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Raphael M. Bonelli

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Beschreibung

»Ob in der Erziehung, der Ehe oder im Job – immer wollen wir alles richtig machen. Und dabei auch noch gut aussehen. Doch oft scheitern wir an den eigenen Ansprüchen.« Raphael Bonelli schildert in über 50 teils tragikomischen, teils erschütternden Patientengeschichten aus der eigenen Praxis, wie Perfektionisten ticken. Der Wiener Psychiater zeichnet ein Bild heutiger Seelennöte, von Ängsten, falschem Ehrgeiz und Lebenslügen, um aufzuzeigen, dass glücklich ist, wer sich in seiner ganzen Fehlerhaftigkeit, Durchschnittlichkeit und Gewöhnlichkeit selbst annehmen kann.

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Seitenzahl: 378

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Raphael M. Bonelli

Perfektionismus

Wenn das Soll zum Muss wird

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungEinleitungPerfektionismus: Laster oder Tugend?Die Maske der UnantastbarkeitDas Glück in der UnvollkommenheitTeil IKapitel 1Erste Einblicke in das UhrwerkDer psychische Apparat des PerfektionistenDas SOLL-IST-MUSS-SchemaPerfektionistischer IdealismusDie perfekte VergangenheitKapitel 2Exzellenz – na und?Gut gemachte ArbeitWas Löwen mit psychologischen Tests gemeinsam habenWozu brauchen wir Gewissenhaftigkeit?Nicht jeder, der dichtet, ist ein GoetheKapitel 3Eine deutsche EntdeckungDer Tanz ums Goldene KalbIchhaftigkeit als BauchgefühlDas Verabsolutieren von TeilzielenInnere WidersprüchlichkeitAngst als Wurzel der IchhaftigkeitDie ZwangsneuroseZwanghafte PersönlichkeitsstörungKapitel 4Die MaskeDie Verdrängung der eigenen UnvollkommenheitDer Widerstand nach Sigmund FreudFehlerlosigkeit durch FehlerverdrängungDie Bedrohung durch ein hohes SOLLPerfektionisten leiden unter ihrer UmgebungKapitel 5Was weder Obama noch Putin jucktDie engen Grenzen einer Wissenschaft1. Zahnrad: »Denkfehler«2. Zahnrad: »Fehlersensibilität«3. Zahnrad: »kompetitives Vergleichen«4. Zahnrad: »ungeordnete Organisiertheit«5. Zahnrad: »Inflexibilität und verfehltes Lebensziel«6. Zahnrad: Stolz und Hochmut7. Zahnrad: Schwarz-Weiß-DenkenTeil IIKapitel 6Karōshi – das Sich-zu-Tode-SchuftenKapitel 7Der SchlankheitswahnDie kranke GesellschaftDie perfektionistische Familie der MagersüchtigenDas perfekte EssenKapitel 8Adonis auf der CouchVenus auf der CouchWenn der eigene Leib nicht gut genug istOperative AngsttherapieDer eingebildete KrankeKapitel 9Der Perfektionist in der PartnerschaftDie ÜbergriffigkeitErlernte HilflosigkeitReligiöser PerfektionismusTeil IIIKapitel 10Machen Endorphine das Hirn glücklich?Immanuel Kant und die PsychotherapieAngst abarbeitenFreiwilligkeit als Voraussetzung für eine TherapieZwischen zu viel und zu wenigInnere OrdnungNeidlosigkeitKapitel 11Perfektionisten mögen keine Therapie – und schon gar keine TherapeutenImperfektionstoleranz: die Maske sinken lassenDie Psychotherapie von Ichhaftigkeit und FehlerverdrängungDie Entmachtung des inneren DogmasReduktionismus und AngemessenheitDas Durchschauen des PerfektionismusKapitel 12Literaturverzeichnis
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Gewidmet

meiner Frau

Victoria

 

 

Weil sie meine Imperfektionstoleranz zur Perfektion getrieben hat

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Einleitung

Nietzsches Spießer

Viele Kinder haben heute das Glück, sich zu kleinen Wolfgang Amadeus Mozarts, Boris Beckers oder Steve Jobs entwickeln zu dürfen. Bei Mädchen können die Zielvorgaben auch Julia Roberts, Steffi Graf oder Heidi Klum heißen. Von Geburt an werden sie von einem Kurs zum anderen gekarrt. Werden gefördert, trainiert und gestylt. Zeit für so etwas Unnützes wie Spielen und Freundschaften bleibt da natürlich kaum noch. Wozu auch? Zeit ist Geld. Solch beglückte Kinder sind selbstverständlich alle hochbegabt – zumindest nach der Einschätzung ihrer Helikoptereltern.

Heute trifft man auf der Straße Deutschsprachige, die mit ihren Säuglingen ein holpriges Englisch sprechen. Das ist sicher gut gemeint, damit die Kleinen Startvorteile im unerbittlichen Lebenskampf haben: die »Poleposition« in der globalisierten Leistungsgesellschaft sozusagen. Es kommt auch sicher besonders glaubwürdig an, wenn man dem eigenen Kind in einer Fremdsprache sagt, wie gern man es hat. Aber das ist ja auch alles gar nicht mehr so wichtig. Zwischenmenschliche Beziehungen wurden früher ohnehin maßlos überschätzt. Was wirklich zählt, ist Leistung! Endlich sind die gesellschaftlichen Spielregeln gerecht und transparent: Wir sind, was wir leisten. Leistung ist Selbstverwirklichung. Ist das nicht schön?

Die Verabsolutierung der Leistung bleibt nicht folgenlos. Sie kann zu einer zwanghaften Fehlhaltung führen: zum Perfektionismus. Deswegen untersucht ihn die psychologische Forschung zunehmend. Leider sind ihre Erkenntnisse einerseits oft in eine unverständliche akademische Geheimsprache gepresst, die seltsam blutleer und lebensfern bleibt. Andererseits wird der Begriff in populärer Ratgeberliteratur und im gesellschaftlichen Diskurs so verwässert, dass die Ratschläge zur Abhilfe schlussendlich wie eine Binsenweisheit anmuten. Der deutsche Psychotherapeut Nils Spitzer nennt den Perfektionismus gar einen »schillernden Grenzbegriff zwischen Wissenschaft und Pop-Psychologie«. Obwohl viele psychische Krankheiten in klinischen Studien einen statistischen Zusammenhang mit dem Perfektionismus zeigen, besonders Burn-out, Essstörungen, Depressionen und die Zwangsstörungen, gibt es nach wie vor keinen Konsens, was Perfektionismus überhaupt bedeutet.

Perfektionismus: Laster oder Tugend?

Perfektionismus ist modern. Die wohl prominentesten Perfektionismus-Forscher unserer Tage, die kanadischen Psychologen Gordon L. Flett und Paul L. Hewitt, scheuen nicht davor zurück, ihn als »in der westlichen Welt endemisch« zu bezeichnen. Das bedeutet das permanent gehäufte Auftreten einer Krankheit in einer Region oder Population. Perfektionismus prägt den Zeitgeist, liegt unseren Wertvorstellungen zugrunde, dominiert unsere Köpfe. Fast niemand kann sich ihm ganz entziehen.

Einerseits sind sich alle einig, dass Perfektionismus nicht wirklich super ist, andererseits steht er heute auf der Liste der »attraktiven Laster« sehr weit oben. Gleich nach »Mein größter Fehler ist, dass ich zu gutmütig bin und mir zu viel gefallen lasse« kommt die selbstkritische Beichte »Ich habe einen Hang zum Perfektionismus«. Denn diese Schwäche finden wir verzeihlich, wenn nicht sogar ehrenhaft. Das lässt sich auch bei dem um sich greifenden Psycho-Phänomen »Burn-out« gut beobachten: Viele Patienten bestellen sich heutzutage beim Psychiater diese Modediagnose, weil damit sichergestellt ist, dass sie ausgesprochen fleißige Zeitgenossen sind. Ein ähnliches Phänomen tritt bei der Selbstbeschreibung »Perfektionismus« auf: Bei diesem Begriff schwingt ein Nimbus von Ernsthaftigkeit, Ordentlichkeit, Fleiß und Verlässlichkeit mit, so dass man einen solchen Defekt gerne unumwunden zugibt.

In einer Zeit, in der keiner mehr sagen kann, was wahre Perfektion – also Vollkommenheit – eigentlich bedeutet, streben wir sie doch scheinbar alle an. Natürlich ist es sinnvoll und erstrebenswert, Perfektes zu wollen, vor allem Perfektes leisten zu wollen. Der Mechaniker soll das Auto fehlerlos reparieren, der Installateur den Wasserrohrbruch perfekt abdichten und der Chirurg möglichst ohne Kunstfehler operieren. Von Lehrern und Beamten erwarten wir zu Recht, dass sie mehr tun als ihre Pflicht. Wer sich nicht um fehlerfreies Arbeiten bemüht, wird im Beruf schwerlich Wertschätzung erwarten dürfen. Der streitlustige Philosoph Peter Sloterdijk erklärt das Streben nach Selbstverbesserung bis zur Vervollkommnung zum menschlichen Wesenskern. Das ist nicht neu, das hat schon Aristoteles gewusst: Es geht darum, die Natur zur Entfaltung zu bringen.

Perfektionismus ist aber etwas völlig anderes als das Streben nach Perfektion. Ein Perfektionist strebt Perfektion nicht an, weil er sich an der Vollkommenheit erfreut, sondern weil es ihm um die damit verbundene Unangreifbarkeit geht. Perfektionismus ist ein Vermeidungsverhalten: Wer perfekt arbeitet, kann weder getadelt noch kann ihm gekündigt werden. Der Perfektionist will nicht in erster Linie die Natur zur Entfaltung bringen, sondern giert nach Sicherheit.

Die Sehnsucht nach Perfektion tut dem Menschen gut; durch Angst motiviert, verliert sie aber das richtige Maß. Nehmen wir etwa den großen deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche: Seine Angst vor Durchschnittlichkeit und Normalität brachte er in abfälligen Urteilen wie »Menschen ohne Sehnsucht« oder »finale Spießer« deutlich zum Ausdruck. Es sei die Aufgabe des Menschen, einen Typus hervorzubringen, der höher entwickelt ist als er selbst. Dieser »Übermensch« habe – so Nietzsche – einen Überschuss an Lebenskraft und Willen zur Macht, was ihn zu besonderer Selbstbeherrschung und Selbstentfaltung befähigt.

Die Maske der Unantastbarkeit

Der Perfektionist ist ein Kind einer leistungsfixierten Zeit: In ihm baut sich ein innerer Druck aus Unzufriedenheit, Selbstverachtung und Verbitterung auf. Unter diesem leidet er und diesen gibt er auch an seine Umgebung weiter. Das Bessere ist für ihn der Feind des Guten: Nichts ist so gut, als dass es nicht noch besser sein könnte.

So entwickelt sich der Perfektionist wider Willen zum Nörgler, notorischen Pessimisten und humorlosen Querulanten. Er weist ein Schwarz-Weiß-Denken auf, eine Alles-oder-nichts-Mentalität: Entweder ist alles perfekt, oder es taugt nichts.

Ein Wesensmerkmal des Perfektionismus ist das krankhaft überzogene Leistungsdenken, bei dem nur zählt, wer Tadelloses, Bewundernswertes und Außergewöhnliches vorzuweisen hat. Häufig ist Perfektionismus von einer irrationalen Angst vor Ablehnung begleitet, der Angst, nicht gut genug zu sein, den Ansprüchen nicht zu genügen, und von einer ängstlichen Besorgtheit um den eigenen Ruf. Der Perfektionist ist ein unsicherer Mensch. Er sehnt sich unbewusst nach einer bombensicheren Unantastbarkeit. Er hält sich ständig einen inneren Spiegel vor und überlegt, wie er vor sich und anderen dasteht, was er von sich halten darf. Perfektion ist bei ihm nur Mittel zum Zweck: eine Fassade, die er aufrichtet, eine Maske, hinter der er sich versteckt.

Damit bringt sich der Perfektionist in eine Sisyphos-Situation, die oft im Burn-out endet: Er läuft einem unerreichbaren Ziel nach, denn man kann unmöglich allen gefallen. Dem Perfektionismus liegt eine unfreie, neurotische Angst vor der eigenen Fehlerhaftigkeit zugrunde, die die Seele erstarren lässt wie die Maus vor der Schlange. Oft wird er in dieser Erstarrung von anderen als rigide, halsstarrig, besserwisserisch und mitunter sogar als intolerant wahrgenommen. Von seiner Umgebung bekommt der Perfektionist häufig das Feedback, er sei überkritisch, mische sich ungefragt in das Leben anderer ein und versuche, ihnen das eigene »Ideal« überzustülpen.

Das Glück in der Unvollkommenheit

Die Auflösung dieses bedrohlich-zwanghaften Zustands erfolgt schrittweise. An erster Stelle steht die Entlarvung des Perfektionismus als irrationales Bauchgefühl, als »inneres Dogma«. Durch das Bewusstmachen und Analysieren des Kopfes kommt es im nächsten Schritt zur Entmachtung des eigenen Leistungsdenkens – auch wenn es dem Zeitgeist vielleicht widerspricht. Dann erfolgt das bewusste Annehmen der eigenen Unvollkommenheit mit dem Herzen. »Imperfektionstoleranz« ist die Selbstannahme im Bewusstsein der eigenen Fehlerhaftigkeit, Mittelmäßigkeit und Gewöhnlichkeit.

Nur mit einer realistischen Selbsteinschätzung kann man gesunde Zielvorgaben formulieren und sich maskenlos in der Gesellschaft bewegen. So gelangt man zu einer inneren Freiheit, die das Gegenstück zum Perfektionismus ist. »Imperfektionstoleranz« befreit von Ichsucht, Kontrollzwang, Anspruch auf Fehlerlosigkeit, Verbitterung und Fremdbeschuldigung. Innere Freiheit verleiht deshalb Unbeschwertheit und natürliche Autorität, sie macht flexibel und unabhängig.

 

Dieses Buch wurde geschrieben, um verstanden zu werden. Es versucht, in verständlicher Sprache die eigene Therapieerfahrung mit dem heutigen Stand der psychologischen Forschung, mit dem gesunden Menschenverstand und auch mit humanistischen Weisheiten aus unserer Kulturgeschichte in Einklang zu bringen.

Das Ganze wird so dargeboten, dass man mitunter schmunzeln kann und es dadurch hoffentlich leichter bekömmlich wird. Humor hilft am effektivsten, das Eis des Perfektionismus zum Schmelzen zu bringen. Schon Paul Watzlawick hat den »tierischen Ernst von psychologischen Abhandlungen« gern augenzwinkernd auf die Schippe genommen.

Alle 77 erzählten Patientengeschichten sind echt, aber selbstverständlich aus Gründen des Personenschutzes biographisch bis zur vollkommenen Anonymisierung verändert. Im dritten Teil kommen schließlich auch Betroffene selbst zu Wort und berichten über ihre Therapieerfahrungen. Anhand lebendiger Geschichten kann man die Theorie oft besser erfassen und leichter im eigenen Leben wiederfinden.

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Teil I

Hinter der Maske

Kapitel 1

Wie Perfektionisten ticken

In dem humorvollen Dokumentarfilm »Die lustige Welt der Tiere« von Jamie Uys aus dem Jahr 1974 sieht man, wie ein Ureinwohner irgendwo in Afrika einen Pavian fängt: Der Mann bohrt mühsam und demonstrativ ein Loch in einen Termitenbau, wenn er sich von dem neugierigen Affen beobachtet weiß, und streut Wildmelonensamen in den Hohlraum. Der Pavian greift hinein, packt eine Faustvoll Samen – aber leider ist seine Faust nun zum Herausziehen zu groß. Wenn er nur so vernünftig wäre, die Samen fallen zu lassen, könnte er seine Hand herausziehen und wäre frei. Aber das bringt er nicht zustande, kann dadurch nicht vor dem Häscher fliehen und wird so überwältigt. Der Film wurde übrigens völlig zu Recht mit dem Golden Globe als beste Dokumentation des Jahres ausgezeichnet.

Immer häufiger finden wir heute Menschen, die gleich dem Tier in das falsche Loch greifen und nicht mehr loslassen können. Sie ringen wie Sisyphos mit einem Felsblock, der ihnen viel zu groß ist. Doch im Gegensatz zum griechischen Helden machen sie sich das Leben selbst unnötig schwer. Sie können aus irgendeinem Grund nicht davon lassen und halten so freiwillig an einer Unmöglichkeit fest. Der unüberwindliche Felsblock des Perfektionisten ist der Selbstanspruch auf Fehlerlosigkeit, das Festhalten seiner Wildmelonensamen ist die Panik davor, eine Fehlleistung zu begehen.

FALL 1-1: Die Braut, die sich nicht traut

Der Psychiater bekommt eine E-Mail von der 23-jährigen Krankenschwester Lore H. mit folgendem Text: »Also, es ist so, dass ich eineinhalb Jahre verlobt bin mit einem sehr netten Arzt und ich mich bis jetzt nicht zur Hochzeit durchringen konnte. Eigentlich gibt es keine Gründe gegen eine Heirat. Ich hab ihn wirklich sehr, sehr gern und auch Angst, ihn zu verlieren. Doch meine Emotionen spielen verrückt, sobald es konkret wird.

Kurz nach unserer Verlobung hatte ich eine Panikattacke. Ich konnte nicht schlafen, nichts essen, Traurigkeit, Gedankenkreisen, hatte Ängste zu sterben bzw. Angst davor, dass jemand mir Nahestehender sterben könnte, Angst, meine Beziehung beenden zu müssen. Es war sehr schwer für mich, in dieser Zeit meiner Arbeit nachzugehen. Ich hatte den Eindruck, ich sei nicht fähig, das Leben zu leben, lebte in innerem Unfrieden, hatte das Gefühl von Sinnlosigkeit. Die darauffolgende Zeit war geprägt durch eine emotionale Berg-und-Tal-Fahrt. Prinzipiell kannte ich bis zu diesem Zeitpunkt solche emotionalen Konflikte nicht. Das war für mich sehr schwer zu ertragen, doch suchte ich mir noch keine ärztliche Hilfe. Ich dachte, Yoga würde mir weiterhelfen, doch das Konzentrieren auf mich hat alles nur viel schlimmer gemacht.

Zudem bemerkte ich, sobald Stresssituationen und Herausforderungen auf mich zukamen, kamen auch die Ängste, Sorgen etc. wieder. Ich habe dann mit einer Freundin gesprochen, die unter einem Überlastungssyndrom litt. Sie hatte ähnliche Symptome wie ich. Nach dem Gespräch mit ihr entschloss ich mich, professionelle Hilfe zu suchen. Ich ging zum Arzt, der mir eine Psychotherapeutin vermittelte. Mit der sprach ich darüber, womit ich meine Zeit verbringe. Es stellte sich heraus, dass ich 65 Stunden in der Woche arbeite und mir kaum Zeit für mich bzw. die Beziehung zu meinem Freund nehme. Die Therapie half mir weiter, doch immer noch ist es so, dass mich, sobald ich und mein Verlobter das konkrete Datum für die Hochzeit festlegen wollen, eine Angst überfällt, die sogar Panikattacken in mir auslöst. Grundsätzlich tue ich mir mit Entscheidungen sehr schwer. Vor dem Entschluss für die neue Station hatte ich Zweifel, Sorgen und Ängste. Doch jetzt, wo ich dort arbeite, passt es im Großen und Ganzen.

Ich habe Angst vor dieser Entscheidung, zu heiraten. Doch ich möchte mich wirklich dafür entscheiden. Aber meine Emotionen lähmen mich. Sobald ich beginne, diesbezüglich zu grübeln, kommen negative Emotionen hoch, die mir das Leben schwermachen. Rationale Gründe gegen die Heirat gibt es keine. Unsere Beziehung verläuft sehr gut. Daher verstehe ich auch nicht, warum meine Emotionen verrücktspielen. Ich merke, dass ich will, aber doch nicht kann. Fühle mich ohnmächtig. Zudem haben mein Verlobter und ich bemerkt, dass am Ende meines Zyklus meine Stimmung emotional negativer ist.«

Jeder Mensch trägt in sich zwei Grundsehnsüchte, die oft schwer miteinander zu vereinbaren sind: die nach Freiheit und die nach Sicherheit. Sicherheit ist etwas Feines, und jeder hat sie gerne – Perfektionisten haben sie aber etwas zu gerne. Denn je sicherer, desto weniger kann man über die eigenen Fehler stolpern oder gar daran scheitern. Deswegen muss man sich in der perfektionistischen Gesellschaft heute gegen und für alles und jedes versichern lassen: Unfall, Diebstahl, Gebäude, Auto, Tiere, Leben, Hausrat, Rente, Haftpflicht, Hagel, Kredit, Rechtsschutz – und damit sind dann alle Gefahren beseitigt, und wir fühlen uns wohl.

Lore H. will es – als Kind ihrer Zeit – eben auch ganz genau wissen, hundertprozentig. Aber die perfektionistische Angst lässt sie erstarren, ihre Lebensräder blockieren, der Wagen steht still, nichts geht mehr. Man braucht wenig Phantasie, um sich vorzustellen, dass nicht jeder Perfektionist diese Schwelle überspringen kann. Oft wartet der Perfektionist so lange, bis der Partner die Hochzeit absagt: Perfektionismus kann das Leben hemmen, es verklemmen und an seiner Entfaltung hindern. Oft bewirkt die Panik sogar, dass das eigene Lebensziel verfehlt wird – in diesem Fall die Ehe.

In der psychologischen Forschung gibt es viele Definitionen des Perfektionismus. Eine gängige, wenn auch ein wenig komplizierte Version ist die der Psychologen Joachim Stöber und Kathleen Otto von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg aus dem Jahr 2006: »Im Allgemeinen wird Perfektionismus als Persönlichkeitsstil gesehen, der sich durch Streben nach Fehlerlosigkeit und das Setzen von exzessiv hohen Zielen auszeichnet, kombiniert mit Tendenzen überkritischer Bewertung der eigenen Handlungen.«[1]

Als psychodynamische Definition hat sich die der Verhaltenstherapeutinnen Sabine Wilhelm und Gail S. Stakete von der Boston University aus demselben Jahr etabliert. Sie meinen, dass Perfektionismus als die Überzeugung definiert werden könnte, dass es (a) für alles eine perfekte Lösung gibt und dass es (b) möglich sowie (c) erstrebenswert ist, eine Sache (d) perfekt (d.h. fehlerfrei) zu machen, und (e) dass selbst kleine Fehler sehr ernste Konsequenzen haben werden.

Erste Einblicke in das Uhrwerk

Perfektionisten ticken im Inneren nach dem gleichen Schema. Sosehr sich auch der eine vom anderen äußerlich unterscheiden mag, so sehr haben sie eines gemeinsam: Sie stolpern letztlich über die eigenen Beine, über das Missverständnis ihrer selbst. Es passiert ihnen oft genau das, was sie ängstlich abwehren wollen. Perfektionisten sind innerlich unsicher – und dadurch unfrei und getrieben. Ihre innere Unfreiheit agieren sie oftmals nach außen aus und beengen damit ihre Umgebung. Sie sind Gefangene, eingekerkert in sich selbst. Ihr Problem ist der menschliche Fehler: Denn genau der ist in ihrem Selbstanspruch definitiv nicht vorgesehen, er wird in dem starren Korsett des perfektionistischen Denkens zu einer massiven Störung des Systems und in der Folge zu einer persönlichen Bedrohung. Die normale fehlerhafte Menschlichkeit wird geleugnet und verdrängt, das fehlerlose Funktionieren zur Notwendigkeit. Das Ideal wird zum Imperativ.

Perfektionismus reduziert den Menschen auf seine (fehlerlose) Funktion, auf seine (tadellose) Leistung. Das ist problematisch, denn damit prägt eine Psychopathologie ein neues, weithin akzeptiertes Menschenbild: Der Mensch wird im perfektionistischen Denkmodell unausgesprochen und vielleicht auch unbewusst zur Maschine und seine Psyche zum Apparat. In der Gesellschaft haben in letzter Zeit ganz in diesem engen Denkschema die quantitativen Wissenschaften (Mathematik, Soziologie, Demoskopie etc.) deutlich mehr an Autorität gewonnen als die Geisteswissenschaften (Theologie, Philosophie usw.). Perfektionisten ticken alle sehr ähnlich: Das Bild des bloßen Tickens eines Uhrwerks ist stimmig, weil die Freiheit verloren geht – und die Menschlichkeit, denn Kreativität, Spontaneität und Flexibilität verkümmern. Doch der Mensch ist keine Maschine, kein seelenloser Roboter. Wir haben kein Uhrwerk in uns, das uns fehlerlos antreiben muss.

Interessanterweise hat gerade der Altmeister der Psychotherapie, Sigmund Freud, gerne vom »psychischen Apparat« gesprochen, um die Seelenlandschaft des Menschen zu erklären. Freud war als Mensch des 19. Jahrhunderts begeistert von den Naturwissenschaften und ein wenig blind für die Begrenztheit ihrer Methoden. Neidvoll schielte er auf Physik und Chemie, in denen alles so herrlich klar und berechenbar erschien. Er sah seine Aufgabe darin, dieselbe Berechenbarkeit in der menschlichen Psyche zu etablieren. Er postulierte ein rein materiell-physisches System, in dem zwischen den mechanischen Teilen »Ich«, »Es« und »Über-Ich« nur noch »verdrängt«, »sublimiert«, »gespalten«, »verschoben«, »projiziert«, »isoliert« und »fixiert« wird – lauter Begriffe, die er aus der Physik entlehnte. Die »Meta-Physik« hingegen lehnte Freud zur Gänze ab.

Dieses Freudsche Konstrukt des »psychischen Apparats« ist doppelt bemerkenswert: Erstens ist der Mensch bei Freud vollständig determiniert und seinen inneren physikalischen Vorgängen ausgeliefert. Die von Freud erfundene Kreatur ist so unfrei, nicht spontan und unlebendig wie der klassische Perfektionist. Und zweitens dürfte Freuds Motivation, den Menschen auf eine mechanische Konstruktion zu reduzieren, ironischerweise selbst eine perfektionistische sein. Denn Perfektionismus degradiert die unberechenbare Buntheit des wirklichen Lebens zu einem engen, berechenbaren, künstlichen Regelwerk, das dem Menschen nicht mehr entspricht. Ein Organismus wird zum Uhrwerk reduziert.

Einen zentralen Punkt perfektionistischen Strebens bilden die Schönheit und die körperliche Makellosigkeit – das ist mehr als das Fehlen körperlicher Mängel. Manches lässt sich ja verbessern, aber irgendwann stößt man an Grenzen.

FALL 1-2: Der Mann mit dem kleinen Dingsbums

Der 22-jährige Medizinstudent Achmed F. kommt zum Psychiater: »Ich kann mich nicht so annehmen, wie ich bin.« Auf die Frage, was genau er an sich nicht annehmen könne, antwortet er: »Ich habe Angst, dass ich verletzt werde.« Wie schon sein Großvater und sein Vater hätte auch er Komplexe, das ziehe sich so durch die Generationen. Aber sein jahrelanger Komplex sei schon etwas sehr Spezielles. Seine Eltern kämen aus Ägypten, die Familie sei eigentlich erst in Europa richtig gläubig geworden. Sein Migrationshintergrund würde ihm aber keine Schwierigkeiten machen. Er sei in Österreich ein exzellenter Schüler gewesen, und auch im Studium tue er sich leicht: »Ich bin auch super integriert.« Er sei gläubiger Moslem und habe jetzt erstmals eine Freundin, und die sei eine Österreicherin und Christin. »Ich bin auch religiös, wie meine Eltern, habe aber bei meinem Problem auch zu Gott nicht viel Vertrauen.«

Dann rückt er raus mit der Sprache: »Mein Penis … ist vielleicht zu klein. Meine Freundin erwartet sicher bald Sex von mir, Österreicherinnen sind so, und wenn sie meinen Penis sieht und anfängt zu lachen, dann werde ich das mein Leben lang nicht verwinden … Und wenn ich nicht gut bin im Bett …, das wäre eine Katastrophe!« Mit niemandem habe er bisher darüber sprechen können, seine Freunde würden ihn sicherlich auslachen, wenn sie das wüssten, ihn vielleicht sogar aus dem Freundeskreis verstoßen. Er habe im Internet Pornos angeschaut, um herauszufinden, ob sein Penis normal sei – und das Ergebnis hätte ihn geschockt: »Die hatten alle ein viel größeres Ding als ich!«

Perfektionisten vergleichen sich gerne mit anderen. Und stürzen dann in schwere Krisen, wenn der Vergleich zu ihren Ungunsten ausgeht. Achmed F. sieht sich in seiner Liebesbeziehung in einem Wettbewerb, in einer Konkurrenzveranstaltung. Nur der Beste, Größte, Schönste ist gut genug, bei Mittelmaß droht eine Blamage. Dabei kann sich der Perfektionist – wie Herr F. – schon in quälenden Phantasien verirren, die sein Problem noch künstlich verstärken.

Es ist durchaus verständlich, dass sich Achmed F. für seine vermeintlichen körperlichen Unzulänglichkeiten schämt und darüber mit niemandem sprechen konnte. Doch genau dieses Schweigen ist der Grund, warum das Gespenst in seinem Inneren so groß werden konnte. Die erste Partnerschaft lässt die Anforderungen an sich selbst ins Exorbitante wachsen, was den jungen Mann endgültig in die Krise treibt. Starke Zweifel an der eigenen Körperlichkeit sind während der Pubertät recht häufig. Sie verschwinden aber normalerweise mit der Zeit. Unter ungünstigen Umständen – etwa wenn man aus Angst vor Blamage seine Probleme für sich behält – halten sie sich aber bis in das Erwachsenenalter hinein und können sich zu einer Krankheit auswachsen: zur sogenannten »körperdysmorphen Störung«.

Der psychische Apparat des Perfektionisten

Im Gegensatz zur gesunden Psyche weist der Perfektionist wirklich eine innere Unfreiheit und eine Kausalität auf, die an einen physikalischen Mechanismus erinnern. Was diesen »Psychoapparat« antreibt, ist die panische Angst vor der eigenen Fehlerhaftigkeit. Vor allem, wenn diese Fehler für andere sichtbar sind. Perfektion ist bei ihm Mittel zum Zweck: seine Masche, seine Fassade, seine Maske, hinter der er sich versteckt. Das ist wohl das größte Zahnrad der Maschine: die Angst. Eine Angst, bei der man keinen Boden mehr unter den Füßen hat, die der Realität nicht mehr ins Auge blicken kann, die schreckliche Ausmaße phantasiert und nicht mehr den Mut aufbringt zum Realitätscheck. Eine Angst, die so immer mehr ins Irrationale abgleitet, immer weniger formulierbar und damit immer weniger vernünftig widerlegbar ist. Die Zähne dieses Rades hemmen das Fortkommen, verklemmen den Menschen und verhindern das Leben in all seiner Fülle, die lebendige Menschlichkeit geht verloren. Alfred Adler spricht vom »Lebensirrtum«.

In der Tiefe der perfektionistischen Brust findet sich ein ganzes Zahnradgetriebe: die unbewusste, nicht ausformulierte Angstphantasie vor Liebesentzug bei Fehlleistung. Das ist der psychodynamische Background der Angst vor Fehlern. Das Rad des Liebesverlusts dreht wiederum am Rad der Angst vor sozialer Ausgrenzung – »Keiner mag mich mehr«. Die totale Ausgrenzung – in unserem Uhrwerk funktioniert ja alles nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip – ist definitiv die Hölle auf Erden: ein weiteres Zahnrad. Damit stellt der Fehler – jetzt sind wir ganz im Inneren des Uhrwerks – eine existenzielle Bedrohung dar und muss unter allen Umständen vermieden werden. Dieses Rad der Bedrohung bewegt wiederum fünf Zahnstangen, die aus dem Psychoapparat des Perfektionisten herausragen und weithin sichtbar sind: Verbissenheit, Besserwisserei, Beratungsresistenz, Humorlosigkeit und Übergriffigkeit, die allesamt vom Bedrohungsrad in schwindelnde Höhen hinaufreguliert werden und Beziehungen erschweren. Damit passiert genau das, was der Perfektionist eigentlich vermeiden möchte.

Spannend ist dabei, dass das enorm große, zentrale Zahnrad – die Angst um sich selbst – vom Perfektionisten in der Regel gar nicht bewusst wahrgenommen werden kann. Es ist die Angst, nicht zu genügen, nicht geliebt zu werden, nicht zu gefallen, abgelehnt zu werden. Angst, keine Existenzberechtigung zu haben, wenn man nicht pausenlos Tadelloses, Bewundernswertes und Außergewöhnliches leistet. Die Angst verdichtet sich zum irrationalen inneren Dogma, das handlungswirksam wird. Das innere Dogma ist nicht verbalisierbar und damit auch nicht auflösbar. Es lautet: Liebe muss durch Leistung verdient werden.

Erstaunlich ist, dass so ein riesiges Zahnrad – groß wie das Riesenrad im Wiener Prater – einfach unter den Tisch fallen kann! Aber es handelt sich bei diesem großen Zahnrad eben um eine verdrängte Emotion, die unerkannt im Bauch arbeitet. Überdimensional dreht sich das Rad unentwegt um sich selbst, bewegt so die anderen Zahnräder und prägt das Fühlen, Denken und Handeln. Das Riesenrad mit dem Namen Angst-um-sich-selbst ist der zentrale Antrieb. Diese Angst gelangt ohne Psychotherapie meist nicht über die Wahrnehmungsschwelle. Dadurch bleibt sie ungebremst, verursacht eine stete innere Unruhe und verengt das Leben des Perfektionisten.

Der Perfektionist leidet darunter, sein Ziel nicht sofort zu erreichen. Er hat einen Horror vor potenziellen Fehlern, panische Angst davor, »aufzufliegen«, kritisiert und in Frage gestellt zu werden. Es steigt der innere Druck: Unzufriedenheit, Selbstverachtung und Verbitterung sind die Folgen. All das wird nun aber logischerweise auch an die Umgebung weitergegeben. Der Perfektionist will ganz sichergehen, nur ja keinen Fehler zu machen. Vor lauter »Sicherheit« geht das Leben verloren, wie bei der Braut, die sich nicht traut (Fall 1-1). Das ist ein Circulus vitiosus, ein Teufelskreis: Angst und Sicherheitsstreben verstärken sich gegenseitig. Das Bessere ist für ihn der Feind des Guten. Der Perfektionist verachtet sich ob seiner Mittelmäßigkeit selbst. Das kann bis zur Selbstzerfleischung führen. So entwickelt er sich zum notorischen Pessimisten und vielfach auch zum Querulanten. Ein Perfektionist kann mit eigenem und fremdem Scheitern nicht umgehen: Entweder er verdrängt seine Fehler, oder er entwickelt pathologische, das heißt krankhafte Schuldgefühle.

Perfektionismus ist ein inneres Denkschema, das mit der Zeit das gesamte Denken und Fühlen des Menschen ausfüllt. Deswegen wird der Perfektionismus auch handlungs- und beziehungswirksam. Viele Perfektionisten erkennen irgendwann, dass sie ihren eigenen Ansprüchen an sich selbst nicht genügen, und wollen daher umso wirkungsvoller ihren Nachwuchs perfektionieren. Sie wollen sich in ihrem Kind verwirklichen, gemäß der Gleichung: Ein perfektes Kind lässt auf perfekte Eltern zurückschließen. Oder, noch verschärft: Nur wenn das Kind perfekt ist, haben die Eltern nicht versagt. In einer solchen Familienkonstellation schlittert der Sohn von Dorothea P. in eine Situation, in der niemand mehr Herr der Lage ist:

FALL 1-3: Der hilflose Hochstapler

Die 55-jährige Mutter Dorothea P. kommt mit ihrem 30-jährigen Sohn Friedrich zum Psychiater. Die Mutter öffnet pünktlich um 16:00:03 Uhr die Tür zwischen Warteraum und Therapiezimmer nach einem kurzen und resoluten Klopfen und ohne aufgerufen worden zu sein. Bestimmt betritt sie das Zimmer, hinter ihr schleicht der Sohn wie ein Schatten herein. Fast hätte sie sich auf den Therapeutensessel gesetzt, doch der Psychiater kann sie noch freundlich auf die Couch umlenken.

Die nächste halbe Stunde spricht die Mutter. Die anwesenden Männer hören zu. Der Sohn müsse krank sein, verrückt, geisteskrank oder schizophren. Oder eine Persönlichkeitsstörung haben. Die Aufgaben des Arztes seien, dies herauszufinden und ihn zu heilen. Der Sohn – ein Einzelkind – sei immer ein guter Schüler gewesen. Natürlich habe sie täglich mit ihm gelernt und die Aufgaben kontrolliert. Bis zum Abitur.

Jedenfalls habe er danach das Medizinstudium angefangen. Zwei Semester später habe er auch noch Pharmazie begonnen, um seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Die Mutter hatte ihm das schon länger vorgeschlagen. Nun, die Jahre vergingen, die Studien verzögerten sich, und der Studienabschluss kam und kam nicht zustande. Irgendwann wurde es dem Vater – der zu diesem Zeitpunkt zum ersten Mal erwähnt wird – zu bunt, und er stellte klar, dass er vom 30. Geburtstag an alle Zahlungen einstellen werde. Glücklicherweise wurde der Sohn aber doch noch rechtzeitig fertig. Die Diplomarbeit wurde noch schnell von der Mutter höchstpersönlich Korrektur gelesen, und der feierlichen Promotion stand nichts mehr im Wege.

Dorothea P. aktivierte alle ihre Freundinnen – es hatte ja schon Gerede gegeben! – und reservierte den großen Saal im weltberühmten Wiener Hotel S. 80 Namen standen auf der Gästeliste, die den Jungarzt feiern wollten. Die Mutter rief am Tag der Promotion sicherheitshalber noch im Rektorat an und vernahm, o Schreck! – Friedrich stand nicht auf der Liste! Schließlich stellte sich heraus, dass der Sohn beide Studien nach dem vierten Semester abgebrochen und seine Eltern acht Jahre lang getäuscht hatte. Er sei wohl in der Früh außer Haus gegangen und habe beim gemeinsamen Abendessen zu dritt erfundene Geschichten von der Uni aufgetischt. Friedrich sagt jetzt zum ersten Mal auch etwas: »Stimmt!«

Mit Mühe kann der Psychiater Frau P. davon überzeugen, dass die weitere Therapie unter vier Augen effektiver sei als unter mütterlicher Aufsicht. Auch von einer nachträglichen Berichterstattung an die Mutter riet der Psychiater ab, obwohl Frau P. sehr darauf insistierte, dass das dem Sohn sicher nichts ausmachen würde. Lange schauen sich die beiden Männer nur schweigend an, nachdem die Mutter wieder draußen Platz genommen hat und die schallgeschützte Tür ins Schloss gefallen ist. Dann beginnt der junge Mann zu erzählen: »Ja, ich habe denen das alles vorgemacht, über Jahre. Krank? Ich weiß nicht. Das, was ich getan habe, ist nicht normal. Es ist mir völlig klar, dass das nichts Gutes ist, was ich da anrichtete. Aber ich bin halt zu blöd für das Studieren, ganz besonders für zwei so schwere Studien. Ich habe auch immer wieder Signale gesendet, aber Mama wollte die nie wahrnehmen. Sie wollte halt so gerne einen Arzt als Sohn.«

Angefangen habe alles mit einem »nicht genügend« im dritten Semester. Die Mutter habe einen Wutanfall bekommen, ihm Vorwürfe gemacht, ihn zur Rede gestellt, wie das nur passieren konnte. Daraufhin entwickelte sich beim Sohn eine massive Prüfungsangst, die Angst vor einem Blackout. Die habe er seiner Mutter anvertraut, aber die habe nur den Druck erhöht und ihn mit dem Auto mitleidlos bis vor die Institutstür gefahren. An diesem Tag – er weiß noch das Datum – habe sich in ihm ein Schalter umgelegt. Er sei ganz souverän zum Professor gegangen, habe um Verzeihung gebeten, dass er den Test nicht ablegen könne, weil er unpässlich sei. Der Professor habe verständnisvoll reagiert. Die folgenden zwei Stunden habe er auf der Toilette verbracht, dann habe er seiner Mutter im Auto ganz gelassen ins Gesicht gelogen. Von dem Tag an habe sich seine Prüfungsangst ins Unerträgliche gesteigert. Er wusste keinen Ausweg mehr zwischen der Angst, den mütterlichen Ehrgeiz zu enttäuschen, und der Angst, geprüft zu werden. Die Jahre seien die Hölle gewesen, der Tag der Promotion sei ein einziger Super-GAU. Aber jetzt sei er erleichtert. Am liebsten würde er jetzt eine Ausbildung an einer Krankenpflegeschule beginnen.

Er hänge sehr an seiner Mutter und wollte sie nie enttäuschen. Umso schmerzhafter sei die jetzige Situation. Sie hätte sich von ihm immer Bestleistungen ausbedungen. Wenn er eine gute Note nach Hause brachte, so hätte sie das immer in der ganzen Verwandtschaft herumposaunt. Die schlechten Noten nahm sie als persönlichen Affront. Da sie selbst Lehrerin sei, habe sie seinen Schulerfolg penibel überwacht. Sie sei nach seiner Einschätzung Perfektionistin, das zeige sich auch deutlich in ihrem Haushalt. Zwei Wochen vor einem Besuch würde sie zu putzen anfangen. Sie überlege lange und rede dann laut mit sich selbst, was sie kochen solle – denn das Essen müsse perfekt sein.

Seine Mutter habe jeden seiner Misserfolge stets als persönliche Niederlage erlebt. Dann kämen Vorwürfe: Du hättest dich vor der Prüfung eben nicht mit dem oder jenem treffen dürfen, hättest keinen Alkohol trinken sollen und Ähnliches mehr. Sie habe ihren Sohn ständig mit den Söhnen ihrer Bekannten verglichen, »die das Studium richtig ernst meinen und das Wochenende durchlernen«. Nur einmal sei sie wirklich mit ihm zufrieden gewesen: als er ihr seine Absicht ankündigte, ein Zweitstudium zu beginnen – nachdem er es ein Jahr zuvor noch kategorisch abgelehnt hatte.

Friedrich P.s Selbsteinschätzung der Situation: »Anfangs standen Schwäche und Bosheit im Vordergrund, später konnte ich nicht mehr anders.« Und: »Die Unlustvermeidung ist vorherrschend in mir. Durch meine Lügen konnte der Perfektionismus meiner Mutter nicht von der Realität in die Schranken gewiesen werden, so war dieser schrankenlos. Noch heute empfinde ich eine große emotionale Abhängigkeit von meiner Mutter – das Abnabeln hat nicht funktioniert.«

Da für Perfektionisten das Gute nie gut genug ist, erhöht Dorothea P. den Erwartungsdruck auf ihren willensschwachen Sohn immer weiter. Die Ansprüche werden bald unerreichbar, und erste Anzeichen des überspannten Bogens werden von ihr aggressiv abgewehrt. Frau P. kämpft unbewusst um ihre eigene Integrität: Ein mittelmäßiger Sohn bedeutet eine gescheiterte Mutter! Dieses Fallbeispiel macht markant deutlich, dass es in dieser Familienkonstellation nicht Täter und Opfer gibt, nicht Schuldige und Unschuldige, sondern nur noch zwei Getriebene und Unfreie, die nicht mehr agieren, sondern nur noch reagieren. Für beide hat sich der Handlungsspielraum so weit verengt, dass nur noch die Katastrophe Erleichterung schaffen kann. Für diese passt auch der griechische Begriff »Katharsis«, der – nach der Definition in der Tragödie bei Aristoteles – die Reinigung von aufgestauten Affekten bezeichnet. Das Durchleben von Schrecken und Schauder bewirkt eine Läuterung der Seele und ermöglicht einen Neuanfang. Hier stimmt das tradierte Wort: »Die Wahrheit macht frei.« Erschütternd, zu sehen, dass Frau P. die jahrelange Tragödie nicht wahrhaben wollte – weil »nicht sein kann, was nicht sein darf«.

Das SOLL-IST-MUSS-Schema

Perfektion stellt ein unerreichbares, aber sinnvolles Ziel dar. Wer keine hohen Ziele hat, keine hohen Ideale, keine »hohen persönlichen Standards«, ist genau der bemitleidenswerte Spießer, den Nietzsche so verabscheut. Perfektion ist notwendig: Die Vollkommenheit anzustreben ist sinnvoll. Um das Mögliche zu erreichen, muss man das Unmögliche anvisieren. Die alten Seefahrer haben auf ihren Wegen immer den Polarstern angepeilt. Von keinem wurde berichtet, dass er ihn erreicht hätte, aber wahrscheinlich hat das auch keiner erwartet.

In mancher Ratgeberliteratur zum Thema Perfektionismus wird das Kriterium der Unerreichbarkeit herangezogen, um die Übertriebenheit hoher Ansprüche einzuschätzen. Es gilt nach dieser Auffassung als neurotisch, sich etwas Unerreichbares vorzunehmen. Dieses Konzept ist kurzsichtig, denn es beinhaltet die Gefahr, den Menschen auf kleinbürgerliche Ziele und billige Durchschnittlichkeit zu reduzieren. Viele Entdecker und Erfinder wurden vor ihrer Entdeckung beziehungsweise Erfindung als Utopisten abgetan. Mitunter zeigt sich erst nach dem Tod eines Menschen die Genialität oder Größe seiner Vision.

Sprechen wir statt vom Kriterium der Unerreichbarkeit lieber vom SOLL-IST-MUSS-Schema. Das IST steht hier für die Realität des Betroffenen im Hier und Jetzt. Das IST ungeschminkt erkennen zu wollen, bedarf mitunter einigen Mutes. Zum Beispiel: »Ich sage oft nicht die Wahrheit.« Das SOLL repräsentiert das Ziel: Dort, wo man im Moment noch nicht ist, aber hinwill, weil man selbst es für gut und erstrebenswert erkennt. Sein eigenes SOLL wählt man frei – und ist selbst dafür verantwortlich. Es kann nicht vom Psychotherapeuten vorgegeben oder bestimmt werden. Um im Beispiel zu bleiben: »Auf mich muss Verlass sein – ich sollte stets die Wahrheit sagen.« Das SOLL ist also das Ideal, das über dem IST als Orientierungspunkt schwebt. Zwischen den beiden besteht ein mehr oder weniger großer Abstand, eine natürliche Spannung, mit der der Mensch auf dreierlei Arten umgehen kann:

Ein psychisch gesunder Mensch erträgt die SOLL-IST-Diskrepanz als eine natürliche, befruchtende und lebendige Spannung. Er weiß ohnehin, dass er noch nicht perfekt ist, dass nicht alles rundläuft in seinem Leben, dass es noch Baustellen gibt, dass er noch kein makelloser Heiliger oder ruhmreicher Held ist. Aber er kann damit gut leben. Er bemüht sich mit einer ruhigen Gelassenheit, sich in die Richtung des SOLL zu bewegen, sich zu bessern, sich zu ändern. Er entscheidet sich etwa, dass er fleißig, hilfsbereit und tolerant sein, sich gesund ernähren und ein wenig Sport treiben will. Er bemüht sich auch nach Kräften, aber ohne Verbissenheit. Das SOLL hat die sinnvolle Funktion, ein Wachstum des IST-Zustands zu bewirken und damit das Potenzial des IST zu realisieren. Allerdings ist das nur möglich, wenn es sich über dem IST befindet. Wer hoch hinauswill, braucht ein hohes SOLL. Je höher das SOLL, desto mehr kann das IST daran wachsen. Normen, die sich eine Gesellschaft selber gibt, gehen von einem unerreichbaren Ideal aus, haben aber den Sinn, den Menschen in eine bessere und verträglichere Richtung zu lenken.

Der »finale Spießer« – frei nach Nietzsche – hingegen hat aufgegeben. Für ihn hängen die Trauben einfach zu hoch. Er lässt sich gehen und unterlässt alle weiteren Schritte auf das SOLL hin, das mit der Zeit immer mehr verblasst. So wird er zu einem »pragmatischen« Menschen ohne Ideale. Er entscheidet sich, dass er sich nicht um Dinge wie Fleiß, Hilfsbereitschaft oder Toleranz bemühen »kann«, ernährt sich mit Fastfood und fährt schon zur nächsten Hausecke mit dem Auto. Er bemüht sich um nichts mehr, sein Leben passiert ihm, »Idealismus« ist für ihn der Wahn der Jugend. Wer sein SOLL auf das IST nivelliert, wer also stets mit dem zufrieden ist, was ihm ohne jede Anstrengung in die Hände fällt oder in den Mund wächst, der wird im Laufe der Zeit mit immer weniger zufrieden sein müssen. Denn das IST sinkt ohne eine Ausrichtung am SOLL immer weiter ab: faul – stinkfaul – zu faul zum Stinken.

Der Perfektionist wiederum hält die an sich sehr fruchtbare SOLL-IST-Spannung absolut nicht aus. Unter keinen Umständen! Die Spannung zerreißt ihn, er muss sie sofort beenden, koste es, was es wolle. So muss das SOLL sofort zum IST werden, und damit mutiert es zu einem starren und unerbittlichen MUSS: ein innerer kategorischer Imperativ, der keinerlei Abweichung duldet. So wird das Leben unlustig, verbissen und unerträglich schwer. Der Perfektionist missversteht die Unerreichbarkeit eines hohen Ideals als ständigen Vorwurf, noch nicht ideal zu sein. Wenn das SOLL zum MUSS wird, blockiert dieser Anspruch die Freiheit zur Weiterentwicklung und wird zum Zwang, das Unmögliche zu erreichen. Dieses MUSS ist die Quadratur des Kreises und macht dem Menschen ungesunden Stress – das wird in der Psychologie »Disstress« genannt. Eine reizvolle Herausforderung (das SOLL) nennt man im Gegensatz dazu »Eustress« – »guten« Stress.

Es ist nicht richtig, dass zu hohe Ansprüche an sich selbst krank machen. Nicht ein »zu hohes« SOLL ist das Problem des Perfektionisten als vielmehr ein Nichtaushalten der SOLL-IST-Spannung. Der Perfektionist leidet darunter, dass er – mit dem Bild der genannten Seeleute gesprochen – noch nicht am Polarstern ist. Die Spannung zwischen dem SOLL und dem IST ist für ihn unerträglich, weil sie als fürchterlicher und vernichtender Vorwurf erlebt wird, dem er nichts entgegenzusetzen hat.

Weil im perfektionistischen Denken das lebendige SOLL zum starren und unbarmherzigen MUSS wird, hat der Perfektionist zwei Möglichkeiten, die Spannung abzubauen. Beide Varianten sind unpraktisch und belasten seine Beziehungsfähigkeit:

a. Entweder er verdrängt die persönliche Diskrepanz zwischen dem IST und dem MUSS aus seinem Bewusstsein – das wäre die klassische Fehlerverdrängung –, daraus resultieren Besserwisserei, Beratungsresistenz und Halsstarrigkeit. Denn wer vor seinen Fehlern den Kopf in den Sand steckt, erwartet keinesfalls, dass ihn jemand anderer auf ebendiese freundlich aufmerksam macht.

b. Oder der Perfektionist reduziert das MUSS auf sein subjektives IST herunter, indem er dessen Wert und Ansprüche aggressiv abwertet. (»Der Staat ist ungerecht, deswegen kann ich ruhig Steuern sparen.«) Eine allergische Reaktion auf die allgemeine Normengebung (wie eben die Steuergesetzgebung) ist die Folge, weil damit die Selbstgerechtigkeit des Perfektionisten in Frage gestellt wird. Jedes für ihn schwer erfüllbare SOLL wird also subjektiv als Bedrohung erlebt, als »Drohbotschaft«. Doch die menschliche Gesellschaft braucht ein allgemeines Regelwerk für ihr Zusammenleben. Normengebung ist auch ein Prozess der Zivilisierung und Kultivierung des Menschen: Ohne sie gälte in der Gesellschaft das darwinistische »Recht« des Stärkeren, und das wäre wirklich traurig.

Hingegen schafft der Perfektionist – ironischerweise – jede Menge an neuem MUSS, das einzuhalten ihm schwerfällt oder nicht, das er aber auf jeden Fall unerbittlich von seiner Umgebung einfordert. Das fehlende Binnen-I etwa wird so für manchen zur moralischen Tragödie, während der eigene Ehebruch nicht so schwer wiegt und doch von den hinterwäldlerischen Spießern bitte nicht so undifferenziert verurteilt werden möge.

Perfektionistischer Idealismus

Perfektionisten sind ideale Menschen oder, besser gesagt, sie glauben, es sein zu müssen. Religiöse Perfektionisten möchten in dieser Denkart gerne Engel sein: Fehler-, makel- und leiblos möchten sie am liebsten dahinschweben und kopfschüttelnd dem wilden Treiben der Normalsterblichen zuschauen. Wenn ein religiöser Perfektionist mit seiner leiblichen Realität konfrontiert wird, dann kann Folgendes passieren:

FALL 1-4: Die bedrohliche Unausweichlichkeit

Der 25-jährige Priesteramtskandidat Oskar L. kommt zum Psychiater. Er leide an Anfechtungen bezüglich des sechsten Gebotes, also der Keuschheit. Es baue sich ein sexueller Gedanke auf, und je mehr er ihn unterdrücken wolle, desto stärker werde dieser. Es sei beschämend, dass ihm, Oskar L., so etwas mit seiner spirituellen Reife passiere, wo er doch so knapp vor der Priesterweihe stehe. Er habe Angst, dass etwas passieren könnte, dass er etwas tun könnte, was er gar nicht wolle. »Bei der Sexualität will ich nahezu ein Perfektionist sein.« Das Ganze komme aber so wellenartig, das mache ihn ganz ratlos.

Auch erlebte Oskar L. sich aufdrängende Vorstellungen, er könne etwas sehen – auf der Straße, im Fernsehen, in der Zeitung usw. –, wo dann Masturbation »unausweichlich« sei. Zudem habe er Angst, homosexuell, bisexuell, pädophil oder sonst irgendwas »Abnormes« zu sein.

Der Perfektionist produziert viele seiner Probleme selbst. Oskar L. macht Erfahrungen, die für jeden Mann – für jeden Menschen! – völlig normal sind. Aber für ihn bricht eine Welt zusammen, denn seine sexuellen Phantasien sind ja der leibhaftige Beweis, dass er kein Engel ist, keine unbefleckte Empfängnis. Gelassenes Wahrnehmen der Bauchgefühle – ohne notwendigerweise mit dem Herzen zuzustimmen – wäre ein sehr viel effektiverer Weg hinaus aus der Enge gewesen. Aber wenn Enge mit Enge beantwortet wird, dann entsteht der Skrupel: neurotische Schuldgefühle, Zwangsgedanken, bei denen eine Fehleinschätzung der eigenen Schuld vorliegt. Der religiöse Neurotiker verwechselt gerne Versuchung mit Sünde, und die Botschaft »Niemand kommt unversucht ins Himmelreich« verhallt bei ihm ungehört. Die Tatsache, in Versuchung zu geraten, ist für ihn schon ein fürchterliches Scheitern und ein Zeichen seiner Verderbtheit.

Angst davor, irgendetwas Bestimmtes zu sein, ist aber schon fast ein Beweis dafür, dass man genau das eben nicht ist. Die junge Mutter, die plötzlich die Panik überfällt, sie könnte ihrem Kind etwas antun, würde genau das niemals machen. Aber der Gedanke wirkt für sie so bedrohlich, dass sie ihn mit aller Gewalt wegzudrängen versucht. Genau dieses krampfhafte Wegdrängen – »Denken Sie ja nicht an einen rosaroten Elefanten!« – macht die Vorstellung erst mächtig und omnipräsent. Oskar L. ist über seinen unrealistischen Selbstanspruch gestolpert.

Perfektionisten wollen, dass alles um sie herum funktioniert. Der eigene Körper (Fall 1-2), die eigene Zukunft (Fall 1-1). Das Auto, das Haus, die Klimaanlage, die Kinder (Fall 1-3) usw. müssen makellos sein. Je näher an der eigenen Person, desto wichtiger ist das problemlose Funktionieren, wenn es sich um einen ichbezogenen Perfektionisten handelt. Was schon sehr nahegeht, ist die eigene Sexualität und damit die moralische Integrität eines Oskar L. (Fall 1-4). Was aber noch näher geht, ist das eigene Denken, wie der nächste Fall zeigt.

Viele Perfektionisten – und ausschließlich diese – bereiten die erste Therapiestunde beim Psychiater so vor, dass sie ihm seitenlange E-Mails über sich selbst schicken, die er dann vorab zu lesen und vorzubereiten hat. In die Stunde kommen sie dann mit der Frage: »… und was hab ich jetzt?« Diese E-Mails sind, bei entsprechender Länge, auch schon ohne den Inhalt zu kennen, ein deutlicher diagnostischer Hinweis auf Perfektionismus. Alfred M. beginnt, sein eigenes Denken zu beobachten und zu kontrollieren, und es beängstigt ihn, dass er nicht jeden Gedanken genau einordnen kann. Je mehr er kontrolliert, desto schlimmer wird die innere Anarchie. Dann beginnt er, im Internet Diagnosen zu suchen, die er schließlich in seine Selbstbeobachtungen einbaut:

FALL 1-5: Gedanken wie ein junger Hund

Der 27-jährige Philosophiestudent Alfred M. übermittelt dem Psychiater vor der ersten Sitzung per E-Mail folgende Informationen:

»Ich glaube, meine Behandlung wäre zielführender, wenn ich Ihnen meine Probleme schriftlich übermittle, und Sie stellen mir dazu Fragen. Denn ich bin nicht immer in der Lage, klare Gedanken zu fassen. Ich habe meine Gedanken nicht unter Kontrolle. Ständig analysiert mein Verstand alles, und ich habe keine Ruhe. Aufgrund dessen, dass er ständig denkt, denke ich nichts anderes mehr als Gedanken. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen und tue mir schwer, etwas zu machen. Ich schaue keine Nachrichten und lese keine Zeitungen mehr, denn ich muss darauf achten, dass mein Verstand nicht viel Nahrung bekommt. Ich lebe zurückgezogen, isoliert, auch muss ich darauf achten, mit wem ich mich treffe und was ich mit Personen rede. Wenn mein Verstand erst mal Tempo aufgenommen hat, ist es die Hölle, die nicht zu stoppen ist. Alkohol hilft, damit es aufhört. Leider vertrage ich den aber nicht.

In meinem Verstand sind kommentierende dialogisierende Stimmen, die, wenn sie mal ein Thema haben, nicht mehr aufhören. Die Gedanken sind immer negativer Art. Ich kann mir schlecht Namen merken, Zahlen dafür recht gut. Überhaupt habe ich ein schlechtes Gedächtnis, und es fällt mir schwer, etwas zu lernen, mich zu konzentrieren. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem wunderbaren Restaurant, haben sehr gut gegessen, gehen raus in den hauseigenen Garten, rauchen eine Zigarette und genießen Ihren Kaffee. Alles ist wunderbar, die Natur, das Plätschern des kleinen Teichs, das Einzige, was nicht passt, ist des Nachbarn Kreissäge. Die läuft immer und lässt Ihnen keine Ruhe. So geht es mir mit meinen Gedanken. Ich bin an den wundervollsten Plätzen, habe alles, was ich brauche, und noch mehr. Aber leider kann ich mein Leben nicht genießen, kann nicht glücklich sein, weil da ständig dieser Lärm in meinem Kopf ist. Durch mein weitläufiges Denken erscheint mir alles sinnlos zu sein.