Perfekte Menschen - Andrea Grill - E-Book

Perfekte Menschen E-Book

Andrea Grill

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Beschreibung

Ein Zukunftsroman über einen Jungen, der Gärtner werden wollte, aber Krieger werden musste   In einer Welt, in der die Technik regiert und die Natur kontrollierbar geworden ist, wird Michael in Mat, einem Dorf in Albanien, geboren. Als Baby ertrinkt er beinahe – ein Vorfall, der zu einem Volksbegehren führt, das die komplette Trockenlegung aller Flüsse fordert, um Kinder vor dem Ertrinken zu schützen. Als Michael acht Jahre alt ist, wird er entführt und seiner Familie entrissen. Ein Schicksal, das viele Kinder in diesem Alter ereilt. Er wird in ein Camp für Jugendliche gebracht, wo ihnen die Erinnerung an ihre Herkunft ausgetrieben werden soll. Sein Name lautet fortan Balaban Badera und er wird zu einem modernen Krieger erzogen. Doch anders als die anderen Jungs widersetzt sich Balaban. Andrea Grill blickt mit ihrer Neuerzählung des albanischen Mythos in eine unsichere Zukunft und erzählt eine dystopisch-fantastische Geschichte des Widerstands, eindringlich und spannungsgeladen. Andrea Grill stand 2019 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Science-Fiction-Neuerzählung des albanischen Mythos von Ballaban Badera, in der Tradition von George Orwell und Margret Atwood Mit Metallic-Papier und Lesebändchen

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Seitenzahl: 159

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Über das Buch

Ein Zukunftsroman über einen Jungen, der Gärtner werden wollte, aber Krieger werden musste

In einer Welt, in der die Technik regiert und die Natur kontrollierbar geworden ist, wird Michael in Mat, einem Dorf in Albanien, geboren. Als Baby ertrinkt er beinahe - ein Vorfall, der zu einem Volksbegehren fuhrt, das die komplette Trockenlegung aller Flüsse fordert, um Kinder vor dem Ertrinken zu schützen. Als Michael acht Jahre alt ist, wird er entführt und seiner Familie entrissen. Ein Schicksal, das viele Kinder in diesem Alter ereilt. Er wird in ein Camp für Jugendliche gebracht, wo ihnen die Erinnerung an ihre Herkunft ausgetrieben werden soll. Sein Name lautet fortan Balaban Badera und er wird zu einem modernen Krieger erzogen. Doch anders als die anderen Jungs widersetzt sich Balaban.

Andrea Grill blickt mit ihrer Neuerzählung des albanischen Mythos in eine unsichere Zukunft und erzählt eine dystopisch-fantastische Geschichte des Widerstands, eindringlich und spannungsgeladen.

Über Andrea Grill

Andrea Grill lebt als Dichterin und Schriftstellerin in Wien und Amsterdam, sie ist promovierte Evolutionsbiologin und übersetzt aus dem Albanischen. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane, Lyrikbande, Erzählungen, Essays und Kinderbücher, zuletzt erschienen Bio-Diversi-Was? Reise in die fantastische Welt der Artenvielfalt (Leykam 2023) und Seepferdchen (Naturkunden Matthes & Seitz 2023). Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Förderpreis zum Bremer Literaturpreis und dem Anton-Wildgans-Preis, ihr Roman Cherubino (Zsolnay 2019) war für den Deutschen Buchpreis nominiert.

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leykam:seit 1585

Andrea Grill

Perfekte Menschen

ROMAN

Der Held dieser Geschichte erinnert an die mythische Figur des Ballaban Badera. Er kam Mitte des 15. Jahrhunderts in Mat, im heutigen Albanien zur Welt, als Sohn von Helena und Milosh, die ihn taufen ließen und christlich erzogen.

Noch im Kindesalter wurde er verschleppt und, von der Außenwelt abgeschirmt, militärisch ausgebildet. Diese vom 14. bis ins 18. Jahrhundert praktizierte »Knabenlese« (»Devşirme«) diente den ottomanischen Sultanen zur Zwangsrekrutierung von Nachwuchs für ihre Elitetruppe der Janitscharen, sie stellten die Leibwache und erhielten hohe Positionen im Staatswesen. So sicherten sich die Sultane ihre Macht.

Als Offizier focht Ballaban gegen den albanischen Kommandanten Skanderbeg und seinen eigenen Bruder. In albanischen Legenden und Heldenliedern gilt er daher als Verräter.

Der Balaban meiner Erzählung hat ein »l« weniger, weil er nicht genau der sein soll, der im 15. Jahrhundert entführt und zum Krieger ausgebildet wurde, sondern ein Junge, wie es sie immer gab und geben wird, der einem zerstörerischen System zum Opfer fällt.

… Das Kind ist unverzüglich nach seiner Geburt in ein Register einzutragen und hat das Recht auf einen Namen von Geburt an, das Recht, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben, und so weit möglich das Recht, seine Eltern zu kennen und von ihnen betreut zu werden.

… Es ist in erster Linie Aufgabe der Eltern oder anderer für das Kind verantwortlicher Personen, im Rahmen ihrer Fähigkeiten und finanziellen Möglichkeiten die für die Entwicklung des Kindes notwendigen Lebensbedingungen sicherzustellen.

… Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.

… Die Vertragsstaaten erkennen die wichtige Rolle der Massenmedien an und stellen sicher, dass das Kind Zugang hat zu Informationen und Material aus einer Vielfalt nationaler und internationaler Quellen, insbesondere derjenigen, welche die Förderung seines sozialen, seelischen und sittlichen Wohlergehens sowie seiner körperlichen und geistigen Gesundheit zum Ziel haben.

… Ein Kind, das vorübergehend oder dauernd aus seiner familiären Umgebung herausgelöst wird oder dem der Verbleib in dieser Umgebung im eigenen Interesse nicht gestattet werden kann, hat Anspruch auf den besonderen Schutz und Beistand des Staates.

… Werden einem Kind widerrechtlich einige oder alle Bestandteile seiner Identität genommen, so gewähren die Vertragsstaaten ihm angemessenen Beistand und Schutz mit dem Ziel, seine Identität so schnell wie möglich wiederherzustellen.

Auszug aus der Konvention der Vereinten Nationen (UNO) über die Rechte des Kindes, die 1989 in New York beschlossen und mittlerweile von allen Mitgliedern der UNO, mit Ausnahme der USA, unterzeichnet wurde.

INHALT

WASSER

EIS

ERDE

LUFT

FEUER

ÄTHER

MICHAEL FIEL. Das würde seine erste Erinnerung sein. Er fiel und landete als silbriger Tropfen im Wasser, plötzlich erstarrt. Eine dieser Figuren aus geschmolzenem Zinn und Blei, die einst zur Jahreswende die Zukunft vorhersagten – das war er. Obwohl kein Jahr begann.

Er atmete nicht mehr. Er sank. So hätte sein Leben enden können.

Da bremste ihn etwas. Es gab wieder Schmerz, Lärm – vor allem das Geschrei der Eltern. Ob er sie als solche erkannte? Er kannte sie als Bewegung, die ihn der Leichtigkeit entriss – das Erstarrtsein war nicht unangenehm gewesen. Etwas warf ihn zurück an die Luft. Ein Naturgesetz? Helena, triefend nass, das grüne Hemd betonte die dunklen Höfe um ihre Brustwarzen, ihre Schuhe schmatzten bei jedem Schritt. Sie drückte den Sohn an sich, er japste nach Luft, erbrach einen Schwall Schlamm auf ihre Schulter, winzige Algen blieben im Stoff des Hemds hängen; sie spürte die Feuchtigkeit nicht. Der Schrei des Säuglings verscheuchte einen Schwarm Krähen auf Nimmerwiedersehen. Vom sandigen Ufer flogen sie an der Steilwand entlang in den Himmel.

»Deine Mutter hat dir das Leben doppelt geschenkt«, sagte Milosh später oft. So formte er Michaels Erinnerung.

Den Fluss hatten Helena und Milosh zuvor nie als Bedrohung betrachtet, eher als dekoratives Accessoire für die Aussicht von ihrem Esstisch aus. Die Wohnung war klein – aber der Blick!

Nun aber erklärte Milosh sich den Unfall nicht mit eigener Unaufmerksamkeit, sondern mit der ungenügenden Regulierung der Natur. »Aus rein ästhetischen Gründen, weil Leute wie du, Helena …« Aber sie hatte das Kind ja herausgeholt. Er legte ihr den Arm um die Schultern, zuckte nicht zurück, als seine Finger den erbrochenen Schlamm berührten. »Wir sollten einen Antrag auf Trockenlegung stellen.«

Milosh war kein guter Schwimmer. Das sah man ihm nicht an, er war kräftig, muskulös. Er boxte, hob Gewichte. Als er das Kind im Fluss bemerkt hatte, hatte er dennoch gezögert, an die Strömung gedacht. Da war Helena schon gesprungen. Wie wasserscheu er wirklich war, wusste nicht einmal sie, die Schwimmerin mit der Olympiamedaille. Er verbarg es gut. Bei Wettbewerben saß er verlässlich auf der Zuschauertribüne.

»Wir sind schuld oder wären schuld gewesen.« Helena reichte ihm das Kind, sie wollte sich die Nase putzen. Michael zappelte, trainierte vergnügt seine Bauchmuskeln, für ihn war der Vorfall schon vergessen, vorläufig, später würde die Erstarrung zurückkehren und das Gefühl, eine Figur aus ungewissem Material zu sein, ihm vertrauter vorkommen als jede Umarmung. Er würde Fragen haben, viele Fragen und niemanden, dem er sie stellen könnte.

Michael hatte ein ebenmäßiges Gesicht. »Es kann nur hässlicher werden.« Jemand murmelte die Worte, als Milosh und Helena vor der Glasscheibe des Geburtshauses auf die Entlassung warteten. Beide hofften, der andere hätte die Bemerkung nicht gehört. Keiner verlor ein Wort darüber. Michael war drei Tage alt und alles an ihm war perfekt.

»Eltern wie Elstern.« Die Notärztin verkniff sich die Bemerkung nicht, als sie zu ihrem Kollegen ins Auto stieg. Diese Leute lebten so weit draußen, ohne jegliches Verantwortungsgefühl. Den Alarm hätten die Nachbarn ausgelöst: Ein Kind sei in den Fluss gefallen. Zum Glück schiene es unversehrt geblieben. Der Notarztwagen konnte wieder fahren, musste fahren, weil die Eltern es ablehnten, den Jungen für eine genauere Untersuchung mitzugeben. Aufgebracht sprach die Ärztin mit ihrem Kollegen, der den Wagen hinaus aus dem flachen Tal lenkte, hinein in einen Landstrich, den sie als innen empfand und folglich als weniger gefahrenbelastet. Die Schlucht mit den dunklen Flecken auf den Felsen ließen sie hinter sich.

Der Vater habe den Säugling schlafend gewähnt. Wer das glaubte! Schlafend scheine überhaupt der bevorzugte Zustand zu sein, in dem Eltern ihre Kinder sehen wollten, wetterte sie ins rechte Ohr ihres schweigenden Kollegen am Lenkrad. Mit geschlossenen Augen, gleichmäßig atmend, so wünschten sie sich ihre Kleinen, wie auf den Werbefotos der Geburtskliniken; statt zu schlafen sei dieser Bub aber über die Wiese gerobbt, ungeachtet dessen, was unter ihm lebte oder zerquetscht wurde, weil er musste, weil es nur eine Richtung gab – vorwärts. Was die Eltern getan hätten, während er aus ihrer Sichtweite gekrochen sei, hätten sie sich nicht die Mühe gemacht oder die Zeit gehabt zu verbergen.

Der verknäulte Slip auf dem zerwühlten Bettzeug, die BHs, ja tatsächlich mehrere, und dann der Geruch, trotz geöffneter Fenster. Die hätten gevögelt, während ihr Kind ertrank.

Als wäre der Kollege nicht dabei gewesen, wiederholte sie alles, was ihr aufgefallen war, als sie die Wohnung betreten hatten, um das Baby zu untersuchen. Das Detail, das ihr am eindrücklichsten vor Augen stand, der offene Zipp an den Jeans der Frau, Schamhaar quoll daraus hervor, erzählte sie nicht.

»Die behandeln ihr Kind wie ein Schmuckstück, um sich selber schöner vorzukommen, weil sie es haben. Eltern wie Elstern.«

Die Wiese war schuld, ihre Verlockung. »Warum musst du nach einem Schuldigen suchen?« Milosh und Helena, Helena und Milosh. Einen Abend lang redeten sie sich um Kopf und Kragen.

Das geschah im Sommer, es musste Sommer gewesen sein, denn Michael war ein Winterkind und mittlerweile acht oder neun Monate alt. Alt genug, um zu robben. Jung genug, um Gefahren nicht wahrzunehmen.

Dabei waren Kinder gar nicht mehr so oft in Gefahr. Sie wurden nicht krank, Ansteckungen mit Viren oder Bakterien gehörten der Vergangenheit an, die höchstens noch die Großeltern kannten, aus einer Zeit, in der man wochenlang das Bett hütete, um zu genesen. Vitamine wurden verehrt wie Götter. Wer nicht sicher war, ausreichend davon zu produzieren oder mit der üblichen Nahrung zu verspeisen, ließ sich einen Dispenser implantieren.

Vor Erdbeben, Stürmen und Überflutungen waren die Häuser in diesem Teil der Erde gefeit. Sie wurden entsprechend gebaut. Für den Fall einer Naturkatastrophe, vor der Häuser nicht schützten, trugen die Menschen Sensoren unter der Haut, die sie alarmierten und ideale Fluchtrouten vorschlugen. Wissenschaftler waren vorrangig damit befasst, Katastrophen vorauszusagen und abzuwenden.

Der Rest, das, was noch vor wenigen Jahrzehnten als Forschung gegolten hatte, waren Kinkerlitzchen, sogenannte Leisurites, sie brachten eine Karriere nicht mehr vorwärts.

Nach Michaels Sturz in den Fluss tat Helena ihr Bestes, um ihm Vorsicht beizubringen. Sie warnte ihn vor Schwerkraft, Beschleunigung und Temperatur, also: Aufprall, Ertrinken, Zerquetscht- oder Auseinandergerissenwerden, Erfrieren, Verbrennen. Zugleich lernte er sprechen.

Und trotz alledem, was nach wie vor Fortschritt genannt wurde, würde er bald mit anderen Kindern auf nackten Füßen über steinigen Grund rennen. Licht, Licht – daran hältst du dich.

In Mat gab es viel Licht. Mat, so hieß das Dorf, in dem sie lebten und das immer noch als solches bezeichnet wurde, obwohl es kaum dem entsprach, was historisch gesehen im Kopf der Menschen auftauchte, wenn Dorf gesagt wurde. Mat fehlte nämlich das, was ein Dorf einst definierte: Abgeschiedenheit. Trotz der geografischen Lage und dem Gefühl der Isoliertheit, das Leute wie die Notärztin noch immer überfiel, wenn sie hierherkamen, wahrscheinlich, weil sich ihnen frühere Gegebenheiten eingeprägt hatten, war Mat unheimlich erreichbar und heillos verbunden mit dem übrigen Europa.

»Und der gesamten Erde«, wie Milosh jedes Mal, wenn die Rede darauf kam, hinzufügte. Abgeschiedenheit fehlte diesem Ort inzwischen ganz und gar und machte vielleicht die größte Sehnsucht aus, die die Bewohner von Mat vereinte: Sie wären gern nicht so im Zentrum von allem gewesen.

Der Vorfall mit dem Sturz in den Fluss erregte Aufsehen. Das würde man dem Wasser so schnell nicht vergessen. Das nahm man ihm übel.

Die kleine Petition für eine Austrocknung des Flusses oder wahlweise Verlegung ins Unterirdische, die Milosh unter dem Eindruck des Unfalls initiiert hatte, erreichte ungeahnten Zuspruch. Helena gehörte zwar zu denen, die dagegen stimmten, aber Land und Stadt sympathisierten mit Mat: Der Fluss musste gedämmt, trockengelegt, abgeschafft werden. Und – so die Sicherheitseuphoriker nach dem Erfolg der ersten Petition – nicht nur dieser eine, nein, Flüsse überhaupt. Nur so würde das Ertrinken von Kindern in Flüssen ein für alle Mal verhindert werden.

Milosh erschrak. So hatte er es nicht gemeint. Eigentlich mochte er den Fluss, er war an ihm aufgewachsen, hatte erste Tränen wegen eines Mädchens in ihn geweint, an seinem Ufer Helena zum ersten Mal geküsst. Sogar den ersten Sex mit ihr hatte er im Fluss gehabt. Eine tiefere Stelle hinter einer Biegung, Polster nannten sie das in der Gegend, in so einem Polster hatte Milosh ausprobiert, wie es war, in Helena zu stecken. Trotz der Kälte: Dort wollte er sein. In den Docks der Nächte vertäute er seine Hände an ihren Hüften; jeder Haselstrauch im Umkreis von zwei Kilometern roch bald nach ihnen – für Tiere, die sich mit so etwas befassten. Denn Helena liebte Haselsträucher noch mehr als die übrigen Pflanzen, weil sie unverwundbare Früchte trugen, absolute Früchte. Pflanzen waren für sie das Wichtigste auf der Welt. Pflanzen würden sie beerben, sagte sie. Ihrem Sohn wünschte sie, dass er Gärtner würde, ihrer Ansicht nach der ehrenwerteste aller Berufe. Für Helena waren Pflanzen Freunde. Auch der Fluss war ihr Freund.

Milosh störte das nicht, wenn es sie glücklich machte; er arbeitete in einem Bereich, wo Grünzeug nur als Pixel existierte. Fotosynthese hielt er insgeheim für überschätzt, die technische Herstellung von Sauerstoff stellte seiner Ansicht nach die weitaus sauberere Lösung dar.

Den Fluss hätte er schlussendlich gerne behalten. Nicht nur Helenas wegen, die ihm natürlich wieder vorwarf, es sei alles seine Schuld, sondern auch, weil die Aussicht vom Esstisch aus ohne Fluss deutlich an Attraktivität verlor. Letztlich wäre auch dem aber technisch leicht abzuhelfen gewesen.

Um Helena milde zu stimmen, lancierte Milosh eine Anti-petition gegen seine erste Petition. Zu spät! Alles war in die Wege beziehungsweise das Wasser war bereits abgeleitet worden. Staubtrocken lag das Flussbett vor ihren Fenstern. Milosh nahm es hin, er hatte getan, was er konnte, Hauptsache, Helena ließ ihn weiterhin zu sich. So eine wie sie gab es kein zweites Mal.

Am Tag nach dem Unfall legte sich dichter Nebel über die Gegend. Helena erwachte als Erste, das kam selten vor, meist weckte der kleine Michael sie mit tastenden Händen, Saug- und Schmatzgeräuschen.

»Der Tag hat einen Bauch«, sagte sie halblaut, weder Milosh noch Michael hörte die Worte, von denen sie selbst nicht wusste, woher sie gekommen waren.

Vor den Fenstern stand grauweißes Rauschen. Sie lebten plötzlich in einem riesigen Wattebausch, sichtbar gewordener White Noise. Noch nie hatte Helena etwas so Dichtes über der Landschaft gesehen. Das Meer war fern, kein See in der Nähe, nur der Fluss. Als Dunstproduzent? Helena winkelte die Beine an, erhob sich vorsichtig, ohne die beiden neben ihr Schlafenden zu wecken. Kaum spürte das Baby das Fehlen des Körpers der Mutter, fing es an zu schmatzen, zu tasten, rollte sich auf den Bauch und robbte los. Irgendwohin.

Helena befand sich schon in der Küche, als sie den dumpfen Aufprall hörte. Knochen, Muskeln, Fleisch, Haut auf Stein. Als fiele ein vollgepackter Rucksack um. Den Gedanken hatte sie, während sie zurück ins Zimmer rannte. Der Vater schlief ungerührt. Michael weinte nicht.

An dem Tag begannen die Entführungen. Und von da an schlugen die Tage aneinander wie lose Bretter im Wind.

DER WATTEBAUSCH VERSCHWAND. Die sanften Hügel und schroffen Schluchten lagen da wie immer, manchmal sogar in prachtvollem Licht. Doch in den Augen derer, die Jungen geboren hatten, erlosch der Glanz. Dass die Entführungen nur männliche Kinder betrafen, schien zunächst unwahrscheinlich, aber so war es. Bis zum Alter von acht Jahren gab es eine Gnadenfrist, bis dahin hatten sie nichts zu befürchten. Und es traf nicht jeden, auch das stellte sich heraus, machte es aber nicht besser. Jeder Tag, der verging, wurde ein Feind, dem es galt zu entkommen.

Man versuchte, die Jungen kleinzuhalten, fälschte Geburtsdaten, feilschte um jeden Tag. Die Behörden beharrten trotz allem auf Exaktheit. Nur mit vollständig gefüllten Datenbanken könne gegen das Verschwinden eingeschritten werden, hieß es, und es werde eingeschritten. Sie sollten ohne Sorge sein, hieß es. Doch das Vertrauen der Familien von Mat war rasch erschöpft.

Manche Mütter erwogen die Flucht. Doch man war in Europa. Wenn es hier nicht sicher war, wo dann? Im Übrigen galt der geografische Aufenthaltsort als vernachlässigbar, hier wie dort – einerlei, wenn sie einen suchten, würde man gefunden. Auch in anderen Gegenden gab es Entführungen, die Herkunft aus Mat schien das Risiko jedoch zu erhöhen.

Helena hatte die Landschaft, aus der sie kam, immer geliebt. Jetzt nahm sie ihr die Unbeteiligtheit übel. Die Berge leuchteten im Sonnenuntergang, anstatt sich den Entführern entgegenzuwerfen, die Bäume stachen blühend in den Himmel, dabei hätte der Lauf der Welt gestoppt werden müssen. Warum nicht durch sie?

Michael begann früh zu laufen und spät zu reden. Nach dem Sturz in den Fluss und dem Beginn der Entführungen schlug seine Mutter vor, ihn taufen zu lassen. Eine wie aus der Zeit gefallene Geste, doch sie wollte alles tun, um ihm größtmöglichen Schutz zu geben. Da sie an die Behörden nicht mehr glaubte, suchte sie den der Geister oder Götter. Und Rituale, ja, die mochte sie. Die Kirche kannte viele davon und Helena fühlte sich darin geborgen.

Es war nicht einfach, einen Priester zu finden, der noch taufen konnte und Helenas Wünsche erfüllen wollte. Milosh war großzügiger in seinen Sympathien, er hätte einfach den nächstbesten genommen, Hauptsache, es wäre bald erledigt. So rasch war das aber nicht getan.

In Mat gab es keinen Vollzeitpriester mehr, nur Leute von auswärts, die Teilzeit arbeiteten, mit übervollem Terminkalender und ziemlich antiquierten Vorstellungen, wie so eine Zeremonie vor sich zu gehen hatte, zu altmodisch sogar für Helena. Sie hatte nämlich genaue Pläne für die Taufe ihres Kindes.

Als der Tag endlich gekommen war, ging es rasch. Die Familie und der Priester trafen einander am Ufer eines Rinnsals, das Helena entzückt Bächlein nannte, darin konnte gewiss kein Kind ertrinken, da strömte einfach ein bisschen Wasser über die Erde, als hätte ein Riese sein Glas umgestoßen.

Mita, Helenas Schwester, war Michaels Patin. Der Himmel war blau, die Sonne ungetrübt, das Gras grün. Ein Baldachin aus hellgrauer Seide wurde über die Glatze des ansonsten jugendlich wirkenden Priesters gehalten und über Michael und seine Tante. Gerade als die Segnungsformel gesprochen werden sollte, riss der Kleine sich aus Mitas Armen los, rannte auf das glitzernde Bächlein zu, es erschien ihm wie ein flüssiger Schatz – er stolperte, fiel der Länge nach hin, noch im Fallen stieß er ein Jauchzen aus.

Der Priester kam hinterher, taufte das halb im Dreck halb im Bach liegende Kind mit einigen Spritzern aus einer goldenen Schale, die er mit Wasser aus selbigem gefüllt hatte. Über Michaels Arme und Hände floss das eiskalte Nass des Rinnsals, er zuckte nicht zurück, sprang nicht auf, kreischte vor Vergnügen, bis ihn die Tante hochhob. Da tat er den Unmut über die Unterbrechung seiner Freude mit lautem Weinen kund. »Gott sei Dank«, sagte Helena und bekreuzigte sich. Man ging zusammen essen.

So wirkte die Zeremonie aus der Ferne. Es war nicht einfach festzustellen, was anders gewesen war als üblich. Warum Helenas Verhandlungen mit der Kirche so lange gedauert hatten. Warum ein Geistlicher nach dem andern abgesagt hatte. Manche Nachbarn hätten das gerne gewusst, sie lauerten mit Mini-Kameras mit Megazoom, wurden aber enttäuscht. Von außen sah alles aus, wie so etwas eben aussieht.