Würstelmassaker - Pierre Emme - E-Book

Würstelmassaker E-Book

Pierre Emme

4,7

Beschreibung

Das sommerliche Wien wird von einem offenbar geisteskranken Mörder in Atem gehalten, der die Körperteile seiner Opfer in Döbling und den angrenzenden Bezirken »verstreut«. Um Inspektor Wallner und sein Team zu entlasten, übernimmt der kriminalistische Berater Mario Palinski die Ermittlungen in einem seltsamen Todesfall in einem Seniorenheim. Dort stößt er auch auf erste Hinweise zum »Schlächter von Döbling«. Der entscheidende Tipp kommt jedoch vom Besitzer eines Würstelstandes, der damit nicht nur sich selbst in größte Gefahr bringt …

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Pierre Emme

Würstelmassaker

Palinskis vierter Fall

Zum Buch

Wiener Massaker Im Wiener Hugo-Wolf-Park findet ein deutscher Tourist ein einzelnes Bein. Offenbar eine neue Botschaft des „Schlächter von Döbling“, der seit einiger Zeit das sommerliche Wien in Atem hält. Über mehrere Wochen hatte er einzelne Körperteile seiner Opfer in Döbling und den angrenzenden Bezirken verteilt. Um Inspektor Wallner und sein Team zu entlasten, übernimmt der kriminalistische Berater Mario Palinski die Ermittlungen in einem seltsamen Todesfall in einem Döblinger Seniorenheim, das sich in unmittelbarer Nähe des Parks befindet. Dort stößt er auch auf erste Hinweise zum „Schlächter“. Den entscheidenden Tipp bekommt Palinski jedoch beim Verzehr einer Burenwurst vom Besitzer des Würstelstandes, der damit nicht nur sich selbst in größte Gefahr bringt …

Pierre Emme, geboren 1943, lebte bis zu seinem Tod im Juli 2008 als freier Autor bei Wien. Der promovierte Jurist konnte auf ein abwechslungsreiches Berufsleben zurückblicken und damit aus einem aus den unterschiedlichsten Quellen gespeisten Fundus an Erfahrungen und Erlebnissen schöpfen. „Würstelmassaker« ist der vierte Band seiner erfolgreichen Krimiserie um Mario Palinski, den Wiener Kult-Kriminologen mit der Vorliebe für kulinarische Genüsse.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Neuauflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © hopsalka / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-3288-0

Haftungsausschluss

Alle Personen und Namen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig

und nicht beabsichtigt.

1

Karl Heinz Peddersen war Kapitän im wohl verdienten Ruhestand. Als 15-Jähriger war er von zu Hause ausgebüchst und hatte in der Folge mehr als 35 Jahre alle Meere der Welt befahren. Im aus amouröser Sicht schon etwas reiferen Alter von 51 hatte er bei einem Heimaturlaub Erna kennen, schätzen und lieben gelernt. Als Mann, der gewohnt war, rasche Entscheidungen zu treffen, hatte er der stattlichen Hamburgerin bereits am zweiten Abend einen höchst sittsamen Antrag gemacht. Den Erna ohne Zögern angenommen und beide mit einer spontan vorgezogenen Hochzeitsnacht besiegelt hatten.

Erna hatte, wie Karl Heinz auch, natürlich schon reichlich Erfahrungen gesammelt und dabei gelernt, dass es durchaus von Vorteil sein konnte, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war. In Wien kannte man diese Lebensweisheit als »Wos i hob, des hob i.«

Da Karl Heinz nicht länger als einen Arbeitstag von seiner Liebe getrennt sein wollte, nahm er Abschied von der Handelsschifffahrt und übernahm eine verantwortungsvolle Position im Tourismus. Er wurde Käpten auf einem dieser Rundfahrschiffe, die Gäste aus aller Welt durch den Hamburger Hafen schippern.

Erna hatte Wurzeln in Wien, die Stadt aber noch nie besucht. Sie kannte den Prater, die Hofburg, Schönbrunn und den Heurigen nur aus den von Heimweh geprägten Erzählungen ihrer Mutter, die sich in Norddeutschland nie richtig heimisch gefühlt hatte.

Kein Wunder, dass die erste längere Reise nach dem endgültigen Abschied Karl Heinz’ von der See die Peddersens in die alte Kaiserstadt an der Donau führte.

Am ersten Abend in Wien wollte Erna das Opernfilm-Festival am Rathausplatz ansehen. Wäre Strauß, Puccini oder auch Verdi am Programm gestanden, Frau Peddersen hätte sich mit ihrem Wunsch möglicherweise durchsetzen können. Aber mit dem »Fliegenden Holländer« hatte der alte Seebär absolut nichts am Hut. Obwohl es dabei ja eigentlich um einen Kollegen ging.

So hatte sich der Käpten mit seinem Wunsch durchgesetzt und das Paar war bei einem Heurigen in Neustift gelandet.

Nach drei Vierteln waren dem geeichten Pils- und Korntrinker die Tränen in die Augen getreten und er hatte versucht, seiner Erna mit Begleitung der Schrammelmusik ein Ständchen zu bringen.

Seine norddeutsche Version von »Mei Muatterl woar a Weanerin« ging seiner Liebsten dann doch nicht so zu Herzen, wie er gehofft hatte. Schuld daran waren die umsitzenden Gäste, die die »platt-wienerische« Darbietung mit schallendem Gelächter quittierten. Als sich ein Metzger aus Bielefeld dabei so verkutzte, dass ihm das Abendessen aus dem Gesicht bröselte, wurde Erna die ganze Sache zu peinlich.

Sie stellte ihren Mann vor die Alternative und Karl Heinz entschied sich spontan für »Oder.« Worauf sie sich ein Taxi nahm und ins Hotel »Haus Döbling« bringen ließ.

Kaum war dieser Störfaktor weg, feuerten die übrigen Gäste den urigen alten Seebär an, weitere Kostproben seiner gesanglichen Qualitäten zu liefern. Der ließ sich nicht lange bitten und gab »La Paloma« und »Wir lagen vor Madagaskar« von sich. Für einige besonders zotige Shantys, die folgten, revanchierten sich eine Gruppe Italiener mit »La montanara.«

Der Abend artete schließlich in eine gewaltige friulanisch-hamburgisch-wienerische Verbrüderung aus, die lange über die Sperrstunde hinaus dauerte.

Gegen halb drei fühlte sich Peddersen so gut, dass er beschloss, das Geld für ein Taxi zu sparen und den Weg zum »Haus Döbling« zu Fuß anzutreten. Die laue, mondhelle Augustnacht erinnerte ihn irgendwie an die vielen durchwachten Nächte auf der Brücke seines Schiffes und das gefiel ihm.

Nachdem er am Döblinger Friedhof vorbei gekommen war, forderte die Natur zweifach Tribut. Erstens drohte ihm die Blase zu bersten und zweitens fühlte er sich plötzlich hundemüde. Der auf der linken Straßenseite liegende Park kam da wie gerufen.

Peddersen betrat das Gelände der schönen, wie er später erfahren sollte, nach Hugo Wolf benannten Anlage und erleichterte sich hinter dem ersten Baum. Dann sah er sich nach einer Bank um und fand auch rasch eine.

Als er Platz nehmen wollte, nahm er einen Mann wahr, der sich offenbar bei einem etwa zehn Meter entfernten Gebüsch zu schaffen gemacht hatte und jetzt davon lief.

Dem alten Käpten war das egal. Komische Typen war er von Hamburg her gewöhnt. Eigenartig fand er nur, dass jemand bei dieser milden Temperatur einen langen Staubmantel trug. Dann war Peddersen auch schon eingeschlafen.

*

Am frühen Morgen hatte eine Gewitterfront den Nordwesten Wiens erreicht. Ein heftiger Windstoß und die ersten Regentropfen, die heftigen Blitze und in immer kürzeren Abständen grollender Donner folgten, weckten Peddersen gegen 5 Uhr.

Rasch erhob er sich. Nicht, dass ihm das Wetter etwas ausgemacht hätte. Er hatte schon wesentlich Schlimmeres überstanden. Ein Blick auf die Uhr in Verbindung mit dem leichten Kopfschmerz hatte aber schlechtes Gewissen aufkommen lassen. Erna machte sich sicher schon Gedanken, wo er solange blieb.

Plötzlich sah er das Bein. Beziehungsweise das, was davon aus dem Gebüsch ragte. Es war ein ganz normales nacktes Bein, ein wenig blass vielleicht, aber das konnte am Licht liegen.

Komisch fand der alte Seebär bloß, dass neben dem einen Bein nicht auch das zweite lag. Vielleicht hatte die unter dem Gebüsch liegende Person es einfach angezogen. Also Peddersen hätte so nicht schlafen können. Oder es handelte sich um einen beinamputierten Unterstandslosen.

Seltsam, dass der Schläfer – Peddersen war schon zu alt, um sich des geschlechtsneutralen »der Schläfer oder die Schläferin« zu bedienen – also eigenartig war es schon, dass die Person nicht auf den immer stärker werdenden Regen reagierte.

Zögernd trat der alte Seebär zu dem Bein hin. »Mensch«, sagte er mit freundlicher, aber bestimmter Stimme: »Sie wollen wohl völlig durchnässt werden. Wachen Sie auf.«

Als die erwartete Reaktion des Beines, übrigens ein linkes mit lackierten Zehennägeln, ausblieb, beschloss der alte Hamburger, handgreiflich zu werden.

Er bückte sich und begann, am Bein zu ziehen und daran zu rütteln. Zuerst ganz sanft, dann etwas stärker. Die Berührung unterlegte er mit einem leutseligen »Aufwachen, min Deern.«

Als das alles nichts nützte, zog er entschlossen kräftig an der unteren Extremität. Offenbar fester als beabsichtigt, denn plötzlich hielt er das Bein ohne den dazu gehörigen Körper in der Hand.

Für den Bruchteil einer Sekunde schoss es dem Käpten durch den Kopf, dass er das nicht gewollt hatte und wie leid es ihm tat. Dann bedeckte sein Mageninhalt auch schon die Stelle, auf der sich eben noch das verdammte Bein befunden hatte.

Peddersen nahm sich fest vor, sich nie, wirklich nie wieder in die Angelegenheiten anderer Leute einzumischen. Sollten sie doch schlafen und ihre Beine herum liegen lassen, wo und solange sie wollten.

*

Palinski hatte sich an die spartanischen Mahlzeiten, die ihm Wilma seit mehr als zwei Monaten verordnet hatte, noch immer nicht gewöhnt. Im Gegenteil, seit einigen Tagen schlichen sich in seine Träume sogar Bilder von Wiener Schnitzeln, Schweinsbraten und anderen Köstlichkeiten der Wiener Küche ein. Was umso erstaunlicher war, als er, abgesehen von seiner Kindheit, nie sonderlich verrückt nach diesen Gerichten gewesen war.

Äußerer Anlass für den radikalen, auf vernünftig und energiereduziert basierenden Speiseplan, war der stattliche, nicht weg zu diskutierende Schwimmreifen um Palinskis Hüften. Der durch den »push up« – Effekt, hervorgerufen durch die schon im Jahr zuvor etwas zu enge Badehose noch besonders betont wurde.

»Wenn wir jetzt nicht sofort etwas unternehmen«, hatte Wilma bestimmt, »dann bist du bald richtig blad.« Das hatte ihn dann doch erschreckt und in die alimentäre Rosskur einwilligen lassen.

Palinski starrte gerade mürrisch auf das mit Magermilch versetzte Müsli, seit Anfang Juni absoluter Höhepunkt seines täglichen Frühstücks, als das Telefon läutete.

»Es ist Tante Nettie«, rief Wilma, »und es ist ganz dringend. Irgendetwas scheint sie fürchterlich aufzuregen.«

Henriette Wenger war 78 Jahre alt und in hervorragender körperlicher und geistiger Verfassung. Sie war die beste Freundin von Palinskis Mutter gewesen. Die kinderlose »Tante Nettie« hatte noch zu Lebzeiten Johanna Palinskis den »lieben Mario« quasi adoptiert. Da die große Zuneigung durchaus beidseitig war, kümmerten sich der »liebe Bub« und die Seinen auch heute noch liebevoll um die alte Dame.

»Guten Morgen, Tante Nettie«, meldete sich Palinski, »was verschafft mir die frühe Freude?«

»Hier gehen seltsame Dinge vor sich«, ganz gegen ihre Gewohnheit kam Nettie sofort auf den Punkt. In Verbindung mit ihrem heftig gehenden Atem konnte Palinski erkennen, dass die alte Dame sehr erregt sein musste.

»Atme ein, zwei Mal tief durch, Nettie«, versuchte der die Nenntante zu beruhigen, »du sollst dich doch nicht aufregen.«

»Du hast gut reden, Bub«, entgegnete sie lebhaft, »aber wenn du wüsstest, was ich weiß, würdest du dich auch aufregen. Ruhiger werde ich erst sein, wenn ich dir alles erzählt haben werde.«

»Na, dann schieß los«, ermunterte Palinski Nettie und stellte sich auf ein längeres Telefonat ein.

»Das Thema eignet sich nicht fürs Telefon«, entgegnete Tante Nettie. »Wahrscheinlich werden wir abgehört«, flüsterte sie. »Du musst unbedingt herkommen, und zwar sofort.«

»Gut, dann komme ich morgen vorbei, am Nachmittag.«

»Ich habe nicht gesagt, so bald wie möglich, sondern sofort«, stellte die alte Dame erbost fest.« Sitzt du auf deinen Ohren oder hast du in der Schule die Deutschstunde geschwänzt? Ich erwarte dich in der nächsten Stunde hier in der Residenz.«

Ehe Palinski noch dagegen protestieren konnte, hatte Nettie schon wieder aufgelegt.

Wilma blickte ihn fragend an.

»Keine Ahnung, was da los ist. Ich werde wohl am besten gleich vorbei schauen, ehe sie sich noch zu sehr aufregt«, fügte sich Palinski in das Unausweichliche.

Andererseits war der Gedanke, die unverhoffte Gelegenheit für eine kleine Sünde in Form eines Cappuccinos und einer Topfengoulatsche im »Salettl« zu nützen, durchaus verlockend.

»Aber iss doch wenigstens dein Frühstück fertig«, rief ihm Wilma nach, als er die Wohnung verließ. »Gerade morgens brauchst du etwas im Magen.«

Aber Palinski hörte schon gar nicht mehr hin. Er versuchte, eine Antwort auf die plötzlich ungemein brennende Frage zu finden, ob er der sich bereits zugestandenen Goulatsche nicht auch noch eine jener köstlichen Nussschnecken folgen lassen sollte. Chancen waren immerhin da, um genützt zu werden.

*

Um 6.43 Uhr war Oberinspektor Helmut Wallner, der Leiter der Kriminalpolizei am Kommissariat Hohe Warte informiert worden, dass der von den Medien als »Schlächter von Döbling« bezeichnete, offenbar geisteskranke Serienmörder wieder zugeschlagen hatte.

Ein linker Arm, der erste Nachweis seines wahnsinnigen Wirkens, war vor etwas mehr als drei Wochen, am letzten Dienstag im Juli, in einem Mistkübel in der Parkanlage vor der ehemaligen Hochschule für Welthandel gefunden worden.

Inzwischen waren 17 Körperteile von insgesamt fünf Personen aufgetaucht, die vor allem in Döbling, zum Teil aber auch in den angrenzenden Bezirken Währing und Alsergrund deponiert worden waren. Dank modernster gerichtsmedizinischer Methoden, vor allem der DNS – Analyse war es möglich gewesen, festzustellen, welche Arme und welche Beine zusammengehörten. Und von welchem der beiden bisher aufgefunden Rümpfe diese Gliedmaßen stammten oder auch nicht. Kopf war bisher noch kein einziger aufgetaucht. Ein Phänomen, das von der Psychiatrie mit einem lateinischen Namen belegt und als der Drang, Trophäen zu sammeln beschrieben wurde.

Besonders auffällig war und von den medizinischen Experten widerwillig anerkennend erwähnt wurde die saubere, fachmännische, ja nahezu mit chirurgischer Präzision vorgenommene Abtrennung der Glieder vom Rumpf, die auf medizinische Vorbildung und die Verwendung entsprechender Instrumente schließen ließ.

Die Identifizierung der Opfer war verständlicherweise sehr schwer und bisher erfolglos verlaufen. Lediglich in einem einzigen Fall hatten die Fingerabdrücke eine Entsprechung in der Zentraldatei gefunden.

Seit vorgestern wusste Österreich und vor allem das durch die wiederkehrenden schrecklichen Funde zunehmend wie paralysiert wirkende Wien, dass der Arm einem Roman S. aus dem Flachgau gehörte, der seit zwei Jahren an der Wirtschaftsuniversität studiert hatte. Die Identifizierung war ein reiner Glücksfall gewesen. Die Fingerprints des 25-Jährigen, der vor neun Jahren bei einem Autodiebstahl erwischt und erkennungsdienstlich behandelt worden war, hätten nach Gesetzeslage schon längst gelöscht worden sein müssen.

Dem Umstand, dass die linken Beine aller fünf bisher festgestellten Opfer bereits aufgetaucht waren, verdankte die Polizei die rasche und gut abgesicherte Erkenntnis, dass die Zahl der Opfer nunmehr auf mindestens sechs angewachsen sein musste.

Die lackierten Fußnägel ließen zudem noch den als Arbeitshypothese durchaus zulässigen Schluss zu, dass es sich bei dem letzten Opfer mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Frau handeln dürfte. Die festgestellte Schuhgröße 38 sicherte diese Annahme zusätzlich ab. Aber »Sicher is nix«, wie Oberinspektor Wallner immer zu sagen pflegte.

Als er gegen 7.30 Uhr am Fundort eintraf, war die Tatortgruppe bereits voll in Aktion. Leider hatte der starke Regen mögliche am Boden vorhanden gewesene Spuren bereits zerstört. Immerhin bestand aber noch die Chance, dass der Täter auch wasserresistente Hinweise auf seine Identität hinterlassen haben könnte.

Der Hamburger Tourist, der das tote Bein gefunden hatte, war nur mehr ein Häufchen Elend. Er war total übermüdet, bejammerte den steten Kopfschmerz und den hartnäckigen Brand, der auf eine ausgedehnte Zechtour am Vorabend schließen ließ.

Vor allem aber machte er sich Gedanken wegen der Sorgen, die sich seine Frau sicher schon die ganze Zeit um ihn machte.

Wallner zeigte Verständnis für die Situation und gestattete dem alten Seebären, als der sich Herr Peddersen oder so ähnlich geoutet hatte, einen kurzen Anruf mit dem Diensthandy.

Die darauf folgende Lobeshymne auf die Freundlichkeit der Wiener im Allgemeinen und die der Polizei dieser Stadt im Besonderen endete abrupt, als der Zeuge plötzlich einnickte. Da von ihm in diesem Zustand über das bereits Ausgesagte hinaus kaum noch nennenswerte Erkenntnisse zu erwarten waren, ließ ihn Wallner schließlich von einer Funkstreife ins Hotel bringen. Nicht ohne ihn zu bitten, sich für die Polizei zur Verfügung zu halten.

*

Marisa Freiberger war 20 Jahre alt und einzige zukünftige Erbin der »Freiberger Baustoffhandel GmbH« in der Nähe von Horn. Sie war nach der Matura zwei Jahre im Ausland gewesen. In London und Barcelona, um die Sprachen zu lernen. Auf Wunsch ihres Vaters sollte sie ab diesem Herbst Betriebswirtschaft an der Wirtschaftsuni in Wien belegen.

Marisa, die ein ausgeprägtes Talent fürs Zeichnen und einen guten Geschmack hatte, hätte lieber Grafik Design an der »Angewandten« studiert, aber der liebe Papi war auf diesem Ohr taub. Noch, denn die junge Frau war fest entschlossen, nach zwei Semestern WU den berühmt-berüchtigten »Crash-Prüfungen« zum Opfer zu fallen, die bis zu 80 Prozent der Neuinskribenten eines Jahres wieder vor die Türen der völlig überfüllten Wirtschaftsuniversität setzten.

Egal, Papa, dem auch vier gut gehende Heimwerkermärkte gehörten, war gewillt, ihr ein angenehmes Leben in Wien zu finanzieren. Das wollte sie ausnützen, immerhin war einiges los in der Stadt, wie sie von einigen Bekannten wusste. Bis zum nächsten Herbst würde sie ihn dann schon so weit bekommen, dass er ihrem Wunschstudium zustimmte.

Sie war diese Woche nach Wien gekommen, um sich mit einer Freundin zu treffen, vor allem aber, um sich nach einer kleinen Wohnung möglichst nahe der Universität umzusehen.

Jetzt stand sie gerade vor dem Schwarzen Brett neben dem Büro der Hochschülerschaft und studierte die gar nicht so zahlreichen Angebote.

Für Marisa kam weder ein Studentenheim in Frage noch ein Platz in einer WG. Für ihre Eltern waren das lediglich Orte der Versuchung, all die Dinge nachzuholen, vor denen sie ihre Kleine bisher erfolgreich beschützt hatten. Marisa kicherte vor sich hin. Die Alten dachten doch tatsächlich, sie wäre noch Jungfrau oder hätte noch nie einen Joint probiert. Die Erwachsenen waren so was von kindlich im Gemüt, dass es beinahe schon kindisch wirkte. Als ob »Unschuld«, in welcher Hinsicht auch immer, Motto für ein Leben wäre, das der jungen Frau vorschwebte.

Und diese Heuchelei ihres Vaters. Ging jeden Sonntag zur Messe, um dann den naiven Häuslbauern eine Wasserwaage um 5,99 zu verkaufen, die er um 1,08 aus Taiwan importiert hatte. Diesen Beschiss konnte nicht einmal der jährliche Scheck für »Licht ins Dunkel« wieder gut machen.

Halt, das klang interessant: Sehr hübsche Studentenappartements, (1 und 2 Zimmer) zu vermieten, absolute WU-Nähe. Nähere Informationen Hausverwaltung »Melham« Tel 312 80 72, 0638/334 14 11 www.melham.at Marisa notierte sorgfältig die beiden Rufnummern. Dann prüfte sie die weiteren Angebote, fand aber nichts mehr, was ihr auch nur annähernd zugesagt hätte.

»Was du heute kannst besorgen …« dachte sie und rief die Hausverwaltung an, um einen Termin für den Nachmittag zu vereinbaren.

*

Als sich Palinski der Seniorenresidenz »Am Hugo Wolf Park« näherte, in der Tante Nettie wohnte, war die Präsenz der Polizei in der gegenüberliegenden Grünanlage unübersehbar. Ein Teil des Parks war abgesperrt und der Fundort eines einsamen Damenbeines großräumig gesichert worden, wie er etwas später erfahren sollte.

Dazu kamen die Medienvertreter, die den neuerlichen »Schauplatz des Grauens« belagerten, wie es die kleinste, gleichzeitig aber auch auflagenstärkste Zeitung des Landes so treffend bezeichnen sollte.

Dementsprechend schwer war es auch, einen Parkplatz in der Nähe des an den Park angrenzenden »Salettls«, einem als Kaffeehaus betriebenen ehemaligen Pavillon zu finden.

Auf den letzten Metern zur schon sehnsüchtig erwarteten Topfengoulatsche lief Palinski dann auch seinem Freund Wallner in die Arme, dessen längst überfällig gewesene Beförderung zum Oberinspektor erst einige Tage alt war. Da war noch eine größere Festivität fällig. Die Begrüßung der beiden bewährten Kämpfer gegen das Verbrechen, die sich urlaubsbedingt länger nicht gesehen hatten, fiel sehr herzlich aus.

»Mario, du hier?« wunderte sich Wallner dann, »ich habe dich doch noch gar nicht angerufen.«

»Helmut, alter Freund, zunächst herzlichen Glückwunsch zur Beförderung. Die wird dich aber noch einiges kosten.« Palinski lachte gutmütig. »Übrigens, ich komme gelegentlich auch, ohne extra von dir dazu aufgefordert worden zu sein«, stellte er klar. »Spaß beiseite, ich besuche Tante Nettie in der Seniorenresidenz«, er deutet auf das große Gebäude auf der gegenüber liegenden Straßenseite. »Eigentlich ist sie nur eine Nenntante, aber das wird dich nicht wirklich interessieren.«

»Ich könnte jetzt einen Kaffee gebrauchen«, kündigte der Oberinspektor an. »Wie schaut es mit dir aus?«

»Na klar komme ich mit«, Palinski freute sich, bei seinem »sündigen« Frühstück nicht alleine sein zu müssen. »Aber wirst du nicht hier gebraucht?«

»Wir sind fast fertig. Den Rest schafft Martin auch alleine.« Inspektor Martin Sandegger war der Stellvertreter Wallners und im Laufe des letzten Jahres auch ein Freund geworden.

Nachdem die beiden im herrlichen Gastgarten des »Salettls« Platz genommen hatten, konnte Palinski seine Neugierde nicht mehr zähmen.

»Was ist hier überhaupt los?«, wollte er wissen. »Das sieht ja nach einer riesigen Aktion aus.«

»Der Schlächter hat wieder zugeschlagen. Diesmal ist es ein linkes Bein, wahrscheinlich weiblich«, erklärte Wallner. »Und ich wette, es stammt, wie die anderen fünf auch, von einem Menschen im Alter zwischen 19 und 25 Jahren. Etwas ist aber neu. Erstmals haben wir ein individuelles Merkmal, das uns bei der Identifizierung helfen kann.«

Gespannt blickte Palinski den Freund an, der es gerne spannend machte. »Na und? Was ist es?«

»Es handelt sich um ein schwarzes Tattoo in Form einer aufblühenden Blume. Ich würde sagen, eine Rose. Vor der Blume steht: I love …«

»Eine Blumenliebhaberin also«, schlussfolgerte Palinski vordergründig. »Oder die Dame war lesbisch.«

Anerkennend nickte der Oberinspektor mit dem Kopf. »I love Rose. Diese Möglichkeit habe ich noch gar nicht in Betracht gezogen. Du überrascht mich immer wieder.«

»Und was ist bisher sonst noch bekannt?«

»Der Hamburger, der das Bein gefunden hat«, referierte Wallner, »muss reichlich betrunken gewesen sein, als er in der Nacht auf der Bank neben dem Gebüsch Platz genommen hat. Er hat aber noch etwas wahrgenommen, bevor er eingeschlafen ist. Einen größeren Mann, der einen weißen oder hellen Mantel angehabt haben soll und der weggelaufen ist.«

»Also viel ist das nicht«, Palinski kratzte sich interessiert an der Nase, »aber mehr, als das, worauf ihr bisher gestoßen seid.«

»Immerhin können wir uns jetzt mit Aussicht auf Erfolg an die Öffentlichkeit wenden.« Wallner schüttelte indigniert den Kopf. »Aber stell dir einmal vor, du erfährst aus dem Fernsehen, dass das Bein deiner Tochter, Freundin oder Frau, die sich eine Rose auf die Innenseite des Oberschenkels tätowieren hat lassen, gefunden worden ist. Dennoch, wir werden nicht darum herumkommen.«

Palinski blickte auf die Uhr. Die Stunde, die ihm Tante Nettie eingeräumt hatte, war fast um. Und was Pünktlichkeit anging, verstand die alte Dame keinen Spaß. Dazu kam, dass Palinskis Kopf zwar die Meinung vertrat, dass an der Aufgeregtheit Netties objektiv ohnehin nichts dran war. Sein in den letzen Wochen immerhin um fast 6 Kilo geschrumpfter Bauch schloss allerdings nichts aus. Vor allem anderen musste er sie beruhigen. »Tut mir leid, aber ich muss jetzt los. Meine alte Tante Nettie hat ein Problem, das nicht warten kann.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich muss mir das zumindest anhören. Wenn Du möchtest, komme ich nachher im Kommissariat vorbei.«

Wallner hielt das für eine ausgezeichnete Idee und so verabredeten sich die beiden für den späteren Vormittag.

*

»12 Minuten zu spät«, grollte Henriette Wenger, »dass du es nie schaffst, pünktlich zu sein.« Dann ließ sie den vorgetäuschten Ärger weg und öffnete ihre Arme weit. »Komm her, lieber Bub, lass dich anschauen. Du bist aber schmal geworden.«

Palinski freute sich über dieses markante Beispiel subjektiver und durch die rosa Brille gefärbte Wahrnehmung, die irgendwo auch etwas mit der Relativitätstheorie zu tun hatte. So trug die ihm von Wilma verordnete, von Sadismus geprägte Ernährungstortur wenigstens auch Früchte. Obwohl dieses Bild in dem Zusammenhang nicht ganz passte, wie er sich im selben Moment eingestand.

»Du bist gerade noch rechtzeitig gekommen«, Nettie hatte es heute auffallend eilig, sofort zur Sache zu kommen. »Ich fürchte, die Leiche wird in Kürze abgeholt werden.«

»Welche Leiche?«, wollte der 45-jährige »liebe Bub« wissen.

»Frau Kommerzialrat Stauffar, die das Appartement neben meinem bewohnt hat, ist letzte Nacht gestorben. Sie war erst 77 Jahre alt und bei bester Gesundheit. Soviel ich gehört habe, an plötzlichem Organversagen. Aber«, ihre Stimme wurde plötzlich lauter und bestimmt, »ich bin sicher, dass es dabei nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Die letzten drei Tage hat sie plötzlich eigenartige Symptome gezeigt. Hohes Fieber, Brechdurchfall und später, in der Pflegeabteilung auch Koliken. Und das bei einer Frau, die in den fünf Jahren, die ich sie kenne«, betreten korrigierte sie sich, »kannte, keinen einzigen Tag krank gewesen ist.«

»Nettie, ich bitte dich. In diesem Alter sterben Menschen nun einmal. Da genügt mitunter schon ein verdorbener Magen.« Noch während Palinski diesen Satz von sich gab, wurde ihm bewusst, zu wem er ihn sprach und wie sein Gegenüber das Gesagte aufnehmen musste.

»Ich meine, wir alle wissen doch am Abend nicht, ob wir am nächsten Morgen wieder aufwachen werden«, versuchte er die Kurve doch noch irgendwie zu bekommen.

»Ja, so seid Ihr Jungen eben. Wenn jemand alt ist, dann ist sein Tod in jedem Fall etwas ganz Normales«, begehrte Nettie auf. »Außer das Messer steckt noch in der Brust. Diese unkritische Einstellung eröffnet raffinierten Mördern Tür und Tor.

Elisabeth hatte aber nicht einmal noch die allgemeine Lebenserwartung erreicht, ganz zu schweigen von der geschlechtsspezifischen. Nein, nein, an der Art, wie sie gestorben ist, ist etwas faul. Sehr faul.« Sie nahm Palinski am Arm und blickte ihn bittend an. »Und du wirst das beweisen. Bitte Mario.«

»Aber …«, wollte der einwenden, hatte aber keine Chance gegen die eloquente alte Dame.

»Weißt du überhaupt, wie hoch die weitere Lebenserwartung einer heute 77-Jährigen ist? Nicht nur die vier Jahre bis zur Erreichung des statistischen Mittelwertes, sondern wesentlich länger.« Nettie dachte nach. »Ich glaube, ich habe einmal gelesen, dass die 80-Jährigen im Durchschnitt über 86 Jahre alt werden.« Triumphierend blickte sie Palinski an. Das unausgesprochene: »Na da schaust du aber, du dummer Bub«, stand ihr unübersichtlich ins Gesicht geschrieben.

Palinski musste zugeben, dass der Vorwurf nicht ganz unbegründet war und Netties Argumentation etwas für sich hatte. Also gut, er würde sich die Sache ansehen. Wenn auch nur, um die alte Dame zu besänftigen.

»Du hast ja recht«, er nahm neben Tante Nettie Platz und ihre Hand. »Dann erzähle einmal, was geschehen ist.«

*

Als der Leichnam der so plötzlich verblichenen Frau Kommerzialrat durch Heirat eine knappe Stunde später abgeholt werden sollte, war Palinski soweit, die Bedenken seiner Nenntante nicht völlig als Auswüchse einer fortgeschrittenen Paranoia abzutun. Sofern Netties Informationen zutrafen, waren einige Vorkommnisse der letzten Tage tatsächlich aufklärungsbedürftig.

Die Tote hatte unter regelmäßiger ärztlicher Kontrolle gestanden und war für ihr Alter kerngesund gewesen. Dann trat vor fünf Tagen das hohe Fieber auf, für das es keine Erklärung gab.

Nettie erinnerte sich auch daran, dass Frau Stauffar sich einige Tage vor ihrer Erkrankung beim Duschen durch etwas Spitzes, am Duschhocker Liegendes, leicht am Gesäß verletzt hatte. Sie wusste das deshalb so genau, da ihr aufgefallen war, wie die Frau Kommerzialrat beim Hinsetzen immer leicht zusammengezuckt war. »Ich habe sie gefragt, ob sie Schmerzen am Po hat und da hat sie mir von der Sache erzählt. Ob das etwas damit zu tun haben kann?«, fragte sich schließlich nicht nur Tante Nettie.

Also begab Palinski sich zu der im Erdgeschoss befindlichen Pflegestation, wo die Männer der Städtischen Bestattung schon dabei waren, den Metallsarg mit den sterblichen Überresten so diskret wie nur möglich hinaus zu schaffen. Dank eines frechen Bluffs und mithilfe seines alten Presseausweises gelangte er an einige Auskünfte.

Der Leichnam würde zum Krematorium am Zentralfriedhof gebracht werden, wo er am Mittwoch, also schon übermorgen, eingeäschert werden sollte. Die Anweisung dazu war von der Nichte der Verstorbenen gekommen, »die Sie knapp verpasst haben. Gerade hat sie das Haus verlassen.«

Nein, von einem Wunsch der Verblichenen nach einer Feuerbestattung wusste die freundliche Schwester nichts. Im Gegenteil, Frau Stauffar hatte ihr einmal von dem schönen Grab ihres Gatten am Neustifter Friedhof erzählt. Und wie sehr sie sich freue, ihren Mann wiederzusehen. Irgendwo.

Die letzte Aussage gab den Ausschlag für Palinski. Da waren einige Eigenartigkeiten aufeinander getroffen, die in ihrer Summe ein näheres Betrachten dieses Todesfalles sehr wohl rechtfertigten. Palinski nahm sein Handy heraus und tippte die Rufnummer seines Freundes Wallner ein.

*

Naturgemäß hatte der Oberinspektor wenig Freude an Palinskis dringender Empfehlung, die Leiche der letzte Nacht verstorbenen Elisabeth Stauffar zumindest oberflächlich gerichtsmedizinisch untersuchen zu lassen. Die Arbeit, die die blutige Selbstverwirklichung des Monsters für die Polizei bedeutete, band sämtliche Ressourcen des Koat Döbling. Nur dank personeller Leihgaben einiger anderer Kommissariate konnte ein einigermaßen ordnungsgemäßer Betrieb noch gewährleistet werden.

Die schon längst fällige Übernahme des Falles durch das BKA und die Einsetzung einer Sonderkommission »Schlächter von Döbling« wurde zwar schon seit geraumer Zeit intern diskutiert, scheiterte aber bisher am vehementen Widerstand des politisch enorm starken Wiener Bürgermeisters.

Der Grund für dieses fast schon verantwortungslose Verhalten Lattugas war die in den Medien breitgetretene und gerade in ihre entscheidende Phase tretende Wahl zur »Sichersten Hauptstadt der Welt.« Obwohl die Informationen über das grausige Geschehen dank der teilweise hysterischen Berichterstattung der Medien sogar schon bis nach Nordkorea und zu den Bora Bora Inseln vorgedrungen war, hoffte man im Wiener Rathaus offenbar noch immer, dass die internationalen Juroren mit Blind- und Taubheit geschlagen sein könnten. Eine SOKO konnte sich in der derart heiklen Situation also nur negativ auf das Image der Stadt auswirken.

Immerhin ging es dabei ja nicht nur um einen Titel, sondern einen eminenten, bei dem derzeitigen Standortwettbewerb in Europa unbezahlbaren Vorteil. Da wurde auch nicht immer nur mit fairen Mitteln gekämpft. Unbestätigten Meldungen nach hielt sich im Dunstkreis des Bürgermeisters hartnäckig das Gerücht, dass der Schlächter in Wirklichkeit ein gedungener Killer im Solde Berns sein sollte. Diesen … Eidgenossen war alles zuzutrauen.

Palinski konnte das an sich ungewöhnliche Zögern des Oberinspektors zum Teil sogar verstehen, weigerte sich aber, es zu akzeptieren.

»Also hat Tante Nettie doch recht. Wenn ein Mensch so alt ist, dass sein Tod nichts Unnatürliches mehr ist, dann muss ihm noch das Messer aus der Brust ragen, damit die Polizei einen Blick riskiert.« Langsam wurde er sauer. »Das kann doch nicht sein, dass du diese Indizien ignorierst, nur weil dir ein weiterer Mord derzeit nicht ins Konzept passt.«

Das betroffene Schweigen am anderen Ende der Leitung bewies Palinski, dass er einen Nerv getroffen hatte.

»Du hast recht«, bekannte Wallner ein, »und es tut mir leid, dass ich dein Urteilsvermögen kurz in Zweifel gezogen habe. Aber so verrückt wie jetzt war es überhaupt noch nie.«

»Ich bitte dich, Helmut«, versuchte Palinski den Freund vor weiterer Selbstzerfleischung zu bewahren, »ich verstehe das schon richtig.«

»Also gut, ich werde die Leiche der Frau Stauffar zunächst einmal äußerlich untersuchen lassen. Falls wir Verletzungen oder Einstiche finden, beschaffe ich mir die Genehmigung für eine Obduktion«, versprach der Oberinspektor. »Aber du könntest auch etwas für mich tun.«

»Gerne«, erklärte Palinski sich bereit, »um was geht es?«

»Könntest du die Befragungen in der Seniorenresidenz übernehmen? Ich schicke dir einen Streifenbeamten zur Autorisierung und Unterstützung vorbei.«

*

Kurz nach 13 Uhr fand die Pensionistin Margarete Pellhuber, 67, in einem Abfallbehälter im Währinger Park einen rechten Arm.

Die geschockte Frau erlitt einen hysterischen Anfall, in der Folge auch noch einen Kreislaufkollaps und musste zur stationären Behandlung ins AKH eingeliefert werden.

Im Bereich der Schließfächer am Franz Josef Bahnhof machte sich seit gestern ein leichter, zunehmend immer unangenehmer werdender Geruch bemerkbar. Da der Gestank im Laufe des Vormittags immer unerträglicher geworden war, hatte die Aufsicht gegen 14 Uhr die beiden Schließfächer geöffnet, in der der inzwischen bestialisch gewordene Fäulnisgeruch zweifelsfrei seinen Ursprung hatte.

Und voilà, mit einem Mal waren auch die Körperteile 19 und 20 aufgetaucht, ein rechter Arm und ein weiblicher Rumpf. Der Bahnhof wurde sofort bis auf Weiteres gesperrt.

Von jetzt an überstürzten sich die Ereignisse. In einer auf Veranlassung des Innenministers eilends einberufenen Sitzung wurde eine Sonderkommission eingesetzt.

Nachdem die Jury, die die Sicherheit Wiens beurteilen sollte, bereits nach dem ersten Bekanntwerden des morgendlichen Leichenteilfundes ohne weitere Begründung abgereist war, hatte auch Bürgermeister Lattoga keine Einwände mehr gehabt und zähneknirschend zugestimmt.

Die Soko sollte unter der Leitung von Oberstleutnant Kranzjenich vom BKA stehen, der sich schon vor einem knappen Jahr im legendären Fall »Ansbichler«1 bewährt hatte. Zumindest als Verfasser des abschließenden Berichts. Als Stellvertreter wurde ihm Oberinspektor Wallner vom bisher ermittelnden Kommissariat Döbling zur Seite gestellt.

Nach der Besprechung rief Minister Fuscheé Ministerialrat Dr. Schneckenburger, seinen Verbindungsmann zum Bundeskriminalamt, zu sich und gab ihm vertrauliche Anweisungen.

»Und bitten Sie Ihren Freund Palinski für morgen zu einem Gespräch mit mir, wenn möglich gleich in der Früh. Sagen Sie ihm, es wäre sehr dringend.«

*

Der als Unterstützung zugesagte Streifenbeamte stellte sich als 21-jähriger Polizeischüler heraus, der eine Art Praktikum in der dem Kommissariat angeschlossenen Wachstube machte. Aber immerhin trug er Uniform und konnte so Palinskis Befragungen einen offiziellen Anstrich verleihen.

»Die richtigen Polizisten haben alle was anders zu tun, hat der Diensthabende gesagt«, rechtfertigte Florian Nowotny schüchtern seine Entsendung. »Er hat gemeint, vielleicht lern ich ja sogar etwas dabei.« Hilflos zuckte der junge Mann mit den Achseln. »Tut mir leid, dass Sie keinen richtigen Beamten bekommen.«

»Hallo Florian«, begrüßte Palinski den jungen Kollegen, »ich bin Mario. Um eines gleich richtig zu stellen: du bist selbstverständlich auch ein richtiger Polizist. Noch in der Ausbildung, aber ein Polizist. Ich dagegen bin kein richtiger Polizist. Aber das ist auch wurscht.«

Der Junge zeigte ein scheues Grinsen und Palinski damit, dass er auf dem richtigen Weg war.

»Übrigens, für das, was wir vorhaben, bist du sicher besser geeignet als ein ausgewachsener Kieberer«, baute er Florian noch zusätzlich auf. Und hatte völlig recht damit, wie Tante Netties erste Reaktion zeigte.

»Mein Gott, ist das ein netter Bub«, schwärmte sie immer wieder, während sie den jungen Mann mit Schokolade und Chips versorgte.

Als Erstes begannen die beiden das Appartement der verstorbenen Frau Kommerzialrat zu durchsuchen. Auf was er denn achten solle, wollte Florian wissen.

»Ich kann dir das auch nicht sagen«, musste Palinski einräumen. »Aber wenn du ein guter Polizist bist, wirst du es wissen, sobald du es siehst.«

Während Florian die Laden und den Kasten durchstöberte, konzentrierte sich Palinski auf das Badezimmer. Was konnte es gewesen sein, was die alte Frau ins Gesäß gestochen oder was immer auch hatte? Falls dieses Etwas wirklich auf dem Duschhocker gelegen hatte, warum hatte es die alte Frau nicht gesehen?

Nach Aussagen Netties benötigte sie zwar eine Lesebrille, hatte aber eine für ihr Alter überdurchschnittlich gute Sehkraft. Die Sitzfläche des Hockers war weiß, also war das »Ding« wahrscheinlich ebenfalls weiß gewesen. Oder farblos, transparent? Was war weiß oder farblos und geeignet zu verletzen?

Palinski hatte schon eine Idee, wollte aber Florian in den Prozess einbeziehen und stelle ihm diese Frage.

»Das kann eigentlich nur Glas sein«, kam die rasche Antwort, »oder vielleicht auch ein fester Kunststoff.«

»Bravo«, lobte Palinski, der wusste, dass Lob ungemein motivierend sein konnte. Besonders in diesem Alter. Er meinte es aber durchaus ehrlich. Der Bursche war wirklich nicht dumm. Hoffentlich war das Badezimmer seit der Verlegung Frau Stauffars in die Pflegestation noch nicht gründlich sauber gemacht worden, dachte er und bückte sich über die etwa 2 x 1 Meter große Duschtasse. Aber da war nichts. Weder er noch Florian, der die Fläche nochmals genau abgesucht hatte, konnten das Geringste finden.

Plötzlich fiel Palinski auf, dass das Wasser im Waschbecken, das er vorhin eingelassen hatte, um sich die Hände zu waschen, nur sehr langsam ablief. Eigentlich war es mehr ein Sickern und das konnte nur eines bedeuten.

»Florian, hast du ein Taschenmesser?« Der Befragte nickte zustimmend. »Dann versuche doch bitte, das Sieb aus dem Ablauf der Dusche zu entfernen.«

Während der Polizeischüler an die Arbeit ging, machte sich Palinski auf den Weg zu Tante Nettie, um sich zwei dringend benötigte Utensilien zu besorgen. Mit einem Drahtbügel, wie sie die Putzereien verwendeten und einem kleinen Plastiksäckchen fand er auch das Gewünschte.

Wieder zurück im Badezimmer stellte er fest, dass sein Mitstreiter inzwischen erfolgreich gewesen war und den Abfluss frei gelegt hatte.

Jetzt nahm Palinski den Drahtbügel, entflocht ihn und bog den Draht gerade. Dann kniete er sich hin und führte den an seinem Ende zu einem leichten U gebogenen Draht in den Abfluss ein. Schon bald spürte er leichten Widerstand, worauf er sein Werkzeug nach oben drückte und über das Hindernis zu führen versuchte. Er musste besonders vorsichtig sein, um das, was er zu finden hoffte, nicht weiter in den Orkus zu stoßen.

Jetzt war der entscheidende Moment gekommen, der erste Versuch, den im Rohr angesammelten Dreck und damit vielleicht auch das Etwas zu bergen.

Ganz langsam zog Palinski, der befürchtete, möglicherweise keinen zweiten Versuch mehr zu haben, den Draht zu sich hin. Der leichte Widerstand, den er dabei spürte, zeigte ihm an, dass er etwas an der Angel haben musste. Aber was?

Florian, der natürlich längst den Sinn der Übung mitbekommen hatte, schien ebenfalls von der steigenden Spannung erfasst worden zu sein. »Vorsichtig«, flüsterte er aufgeregt und blickte zu Palinski, dem inzwischen einige Schweißperlen auf die Stirne getreten waren.