeit von Ermittlung, Untersuchung und Anklageerhebung soll ein hoher Grad an Effizienz in der Strafverfolgung erreicht werden.“[45]

Auch wenn die Tragweite dieser Entscheidung schon damals nicht überbewertet werden durfte[46], sollte eine Optimierung der Verfahrensabläufe im Vorverfahren massgeblich zum Effizienzgewinn beitragen. Doppelspurigkeiten, die insbesondere durch – manchmal sogar mehrfachen – Handwechsel zwischen Untersuchungsrichteramt und Staatsanwaltschaft bedingt waren, sollten der Vergangenheit angehören.

Dem sog. Machtkonzentrat, welches systemisch bedingt bei der Staatsanwaltschaft angesiedelt sei, sollte durch geeignete Gegenmassnahmen entgegengewirkt und ausgeglichen werden.[47] Dazu gehören insbesondere der Ausbau und das frühzeitiges Einsetzen der Verteidigungsrechte[48], die Anordnung und Kontrolle von Zwangsmassnahmen durch eine unabhängige gerichtliche Instanz (das Zwangsmassnahmengericht), das Beschwerderecht gegen Verfügungen und andere Amtshandlungen der Staatsanwaltschaft bei einer gerichtlichen Instanz etc.[49] Ja, man versprach sich sogar Einsparungen von personellem und finanziellen Aufwand, der durch den Wegfall von Doppelspurigkeiten ermöglicht werde.[50] Soweit ersichtlich wurden Faktoren wie z.B. Bevölkerungswachstum und Innovation der Kriminalität völlig ausser Betracht gelassen.

Der gesetzgeberisch bekundete Machtausgleich birgt aber auch Konfliktpotenzial. Gewiss mögen sich einige der damaligen Neuerungen tatsächlich als Gegengewicht einordnen lassen, darunter z.B. die erweiterte Unmittelbarkeit in der Hauptverhandlung und der Ausbau des Beschwerderechts.[51] Andere jedoch haben sich in der Praxis als reine Hürden und damit als Konfliktpotenzial erhöhende Verzögerungsfaktoren entpuppt. Als Beispiel hierfür kann an die überlange Dauer der Entsiegelungsverfahren gedacht werden.[52]

Innert kurzer Zeit nach der Einführung der gesamtschweizerischen StPO wurde in der Praxis und in der Literatur Kritik zu den problematischen Aspekten der StPO laut und es wurden parlamentarische Vorstösse zu abermaliger Änderung eingereicht. Statt diese einzeln anzugehen, beschlossen die eidgenössischen Räte eine Gesamtschau, die letztendlich zu einer Teilrevision der StPO geführt hat.[53]

Weiteres Konfliktpotential

Nemo tenetur

In Anwendung des Grundsatzes nemo tenetur se ipsum accusare darf niemand gezwungen werden, sich im Strafprozess selber zu belasten. Daraus ergibt sich, dass eine Rechtsbelehrung zu erfolgen hat, dass die Aussage und Mitwirkung verweigert werden kann. Die Verweigerung der Mitwirkung dürfte ihre Grenze in einer aktiven Instruktion, die zur unverhältnismässigen Erschwerung der Strafuntersuchung führt (z.B. durch Anweisungen betreffend die Sicherung von Mobiltelefonen, damit diese durch die Strafverfolgungsbehörden nicht ausgelesen werden können), liegen.

Beweisanträge

Ein erheblicher Teil der Beweise wird im Vorverfahren, und nicht erst an der Hauptverhandlung, unmittelbar erhoben. In der Folge beschränkt sich die Beweisabnahme in der Hauptverhandlung regelmässig auf eine kurze Befragung der beschuldigten Person oder einer anderen Verfahrenspartei und im Übrigen wird auf die Akten abgestellt.[54] Die betroffenen Personen haben in allen behördlich geführten Verfahren, somit insbesondere auch in Strafverfahren, das Recht im Rahmen des rechtlichen Gehörs Beweisanträge zu stellen. Da die Verfahrensleitung stets der Behörde obliegt, hat diese jeweils auch zu entscheiden, ob sie einen gestellten Beweisantrag gutheisst und den verlangten Beweis erhebt oder nicht.[55] Weist sie den Beweisantrag ab, ist dies begründungspflichtig. Allerdings schliesst Art. 394 lit. b StPO eine Beschwerde gegen die Ablehnung von Beweisanträgen durch die Staatsanwaltschaft aus, wenn der Antrag ohne Rechtsnachteil vor dem erstinstanzlichen Gericht wiederholt werden kann.[56] Eine ständige Wiederholung derselben Beweisanträge nach begründeter Ablehnung kann im Vorverfahren auf beiden Seiten Konflikte verursachen.

Siegelungsbegehren