Pastetenlust - Pierre Emme - E-Book

Pastetenlust E-Book

Pierre Emme

4,4

Beschreibung

Neben der Erpressung eines großen Lebensmittelkonzerns beherrscht der Mord an dem berühmten deutschen Schauspieler Jürgen Lettenberg die Medien des Landes. Seine Freundschaft mit dem für den Fall zuständigen Inspektor Wallner führt den »literarischen Kriminologen« Palinski, vor dessen Wohnung in Wien die Leiche gefunden wurde, ins Zentrum der Ermittlungen. Mit seiner unkonventionellen, überwiegend auf Inspiration beruhenden Art findet er Zugänge zu dem Mordfall, die der Polizei nicht nur aus dienstrechtlichen Gründen verwehrt bleiben. Ein »wasserdichtes Alibi«, das fast nicht angreifbare »Geständnis« eines vergifteten »Sündenbocks« und die Erkenntnis, dass nicht immer alles so ist, wie es zu sein scheint, sind markante Stationen auf dem Weg zur Lösung dieses ungewöhnlichen Falls.

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Pierre Emme

Pastetenlust

Handlung und Personen sind frei erfunden.

Sollte es trotzdem Übereinstimmungen geben,

so würden diese auf jenen Zufällen beruhen,

die das Leben schreibt.

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© 2005 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

Foto: Constanze Millwisch

1

Es war Dienstag und Palinski hatte fast bis 4 Uhr morgens gearbeitet. Draußen war es bereits hell geworden, als er sich endlich zu Bett begeben hatte. Jetzt war es kurz vor 7 Uhr und er war schon wieder wach. Zwangsläufig, denn das gleichermaßen muntere wie auch enervierende Gezwitscher einer Amsel hatte ihn schon bald nach Beendigung der ersten Tiefschlafphase geweckt und der Lärm des einsetzenden Frühverkehrs ein neuerliches Einschlafen verhindert.

Palinski setzte die Kaffeemaschine in Gang, schob die Vorhänge zur Seite und riskierte einen ersten Blick in den neuen Tag. Der Ausblick vom Fenster der ehemaligen Hausmeisterwohnung, in der sich sein Wohnbüro befand, war nicht gerade überwältigend, aber beruhigend vertraut. Der zur Straße hin offene Innenhof war begrünt und das war gut für seine müden Augen. Eine alte, vom früheren Mieter des Geschäftslokals an der Ecke gestiftete Parkbank bildete den Mittelpunkt der kleinen Oase und ermöglichte Palinski die Vorstellung eines eigenen Gartens. ›Seines Gartens‹, in dem er häufig saß und mitten in der Großstadt seine Seele baumeln lassen konnte. Leicht irritiert stellte er fest, dass ›seine Bank‹ trotz der frühen Stunde bereits besetzt war. Etwas, was grundsätzlich nur selten vorkam, für diese Tageszeit aber ein absolutes Novum bedeutete.

Das Objekt seiner Aufmerksamkeit, ein Mann, lag auf der linken Seite in Fötushaltung und schien zu schlafen. Palinski war ziemlich sicher, dass es sich bei dem Schläfer um denselben Mann handelte, den er bereits in der Nacht gesehen hatte. Allerdings sitzend und in inniger Umarmung mit einer Blondine. Palinski hatte sich noch gewundert, dass das gutgekleidete Paar um 3 Uhr morgens keinen geeigneteren Platz für den Austausch von Zärtlichkeiten gefunden hatte. Aber bitte, ›Chacun à son goût‹. Heute war Dienstag, ein Dienstag im Frühling, auch wenn der noch auf sich warten ließ, dachte sich Palinski. Das bedeutete unter anderem, dass die fleißigen Männer der städtischen Müllabfuhr schon bald ihres Amtes walten würden. Vor allem aber würde Frau Pitzal, die rührige Hausmeisterin, in Kürze auftreten. Um die Leerung der dunkelgrauen, mit den täglichen Resten der menschlichen Zivilisation randvoll gefüllten Behältnisse kritisch zu überwachen. Wie ehedem der Generaltruppeninspektor den Aufmarsch seiner Truppen im Manöver. Palinski konnte sich nicht erinnern, dass die gute Frau auch nur einen einzigen Auftritt der Müll-Truppe in den letzten fünfzehn Jahren versäumt hätte. Der unbekannte Schläfer hatte also keinerlei Chance, seinen Schlaf noch länger als höchstens zehn Minuten fortzusetzen. Dann erwarteten ihn unweigerlich das Rumpeln schwerer, über mehrere Stufen bewegter Mistkübel sowie eine hochnotpeinliche Befragung durch Frau Pitzal.

Männliche Solidarität und ein Anflug von Mitleid mit dem offenbar erschöpften Liebenden auf der Bank vor seinem Fenster veranlassten Palinski zu einem recht unorthodoxen Schritt. Rasch goss er frischen Kaffee in zwei Häferln, stopfte sich den Zuckerstreuer, eine Tube Kondensmilch und zwei Kaffeelöffel in die Taschen seines Bademantels und verließ seine ebenerdig gelegene Wohnhöhle. Nicht ohne noch schnell die Schlüssel einzustecken.

Wenige Sekunden später stand er vor dem still daliegenden Unbekannten. »Guten Morgen, ich denke, Sie sollten jetzt langsam aufstehen«, versuchte er, den Mann mit halblauter Stimme zu wecken. Nach mehreren, trotz gesteigerter Lautstärke erfolglosen Versuchen stellte Palinski die beiden Behältnisse mit dem nachtschwarzen Lebenselixier am Boden ab und begann, den Mann an den Schultern zu rütteln. Zunächst ganz vorsichtig, dann immer stärker, doch vergeblich.

Irgendetwas stimmte da nicht, das spürte Palinski, und zwar absolut nicht. Er legte dem Mann die Hand auf die Stirne. Eiskalt. Dann versuchte er, so etwas wie einen Puls und damit Anzeichen noch vorhandenen Lebens zu finden. Seine Bemühungen an Hals und Handgelenk blieben aber erfolglos. Langsam verdichtete sich der Verdacht zur erschreckenden Gewissheit. Der Mann auf der Bank war tot, mausetot und das wahrscheinlich schon einige Zeit. Palinski stand zum ersten Mal in seinem Leben vor einer echten Leiche und das gefiel ihm ganz und gar nicht.

»Gutn Morgn, Herr Palinski«, unbemerkt hatte sich Frau Pitzal von hinten angeschlichen. »Wos mocht denn da Herr do?«

»Der Herr da macht gar nichts mehr, der Herr ist tot«, Palinskis Antwort fiel unfreundlicher aus als beabsichtigt.

»Na, Sie wern eam do net umbrocht hobn«, meinte die Gute resolut und der Angesprochene war sich nicht ganz sicher, ob die scherzhaft anmutende Frage nicht doch auch eine Spur ernst gemeint war.

»Mit so etwas macht man keine Witze«, er liebte schwarzen Humor, fand den Zeitpunkt aber ziemlich unpassend. »Passen Sie hier auf, ich gehe die Polizei anrufen«, wies er die Pitzal an.

»Is in Urdnung«, die Frau akzeptierte seine Anweisung ohne Widerspruch. »Haums wos dagegn, wenn i ma an Kaffee nimm?«, rief sie Palinski nach. Der machte eine unbestimmte Handbewegung, die Elfriede Pitzal selbstsicher als Zustimmung deutete.

»Und wans ma no a Müch und an Zucka mitbringatn, wär I Ihna ewig donkboar.«

Palinski, der mit plötzlich stark einsetzender Speichelproduktion zu kämpfen und alle Mühe hatte, seine auf Umkehrschub gehende Peristaltik unter Kontrolle zu bekommen, bewunderte die Kaltblütigkeit der Frau. Vielleicht war es ja auch bloß Gefühllosigkeit, eine über die Jahre beim Stiegenwaschen gewachsene Apathie, wer konnte das schon wissen.

*

Mein Name ist Mario Palinski, ich bin 44 Jahre alt und so was ähnliches wie verheiratet. Mit meiner Jugendliebe Wilma verbindet mich neben unseren beiden Kindern eine, wie ich es nennen möchte, streitbare Leidenschaft. Anfangs überwog die Leidenschaft, später der Streit. Das aktuelle Verhältnis lässt sich am besten mit › ich kann nicht mit ihr, aber auch nicht ohne sie leben‹ beschreiben.

Seit ich vor mehr als drei Jahren die gemeinsame Wohnung verlassen und mich in der auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofes gelegenen Hausmeisterwohnung eingenistet habe, vertragen wir uns erstaunlicherweise wieder recht gut. Die nach wie vor unvermeidlichen Streits finden jetzt nur mehr über E-Mails statt und die sind weniger verletzend. Im Gegenteil, meistens ist es richtig amüsant, nachzulesen, über welchen Blödsinn man sich eigentlich aufregt.

Dass ich Wilma nie gefragt habe, ob sie meine Frau werden will, muss irgendwie damit zu tun haben, dass ich unter Prüfungsangst leide. Die Matura ist mir im zweiten Anlauf und in völliger Teilnahmslosigkeit passiert. Bei der schriftlichen Deutschprüfung bin ich fast eingeschlafen, worauf ich die nächste Dosis Sedativa deutlich reduziert habe. Beim daraufhin begonnenen Studium der Rechte hat das aber nicht mehr funktioniert. Entweder war die Dosis zu hoch und ich habe den Prüfungstermin verschlafen oder sie war zu gering und ich bin nicht hingegangen. Nach fünf Jahren und acht nicht stattgefundenen ›Ersten Staatsprüfungen‹ habe ich mich von den Medikamenten und der Zwangsvorstellung meiner Umwelt verabschiedet, unbedingt einen akademischen Grad erwerben zu müssen.

Das Absurde an der ganzen Situation war, dass ich allgemein von relativ rascher Auffassungsgabe bin und den Prüfungsstoff hervorragend beherrscht habe, ja noch immer beherrsche. Nach dem zweiten verpassten Termin hatte ich begonnen, einige Kommilitonen für ihre Prüfungen zu ›coachen‹, und das mit nachweisbar gutem Erfolg. Bis zu meinem fünften Nichtantreten hatte ich mir den Stoff des zweiten Studienabschnittes angeeignet und mich dann dem letzten Drittel zugewendet. Im totalen Kontrast zu den meisten frischgebackenen Doktores und Magistri juris habe ich die Rechtswissenschaften im kleinen Finger. Aber eben keinen anerkannten Nachweis dafür.

Für Wilma, die ihr Romanistikstudium mit ›summa cum laude‹ in der kürzest möglichen Zeit beendet hat, war das nur schwer zu verstehen. Immerhin bemühte sie sich aber redlich. Für ihre Eltern dagegen, den honorigen Herrn Universitätsprofessor und die Frau Primaria, war das schlicht inakzeptabel. Da nützte es auch nichts, dass ich mir neben meinem Job in einer Versicherung noch acht Semester lang Medizinvorlesungen angehört und damit auch ein solides Wissen in dieser Fachrichtung angeeignet habe. Im Gegenteil, nach meinem zweiten Prüfungsversagen sahen es Wilmas Eltern für die nächsten Jahre als Herausforderung an, uns beide auseinander zu bringen. Der erste vehemente Versuch in diese Richtung erwies sich aber als völlig kontraproduktiv und führte nach Ablauf von neun Monaten zur Geburt unseres ersten Kindes. Eines Mädchens mit dem Namen Justina, das wir frei mit ›Jetzt erst recht‹ übersetzt haben.

Um meine de facto-Schwiegermutter zu ärgern, habe ich sogar ›The Lancet‹ abonniert, um sie bei den gelegentlichen Pflichtterminen bei der Großmutter meiner Kinder in Verlegenheit bringen zu können. Nach einigen eindrucksvollen Demonstrationen ihrer mangelnden Bereitschaft, sich laufend weiterzubilden, konvertierte sie schließlich zu einer eifrigen Leserin der Fachzeitschrift. Das bescherte uns einige engagierte Diskussionen und brachte mir spät, aber doch ein wenig Anerkennung auch von dieser Seite. Doch was war dieser ganze theoretische Scheiß schon im Vergleich zu dem Anblick einer echten Leiche, und das schon vor dem Frühstück.

*

Nachdem Palinski der Polizei die männliche Leiche vor seinem Fenster gemeldet hatte, fuhr er rasch in eine bequeme Hose und streifte einen Pullover über.

Um die Bank mit dem leblosen, von Frau Pitzal streng bewachten Körper hatte sich in wenigen Minuten ein mittlerer Menschenauflauf gebildet. Neben einigen Kindern, die das Geschehen im Hof aufregender fanden als die erste Schulstunde, hatten sich auch mehrere Erwachsene eingefunden. Darunter die komplette Mannschaft des Müllfahrzeuges, das mit laufendem Motor, aber ohne Fahrer die Straße blockierte. Auf der begann sich bereits ein veritabler Stau hinter einer am Weiterfahren gehinderten Straßenbahn zu bilden.

Frau Pitzal, die den Kaffee in der Not offenbar auch ohne Milch und Zucker trank, schien in ihrem Element zu sein. Die immer wieder an sie gerichtete Frage nach der Todesart beantwortete sie geschickt mit dem Hinweis darauf, dass »das Herz halt nicht mehr mitgemacht hat«.

Inzwischen hatte sich die Nachricht vom toten Mann über den Innenhof hinaus auf die Straße verbreitet. Was zur Folge hatte, dass die Passagiere der nach wie vor an ihrer Weiterfahrt gehinderten Straßenbahn fast vollständig das öffentliche Verkehrsmittel verließen und in den Hof strömten.

Während sich Palinski mühsam einen Weg durch die schaulustige Menge zurück ins Zentrum des Geschehens bahnte und dabei einige unfreundliche »Net vurdrengan« zu hören bekam, war in der Ferne bereits der durchdringende Ton eines Martinshorns zu vernehmen.

»Kaumma den Mau net aufsetzn?«, wollte Frau Pitzal wissen, »damit i mi hinsetzn kau. Heut spia i die Hex wida gonz bsondas.«

»Solange die Polizei nicht festgestellt hat, was hier passiert ist, darf die Leiche nicht bewegt werden«, ermahnte Palinski den geplagten Hausgeist. »Tut mir leid. Sie können sich aber in mein Büro setzen, wenn Sie wollen.«

Während die Pitzal noch überlegte, was schlimmer war, der Verlust eines Platzes ›Fußfrei am Orchestergraben‹ oder die Schmerzen des lästigen Hexenschusses, hatte der 12-jährige Karli Berger aus dem 3. Stock die ökonomischen Chancen der Situation erkannt.

»Soll ich Ihnen einen Sessel holen, Frau Pitzal?«, machte er ein Angebot. »Das kostet Sie nur 1,50 Euro.«

Dankbar nickte die Befragte und Berger junior machte sich auf den Weg. »Waunst scho gehst, bring ma a wos zum Sitzn mit. Mei Kreiz bringt mi no um«, rief ihm ein älterer Herr nach. »Mia a«, tönte es noch von zwei weiteren Seiten.

Mit seinem reflexartigen »Für Hausfremde kostet das aber 2,50« bewies der zukünftige Kommerzialrat ein für sein Alter erstaunliches Verständnis für das Prinzip von Angebot und Nachfrage.

»In Urdnung«, die Kunden akzeptierten den Preis. Einer meinte sogar anerkennend, dass es »der Bua no weit bringan wiad«.

Palinski kam es vor, als ob der Ton des Martinshorns immer vorwurfsvoller, fordernder klang, ohne dabei wirklich näher zu kommen. Offenbar war der Verkehr auf der Hauptstraße jetzt schon völlig zum Stillstand gekommen.

Rund zehn Minuten später, Karli Berger hatte inzwischen weitere sechs Küchenhocker, Campingsessel und andere Sitzgelegenheiten vermietet, tauchten endlich zwei keuchende und erhitzt wirkende Streifenpolizisten auf. Mit barschen Aufforderungen wie »Aus’m Weg, Sie behindan die Oabeit dea Polizei« kämpften sie sich durch die inzwischen auf mehr als einhundert Menschen angewachsene Menge.

»Wos is do los?«, bedrohlich baute sich der größere der beiden Beamten vor Frau Pitzal auf, die auf dem Berger’schen Badezimmerhocker saß und noch immer an ihrem inzwischen kalt gewordenen Kaffee nuckelte.

Gelassen deutete die Hausmeisterin auf Palinski. »Der Herr hier hat die Leiche gefunden«, stellte sie klar.

Während sich der größere der beiden Polizeibeamten zu Palinski drehte, funkte der zweite nach Verstärkung. Vor allem, um das auf der Straße herrschende Chaos in den Griff zu bekommen. Dann griff er sich den Lenker des Müllfahrzeugs und drohte ihm mit sofortiger Verhaftung, falls er die orangefarbene ›Tschesn‹ nicht sofort fortbewege. Der war sauer, da noch nichts geschehen war, was geeignet gewesen wäre, seine krankhafte Neugier auch nur ansatzweise zu befriedigen.

»I muaß wortn, bis die Kollegn die Kibln ausglad hom«, trotzig versuchte er, noch einige Minuten zu schinden. Doch vergebens, der angedeutete Griff des Ordnungshüters zu den Handschellen genügte, den Mann der Abfallwirtschaft wieder an seinen Arbeitsplatz zu bewegen.

Der Fahrer der inzwischen völlig leeren Straßenbahngarnitur hatte die Zeichen der Zeit rascher erkannt und bimmelte bereits heftig, um die Fahrgäste wieder an Bord zu locken.

Allen jenen, die sich dem langsam einsetzenden Trend zum Verlassen des Innenhofes weiterhin widersetzten, machte der erstaunlich effiziente Ordnungshüter mit einem barschen, mehrmals wiederholten »Gehn Sie weita. ›Die nicht angemeldete Versammlung‹ ist hiermit aufgelöst« Beine. So lange, bis sogar die glücklichen Besitzer der wenigen Sitzgelegenheiten murrend ihre guten Plätze räumten. Der vife Karli Berger hatte die nun einsetzenden Forderungen nach Rückerstattung der Sesselmieten vorhergesehen und sich rechtzeitig in Richtung Schule abgesetzt.

Während sich der Innenhof langsam leerte und der Verkehr auf der Straße wieder in Bewegung kam, war der andere Polizist einige Male wortlos um die Bank und die daraufliegende Leiche herumgeschlichen. Da er abgesehen davon noch nichts unternommen hatte, war ihm auch noch kein Fehler unterlaufen. Jetzt wandte er sich Palinski zu. »Und wear san Se?«, wollte er auf die spröd charmante Art wissen, mit der unerfahrene Machthaber häufig ihre Unsicherheit zu kaschieren versuchten.

Palinski stellte sich vor und der Polizist ließ sich den Namen zweimal buchstabieren, ohne ihn zu notieren.

»Und wos mochn Sie do?«, stieg jetzt auch der zweite, offenbar routiniertere Beamte in die Amtshandlung ein. »Wieso gehns net weiter?«

»Ich habe die Leiche gefunden und nehme an, dass Sie mich einiges fragen werden. Und ich wohne hier«, er deutete zu seinem Fenster. »Also was wollen Sie von mir wissen?«

»Kennans den Mau?«, wollte sich der größere Polizist wieder ins Spiel bringen.

»Ich glaube, ich habe ihn heute Nacht bereits hier sitzen gesehen. In Begleitung einer blonden Frau. Die beiden haben sich geküsst. Nachdem ich aber sein Gesicht noch nicht gesehen habe, weder in der Nacht noch jetzt, kann ich Ihre Frage nicht beantworten«, entgegnete der Befragte.

»No, daun dra man jetzt hoit amoi um und schaun eam ins Andlitz«, die Art, wie der Polizist das ›l‹ aussprach, ließ Palinski auf einen gebürtigen Meidlinger schließen.

»Aber das können Sie doch nicht machen«, protestierte er. »Sie dürfen doch keine möglicherweise vorhandenen Spuren vernichten.«

»Wos i kau oder net kau, geht Sie goar nix au, Herr Lapinski«, grollte der sich derarts gemaßregelt und daher in seiner Ehre verletzt fühlende Beamte. »Mischen Sie sich net in die Aumtshaundlung ein, sunst muaß ich Sie festnehma«, mahnte er den Besserwisser in ansatzweisem Hochdeutsch ab.

»Wia haast der Hea?«, wollte jetzt der kleinere, durch sein bisheriges Auftreten kompetenter wirkende Kollege wissen.

Palinski kam der neuerlichen Verfremdung seines ehrlichen Namens zuvor, indem er die Frage selbst beantwortete.

Die Information bewirkte ein kurzes Zusammenzucken beim Empfänger. Dann zog er seinen Kollegen zur Seite und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Dessen Reaktion auf das Gesagte, nämlich »Wos, von unsam Wallna, vom Kommissariat?« sowie das bestätigende Kopfnicken ließen Palinski vermuten, wie die geflüsterte Botschaft gelautet haben dürfte.

Der kleinere der beiden Beamten übernahm jetzt die Initiative. »Sie müssen entschuldigen, Herr Palinski, oba der Kollege is no neich und kennt sie no net so aus«, er lächelte verständnisheischend. »Sie san doch a Fochmann«, versuchte er, dem guten Freund Inspektor Wallners vom Kommissariat auf der Hohen Warte Honig ums Maul zu schmieren, »wos tätn denn Sie jetzt mochn?«

Palinski musste über die unerwartete Wendung des Gespräches lächeln. »Also ich würde zunächst den Fundort der Leiche sichern und dann schnell den diensthabenden Kriminalbeamten informieren. Immerhin besteht ja die Möglichkeit, dass der Mann hier nicht an Altersschwäche gestorben ist.«

»Genau des woit i a grod vurschlogn«, versuchte der größere der beiden Polizisten verzweifelt, wieder etwas Boden gut zu machen. Was ihm aber lediglich ein leises, aber unüberhörbares »Hoit endli die Goschn, du Suam«, vom Kollegen einbrachte.

*

Inspektor Helmut Wallner, den ranghöchsten Kriminalbeamten in unserem Bezirkskommissariat, habe ich durch meinen Freund Miki kennengelernt. Dr. Michael Schneckenburger ist einer der acht Juristen, die ich vor ihren entscheidenden Prüfungen auf dem Weg zum Doktor gecoacht habe. Er ist quasi der Akademiker, der ich hätte werden können oder sollen, zumindest nach den Vorstellungen gewisser Leute.

Miki ist ein mittelhohes Tier im Bundeskriminalamt, wofür genau er zuständig ist, weiß ich eigentlich gar nicht. Als ich nach mehr als zehnjähriger Tätigkeit in einer großen Versicherung meinen Job losgeworden bin, hat er mir über die erste Zeit geholfen. Dank seiner freundlichen Vermittlung konnte ich Paukerkurse für Aspiranten für den höheren Verwaltungsdienst anbieten und mir etwas zu den nicht allzu reichlichen monatlichen Zahlungen der Arbeitslosenversicherung dazuverdienen.

Außer mir schienen alle Beteiligten mit der neuen Situation gut leben zu können. Die euphemistisch als ›Strukturbereinigung‹ bezeichnete Kündigungswelle bei meinem ehemaligen Arbeitgeber hatte die Aktien der Gesellschaft um mehr als sechs Punkte in die Höhe schießen und die shareholder jubeln lassen. Und mein früherer Chef wurde nicht mehr täglich an seine juristische Inkompetenz erinnert, da ich eben nicht mehr zu Verfügung stand. Was sich mit der Zeit aber als kurzsichtig erwies, da er schon bald von seinen Chefs auf seine fachlichen Schwächen angesprochen und schließlich zur Hausverwaltung versetzt wurde.

Wilma, deren Einkommen als Französischprofessorin an einem Gymnasium und als Übersetzerin locker ausreichten, die laufenden Kosten der Lebenshaltung zu decken, genoss es zunächst sichtlich, mich an der finanziellen Kandare zu haben. Sie redete mir zu, zunächst gut und geduldig, später wie einem kranken Ross.

»Nütze die Chance, die in dieser Situation liegt«, ermunterte sie mich unermüdlich mit ihren aus Seminaren über ›Positives Denken‹ erworbenen Stehsätzen,»und gestalte dein Leben neu.«

Nach einigen Monaten von zahlreichen amüsanten bis skurrilen, insgesamt aber erfolglosen Bemühungen geprägter Arbeitssuche habe ich mich endgültig von der Vorstellung unselbständiger Erwerbstätigkeit verabschiedet. Abgesehen von den wenigen konkreten und absolut unattraktiven Angeboten, die sich mir eröffnet hatten, war mir der Gedanke, mich von einem um zehn Jahre jüngeren Schnösel herumkommandieren zu lassen, unerträglich geworden. Ich stufte mich selbst als ›nicht vermittlungsfähig‹ ein und damit basta. Für Wilma war das angeblich ein Schock, obwohl gerade sie es eigentlich schon längst hätte wissen müssen. In jedem Fall nahmen ihre bisher freundlichen Aufmunterungen zunehmend ultimativen Charakter an. Die leidenschaftliche Phase ging ihrem Ende entgegen. Das war die Zeit, als ich begann, Kriminalromane zu schreiben.

*

Knapp zwanzig Minuten später traf Inspektor Wallner mit seinem Team ein. Der knapp 35 Jahre alte Kriminalist, dem nach Miki Schneckenburgers Aussage eine glänzende Karriere bevorstand, begrüßte Palinski herzlich.

»Na, nach der grauen Theorie holt dich jetzt offenbar auch die Praxis ein«, flachste er. Wallner war seit mehr als zwei Jahren so etwas wie Palinskis Berater, sein Experte für kriminaltechnische Fragen. Denn diese mussten in seinen Romanen authentisch beantwortet werden, etwas anderes kam für den ambitionierten Autor nicht in Frage.

»Dabei habe ich noch nicht einmal gefrühstückt«, flachste Palinski zurück, doch Wallner hatte sich bereits dem Opfer zugewendet. Ein Polizeifotograf machte jede Menge Aufnahmen aus allen erdenklichen Perspektiven, dann machte sich die Tatortgruppe an die Arbeit. Inzwischen war auch der Arzt eingetroffen und bestätigte nach einer ersten Untersuchung, was Palinski schon wusste. »Der Mann ist tot. Keine äußeren Spuren von Gewaltanwendung«, lautete sein knapper Kommentar. »Den Rest muss die Obduktion feststellen.«

»Können Sie schon eine Aussage zum Zeitpunkt des Todes machen?«, wollte Wallner von dem etwas schusselig wirkenden Aeskulapjünger wissen.

»Schwer zu sagen«, der Arzt kratzte sich am Kopf, »unter Berücksichtigung der Nachttemperatur würde ich auf 6 bis 8 Stunden tippen.«

Das würde zwischen halb zwölf und halb zwei Uhr morgens bedeuten, überlegte Palinski. Wie spät war es bloß gewesen, als er die Blondine mit dem Mann schmusen gesehen hatte? Wilma war mit ihrer Klasse auf einer Studienreise in Paris. Er hatte die Gelegenheit wahrgenommen und mit den Kindern die Übertragung der Viktor-Verleihung im Fernsehen verfolgt. Die war kurz nach 23 Uhr zu Ende gewesen. Während des nachfolgenden Krimis war er eingeschlafen und erst einige Zeit später wieder aufgewacht. Die Kinder waren inzwischen zu Bett gegangen und er saß alleine vor dem noch immer laufenden TV-Gerät. Welche Sendung war bei seinem Aufwachen bloß gelaufen? Irgendeine Wiederholung aus dem Tagesprogramm mit drei alten Frauen, die sich gegenseitig auf die Nerven gingen. Wenn es ihm gelänge, festzustellen, um welche Sendung es sich gehandelt hatte, ließ sich der nachfolgende zeitliche Ablauf zumindest annäherungsweise rekonstruieren.

»Vielleicht kann ich einen Beitrag bei der Ermittlung des Todeszeitpunktes leisten«, meinte er zu Wallner und berichtete ihm von seinen nächtlichen Beobachtungen. Der hörte sehr aufmerksam zu und bat Palinski dann, das Fernsehprogramm zu Rate zu ziehen.

Inzwischen war die Tatortgruppe soweit, dass der Leichnam bewegt werden durfte. Auf ein Kommando Wallners hin hoben die beiden Streifenpolizisten den Toten an und versuchten, ihn in eine sitzende Position zu bringen. Umständlich rückten sie den mindestens 80 Kilogramm schweren Körper an die Lehne der Bank und brachten den nach vorne gesunkenen Kopf in eine Lage, die es erlaubte, das Gesicht des Toten zu sehen.

Als Palinski bemerkte, wie die volle Haarpracht des Mannes dabei ins Rutschen kam und dann zu Boden fiel, fühlte er sich wie in einem jener Filme, die man sich besser nicht vor dem Schlafengehen ansieht. Wallner war schneller und hatte die Perücke bereits in der Hand, bevor sie den Boden erreichte. Das nunmehr nur durch einen modischen Kurzhaarschnitt der mittelbraunen Haare begrenzte Gesicht kam Palinski bekannt vor, nur woher? »Nimm einmal die Brille ab«, forderte er seinen Freund auf. »Ich bin sicher, dass es sich dabei um normales Fensterglas handelt.« Wallner, normalerweise nicht daran gewöhnt, von Zivilisten Anweisungen entgegenzunehmen, folgte der Aufforderung widerspruchslos. Ein Blick durch die Gläser bestätigte Palinskis Vermutung.

»Wieso hast du das gewusst?«, wollte der Kriminalist, der nicht an Hellseherei glaubte, wissen.

»Ich weiß noch mehr«, nachdem die Brille als letztes störendes Beiwerk beseitigt war, hatte Palinski den Toten sofort erkannt. Die wenigen Sekunden, die er aus seinem angeborenen Hang für Dramatik verstreichen lassen wollte, brachten ihn aber um die Sensationsmeldung des Tages.

Denn mit »Jessas na, des is jo da Lettenberg«, war es Palinskis neuer Liebling, der größere der beiden Streifenpolizisten, der die Bombe platzen ließ.

»Ja, das ist Jürgen Lettenberg«, nicht ganz frei von Neid klopfte Palinski dem Mann auf die Schulter. Der vergaß vor lauter Stolz ganz auf den antrainierten Reflex, die körperliche Berührung als ›Angriff auf die Staatsgewalt‹ anzusehen.

Mit der Frage »Wer ist Jürgen Lettenberg?« stellte Wallner seinen Ruf als chronischer Fernsehmuffel nachdrücklich unter Beweis. Kein Wunder, der überzeugte Single hatte in seiner kargen Freizeit anderes und besseres zu tun, als sich schwachsinnige Sendungen und deren wiederholte Wiederholung anzusehen. Er bevorzugte es, das Leben zu leben, nicht es zu beobachten.

»Lettenberg ist ein sehr beliebter deutscher Schauspieler und hat gestern im Rahmen einer Fernsehgala den Goldenen Viktor als bester was immer auch erhalten«, die Sparte, für die der Tote ausgezeichnet worden war, wollte Palinski partout nicht einfallen.

»Na sicher nicht als beste Hauptdarstellerin«, kicherte einer von Wallners Mitarbeitern, was ihm ein strenges »Lass den Blödsinn, Fritz« eintrug.

Inzwischen hatte der Inspektor die Taschen von Lettenbergs Anzug durchsucht, außer dem Reisepass des Toten aber nichts gefunden.

»Lettenberg, Jürgen Werner, geboren am 14.4.1963 in Reschitz«, las Wallner vor. »Na, um den Preis für den besten Nachwuchs-Schauspieler scheint es sich aber auch nicht gehandelt zu haben.«

»Wenn ich das sag, dann haut er mich zamm«, maulte ›Fritz‹ im Hintergrund. »Aber selbst derf er die blöden Schmäh machen.« Wallner überging den, wie Palinski fand, nicht wirklich unberechtigten Einwurf und konzentrierte sich auf die Leiche. Der Fotograf nahm seine Tätigkeit wieder auf und verknipste einen weiteren Film mit dem sitzenden Körper. Auf Anregung Palinskis und im Auftrag Wallners schoss er auch noch einige Bilder mit Perücke und Brille.

In der Zwischenzeit hingen bereits an mehreren der in den Innenhof gehenden Fenstern Menschen, die sich die unerwartete Abwechslung direkt vor ihren Augen nicht entgehen lassen wollten. Palinski konnte auch zwei, drei Ferngläser erkennen und überlegte, wie lange es wohl noch dauern würde, bis die Medien von dieser für Auflage und Quote zweifellos guten Nachricht Wind bekommen würden. Dann konzentrierte er sich wieder auf den Leichnam und machte eine interessante Feststellung und zwei ebensolche Beobachtungen.

»Ich glaube, ich habe den Mann schon gestern Abend gesehen«, war sich Palinski nach einigen Minuten Überlegens sicher. »Allerdings in der ursprünglichen Verkleidung und in einem anderen Anzug.«

»Eines nach dem anderen. Klären wir jetzt einmal, um welche Uhrzeit du Lettenberg heute Nacht gesehen hast«, erinnerte Wallner. »Ehe wir das vergessen. Den Rest erzählst du mir nachher.«

*

Als Krimischreiber habe ich mir angewöhnt, alle Menschen und Situationen auf ihre ›dramatische Tauglichkeit‹ hin zu prüfen. Das bedeutet beispielsweise, dass ich angesichts einer interessant wirkenden Person überlege, welche dunklen Geheimnisse sie umgeben. Der Mann ist mir sofort aufgefallen, als ich gestern Abend das Ristorante ›Mama Maria‹ betrat, den besten Italiener weit und breit. Das Lokal liegt exakt gegenüber dem Haus, in dem sowohl meine Familie als auch ich wohnen, wenn auch nicht zusammen. Seit meiner halbherzigen Trennung von Tisch und Bett hatte Maria Bertollini, eine typische italienische Mama, einen erheblichen Teil der Verantwortung für meine alimentäre Versorgung übernommen.

Verwöhnung wäre der treffendere Ausdruck für die angenehme Situation, die mich allerdings rund zehn Kilogramm mehr am Skelett in den vergangenen drei Jahren gekostet hat.

Lettenberg saß an einem Tisch mit direktem Blick auf unser Haus, ich am Nebentisch. Soweit ich das beurteilen kann, hat der Mann die ganze Stunde, die ich für meine Lasagne und einen wunderbaren Branzino sowie einen halben Liter weißen vino di tavola benötigte, den Haus-eingang nicht aus den Augen gelassen. Ein gefundenes Fressen für meine Fantasie, die aus ihm zunächst einen Geheimagenten vor dem Einsatz und dann einen betrogenen Ehemann auf den Spuren seiner ungetreuen Frau machte.

Als ich kurz nach 20 Uhr Mama Maria wieder verließ und in den dritten Stock zu meinen Kindern stieg, saß Lettenberg noch immer da. Aus heutiger Sicht erstaunt mich das ein wenig, sollte er doch bereits zwei Stunden später am anderen Ende der Stadt seinen ›Viktor‹ entgegennehmen.

Wo ist denn bloß diese verdammte Programmzeitung? Endlich finde ich sie unter der gestrigen Tageszeitung, die inzwischen schon am Altpapierstapel gelandet ist.

Das war es, die ›Golden Ladies‹. Die Sendung lief zwischen 1.45 und 2.15 Uhr. Da ich mich noch dunkel an den Abspann erinnere, wird es wohl ein Viertel nach zwei Uhr gewesen sein, als ich den Hof überquert habe. Zu dem Zeitpunkt muss Lettenberg also noch gelebt haben. Ich rufe mir das Bild nochmals vor Augen und sehe die Blondine deutlich vor mir, wie sie sich förmlich an seinen Lippen festgesaugt zu haben schien. Komisch, in meiner Erinnerung ist da noch ein dunkler Fleck, ganz rechts am Rand des Blickfelds. Zunächst unbeweglich, schien er sich plötzlich wegzubewegen. Da spielt mir die Fantasie offenbar wieder einen Streich.

*

Wallner hatte inzwischen zwei seiner Mitarbeiter zur Befragung der Hausparteien losgeschickt. Eine in Anbetracht der auf vier Stiegen verteilten 45 Wohnungen recht zeitaufwendige Aufgabe, vor allem auch, da die meisten Bewohner bereits das Haus verlassen hatten und erst abends wieder angetroffen werden konnten. Ein dritter Beamter durchsuchte vorsorglich das runde Dutzend dunkelgrauer Mistkübel, die von den städtischen Müllspezialisten heute mit einiger Verspätung an den Straßenrand gebracht worden waren. Wonach er eigentlich suchte, wusste bei diesem Stand der Ermittlungen niemand, aber Wallner verließ sich auf den Instinkt des erfahrenen Mitarbeiters. »Sobald er etwas sieht, wird er wissen, ob es für unseren Fall relevant ist oder zumindest sein könnte«, machte der Inspektor in Optimismus. Vor einer prophylaktischen Beschlagnahmung des wöchentlichen Mülls von mehr als zweihundert Menschen schreckte der Inspektor aber doch zurück.

Inzwischen war es fast 9 Uhr morgens geworden und Palinski hatte noch immer nicht gefrühstückt. Ihm hing der Magen langsam bis zu den Knien. Die Auswirkungen einer kurzen Nacht ließen sich mit zwei Schalen kräftigen Kaffees, einem großen Teller Ham and Eggs und zwei Buttersemmerln sehr gut kompensieren. Aber nur zwei Stunden Schlaf ohne nachfolgend ausreichende Energiezufuhr, er fühlte sich langsam richtig schlaff. Jetzt fielen auch schon die ersten Medienvertreter ein wie die Fliegen in den Kuhstall. Palinski war sicher, dass der junge Mayerhofer aus dem ersten Stock dafür gesorgt hatte. Der Publizistikstudent im dritten Semester war hinter einem Job beim Fernsehen oder einer der führenden Tageszeitungen her wie der Teufel hinter einer armen Seele. Und das hier war sicher keine schlechte Gelegenheit, da und dort einen Fuß in die Türe zu bekommen.

Ein kurzer Blick zu den Fenstern der Mayerhofer’schen Wohnung bestätigte Palinskis Vermutung. Zwei Fotoreporter mit imponierenden Objektiven vor ihren Kameras hingen über den Fensterbrettern. Horst Mayerhofer versuchte sein Glück dagegen mit der Videokamera seines Vaters zu zwingen.

Zwei Zeitungsjournalisten und ein Team des Fernsehens hatten sich jetzt bis zu Wallner durchgekämpft und bestürmten den Inspektor mit ihren Fragen. Der fasste in einem kurzen Statement zusammen, was ohnehin schon bekannt war und kein Wort mehr. Im Übrigen verwies er auf die offizielle Stellungnahme der Pressestelle der Polizei, die er für nachmittags in Aussicht stellte.

Nachdem die Vertreter der vierten Macht erkannt hatten, dass von offizieller Seite nichts mehr zu erwarten war, versuchten sie von den umstehenden Zuschauern etwas zu erfahren. Palinski wehrte die hartnäckigen Versuche, ihm etwas aus der Nase zu ziehen, freundlich, aber bestimmt ab. Frau Pitzal dagegen genoss das Interesse an ihrer Person ungemein und reicherte ihr zwangsläufig karges Faktenwissen durch gelungene Ausschmückungen und originelle Schlussfolgerungen an. Was dazu führen sollte, dass die erste Abendausgabe der größten Tageszeitung noch mit dem spekulativen Aufmacher ›Fernsehliebling und Gewinner des ›Viktor‹ tot – Selbstmord aus verschmähter Liebe?‹ erschien.

Wallner sah auf die Uhr, blickte sich um und meinte: »Bis auf die Befragung der Anwohner sind wir hier soweit fertig. Jetzt werden wir einmal schauen, was uns die Leute aus dem Showbiz zu erzählen haben.« Er drückte Palinski die Hand. »Und du mach, dass du endlich etwas in den Magen bekommst, bevor du noch aus den Latschen kippst. Ruf mich am Nachmittag an, möglich, dass ich noch etwas von dir brauche.«

Während Frau Pitzal weiter nach Journalisten suchte, die sie interviewen wollten, die gute Frau hatte wahrhaft Freude daran gefunden, ging Palinski zurück in seine Wohnung.

Hier brachte er noch rasch einige Gedanken zu Papier, dann machte er sich stadtfein und auf den Weg in sein geliebtes Café ›Kaiser‹. Wo ihn, das Wasser rann ihm bei dem Gedanken im Mund zusammen, ein hervorragendes Frühstück erwartete. Ganz so, wie er es liebte.

2

Während die sterblichen Überreste Lettenbergs ins gerichtsmedizinische Institut überführt wurden, studierte Palinski bereits die aktuellen Tageszeitungen. Die belebende Wirkung des mit der ersten Schale Kaffee zugeführten Koffeins machte sich bereits bemerkbar, den Rest an Wohlbehagen steuerte das resche Handsemmerl bei, mit der er das klebrige Gelb der Dotter von dem vor ihm stehenden Teller tunkte.

Neben den Problemen mit der Gesundheitspolitik, dem jüngsten Korruptionsskandal in Brüssel und der fristlosen Entlassung des Bundestrainers nach der 0:3 Niederlage gegen Andorra am vergangenen Wochenende beherrschte die erst anfangs letzter Woche bekannt gewordene Erpressung einer großen Lebensmittelhandelskette die Schlagzeilen der Tagespresse. Wie der riesige Konzern jetzt zugeben musste, war die erste Forderung nach 10 Millionen Euro bereits vor drei Wochen eingetroffen, aber zunächst nicht weiter ernst genommen worden.

»Wir erhalten mehrmals pro Jahr derartige Schreiben von irgendwelchen Spinnern«, soll der Vorstandssprecher die späte Einschaltung der Polizei gerechtfertigt haben.

Fünf Kunden mit mittelschweren Vergiftungen, die sich nachweislich nach dem Verzehr von in ›BIGENI‹- Märkten erstandenen Krapfen eingestellt hatten, führten zu einem leichten Meinungsumschwung bei der Konzernleitung. Als Reaktion auf ein neuerliches Schreiben, in dem man eine Erhöhung der Dosis ankündigte und den Betrag auf 20 Millionen hinaufsetzte, wurde eine private Security-Agentur beigezogen. Als besonders provokant sollen die Bosse den quer über die Botschaft geschriebenen Slogan des Unternehmens ›Billiger gehts nicht‹ empfunden haben. Noch dazu in blaugelb, den Farben des Konzerns.

Die im Zuge einer fingierten Geldübergabe gestellte Falle erwies sich als völliges Desaster und führte dazu, dass sich bereits drei Tage später zwölf gesundheitsbewusste Wiener nach dem Konsum von strychningetränktem Müsli der Handelsmarke ›Cheapy‹ mit schweren Vergiftungserscheinungen in Spitalsbehandlung begeben mussten.

Nun war der Deckel nicht mehr länger auf demTopf zu halten. Die Polizei machte den Verantwortlichen heftige Vorwürfe. Wie Palinski von Miki Schneckenburger wusste, sollte die Staatsanwaltschaft gegen einige der Chefs sogar die Möglichkeiten einer Anklage wegen fahrlässiger Körperverletzung prüfen. Was prompt zu einem Aufschrei der Wirtschaft führte, die damit eine Gefährdung des Wirtschaftsstandortes befürchtete. Da sich gleichzeitig auch in drei anderen Ländern der EU Vorfälle nach dem im wesentlichen gleichen Muster ereigneten, wurden Stimmen laut, die dahinter eine konzertierte Aktion der internationalen Terror-szene vermuteten. Die erpressten Gelder könnten der dezentralen Finanzierung regionaler Aktionen dienen, lautete schon bald die gängige, wenn auch nicht ganz unwidersprochene Expertenmeinung.

Die Folge dieser Entwicklung war die vor wenigen Tagen erfolgte Einrichtung einer Sonderkommission im Innenministerium, der auch Dr. Michael Schneckenburger angehörte.

Die nächste Meldung war für Palinski völlig neu. Angeblich hatte jetzt auch der zweite große Filialist, die ›MEFIG‹, was so viel wie ›Mehr für Ihr Geld‹ bedeuten sollte, eine enorme Forderung erhalten. Mit den Worten: ›Wenns für einen zuviel ist, wollen wir eben 30 Millionen von zweien‹ wurde der Druck neuerlich erhöht. Die Reaktion der Bevölkerung war durchaus ambivalent. Einerseits schreckten viele vor dem Kauf von Krapfen, Müsli und anderen von Experten als gefährdet angesehenen Produkten zurück. Andererseits gab es gar nicht wenige, die sich heimlich die Hände rieben und den ›Großkopferten da oben‹ die Bredouille durchaus gönnten, in der sie sich befanden.

Ein älterer Mann war an Palinskis Tisch getreten. Es war Kurt Brinek, genannt ›der Oberlehrer‹, weil er immer alles besser wusste. Er zählte ebenso wie der Pepi, der Kaserer, die alte Frau Nessel und einige andere, deren Namen Palinski nicht ganz geläufig waren, zu den Stammkunden, nein, eigentlich zum Inventar des alten Wiener Kaffeehauses. Sie kamen nicht hin und wieder hierher, sondern sie wohnten hier und gingen hin und wieder nach Hause oder auch woanders hin.

»Hallo Hocknstada«, der Spitzname stammte aus der ersten Zeit seiner Arbeitslosigkeit, die Palinski häufig hier mit dem Studium der Stellenanzeigen in den Tageszeitungen verbracht hatte. »Laung net gsegn«, der Oberlehrer hatte ungefragt Platz genommen. Das war unter den Ureinwohnern hier so üblich und Palinski war irgendwie stolz darauf, dazu gezählt zu werden.

»Zvü Oabeit« rechtfertigte sich Palinski, »und ka Göd.« Er lachte in Erinnerung an sein erstes Gespräch mit Brinek vor einigen Jahren. Damals hatte ihn der Oberlehrer als ›a so a Großkopfata‹ abgestempelt, weil er Hochdeutsch mit wienerischem Akzent gesprochen hatte. Diesen Vorwurf wollte Palinski kein zweites Mal riskieren.

»Nau, fia an Gspritztn wiads do no reichn«, der Oberlehrer verdrehte mit gespielter Verzweiflung die Augen, »bevur i vaduast.«

Wieder musste Palinski lachen. Dann gab er Sonja, der in traditionellem Schwarz-Weiß der Serviererinnenzunft gekleideten Seele des Hauses, ein Zeichen. Der war das Ritual geläufig, das auf ein Viertel aufgespritzte Achtel Weißwein schon vorbereitet und rasch serviert. »Warums den Obalehra nennan und net Schnorraking, is ma a Rätsel«, murrte sie im Vorbeigehen.

»Wast, wos i ma denk«, Brinek lud sich nie einfach nur auf ein Getränk ein, sondern lieferte im Gegenzug immer auch erfrischende Einblicke in sein Seelenleben und geizte nicht mit guten Ratschlägen. Schließlich wollte er sich ja nichts schenken lassen.

»I deng ma, doss do a Menge Leid bei der Apressung mitschneidn wean woin.« Nachdenklich schüttelte er den Kopf. »Und waun i an um d’ Eckn bringan woit, tät i eam mit vagiftete Schwedenbombn vom ›Bigeni‹ fittan. Kaufn, vagiftn und daun fittan, in der Reinfoige.«

»Do kaunst recht ham.« Die These des Oberlehrers hatte tatsächlich etwas für sich. Das war wirklich eine ideale Gelegenheit für Trittbrettfahrer und Leute, die eine gute Gelegenheit suchten, um alte Rechnungen diskret zu begleichen, dachte Palinski.