Heurigenpassion - Pierre Emme - E-Book

Heurigenpassion E-Book

Pierre Emme

4,6

Beschreibung

Mit dem Fund der Leiche einer jungen Frau fängt das neue Jahr für Inspektor Wallner und seinen „kriminalistischen Berater“ Mario Palinski nicht gerade gut an. Als sich herausstellt, dass die Frau vor kurzem entbunden hat, beginnt die hektische Suche nach dem unversorgten Säugling. Die Spur führt in ein bekanntes Wiener Heurigenlokal …

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Titel

Pierre Emme

Heurigenpassion

Palinskis 3. Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2006 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

3. Auflage 2008

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von pixelquelle.de

Gesetzt aus der 10/13 Punkt GV Garamond

ISBN 978-3-8392-3230-9

Bibliografische Information

der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

1

Das letzte, was die junge Frau hörte, ehe sie endgültig das Bewusstsein verlor, waren die machtvollen Schläge der »Pummerin«, die das Neue Jahr einläutete. Sie kamen aus den Rundfunk- und Fernsehgeräten jener Menschen, die den Jahreswechsel zu Hause feierten und ihre Fenster geöffnet hatten, um das bunte Treiben auf der Straße beobachten zu können. Oder auch nur, um etwas von der herrlich frischen, kalten Luft in ihre verrauchten, überheizten und leicht säuerlich riechenden Salons und Wohnzimmer zu holen.

Zahllose Feuerwerkskörper stiegen unter großem Getöse in den sternklaren Himmel und übertönten die ersten, leisen Töne des traditionellen Donauwalzers.

Dr. Herbert Thaler, in seiner Funktion als Bezirksvorsteher sozusagen »Bürgermeister von Döbling«, trat aus dem Heurigenlokal, in dem er ausgezeichnet gegessen hatte, und führte seine Frau zum ersten Walzer des jungen Jahres. Die beiden mischten sich unter die auf der Straße tanzende Menge und erwiderten die Neujahrswünsche der Menschen, die das populäre Paar erkannten und ihm ihr »Prosit« zuriefen.

Thaler war außerordentlich zufrieden. Der erstmals auf seine Initiative hin veranstaltete »Döblinger Silvesterweg« schien ein großer Erfolg geworden zu sein. Auch wenn der »Weg« diesmal nur Grinzing berücksichtigt hatte und zwar vom Pfarrplatz bis zur Feilergasse.

Nächstes Jahr würden sich auch die Heurigenbetriebe in Nußdorf, Sievering, Salmannsdorf und Neustift an dieser schönen Idee beteiligen, war der Bezirkskaiser sicher. Mit dem schon traditionellen »Silvesterpfad« in der City würden sie sich auch dann noch nicht ganz messen können, aber für die Leute hier in Döbling war es eine Hetz und für die Wirte ein gutes Geschäft. Ihm selbst hatte dieser Event schon im Vorfeld eine gute Presse gebracht. Heute oder morgen würde noch ein TV-Auftritt in der beliebten Sendung »Klatschspalten« folgen. Thaler konnte also wirklich zufrieden sein.

Von all dem bekam die junge Frau aber gar nichts mehr mit. Mit schweren Verletzungen und breiten Klebebändern an Armen und Beinen gefesselt lag sie zusammengerollt in einem dieser großen, fahrbaren Müllcontainer. Da auch ihr Mund verklebt und ihre Nase verkühlungsbedingt verstopft war, bekam ihr nur mehr vegetierender Organismus kaum mehr Sauerstoff.

Sie erstickte still vor sich hin.

Mit den letzten Takten des Donauwalzers war es soweit. Sie starb so unauffällig, wie sie gelebt hatte.

Der nun einsetzende Applaus des Publikums auf der Straße hätte ihr wahrscheinlich gefallen. Auch wenn er nicht ihr galt, sondern dem Genius von Johann Strauß’ Sohn. Was für ein Requiem.

Etwa vier Stunden später wurde der Müllcontainer von einer zur Unkenntlichkeit vermummten Person in Bewegung gesetzt und über die inzwischen menschenleere Straße an eine ganz bestimmte Stelle gebracht. Einen Ort, der der Person nach einigem Nachdenken unter den gegebenen Umständen am Besten dafür geeignet zu sein schien.

Weitere drei Stunden später begannen die wackeren Männer der städtischen Müllabfuhr damit, die Spuren einer nicht für alle wirklich lustigen Silvesternacht zu beseitigen und Grinzing wieder in einen herzeigbaren Zustand zu versetzen.

* * *

Der Neujahrsmorgen war einer der wenigen, wenn nicht überhaupt der einzige Morgen im Jahr, an dem Palinski länger schlief als bis sieben Uhr. Heute war es gar schon zwanzig Minuten nach acht, als er vorsichtig zuerst das linke und dann das rechte Auge öffnete. Ob er das immer so machte, vermochte er nicht zu sagen. Er hatte den Ablauf des Augenöffnens noch nie zuvor bewusst registriert.

Der trotz der herrschenden und durch die dunklen Wolken am Himmel noch verstärkten Dämmerung als störend empfundene Lichteinfall ließ ihn unwillkürlich wieder die Augen schließen. So lag er da und lauschte den regelmäßigen, gelegentlich von kleinen Schnarchgeräuschen unterlegten Atemzügen Wilmas. Der Mutter seiner beiden Kinder und Frau, mit der er seit 24 Jahren nicht verheiratet, seit mehr als drei Monaten aber so etwas ähnliches wie verlobt war. Klang ganz schön kompliziert, fand Palinski und war auch ziemlich verrückt. Aber Wilma, die gerade eindrucksvoll unter Beweis stellte, dass Schnarchen keine rein männliche Domäne war, hatte ihm auf seinen Antrag vom September des gerade abgelaufenen Jahres noch keine Antwort gegeben. Er durfte jetzt zwar immer mit ihr schlafen, wenn er wollte, eigentlich sogar öfters. Aber das alles entscheidende Ja war ihr bisher noch nicht über die Lippen gekommen.

Silvester war diesmal richtig nett gewesen. Die Party im Büro war nur langsam in Gang gekommen. Dafür waren nach Mitternacht alle so aufgedreht gewesen, dass er Mühe gehabt hatte, die letzten Gäste bis 5 Uhr hinauszukomplimentieren. Und das auch nur, weil ›Miki‹ Schneckenburgers Mutter angerufen und mitgeteilt hatte, dass der kleine Lukas nicht mehr mit dem Flascherl in Schach zu halten war und jetzt energisch nach der Brust verlangte. Nicht nach der »Mikis« natürlich, sondern der Moni Schneckenburgers, seiner Mami. Einer durchaus beachtlichen Brust, wie Palinski anerkennend registriert hatte.

Tina und ihr Verlobter Guido, dessen Familie sie im September in Singen kennen gelernt hatten, waren gegen 3 Uhr vorbei gekommen und geblieben. Und Harrys Begleitung, eine Studienkollegin namens Beate, machte auch einen sehr netten Eindruck. Wilma war allerdings sicher, dass die junge Frau mindestens zwei Jahre älter sein musste als ihr kleiner Liebling mit seinen »Sweet nineteen.«

Palinski schmunzelte und musste an Veronika denken. Sie war um mehr als fünf Jahre älter gewesen als er und hatte ihn vor mehr als 27 Jahren sanft und erfahren in die Geheimnisse der körperlichen Liebe eingeweiht. Jedes einzelne Jahr ihrer Erfahrung hatte ihn beglückt und weiser gemacht. Wilma, die er ein halbes Jahr später kennen gelernt hatte, profitierte noch heute davon. Wie auch immer, er wünschte seinem Sohn nur das Beste mit Beate.

Inspektor Helmut Wallner und Franca Aigner schliefen in seinem breiten Bett im Büro. Das »Paar des Jahres« der Wiener Kriminalpolizei hatte etwas zuviel von dem köstlichen »Sangria special« getrunken, den Palinski nach dem Rezept eines alten Barkeepers aus Marbella gebraut hatte. Das Geheimnis war das Mischverhältnis zwischen dem Rotwein, dem Sekt und dem Brandy. In Verbindung mit den Früchten und gut gekühlt schmeckte das Zeug herrlich erfrischend und überhaupt nicht nach Alkohol. Da konnten sich nach dem zweiten auf Durst getrunkenen Glas schon erste Nebel einstellen.

Helmuts seltsam gutturales Lachen nach dem fünften oder sechsten Glas hatte die Vermutung nahe gelegt, dass sich der Inspektor fühlen musste wie an einem düsteren Novemberabend im schottischen Hochmoor und nicht wie zu Silvester in Wien. Daraufhin hatte Franca Palinskis Angebot gerne angenommen und ihren zukünftigen Mann ins Bett gesteckt.

Inzwischen war auch Wilma aufgewacht. »Nochmals ein gutes Neues Jahr, Schatzi. Dir und mir und unserer Familie«, murmelte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

Palinski gefiel dieses automatisierte »Schatzi« nicht so sehr. So lieb und vertrauensvoll es auch gemeint sein mochte, er empfand es eher als unpersönlich. »Schatzi« konnte jeder sein. Wäre er der Typ für eine Tätowierung, er würde sich »Schatzi« in die Haut ritzen lassen. Damit lag man ein Leben lang auf der sicheren Seite.

Aber was soll’s, dachte er sich, besser »Schatzi« als gar nix. »Schatzi«, Wilma hatte keine Ahnung von seinem Ressentiment, »weißt du eigentlich, dass ich dich seit 24 Jahren etwas fragen möchte und es noch nie getan habe?«

Mit einem Schlag war Palinski hellwach. Sollte jetzt das kommen, auf das er schon so lange wartete. Würde Wilma sich jetzt erklären, die ewigen Aufs und Abs ihrer beider Lebenskurven endlich zur Deckung bringen und damit den Weg in ein ruhigeres Fahrwasser eröffnen? Aber schon der nächste Satz zeigte ihm, wie falsch er mit seiner Annahme lag.

»Manfred hat mich erst letzte Woche darauf angesprochen und ich habe keine Antwort gehabt.« Manfred Dullinger war ein Arbeitskollege und eifriger Verehrer Wilmas. Und dazu noch stockschwul. Seit Palinski das wusste, fand er den Professor für Englisch und Geschichte sogar recht sympathisch.

»Also welche Frage plagt dich denn seit 24 Jahren?«, wollte er wissen.

»Eigentlich ist es ja lächerlich, so etwas zu fragen«, versuchte sie, ihre Neugierde zu relativieren.

»Also frag schon«, ermunterte sie Palinski. Typisch Frau, dachte er, zuerst wollen sie etwas und dann plötzlich wieder nicht. Oder war das bloß wieder Taktik?

»Also gut, wenn du meinst.« Jetzt war es also er selbst, der sich etwas fragen wollte, ging es ihm durch den Kopf.

»Warum haben dich Deine Eltern eigentlich Mario genannt?«

Sorgen hatte die Frau, fand Palinski und musste lächeln. Beneidenswert. Smalltalk am Neujahrsmorgen.

»Ich vermute, es hat damit zu tun«, fing er an zu dozieren, »dass Eltern mit dem Vornamen ihres Kindes immer irgendwelche Träume, Hoffnungen oder Erinnerungen verbinden. Bewusst oder unbewusst. Es gibt da ein Gerücht, das als Erklärung für meinen Vornamen dienen könnte.«

Erwartungsvoll blickte ihn Wilma an. Doch Palinski stand auf. »Ehe ich dir diese Geschichte erzähle, muss ich aber kurz hinaus.«

»Aber vergiss mich nicht. Heute möchte ich es wissen«, kicherte Wilma und warf ihm einen vielsagenden Blick zu.

Während Palinski dort war, wo man annehmen konnte, dass er war, wenn er kurz hinaus musste und genau das tat, was man erwartete, dass er tat, wenn er, na Sie wissen schon, hörte er, wie das Telefon klingelte.

Er fand es ganz schön kühn, am Neujahrsmorgen um diese Zeit die Leute in ihrer wohlverdienten Ruhe zu stören. Wahrscheinlich waren es seine »Seit 24 Jahren noch nicht aber vielleicht schon bald«-Schwiegereltern, die noch immer glaubten, ihr kleines Mädchen könnte das Neue Jahr nicht ohne ihre salbungsvoll vorgetragenen Banalitäten beginnen.

Aber dem war nicht so. »Mario, dein Typ wird verlangt.«, hörte er Wilmas Stimme, »Beeile dich ein bisserl, es ist Helmut Wallner.«

Auweia, schoss es Palinski durch den Kopf. Entweder sein Freund konnte das Aspirin nicht finden oder es war etwas Ernstes.

»Sag ihm, das Kopfwehpulver ist in der obersten linken Lade im Schreibtisch«, dröhnte es aus dem Privatissimum. »Wenn er was anderes will, muss er sich etwas gedulden.«

Neunzig Sekunden später war es soweit. »Hallo Helmut, wieder unter den Lebenden?«, scherzte Palinski.

Der Inspektor ging aber nicht auf den heiteren Ton seines Freundes ein. »Es gibt Arbeit. In Grinzing haben die Mitarbeiter der Müllabfuhr eine weibliche Leiche gefunden. Da wir unterbesetzt sind, könnte ich deine Hilfe brauchen. Kann ich mit dir rechnen?«

Palinski hatte wenig Lust, gerade jetzt auf Mörderjagd zu gehen. Aber das war nicht der Punkt. Helmut hatte ihn um Hilfe gebeten, nicht gefragt, ob er Lust dazu habe. »Natürlich. Ich bin gleich bei euch unten.«

Wilma blickte ihn fragend an. Er zuckte bedauernd mit den Schultern. »Eine tote Frau in einem Müllcontainer, es ist zum Kotzen.«

»Aber vergiss wenigstens nicht, dass wir heute Abend zum Neujahrsempfang müssen«, erinnerte sie ihn.

»Das geht schon klar«, beruhigte Palinski Wilma. Tatsächlich hoffte er aber, dass sich im Verlauf des Tages zumindest ein guter Grund ergeben würde, nicht am euphemistisch als »Neujahrsempfang« bezeichneten Familientreffen bei Wilmas Eltern teilnehmen zu müssen.

Während sich Palinski in neuer Neujahrsmorgen-Rekordzeit ausgehfertig machte, überlegte Wilma, ob sie wohl je erfahren würde, warum ihr Liebster ausgerechnet Mario hieß.

* * *

Am Neujahrsmorgen dauerte verständlicherweise alles etwas länger. So hatten die wackeren Männer in ihren orangefarbenen Overalls, ohne deren segensreiches Wirken die Stadt in Kürze in Dreck und Abfall versinken würde, heute etwas später mit ihrer Arbeit begonnen. Sie hatten sich freiwillig zu dieser ungeliebten Schicht gemeldet, deswegen aber nicht ganz auf das Feiern verzichten wollen.

Und genau so, wie alle, die arbeiten, auch essen müssen, müssen alle, die feiern, auch schlafen. Ein wenig zumindest. Abgesehen von der rasch am Fundort der Leiche eingetroffenen Funkstreife und dem gleichzeitig angeforderten Notarztwagen waren auch die Beamten des Kommissariats Döbling und der Spurensicherung mit einiger Verzögerung eingetroffen.

Als jetzt endlich auch Inspektor Wallner mit Franca Aigner und Palinski im Schlepptau erschien, war es bereits kurz vor 9.30 Uhr. Der knapp unterhalb der Einmündung der Feilergasse in die Himmelstrasse, quasi gegenüber der Rückseite des »Passauer Hofs« liegende Fundort war nicht zu verfehlen. Trotz der für diesen Tag noch frühen Stunde hatte sich eine Menge von Schaulustigen angesammelt. Hier befand sich eine Haltestelle für die Busse der Linie 38 A, die vom Cobenzl nach Heiligenstadt fuhren. Normalerweise, denn jetzt ruhte jeder Verkehr. Neben der Haltestelle lagen die Ausfahrten zweier Hausgaragen. In der aus der Straßenfront dieses und der etwa fünf Meter vorspringenden Feuermauer des Nachbarhauses gebildeten Ecknische stand der besagte Müllcontainer mit seinem grausigen Inhalt. Die Wand dahinter war mit der aufgesprayten Aufforderung »Ausländerhuren hinaus« und dem für diese kranken Köpfe offenbar unvermeidlichen Hakenkreuz versaut worden.

Der junge Notarzt war ohne lange zu fragen in den Container gestiegen und hatte nach noch vorhandenen Lebenszeichen gesucht. Aber vergebens. Und dabei möglicherweise wichtige Spuren zerstört, wie Wallner befürchtete. Aber da konnte man nichts machen. Solange auch nur der Hauch einer Chance bestand, dass die Frau noch lebte, hatte die Sorge um das Opfer absoluten Vorrang gegenüber allen anderen Überlegungen.

Während die Spurensicherung ihre Arbeit machte, befragte Wallner Fritz Malacek, den noch immer leicht unter Schock stehenden Müllmann, der die Leiche entdeckt hatte.

»Ich hab mich noch gewundert, wos der Mistcontainer da valorn hod«, erzählte der Mann. »Weu wir ham gestern noch a paar zusätzliche Behältnisse aufgstellt. Wegen dem Silvesterweg und dem Mist, den die Leut dabei machn. Aber da ham wir keinen hergstellt«, er deutete auf die Nische am Gehsteig.

Natürlich war das mächtige Müllfahrzeug dennoch stehen geblieben, denn geleert wurde, wo der Mist war und nicht, wo er eigentlich sein sollte. Gott sei Dank hatte Malacek einen Blick riskiert, ehe der Container in die Entleerautomatik eingeklinkt worden war. »Warum ich reingschaut hab, waas i gar net. Es war eher instinktiv«, gab er auf Befragung an.

»Und woher kommt dieser Container?«, wollte Wallner wissen.

»Ka Ahnung«, Malacek zuckte mit den Schultern, »a jeds von di Heurigenlokale hat mindestens an, zwa solche Monsterkübln. Und fehln wird a kaner, denn von die, die ma zusätzlich aufgstellt haum, is ana vaschwundn. Den könnt ana gfladert oder austauscht haum.«

Also mit einem einfachen Abklopfen aller Gastronomiebetriebe nach einem fehlenden Müllcontainer würde es nicht getan sein, dachte Palinski.

Wallner ging auch schon zum Leiter des Teams der Spurensicherung und ersuchte ihn, den gesamten Container samt Inhalt zur genauen Untersuchung ins Labor bringen zu lassen. »Wäre doch gelacht, wenn wir nicht herausfinden, von wo der eigentliche Mist stammt«, meinte er zu dem nicht gerade erfreuten Beamten. Der fand plötzlich, dass das Jahr ziemlich beschissen begann. Ein kurzer Blick auf das Opfer ließ ihn seine Meinung aber wieder relativieren.

Jetzt hoben zwei Männer die Leiche aus ihrem unappetitlichen Umfeld und legten sie fast fürsorglich auf die Transportliege. Sofort und ungefragt machte sich der junge Notarzt an eine erste Untersuchung der toten Frau.

Einige Minuten später kam er mit bleichem Gesicht zu Wallner. »Die Frau wurde schrecklich zugerichtet. Zunächst mindestens zwei harte Schläge auf den Kopf. Dann lag sie schon am Boden und wurde noch mit mehreren Fußtritten traktiert. Hämatome am ganzen Körper und mindestens zwei Rippen sind gebrochen.« Verstohlen wischte er sich über die Augen. »Gewürgt ist sie auch noch worden. Sie müssen entschuldigen, aber so etwas habe ich noch nie gesehen.« Palinski konnte den Mann nur zu gut verstehen. Bei ihm hatte alleine die Schilderung ein Gefühl hilflosen Zornes hervorgerufen, wie er es noch nie zuvor verspürt hatte. Nicht einmal bei Sophie Lettenberg*. Er wollte losbrüllen, auf irgendetwas eindreschen. War der Täter oder die Täterin auch so zornig gewesen? Und wenn ja, warum bloß?

Wallner klopfte dem Arzt besänftigend auf die Schulter. »Es wird Ihnen zwar kein Trost sein, aber an so was gewöhnt man sich nie.« Er schüttelte angewidert seinen Kopf. »Können Sie schon etwas zum Zeitpunkt des Todes sagen?«

»Als man die Frau in den Container geworfen hat, hat sie jedenfalls noch gelebt. Falls das Blut neben ihrem Kopf von ihr stammt. Ich bin ziemlich sicher, dass sie aus der Nase geblutet hat.«

Er überlegte. »Bei den herrschenden Temperaturen ist es schwierig, den Todeszeitpunkt ohne nähere Untersuchung zu bestimmen. Ich würde aber meinen, etwa vor zehn bis zwölf Stunden.« Der Arzt wirkte jetzt wieder gefasst, ja professionell. »Aber da ist noch etwas.«

»Und was ist da noch?«, wollte Wallner wissen.

»Die Frau hat vor kurzem entbunden. Die dabei durchgeführte Episiotomie ist gerade abgeheilt und ...«

»Die was?«, Palinski hatte den Begriff noch nie gehört und Wallner schien es nicht anders zu gehen.

»Das bedeutet, dass bei der Geburt ein Dammschnitt durchgeführt wurde«, wusste Franca Aigner und bewies wieder einmal, dass sie nicht nur äußerst intelligent, sondern auch gebildet war.

Die beiden Männer wussten zwar noch immer nicht genau, worum es eigentlich ging, hielten aber wohlweislich ihren Mund.

»Bravo«, der Arzt lächelte sogar schon wieder. »Der Zustand der Abheilung lässt auf einen Geburtstermin vor etwa zwei Monaten schließen. Und sie hat ihr Baby gestillt.«

»Aha«, Wallner nahm das Gesagte zur Kenntnis, ohne seine Tragweite zu erkennen und auch Palinski stand beharrlich auf der Leitung. »Und was hat das zu bedeuten?«

»Das heißt, dass sich irgendwo in Wien oder Umgebung ein Säugling befindet, der sich in diesem Moment die Seele aus dem Leib brüllt, weil er Hunger und Durst hat.« Mit dieser Schlussfolgerung rettete die Salzburgerin Franca einmal mehr den Ruf der Wiener Polizei. »Weil seine Mutter nicht da ist, nie mehr da sein wird.«

Der junge Arzt nickte traurig mit dem Kopf. »Hoffen wir, dass überhaupt jemand für das Kind sorgt.«

So langsam der Inspektor beim Erkennen des sich eben zusätzlich eröffneten Problems gewesen war, so rasch war jetzt seine Reaktion. Eine kurze Rückfrage bei der Spurensicherung ergab wie befürchtet, dass die Frau keinerlei Hinweise auf ihre Identität bei sich hatte. Keine Handtasche im Container, kein Ausweis, nichts.

»Die Lebenden haben Vorrang vor den Toten«, murmelte Wallner vor sich hin. Dann griff er zu seinem Handy und setzte die gesamte Maschinerie in Gang.

Bereits nach nur wenig mehr als einer Stunde lief eine Suche an, die sich in der Folge zur größten Aktion dieser Art entwickeln sollte, die Wien je gesehen hatte.

Inzwischen hatte es zu schneien begonnen. Luftig leichte Schneekristalle tanzten vom Himmel und legten sich wie ein Leichentuch über die Stadt, den Bezirk, den Ort Grinzing. Und über die wenigen Spuren des Verbrechens, die in einem der vielen Hinterhöfe darauf warteten, entdeckt zu werden.

* * *

Der kleine Bub war sauer. So richtig sauer auf seine Mutter. Alles in dem Vierjährigen empörte sich gegen diese Behandlung. Oder besser Nicht-Behandlung. Vor dem Einschlafen gestern hatte sie ihm fest versprochen, dass Tante Martha da sein würde, wenn er am nächsten Morgen aufwachte. Aber kein Mensch war da, der ihm seinen Kakao gemacht und ein Butterbrot geschmiert hätte. Das war der Lohn dafür, dass er ihr erlaubt hatte, zwei Tage mit Alfred aufs Land zu fahren.

Nicht nur, dass er sich jetzt selbst sein Essen machen musste, das war schließlich kein Problem. Er hatte ja oft genug dabei zugesehen. Aber was er mit diesem ewig greinenden Baby, seiner Schwester Gaby anfangen sollte, hatte ihm keiner gesagt. Wahrscheinlich wusste Mami das selber nicht. Was immer sie tat, schon nach kurzer Zeit fing dieser unmögliche Zwerg wieder an zu brüllen.

Überhaupt, was für ein Theater die Erwachsenen um diesen blöden Eindringling machten. ›Wie lieb sie ist, wie schön sie ist‹, so ging es den ganzen Tag. Und das Beste war, alle wollten ihm einreden, dass auch er so dachte. Sie gaben keine Ruhe, ehe man nicht »Ach, ist Gaby heute wieder lieb« gesagt hatte. Dabei fand er sie weder lieb noch schön, sondern nur überflüssig. Wer brauchte diesen ewig schreienden, saufenden und immer wieder stinkenden Winzling eigentlich? Er sicher nicht.

Aber er war ja kein Unmensch. Also hatte er nach seinem Frühstück eines der vorbereiteten Flascherln aus dem Kühlschrank geholt. Mit der Milch drinnen, die herauskam, wenn sich Mami melkte. Sie musste eigentlich eine recht gute Kuh sein, denn sie hatte einen richtigen kleinen Vorrat angelegt.

Er hatte das Flascherl zunächst an die Wange gehalten, wie er es bei seiner Mutter gesehen hatte. Er wusste zwar nicht genau, wofür das gut sein sollte, aber vielleicht konnte man irgendetwas hören. Da war aber nichts zu hören gewesen. Dafür hatte er aber bemerkt, dass die Milch ziemlich kalt war. Also ihm würde das so nicht schmecken.

Was hatte Mami dann noch immer gemacht? Ja richtig, das Flascherl wurde ja jedes Mal vorher gekocht. Mit dem Herd kannte er sich aber überhaupt nicht aus. Vielleicht half es, wenn er es lange genug unter heißes Wasser hielt?

Wenn Gaby bloß nicht immer so brüllen würde. Das verdarb einem wirklich die Laune.

So, das musste reichen. Das Flascherl fühlte sich jetzt angenehm warm an. Er legte es wieder an die Wange, vielleicht kam es ja auf die richtige Temperatur an, ob man etwas hören konnte oder nicht. Wieder nichts, wahrscheinlich steckte doch etwas anderes hinter diesem »Flascherlandiewangehalten.«

Vorsichtig schob er jetzt dem schreienden Bündel den Saugschnuller zwischen die Lippen. Und ein Wunder ereignete sich. Schlagartig verstummte das Gebrüll, Gaby begann wie wild zu nuckeln und ein überaus zufriedenes Lächeln erhellte ihr bis dahin knallrotes Gesicht.

Herrlich, diese Stille. Dafür zahlte sich das bisschen Aufwand mit der Flasche schon aus. Jetzt konnte er sich in Ruhe vor den Fernseher setzen.

Was war das? Sie suchten ein Baby? Wenn sie wollten, konnten sie Gaby haben. Dann brauchte er auch keine Flascherln mehr zu wassern, damit sie Ruhe gab.

* * *

Palinskis Familie saß beim schon traditionellen Neujahrsbrunch im Wohnzimmer und lauschte den vertrauten Klängen der Polka Francaise »Im Krapfenwaldl« von ...? Erraten.

Das war das letzte Stück des ersten Teils der alle Jahre wiederkehrenden bezaubernden Einladung der Wiener Philharmoniker an die Welt, mit ihnen Neujahr zu feiern. Palinski war immer schon ganz verrückt nach dem Neujahrskonzert gewesen und hatte Wilma mit dieser Sucht infiziert. Egal, ob er dabei war oder nicht, sie hatte kein einziges dieser Konzerte in den letzten 24 Jahren verpasst. Tinas und vor allem Harrys Geschmack entsprach die Musik der Strauß-Familie zwar nicht ganz, aber an einem Tag im Jahr konnte man sich das schon antun. Den Eltern zuliebe. Und überhaupt, so arg war es auch wieder nicht, Lachs und San Daniele Schinken zu schmausen, Sekt zu trinken und nach dem Radetzkymarsch wieder eine ordentliche Bettschwere zusammen gebracht zu haben.

Heute gab es noch dazu eine Premiere dergestalt, dass auch Tinas Guido, den Wilma inzwischen richtig ins Herz geschlossen hatte und Harrys Beate an dem Ritual teilnehmen durften.

Wenn das Mädchen bloß nicht älter wäre als mein kleiner Bub, dachte Wilma, die die junge Frau durchaus sympathisch fand. Eigentlich müsste Palinski jetzt hier sein, nicht nur, um seine Rolle in diesem symbolhaft bedeutenden Moment des Familienjahres auszufüllen. Sie vermisste Mario einfach. Warum er von seinen Eltern bloß so genannt worden war? Leider konnte sie sie nicht mehr selbst fragen.

Eine zweite, völlig unerwartete Premiere unterschied den heutigen noch von allen vorangegangenen Neujahrstagen. Bevor der Pausenfüller, eine Dokumentation der Ballettaufnahmen an den schönsten Plätzen der Bundeshauptstadt gestartet wurde, erschien eine Fernsehsprecherin und kündigte eine Sondermeldung an.

»Die Polizeidirektion Wien bittet in folgendem Fall dringend ...«

»Wo ist Papa eigentlich?«, wollte Harry just in diesem Augenblick wissen. Doch Wilma winkte ab und deutete auf den Bildschirm.

»... ist 20 bis 22 Jahre alt, schwarzhaarig und ein eher südländischer Typ.« Jetzt erschien auch das gezeichnete Bild einer jungen, hübschen Frau am Bildschirm, die Wilma ein wenig an Sonja, eine ihrer Schülerinnen, erinnerte. Die war allerdings erst 16 Jahre alt und hatte kurzes Haar.

»Die junge Frau, deren Leiche heute Morgen in Grinzing in einem Müllcontainer gefunden wurde ....«

Tina legte den mit Lachs belegten und auf dem Weg zu ihrem Mund befindlichen Toast zurück und schob den Teller von sich.

»... hat vor etwa 2 Monaten entbunden. Da über den Säugling und seine momentanen Lebensumstände nichts bekannt ist, besteht Sorge um die Gesundheit und das Leben des Kindes.«

Der TV-Sprecherin schien das Schicksal des Babys auch an die Nieren zu gehen. Sie schien sich zu verschlucken, wandte sich ab, hustete ein-, zweimal und entschuldigte sich dann.

»Die Bundespolizeidirektion ersucht daher die Bevölkerung dringend um Mithilfe bei der Suche nach einem möglicherweise alleine gelassenen Säugling. Sollten Sie über Hinweise auf die Identität oder den Wohnsitz der jungen Frau verfügen oder irgendwelche relevanten Beobachtungen machen, bitten wir Sie um umgehende Benachrichtigung. Dazu stehen sämtliche Wiener Polizeidienststellen zur Verfügung. Darüber hinaus hat das Innenministerium zwei Rufnummern eingerichtet, die Sie hier eingeblendet finden.«

Am Bildschirm erschienen zwei Kurzwahlrufnummern, natürlich kostenfreie.

»Darüber hinaus ersucht die Bundespolizei alle dienstfreien Beamten in Wien und Umgebung, sich für die Suche nach dem Säugling zur Verfügung zu stellen. Sie, liebes Publikum, bitten wir, diese Unterbrechung des Programms zu entschuldigen und wünschen noch viel Vergnügen mit dem zweiten Teil des Neujahrskonzertes.«

»Die hat leicht reden«, meinte Guido, »mir ist die Freude an der Musik ziemlich vergangen.«

Harry war da schon etwas härter im Nehmen, »Isst du das nicht mehr?«, wollte er von seiner Schwester wissen, während er begehrlich auf den Toast mit dem verlockenden Lachsbelag deutete.

»Du bist unmöglich«, kritisierte Tina, »von mir aus kannst du fressen, bis du umfällst.«

Während Harry noch »Danke« sagte, hatte er den delikaten Happen bereits in der Hand.

»Du wolltest wissen, wo Papa ist«, erinnerte sich Wilma an die Frage ihres Sohnes. »Da ist er«, entschieden deutete sie auf das Fernsehgerät.

Mit »Was, Ihr Mann ist beim Fernsehen?«, brachte sich jetzt auch Beate ins Gespräch ein.

»Nein«, Harry war die Frage offenbar peinlich, »nicht beim Fernsehen, sondern beim Kindersuchen.«

»Was macht Ihr Mann eigentlich beruflich?«, Beate war gar nicht so leicht zufrieden zu stellen. »Außer Kindersuchen, meine ich«

Diese Frage hatte sich Wilma schon oft gestellt, außer einigen partiellen Deutungen aber keine insgesamt befriedigende Antwort darauf gefunden. Sie war zu müde, um darüber nachzudenken, zuckte deshalb nur mit den Achseln. »Das fragen Sie ihn am Besten selbst.«

Jetzt war Maestro Ricardo Muti wieder am Bildschirm erschienen und hob den Taktstock. Doch keiner der Anwesenden war noch so richtig bei der Sache.

* * *

Während die durch zivile Freiwillige verstärkte Suchmannschaft auf mehr als 300 Personen anwuchs und sich noch immer neue Helfer meldeten, versammelte Helmut Wallner sein reduziertes Team in seinem Büro auf der Hohen Warte.

Zwei junge Polizeianwärterinnen hatten sich freiwillig gemeldet, um zu helfen und verstärkten jetzt die euphemistisch zur Telefonzentrale erklärte Gesprächseingangsstelle. Was sich als gut und richtig erwies, denn die ersten Anrufe aus der Bevölkerung ließen gar nicht lange auf sich warten.

»Die Suche scheint ja jetzt zu laufen«, konstatierte Palinski gegen 13 Uhr, »ich denke, wir sollten uns daher der Frage nach dem Täter oder der Täterin widmen. Jeder richtige Schritt in diese Richtung bringt uns auch dem Baby näher.«

Wallner nickte zustimmend. »Also was wissen wir bisher? Die Frau ist gegen Mitternacht gestorben. Die Art, wie sie gewürgt und erschlagen wurde, schließt ein geplantes, von langer Hand vorbereitetes Verbrechen aus. Da steckt sehr viel Zorn, Wut, Angst oder Vergleichbares dahinter, das den Täter spontan hat handeln lassen.«

Palinski nickte und dachte an die Gefühle, die ihn überkommen hatten, als der Arzt über die Art der Verletzungen der Frau gesprochen hatte. »Dem Ganzen musste eine schwere emotionelle Auseinandersetzung vorangegangen sein.«

»Du glaubst also nicht an den Nazi-Scheiß, den die Aufschrift an der Wand hinter dem Container indizieren soll?«, wollte Wallner wissen.

»Das eine schließt das andere zwar nicht aus«, widersprach Palinski, »und ich denke, dass wir die Möglichkeit nicht aus den Augen lassen sollten. Aber irgendwie glaube ich nicht daran. Die ganze Sache wirkt irgendwie zu inszeniert. So als ob jemand bewusst eine Spur in diese Richtung legen wollte. Warum sollten Skinheads oder sonstige gewalttätige Ultrarechte einen Müllcontainer durch Grinzing schieben. Selbst um 4 Uhr morgens kann man nicht sicher sein, dabei nicht doch gesehen zu werden. Die würden ihr Opfer eher dort zurücklassen, wo sie es zu Tode geprügelt haben. Dabei muss es sich ohnehin um einen einsamen Ort gehandelt haben. Denn um Mitternacht waren die öffentlichen Flächen ja voll mit feiernden Menschen. Da hätte ja jemand etwas sehen müssen. Hast du ein Foto von der Fundstelle?«

Wallner reichte ihm ein Polaroidfoto, das Franca unabhängig von der Spurensicherung gemacht hatte. Mit ihrem neuen Apparat, einem Weihnachtsgeschenk von ihrem Helmut.

Palinski studierte das Bild. »Irgend etwas stimmt daran nicht«, war er sich sicher, »aber ich komme nicht drauf, was es ist. Noch nicht.«

Wallner kam wieder zur Ausgangsannahme zurück. »Es war also mit Sicherheit kein geplantes Verbrechen. Das bedeutet, dass der oder die Täter oder Täterin sicher keine Handschuhe getragen hat, während er oder sie die Frau gefesselt hat. Eigentlich müsste das schöne Fingerabdrücke auf dem Klebeband bedeuten.«

Palinski nickte zerstreut, er war in Gedanken noch immer bei der seltsamen Aufschrift. »Wo ist Franca eigentlich?«

»Ich konnte sie nicht davon abhalten, sich an der Suche nach dem Kind zu beteiligen. Als Frau hat sie die Geschichte wahrscheinlich noch mehr mitgenommen als uns. Kann man ja auch verstehen«, rechtfertigte Wallner das Verhalten seiner Freundin.

Palinski verstand auch ohne Erklärungen. Gefühlsmäßig würde er sich auf der Suche wahrscheinlich auch besser fühlen. Aber sein Verstand sagte ihm, dass sein Einsatz hier auch im Interesse des Kindes effizienter war.

»Ich denke, ich kenne jemanden, der uns mehr zu den Typen von der extremen Rechten erzählen kann«, meinte er und griff zum Telefonbuch. Nach einigem Blättern fand er den Namen. Jetzt musste der Kerl nur noch zu Hause sein. Palinski hatte Glück und Falk Geyer, ein bisschen viel Vogel für einen Menschen, war zu Hause. Und erstaunlicherweise auch bereit zu helfen. Er wollte in einer Stunde im Kommissariat sein.

In der Zwischenzeit grenzten die beiden Männer den wahrscheinlichen Bewegungsradius des Müllcontainers auf den Teil Grinzings oberhalb der Endstation der Straßenbahnlinie 38 ein. Niemand würde die mindestens 300 Meter aus dem unteren Teil des Ortes bergauf bis zur Fundstelle mit einem Container samt Leiche auf sich nehmen. Auch nicht um drei oder vier Uhr morgens. So lautete die vernünftige, von beiden getragene Arbeitshypothese. Kurz darauf machten sich zwei mit dem Phantombild der Toten bewaffnete uniformierte Beamte auf den Weg, die Heurigenbetriebe im festgelegten Gebiet zu besuchen. Um zu fragen, ob jemand die junge Frau gesehen hatte und nach einem fehlenden oder nicht hingehörenden Müllcontainer Ausschau zu halten.

* * *

Langsam hatte der kleine Bub die Nase voll und das nicht nur im übertragenen Sinne des Wortes. Der unverwechselbare Gestank von Gacki, Gabys Gacki, erfüllte inzwischen den letzten Winkel der Wohnung. Nur auf dem Klo konnte man es noch einigermaßen aushalten. Aber wer wollte schon so lange da drinnen sitzen, ohne Fernsehen und so?

Schließlich siegte die kindliche Entschlossenheit über seinen steigenden Frust. Er wollte sich dem Problem stellen und etwas unternehmen. Was hätte Mami in dieser Situation getan? Er wusste es nicht, denn es hatte nie zuvor so gestunken. Es hatte schon angebrannt gerochen, nach seltsamen Flüssigkeiten und auch nach Zigaretten, aber noch nie so nach Gaby.

Unter Ignorierung des fast übermächtigen Fluchtdranges näherte er sich dem Bettchen des Babys und riskierte einen vorsichtigen Blick unter die Decke seiner Schwester. Eine geballte Ladung Gestankes schlug ihm entgegen und er erkannte mit einem Blick, worin das Problem bestand. Gaby sah aus, als ob sie sich in eine riesige Portion Schokoladen-, vielleicht eher Haselnusseis gesetzt und sich das inzwischen geschmolzene Gefrorene um ihren Unterleib herum verteilt hätte. Nur dass Schokoeis nicht so stank, auch nicht Haselnuss. So eine Scheiße. Er kannte das Wort eigentlich noch gar nicht, hatte es aber schon öfters gehört und fand, dass es ganz gut auf diese Situation passte.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße.«

Er genoss es, das scharfe ß zuerst durch seine Milchzähne zischen und das nachfolgende »e« unter der Zunge verschwinden zu lassen. Oder so ähnlich.

Jetzt nahm er eine Zeitung vom Altpapierstapel und breitete sie am Boden aus. Sicherheitshalber legte er auch noch die Wochenendbeilage darüber. Dann nahm er einen der bunten Polster von der Couch und legte ihn auf das Rechteck aus bedrucktem Papier. Von da an wurde es langsam grauslich, aber er hatte sich etwas vorgenommen und das würde er auch erledigen. Vorsichtig, die Luft anhaltend und kurz gegen einen Brechreiz ankämpfend, hob er Gaby jetzt aus ihrem Bettchen und legte sie vorsichtig auf die Zeitung. Die Kleine fand das offenbar lustig und da sie gerade keinen Hunger hatte, strahlte sie ihren Bruder an. Dem war das gar nicht recht, denn er war ja eigentlich stocksauer auf das kleine stinkende Monster. Wenn sie ihn weiter so anlächelte, würde ihm das aber mit der Zeit verdammt schwer fallen.

Jetzt holte er noch eine Decke aus Mamis Zimmer und breitete sie vorsichtig über die Schwester. Die nächsten Schritte hatte er sich ganz genau überlegt, er benötigte ein großes Tuch, am besten ein Lein- oder Tischtuch. In dieses konnte er den ganzen Inhalt von Gabys Bett einschlagen und diesen Packen dann irgendwo verstauen, wo man ihn nicht mehr riechen konnte.

Nachdem er den ganzen Mist in Mamis Kleiderschrank verstaut hatte, dem mit der verschließbaren Türe, kam er in das Wohnzimmer zurück. Gaby war mit ihrer neuen Liege offenbar zufrieden und schlief zur Abwechslung wieder einmal. Die Geruchssituation hatte sich auch schon etwas gebessert und in Kürze würde seine Lieblingssendung im Fernsehen beginnen. »Wickie und die starken Männer.« Er war auch ein starker Mann und das Leben wieder lebenswert.

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Falk Geyer war der Spitzenkandidat einer Liste »WD – Wehrhafte Demokraten« gewesen, die bei den letzten Wiener Landtags- und Gemeinderatswahlen kandidiert hatten. Palinski hatte ihn erstmals beim »Döblinger Hauptstraßenfest« zur Kenntnis nehmen müssen, als der »arische Recke« mit der Parole »Wir sind nicht die Letzten von Gestern, sondern die Ersten von Morgen« und anderem Blödsinn Aufmerksamkeit erwecken wollte. Der Mord an der Gattin von Stadtrat Ansbichler hatte Geyer und seinen Kumpanen allerdings gründlich die Show gestohlen.*

Das nächste Mal war Palinski bei einer der zahlreichen Talk-Shows auf Geyer getroffen, zu denen man ihn nach seiner plötzlichen, durch die tragischen Ereignisse im Hotel »Palais am Kohlmarkt« bedingten, Popularität geladen hatte. Geyer, der bei den Wahlen lediglich 38 Stimmen erhalten hatte und damit nicht einmal von jedem der 49 registrierten WD’lers gewählt worden war, war inzwischen zum gemäßigten Rechten mutiert, der sich dem Tierschutz verschrieben hatte.

Vor und nach der an sich lächerlichen Diskussion zum Thema »Frisch gekocht oder aus der Dose – Sind Haustiere Feinschmecker?«, in die er nur wegen seiner Hunde Max und Moritz eingeladen worden war, war Palinski mit Geyer ins Gespräch gekommen. Der beliebige junge Mann, freundlich in der Form und flexibel in der Sache, hatte einen Englischen Setter und damit war ein Gesprächsthema vorhanden gewesen.

Als Geyer jetzt das Büro Wallners betrat, hätte Palinski den rechten Hundefreund mit radikaler Vergangenheit fast nicht erkannt.

Der früher fast spiegelnde Glatzkopf, der bei der Fernsehdiskussion bereits von einem Flaum rötlichblonder Haare bedeckt gewesen war, war jetzt Träger einer Mähne, die jeden aus der 68er Generation vor Neid erblassen lassen hätte. Dazu ein einfacher Anzug, offener Schillerkragen, Unauffälligkeit zum Quadrat.

»Was ist los mit Ihnen, Herr Geyer«, wollte Palinski wissen, »hat Sie der Tierschutz in den Kreis von uns Normalsterblichen zurückgeführt?«

»Aber nein, ich habe Karriere gemacht«, entgegnete der junge Mann. »Ich bin jetzt stellvertretender Bildungsreferent der Freien Gewerkschaft. Je angepasster man da ist, desto größere Chancen hat man bei dem Verein.«

»Na, dann werden Sie es ja noch weit bringen«, flachste Palinski und versuchte, das Lachen zu unterdrücken. Dann stellte er Wallner den Besucher vor und umgekehrt.

Jetzt kam Wallner zur Sache. »Haben Sie schon von der Suche nach dem Säugling gehört?«, wollte der Inspektor wissen. »Die Meldung geht stündlich über Rundfunk und Fernsehen hinaus.«