Selber schuld! - Raphael M. Bonelli - E-Book

Selber schuld! E-Book

Raphael M. Bonelli

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Beschreibung

Heute verdrängen wir nicht mehr Sexualität, sondern Schuld: Klopft das Schuldgefühl an der Türe des Bewusstseins, geben wir schnell die heiße Kartoffel an andere weiter. Eltern, Lehrer, Ehepartner – alle sollen schuld sein, nur damit wir uns nicht schuldig fühlen müssen. Beim Wiener Psychiater Raphael M. Bonelli legt sich die Unschuld auf die Couch. An vielen Fällen aus seiner Praxis zeigt er: Fremdbeschuldigung und Selbstmitleid machen unfrei, bitter und oft auch wirklich krank. Der korpulenten Patientin ist klar: »An meinem Gewicht ist meine Familie schuld!« Der Ehemann schiebt den Seitensprung, bei dem er ertappt wurde, seiner bigotten Umgebung in die Schuhe, denn: »Ein gesunder Mann braucht das!« Und der überführte Dopingsünder sieht sich als Opfer der Medien. Bonellis Therapievorschlag lautet: Persönliche Schuld erkennen und selbst Verantwortung für das eigene Tun übernehmen. Wer zu einem schmunzelnden "Selber schuld!" bereit ist, kann auch leichter anderen verzeihen.

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Raphael M. Bonelli

Selber schuld!

Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen

Knaur e-books

Über dieses Buch

Schuld sind immer die anderen!

Immer mehr Menschen tun sich heute schwer, Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen. Sie sehen sich als Opfer widriger Umstände und suchen die Schuld für ihre Probleme immer bei anderen – bei der quälenden Ehefrau, den undankbaren Kindern, den strengen Eltern, dem unmöglichen Chef, den mobbenden Kollegen, den gemeinen Schwiegermüttern … – aber nie bei sich.

Das ist die Erfahrung des Wiener Psychiaters Raphael M. Bonelli aus seiner psychiatrischen Praxis und deshalb hat er ein zeitkritisches Buch über Schuld und Schuldbewältigung geschrieben: »Wir haben weitgehend verlernt zu erkennen, dass wir an vielem in unserem Leben selber schuld sind! Wir haben aber einen freien Willen und sind über weite Strecken unseres Glückes Schmied.«

Mit Augenzwinkern beschreibt er notorische Schuldverdrängung und die inflationäre Vermehrung von Opferlämmern als Zeitgeistphänomene. Die eigene »Makellosigkeit« lässt nicht zu, dass man zu seinen Fehlern steht. Stattdessen wird alles Belastende verdrängt.

Verdrängung allein aber macht bekanntlich nicht glücklich, auch nicht die Verdrängung eigener Schuld. Die Opferrolle lenkt in seelische Sackgassen, wird zum Lebensirrtum. Sie lähmt und führt zu Passivität und Unfreiheit, weil man in ihr selbst nichts mehr ändern kann. Das Lebensschiff wird damit manövrierunfähig und der Mensch verbittert. Oft erweist sich in solchen Situationen auch eine Psychotherapie als wenig hilfreich, dann nämlich, wenn Schuldgefühle nicht ernst genommen, sondern gar »pathologisiert« werden, um sie anschließend wegzutherapieren.

An vielen Beispielen aus seiner Praxis zeigt Bonelli auf, wie wichtig es für ein gelingendes Leben ist, dass wir unsere Schuld erkennen, sie anerkennen und die Verantwortung für unser Tun übernehmen. Denn wer sich als fehlerhaft akzeptieren kann, der ist auch in der Lage, anderen zu verzeihen. Neuere Studien aus den USA bestätigen, dass Schuldbewältigung Einsicht und Entscheidung voraussetzt: Ja, ich bin selber schuld!

Inhaltsübersicht

MottoExpertenstatements aus Psychologie, Psychotherapie, Psychiatrie, Philosophie, Sexualwissenschaft, Theologie und SoziologieEinführungTeil I1. KapitelHeinrich Faust auf der Couch2. KapitelEbenezer Scrooge auf der Couch3. KapitelFranz Moor auf der CouchTeil II4. KapitelGregorius auf der Couch5. KapitelRichard York auf der Couch6. KapitelMichael Kohlhaas auf der CouchTeil III7. KapitelAnton Hofmiller auf der Couch8. KapitelRodion Raskolnikow auf der Couch9. KapitelJean Valjean auf der CouchLiteratur
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Gewidmet allen Gescheiterten – auf dass ihr Scheitern Frucht bringe

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Expertenstatements aus Psychologie, Psychotherapie, Psychiatrie, Philosophie, Sexualwissenschaft, Theologie und Soziologie

 

 

Dipl.-Psych. Heiko Ernst, Chefredakteur von »Psychologie heute«:

Bonelli führt uns auf die einfache, aber fundamentale Wahrheit zurück, dass jeder einen freien Willen hat und sich zwischen Gut und Böse entscheiden muss.

 

 

Univ.-Prof. Dr. Rotraud Perner, Donau-Universität Krems, Psychoanalytikerin:

Raphael Bonelli gelingt es, in einer Zeit, in der sich kaum jemand mehr mit den Lasten von Schulden, Schuldgefühlen und echter Schuld auseinandersetzen will, ohne erhobenen Zeigefinger, dafür mit liebevollem Schmunzeln, Wegweiser durch den Gefühlsdschungel zu sein.

 

 

Univ.-Prof. DDr. Martin Rhonheimer, Pontificia Universitas Sanctae Crucis in Rom, Philosoph:

Aus dem Leben gegriffen und für das Leben geschrieben: Raphael Bonellis Buch »Selber schuld!« ist eine genussvolle Lektüre voller überraschender und hilfreicher Einsichten, klug und witzig, gelehrt und tiefschürfend. Der Leser lernt sich selber besser kennen und wird motiviert, an sich zu arbeiten. Empfehlenswert für alle, die bereit sind, über den eigenen Schatten zu springen und dabei die wahre Freiheit zu entdecken.

 

 

Prim. Dr. Samuel Pfeifer, Akademie für Psychotherapie und Seelsorge, Psychiater:

Bonelli packt mit spitzer Feder ein Tabuthema der Psychotherapie an. Hier ist ein neues Standardwerk zum un­verkrampften, aber nicht weniger ernsthaften Umgang mit der Schuldfrage, die unsere Patienten in vielfältigen Schattierungen in die Sprechstunde bringen. Ein provozierendes, aber auch ein weises Buch mit vielen Ideen zu originellen therapeutischen Deutungen und Interventionen. Ein »must« für jeden, der therapeutisch oder seelsorglich tätig ist.

 

 

Prof. Dr. Gerti Senger, Österreichische Gesellschaft für Sexualforschung:

Für all das, was einem im Leben widerfahren ist und was man selber »verbockt« hat, immer nur einen Sündenbock zu suchen, ist zu einfach. Natürlich ist es schwierig und schmerzhaft, Verantwortung für etwas zu übernehmen, was irgendwann einmal ohne eigenes Zutun aus dem Gleich­gewicht geriet. Schuldzuweisungen sind zwar bequem, aber Konfliktlösungen, Wachstum und eine gesunde Lebensperspektive sind in der »Ich-bin-nicht-schuld-Zone« nicht vorgesehen.

 

 

Univ.-Prof. DDr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Technische Universität Dresden, Philosophin:

Blitzlichter über Abgründen von Lust, Angst und Schuld. Und noch dazu: ein Wegweiser voller Humor! Bonelli trifft ins Schwarze, sowohl sachlich als auch sprachlich. Sigmund Freud dreht sich im Grabe um – oder freut sich, wenn er souverän ist! Besonders hübsch ist die Zeichnung der cholerischen Nichte. Ansonsten ein ziemlich sumpfiges Gelände, in dem der Autor Drainagen einzieht.

 

 

Univ.-Prof. Dr. Walter Pieringer, Medizinische Universität Graz, Tiefenpsychologe:

Selber Schuld! – Eine erfrischende Lossagung vom mitteleuropäischen Sadomasochismus. Der zentrale, neurotisch machende Komplex »nur ja nicht schuldig zu werden«, findet in dieser Anthologie eine herzliche Beleuchtung. Der Nervenarzt und Psychotherapeut Raphael M. Bonelli hat in feinfühliger Sprache, mit wertvollen Einsichten und anschaulichen Beispielen kluge Argumente für das befreiende persönliche Schuldbekenntnis vorgestellt.

 

 

Univ.-Prof. Dr. Alfred Pritz, Rektor der Sigmund Freud Universität (SFU), Psychoanalytiker:

Der SFU-Neurowissenschaftler Bonelli legt ein leicht les­bares Buch zum Schmunzeln vor. Es ist eine Freude, mit welcher Leichtigkeit er rezente neurologische Forschungsergebnisse mit psychotherapeutischen Erfahrungen und philosophischen Erkenntnissen scheinbar mühelos zu ­einem stimmigen Ganzen verknüpft.

 

 

Univ.-Prof. Dr. Doris Gruber, Medizinische Universität Wien:

Endlich ein Psychobuch, das etwas von Wissenschaft versteht! Der renommierte Neurowissenschaftler Bonelli zaubert ein Buch hervor, in dem er sich nicht hinter unverständlichem Fachjargon und unzähligen Zitaten versteckt, sondern unverschämt und humorvoll seine provokante Ent­deckung formuliert: Heute verdrängen wir nicht mehr Sex, sondern Schuld. Wie recht hat er mit diesem Tabubruch!

 

 

Univ.-Prof. Dr. Peter Hofmann, Medizinische Universität Graz, Psychiater:

Respekt, da traut sich einer gegen den Wind zu pfeifen – und zwar mit liebevollem Humor und einer gehörigen ­Portion Weisheit gegen die eingefahrene Korrektheit. Ein Wiener Nervenarzt und Psychotherapeut, der den Wiener Nervenarzt und Psychotherapeuten Sigmund Freud vom Kopf auf die Füße stellt! Bonelli ist der neue Watzlawick: Sein Buch kann vielen Menschen eine große Hilfe sein.

 

 

Univ.-Prof. Dr. Hildegunde Piza-Katzer, Medizinische Universität Innsbruck:

Man fühlt sich beim Lesen des Buches von Bonelli fast ­getrieben, eine »Geschichte« nach der anderen zu lesen, man lächelt und staunt und hält sie nicht für wahr … Auf der Straße allerdings ertappte ich mich nach dieser Lektüre schon mehrmals fragend – ist das einer jener, der …? Spannend, sich im humorvoll gestylten Spiegel wiederzuerkennen!

 

 

Univ.-Prof. Dr. Günter Schiepek, Forschungsinstitut für Psychotherapieforschung, Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg:

Die geläufige, aber in der Psychotherapie(geschichte) weitgehend »verdrängte« Unterscheidung zwischen Schuldgefühl und Schuld eröffnet dem Leser sowohl eine psychologische wie eine existenzielle Dimension der umfassenden Thematik – und vermeidet damit einen psychologisierend-reduktiven Blick nur auf die Seite der Schuldgefühle. Umso erfrischender sind die psychologischen Analysen der vielfältigen Facetten des Phänomens, wobei der Autor aus reichem Praxis- wie Fachwissen schöpft. Angereichert durch viele Fallbeispiele und aufbereitet mit Humor und Sprachwitz, zuweilen mit karikierenden Überzeichnungen, bereitet das Buch ein echtes Lesevergnügen.

 

 

Univ.-Prof. Dr. Kurt Kardinal Koch, Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, Rom:

Raphael Bonellis Analysen befreien den Menschen aus dem Elend des Perfektionismus und von der trügerischen Suche nach Selbsterlösung. Es ist erfrischend zu sehen, wie die Psychotherapie helfen kann, sich selbst ungeschminkt zu sehen und dadurch den verstellten Blick nach außen – und hoffentlich auch nach oben – wieder freizubekommen. In diesem Werk erweist sich Raphael Bonelli als ein Psychiater mit Fachkompetenz, feinem Humor und philosophischer Tiefe.

 

 

Dr. Fuat Sanac, Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich:

Die psychologische Erkenntnis von Professor Bonelli, zuerst einmal vor der eigenen Türe zu kehren, bevor man den anderen die Schuld gibt, ist für mich ein wertvoller Beitrag zum toleranten Umgang miteinander. Ich habe Bonelli als ehrbaren Streiter im Kampf gegen Xenophobie und religiöse Intoleranz kennengelernt und beglückwünsche ihn von Herzen für dieses menschenfreundliche Buch.

 

 

Univ.-Prof. Dr. Christoph Kardinal Schönborn, katholischer Erzbischof von Wien:

Verdrängte Schuld macht unfrei, ja psychisch krank. Eine schmerzliche Erfahrung, die der Psychiater Raphael M. Bonelli an vielen Fallbeispielen glaubwürdig belegt: Könnten wir auf diesem Weg nicht auch das beinahe vergessene Sakrament der Beichte wiederentdecken? Wer seine persönliche Schuld annimmt, wird es als befreiend erfahren, dass sie auch bewältigt und vergeben werden kann.

 

 

Dr. Michael Utsch, Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Berlin:

Mit der typischen Direktheit des Wiener Schmäh hat Bonelli ein provozierendes Buch über die Grenzen der Psychotherapie vorgelegt. Die zahlreichen alltagsnahen Fallgeschichten aus seiner psychiatrischen Praxis belegen, dass mit Hilfe von Psychotherapie die Ursachen seelischer Störungen verständlich werden können. Am Beispiel der Beichte verdeutlicht der Autor darüber hinaus die wohl­tuenden Effekte religiöser Rituale, die unter bestimmten Bedingungen eine Psychotherapie sinnvoll ergänzen können. Ein anregendes Plädoyer für mehr Zusammenarbeit zwischen Psychotherapeuten und Seelsorgern!

 

 

Univ.-Prof. Dr. Reinhard Haller, Gerichtspsychiater:

Als Gerichtspsychiater blicken wir oft hinter die biedere Fassade von Jedermännern: Das Böse steckt in jedem von uns, ob wir das nun zugeben wollen oder nicht. Ich bin Raphael M. Bonelli dankbar, dass er dieses Thema aus psychodynamischer Sicht mit viel Sprachwitz aufrollt und so dem Menschen Handlungsspielraum zurückgibt. Nur wer für die eigene Schuld nicht systematisch andere verantwortlich macht, wird gemeinschaftsverträglich.

 

 

Univ.-Prof. Dr. Manfred Prisching, Österreichische Akademie der Wissenschaften:

Wir haben es alle gelernt: Der Einzelne ist an nichts schuld, schuld sind immer die anderen. Meist wird nicht wahrgenommen, wie entwürdigend eine solche Deutung für die einzelnen Menschen ist. Ihnen wird nichts zugetraut. Sie sind dumm, hilflos, unselbständig, entscheidungsunfähig, Fähnchen im Wind, bloße »Objekte« des Geschehens. Sie sind nicht einmal zur Schuld fähig. Weil sie zu nichts fähig sind. Bonelli gibt den Menschen die Schuld zurück. Und damit ihre Würde.

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Einführung

Die Unschuld auf der Couch

Über Sex zu sprechen ist heute kein Problem mehr, weder in Therapien noch in Talkshows. Kann schon sein, dass Wien in den Tagen Sigmund Freuds unheimlich verklemmt war und alles Sexuelle fürchterlich verdrängt hat. Im Wien meiner Tage ist das definitiv nicht der Fall. Aber über eigene Fehler sprechen – das geht gar nicht. Nichts ist so intim wie die eigene Schuld. Die Abwehraggression bei dem Thema ist deutlich spürbar, besonders auffällig natürlich bei Paartherapien, bei denen jeweils »Unschuld« auf Beschuldigung prallt. Die peinlichen Verrenkungen, um offensichtliche Fehler zu verleugnen, sind bemerkenswert. Wir verdrängen unsere Schuld, weil sie letztlich Schmerz bedeutet und wir Angst vor Schmerz haben. Viele Menschen tun sich heute schwer, die Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen, und haben sich ein entlastendes Erklärungsmuster von Fremdbeschuldigung und Selbstmitleid zurechtgelegt. Fast jeder sieht sich als Opfer. Dieser Mechanismus ist aber der seelischen Gesundheit nicht förderlich, denn das Opferdasein ist eine psychodynamische Sackgasse, die in der Fachliteratur immer häufiger als »Opferfalle« beschrieben wird. Ändern können wir nur ganz selten die anderen, aber immer uns selbst.

Hiermit sei klargestellt, dass »Selber schuld!« als bewusste therapeutische Provokation zum Nachdenken anregen möchte; ein Herzensanliegen, das direkt aus der Praxis in die Feder geflossen ist – quasi aus der Hüfte geschossen. Und auch eine Portion Selbsterfahrung enthält. Es geht in diesem Buch nicht darum, sich selber fertigzumachen und sich selber womöglich noch krankhafte Schuldgefühle aufzubauen, sondern darum, den persönlichen Handlungsspielraum zu vergrößern.

Der systemische Psychotherapeut Paul Watzlawick, der wie Arnold Schwarzenegger aus Österreich stammte und in Kalifornien zu Weltruhm kam, schreibt in seiner heiter-ironischen »Anleitung zum Unglücklichsein«:

»Schön – man steht schuldbeladen da, man hätte es damals besser wissen sollen, aber jetzt ist es zu spät. Damals sündigte man, jetzt ist man das Opfer des eigenen Fehltritts: Ideal ist diese Form der Unglücklichkeitskonstruktion freilich nicht, nur passabel. Suchen wir daher nach einer Verfeinerung.

Was, wenn wir am ursprünglichen Ereignis unbeteiligt sind? Wenn uns niemand der Mithilfe beschuldigen kann? Kein Zweifel, dann sind wir reine Opfer, und es soll nur jemand versuchen, an unserem Opferstatus zu rütteln oder gar zu erwarten, dass wir etwas dagegen unternehmen. Was uns Gott, Welt, Schicksal, Natur, Chromosomen und Hormone, Gesellschaft, Eltern, Verwandte, Polizei, Lehrer, Ärzte, Chefs oder besonders Freunde antaten, wiegt so schwer, dass die bloße Insinuation, vielleicht etwas dagegen tun zu können, schon eine Beleidigung ist. Außerdem ist sie unwissenschaftlich. Jedes Lehrbuch der Psychologie öffnet uns die Augen für die Determinierung der Persönlichkeit durch Ereignisse in der Vergangenheit, vor allem in der frühen Kindheit. Und jedes Kind weiß, dass, was einmal geschehen, nie mehr ungeschehen gemacht werden kann. Daher, nebenbei bemerkt, der tierische Ernst (und die Länge) fachgerechter psychologischer Behandlungen.«

Was Watzlawick da 1983 launig auf den Punkt brachte, ist heute, dreißig Jahre später, zur Pandemie geworden: Fremdbeschuldigung, Selbstmitleid, proklamierte Opferidentität – und eine steigende Zahl humorloser Therapeuten. Auch der Hinweis auf die angebliche Wissenschaftlichkeit der eigenen Meinung und die damit schon vorausgesetzte Unwissenschaftlichkeit jeglichen Rüttelns am Opferstatus ist zum Volkssport geworden. Heute wie damals haben die meisten keine besondere Ahnung, was »die Wissenschaft« wirklich sagt, aber die bloße Behauptung unterstreicht so schön die eigene Position. Die Täterliste Watzlawicks ist lang – und bestimmt fallen uns da unschwer noch mehr Bösewichte ein. Die alle eines gemeinsam haben: Es sind die anderen, die, auf die man mit dem Finger zeigen kann. Die die ganze Schuld auf sich nehmen müssen, damit wir bleiben können wie wir sind: makellos und fehlerfrei.

 

Dieses Buch ist von einem Neurowissenschaftler, Psychiater und Psychotherapeuten geschrieben worden. Deswegen soll in der Einführung die klassische psychiatrische Krankheitslehre als Leitfaden verwendet werden, um systematisch Auftrag und Grenzen dieses Buches zu klären. Es werden zumeist drei Ursachen für psychisches Leiden genannt, die oft kombiniert auftreten. Erstens die sogenannten endogenen Störungen, bei denen der Hirnstoffwechsel durcheinandergeraten ist. Da kann niemand etwas dafür, weder der Betroffene noch seine Eltern, noch die Umwelt – nicht einmal die Lehrer. Also kann man bei einer endogenen Depression dem Leidenden auch nicht sagen, er möge sich doch endlich ein wenig zusammenreißen. Ebenso wenig kann man den Eltern die Schizophrenie ihres Kindes vorhalten, wie es leider in manchen psychotherapeutischen Schulen über lange Jahre irrigerweise gemacht wurde. Der Mensch ist krankheitsanfällig von der Wiege bis zum Grab, und eine dieser möglichen Krankheiten betrifft eben die Botenstoffe im Gehirn. Diese Störungen sind in diesem Buch ausdrücklich kein Thema.

Der zweite Grund, warum jemand psychisch leiden kann, sind die sogenannten reaktiven Störungen. Hier geht es um eine psychische Reaktion auf eine Traumatisierung, in deren Folge sich eine posttraumatische Belastungsstörung oder eine Anpassungsstörung entwickeln kann. Das Trauma kann ohne Schuld irgendeines Menschen aufgetreten sein – etwa durch Naturkatastrophen wie ein Erdbeben – oder durch eigene oder fremde Schuld ausgelöst werden. Fremde Schuld wäre etwa eine Vergewaltigung oder ein Raubüberfall mit Verletzung des Opfers. Eigene Schuld wäre beispielsweise ein durch überhöhte Geschwindigkeit selbst verschuldeter Verkehrsunfall, bei dem jemand ernsthaften Schaden erleidet. Das wollte man nicht: so etwas kann man sich selbst oft nur schwer verzeihen. Auch diese psychischen Störungen sind in dem vorliegenden Buch nicht gemeint.

Die dritte Dimension des subjektiven Leids wird in den klassischen alten Lehrbüchern so anschaulich »neurotische Entwicklung« genannt. Hier verheddert sich das Ich in sich selbst, der Mensch kreist mehr und mehr um sich. Perfektionismus, Ichhaftigkeit, Wehleidigkeit, Sentimentalität, Opfergejammer und Selbstmitleid können die Folge sein. Es entwickelt sich mitunter eine zunehmende Angst um sich selbst. Selbsterkenntnis wird angstvoll vermieden. Schuldige für das eigene Leiden werden außerhalb seiner selbst gesucht. So wird die Schuld im Sinn einer Fremdbeschuldigung wegprojiziert, die Angst scheinbar gebannt. Die neurotische Lebenseinstellung vergiftet das menschliche Zusammenleben und die persönliche Lebensqualität. Genau diese Mechanismen werden in diesem Buch zur Sprache gebracht. Hier greift das Sprichwort »Wie man sich bettet, so liegt man«. Aufgrund der Opfermentalität und der ausgeprägten Fremdbeschuldigung können die Betroffenen aus Fehlern nicht klug werden.

 

Die Psychotherapie tut sich mit der Schuldfrage schwer. Während viele Kollegen durchaus behutsam mit dem Thema umzugehen vermögen, macht es sich eine nicht unerhebliche Minderheit leicht, indem sie die Schuld kurzerhand wegerklärt und Fehler nichtanwesenden Dritten in die Schuhe schiebt (siehe die oben zitierte Täterliste von Watzlawick, die beliebtesten Prügelknaben dafür sind noch immer die Eltern). Das bedeutet aber, dass der Patient in Opferfalle und Fremdbeschuldigung steckenbleibt. In meinem Medizinstudium ließ ein erfahrener Oberarzt einmal in der Psychiatrievorlesung augenzwinkernd ein launisches Bonmot fallen, das Aufmerksamkeit erregte: »Nach einer Psychotherapie machen die Leute dasselbe wie vorher – nur ohne schlechtes Gewissen.« Nach lautem Lachen machte sich unter uns Studenten Nachdenklichkeit breit: Redet die Psychotherapie dem Patienten wirklich nur das schlechte Gewissen aus? Dass in dieser humorvollen Übertreibung ein Körnchen Wahrheit steckt, konnte ich in der Zwischenzeit an einigen traurigen Patientenschicksalen feststellen. Mir scheint fast, wir haben kollektiv unser Schuldbewusstsein verloren oder versuchen es krampfhaft auszumerzen wie eine schwere Krankheit. Dabei liest man ja fast täglich von seelischen Grausamkeiten, von fürchterlichen Tätern – aber das sind eben ausnahmslos die anderen! Therapeuten können ein Lied davon singen: Viele Patienten werden in der Arbeit gemobbt, aber keiner mobbt. Viele werden von ihrem Partner schlecht behandelt, aber keiner behandelt seinen Partner schlecht. Aggressive Fremdbeschuldigung ohne Selbstkritik macht aber mit der Zeit beziehungsunfähig. Manche Kollegen spielen das Spiel dieses Selbstbetruges mit – möglicherweise auch aus persönlichem Unvermögen, mit der eigenen Schuld richtig umzugehen. Dann wird aus der Therapiestunde eine konspirative Sitzung, aus dem Therapeuten ein Verbündeter und aus der Psycho-Sprache eine Kampfrhetorik, die den Partner ins Eck drängt und zum Täter umdeutet. Die erhöhte Scheidungsrate von Psychotherapeuten könnte durchaus in diese Richtung gedeutet werden.

In meiner (übrigens auch systemischen) Psychotherapieausbildung hatten wir jede Menge »Selbsterfahrung« zu absolvieren, zum Teil unter vier Augen mit einem erfahrenen Lehrtherapeuten, zum Teil in kleinen und größeren Gruppen. Dabei hatte jeder der gesamten Kollegengruppe im »vertraulichen Rahmen« von seinen intimen Seelenbewegungen zu berichten. Erwünschte und willkommene Themen waren etwa Zoff mit den Schwiegereltern, Rosenkriege, besser aber noch Ehebrüche oder Sexualphantasien. Nur damit Sie sich etwas vorstellen können. Ich entschied mich in einer dieser Sitzungen, es muss um das Jahr 1995 gewesen sein, eine persönliche Schuld preiszugeben. Mir war schon vor dem Erzählen eigentümlich klar, dass ich damit mit dem Feuer spiele und einen Tabubruch wage, dass das da jetzt nicht hingehört – und hatte gleich nach vollbrachter Tat das Gefühl, etwas definitiv Falsches gesagt zu haben. Und das ist nun in einer Runde von Psychos auf dem Selbsterfahrungstrip wahrlich nicht leicht. Denn wie kann man etwas Falsches sagen, wenn es eigentlich nichts Falsches gibt? Es war auch nicht die Sache an sich, denn wir waren ja »offen für alles«. Nein, es war mein exponiertes Schuldbewusstsein, das die staunende Gruppe verwirrte und verstörte. Das war neu! Das war, gelinde gesagt, unüblich. Ja, wahrscheinlich und ziemlich sicher war es auch unprofessionell. Und auf jeden Fall war es unerwünscht. Die Gruppenleiterin rettete die peinliche Situation: Empathisch neigte sie sich mir zu und flüsterte, mir fachfrauisch tief in die Augen blickend – und ich meine mich zu erinnern, dass sie mich dabei auch an der Hand gefasst hat: »Raphael, du bist nicht schuld, du hast es damals nicht besser gekonnt. Kannst du das annehmen?« Jetzt wiederum war ich erstaunt. Eben weil ich besser gekonnt hätte, weil ich das Gute hätte tun können und mich für das Schlechte entschieden hatte, deswegen hatte ich ja Schuldgefühle! Ich erinnere mich nur dunkel, wie die Gruppenstunde weiterging. Aber mir ist bis heute das schale Gefühl geblieben, mit dieser Antwort nicht ganz ernst genommen worden zu sein. Ich wurde mit meinen Schuldgefühlen als Mensch nicht verstanden, sondern auf einen »psychischen Apparat« reduziert, der nicht richtig funktioniert und deswegen eine Fehlermeldung (das Schuldgefühl) produziert. Ich bin jedenfalls dankbar für diese Selbsterfahrungsgruppe. Denn ich habe damals tatsächlich etwas selbst erfahren.

Manchmal werden wir Psychotherapeuten vom Klienten gefragt: »War das jetzt gut, was ich getan habe? Oder war es schlecht?« Ich weiß nicht, wie da Kollegen antworten. Meine Standardantwort jedenfalls lautet: »Gnädige Frau bzw. mein Herr, Sie befinden sich in dieser Praxis in einer moralfreien Zone. Es kann nicht meine Aufgabe sein, Ihre Handlungen moralisch zu beurteilen.« Die »moralfreie Zone« ist für die Therapie wichtig, denn das Betrachten von Handlungsmustern ohne moralische beziehungsweise moralisierende Einengung ermöglicht oft einen ungetrübten Blick auf die Fakten, die durch ängstliche Selbstzuschreibungen (»Ich bin doch ein guter Mensch, also kann nicht sein, dass …«) sonst verschleiert würden. So weit befinde ich mich da also noch im psychotherapeutischen Mainstream. »Das bedeutet nicht«, fahre ich dann zudem üblicherweise fort, »dass nicht alle Ihre Handlungen auch eine moralische Dimension haben, aber die besprechen Sie besser mit einem Seelsorger.« Moralische Werturteile stehen dem Psychotherapeuten nicht zu. Dazu soll – je nach Glaubenszugehörigkeit – ruhig der Pfarrer, der Rabbiner oder der Imam verhelfen. Aber erlebte eigene Schuld als solche auszusprechen – das muss doch auch in einer Therapie möglich sein, ohne dass sofort der Psychologisierungsreflex eintritt und Schuld zum neuronalen Kurzschluss oder zu einem soziologischen Dominoeffekt degradiert wird – und anschließend wegoperiert.

 

Der Buchtitel »Selber schuld!« ist natürlich irritierend, das gebe ich zu. Diese Irritation ist durchaus beabsichtigt. Denn nach vielen Jahrzehnten der therapeutischen Exkulpierung müssen diese Ideen wie ein Tabubruch wirken. Nochmals: selbstverständlich ist man nicht an allen psychischen Störungen, die die gängigen internationalen Klassifikationen auflisten, »selber schuld«. Dieses Buch will – das proklamiere ich hiermit feierlich – kein Allheilmittel sein für alle Formen der Psychotraumatologie als Folgen von z.B. sexuellem Missbrauch, Vergewaltigung, Raubmord, Betrug, Entführung, Flugzeugabsturz, Erdbeben, Tsunami und anderen Greueln. Diese und ähnliche Fälle sind definitiv nicht gemeint und inhaltlich zur Gänze ausgeschlossen. Es gibt sie natürlich, die Opfer von menschlicher Bosheit und Ungerechtigkeit – aber auch sehr viele Menschen, die sich von fortgeschobener Schuld endlich befreien können, indem sie in ihr den eigenen Anteil erkennen.

Ich sehe schon jetzt die moralische Entrüstung des einen oder anderen Lesers voraus, wenn er die humorvolle Aufarbeitung eines so ernsten Themas in die falsche Kehle bekommt. Er möge geneigt zur Kenntnis nehmen, dass Humor Teil meines Therapie-Repertoires ist und deswegen in diesem Werk oft mitschwingen wird. Wenn ich einen Sachverhalt leicht ironisiere, bedeutet das selbstverständlich nicht, dass ich mich über einen Patienten oder sein Leid lustig mache. Viele der hier beschriebenen Probleme kommen aus konkreten Lebensgeschichten, bei denen wir – der Patient und ich – durch das Verlachen des Symptoms eine neue innere Freiheit geschaffen haben. Wer über sich lachen kann, der nimmt sich nicht mehr selber so fürchterlich ernst. Angst und Enge können sich lösen. Das Symptom wird entmachtet. Humor schafft Freiheit, weil er Selbstdistanz ermöglicht.

Alle 45 in diesem Buch beschriebenen Fälle sind authentisch. Allerdings sind sie ausnahmslos in den biographischen Daten zum Patientenschutz so verändert, dass ein Erkennen und Identifizieren unmöglich ist. Manchmal wurden aus diesem Grund zwei oder mehr ähnliche Schicksale in eine Geschichte verpackt. Die Fälle stellen meist keine psychodynamische Entwicklung dar, sondern eine Momentaufnahme zur Veranschaulichung des im Fließtext theoretisch Abgehandelten. Damit sind die Fälle auch nicht als Therapieberichte zu verstehen. In Fall 30 mischt sich ein von Michael Linden publizierter Fall mit einem österreichischen Schicksal, Fall 29 ist wie bezeichnet zur Gänze übernommen, Fall 13 ist ein öffentlich bekannter Fall aus den USA, der deswegen auch mit Realnamen beschrieben wird.

In all diesen Fällen geht es um ernste Fragen. Wie gehen wir mit Schuld und mit unseren Schuldgefühlen um? Wie mit erlittenem Unrecht? Was ist die gesündeste Weise, mit Verletzungen und Demütigungen zurechtzukommen? Ziehen wir uns in die innere Emigration zurück? Gehen wir zum Therapeuten? Oder zum Seelsorger? Und was sollen die dann mit uns machen? Sind Groll, Verbitterung oder Rache unausweichliche Reaktionen, um damit psychisch fertigzuwerden? Ist Verzeihung möglich? Sind wir von unserem Temperament oder gar von neurobiologischen Mechanismen derart determiniert, dass von wirklicher Freiheit in unseren Gedanken und in unserem Tun gar keine Rede sein kann? Dieses Buch versucht Antworten auf all diese Fragen. Es handelt deshalb von der Schönheit der menschlichen Freiheit, die wir trotz unserer Schwäche haben, von der Verantwortung, die wir für unser Handeln tragen, und von der überwältigenden Möglichkeit, unsere Fehler einzugestehen und wiedergutzumachen. Die Schuldannahme bewirkt einen Freiheitsgewinn und macht durch laufende Kurskorrektur ein geglücktes Leben möglich. Das Buch handelt schließlich von der Wende des Herzens – weg von der Selbstbeweihräucherung hin zum Du und damit zu einem sinnvollen und geglückten Leben.

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Teil I

Die Schuld als Problem

1. Kapitel

Warum es so schmerzhaft ist, Mist zu bauen

Heinrich Faust auf der Couch

Jeder baut mitunter Mist, macht Fehler und lädt Schuld auf sich. Das ist ein steter schmerzhafter Stachel im Fleisch, der zum menschlichen Leben gehört. Nur Tiere werden nicht schuldig und machen auch keine Fehler. Deshalb ist der geglückte oder missglückte Umgang des Menschen mit seiner Schuld ein dominantes Thema der Weltliteratur und der Kunst. Schuld und Sühne ist ein Thema in der Geschichte, in der Politik und in der Wirtschaft. Schuld und Sühne ist ein Thema in der Rechtsprechung und in der Philosophie. Schuld (und selten auch Sühne) ist ein Thema der sensationslüsternen Boulevardpresse. Schuld ist sogar ein Thema im Sport, wie die Rote Karte des Schiedsrichters beweist. Hand aufs Herz – das menschliche Zusammenleben ist immer ein Geben und Nehmen: Man wird an uns schuldig – und wir werden an anderen schuldig. Darum muss Schuld auch ein Thema in der Psychotherapie sein – und nicht nur verdünnt als Schuldgefühl.

Warum sich der Mensch mit seiner Schuld schwertut, ist schnell erklärt. Schuld ist schmerzhaft. Besser gesagt: unverdrängte Schuld ist schmerzhaft, weil sie den Menschen daran erinnert, dass seine Handlungen nicht seinen eigenen Prinzipien entsprechen. Und weil Schuld beängstigend ist, drängt man sie so gerne ins Unbewusste ab, und ist danach an der Oberfläche wieder schmerzlos fehlerfrei. Das Kratzen an dieser makellosen Fassade ist damit bedrohlich – weil man etwas zu verstecken, sozusagen Leichen im Keller hat. Die Verdrängung der eigenen Schuld ist übrigens der Normalfall – es bedarf eines aktiven Bemühens, seiner eigenen realen Schuld im Rahmen einer Selbsterfahrung oder einer Gewissenserforschung ins Auge zu blicken. Dieses suchende Bemühen setzt das Bewusstsein voraus, dass man selbst fehleranfällig ist. Und das fehlt heute vielen.

Heinrich Faust baut Mist

In Johann Wolfgang Goethes »Faust« verstrickt sich der Held immer tiefer in Probleme. Er lässt sich aus reiner Neugier, Langeweile und Lebensüberdruss auf die Ratschläge des Mephistopheles ein, der sofort das erhebliche Defizit an Selbstverwirklichung aufdeckt. Ein Liebestrunk à la Viagra forte macht aus dem verkopften Intellektuellen einen wagemutigen Latin Lover. Keine Frage, Faust hat viel zu lange seine Triebe unterdrückt, das ist definitiv ungesund! Gleich darauf begegnet Faust dem jungen, unschuldig-naiven Gretchen, das gerade von der Beichte kommt. Er entbrennt ob der pharmakologischen Unterstützung in heftiger Leidenschaft und verspürt das dringende Bedürfnis nach Triebentladung (Faust zu seinem Kumpel Mephisto: »Hör’, du musst mir die Dirne schaffen!«). Der hilfsbereite Mephisto unterstützt ihn einfühlsam (Mephisto zu Faust: »Mit Sturm ist da nichts einzunehmen. Wir müssen uns zur List bequemen.«). Mit teuflischen Tricks baggert Faust nun die bigotte Unschuld an, indem er sie mit Schmuck und Schmeicheleien beeindruckt. Das ist ihre Schwachstelle. Gegenüber der Nachbarin Marthe ist Faust sogar bereit, einen Meineid zu schwören, um an sein Triebziel heranzukommen. Manchmal hat er Gewissenszweifel, es kommen da so komische Gedanken, dass er das Mädchen ins Unheil stürzen werde, dass seine Begierde sie verderben könnte. Aber er schiebt diese krankhaften Skrupel weg, lässt nicht ab von ihr: schließlich muss er sich endlich selbst verwirklichen! Und Gretchen will ja auch. Die ist nämlich in der Zwischenzeit auch ohne Medizin völlig hinüber und singt voller Sehnsucht am Spinnrad: »Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer …« Sie macht sich noch kurz Sorgen wegen seiner mangelnden Religiosität, lässt sich aber von Fausts pseudoreligiöser Rhetorik schnell einlullen.

Faust drängt sich in der Folge in ihre Schlafkammer, nachdem die beiden Turteltäubchen Gretchens Mutter mit einem Giftfläschchen ausgeschaltet haben, damit die von ihrem lustigen Treiben nichts hört. Die Schuldspirale dreht sich weiter, indem Faust mit Mephistos einfühlsamer Hilfe Gretchens Bruder im Zweikampf erdolcht. Gretchen sinkt weinend an der Seite ihres Bruders nieder, doch dieser weist sie sterbend zurück. Das ist der Super-GAU: Angsterfüllt und aufgewühlt von Schuldgefühlen wegen des Todes ihrer Mutter, des Todes ihres Bruders und ihrer unehelichen Schwangerschaft, stürzt Gretchen zum Dom, wo sie ohnmächtig zu Boden sinkt.

Faust hingegen flieht vor der Katastrophe, das ist alles viel zu belastend für ihn. Er lässt sich vom empathischen Mephisto zur Walpurgisnacht mitnehmen, um sich von seinem schlechten Gewissen abzulenken. Abstand gewinnen zur Traumabewältigung. Doch mitten in der Party überkommen ihn wieder diese lästigen und völlig überflüssigen Schuldgefühle wegen Gretchens Unglück. Die hat inzwischen in der Einsamkeit ihr Kind geboren, es in ihrer Verzweiflung ertränkt und wurde dafür in den Kerker geworfen. Nun soll sie als Kindsmörderin hingerichtet werden. Faust versucht, sie mit Hilfe des Mephisto zu befreien. Doch Gretchen will aus Sühne für ihre Sünden die Strafe annehmen. Reuig befiehlt sie sich der Gnade Gottes an: »Dein bin ich, Vater! Rette mich!« Es graut ihr vor ihrem früheren Liebhaber (»Heinrich, mir graut’s vor dir«) und seinen Taten. »Sie ist gerichtet!«, ruft Mephisto recht abgegrenzt. Doch aus der Höhe ertönt eine Stimme – »Ist gerettet!«. Das ist das ziemlich unlustige Ende von Faust I.

Die Dynamik bei meiner – zugegebenermaßen eigenwilligen – Faustinterpretation ist gekennzeichnet durch eine kraftvolle Ausblendung der Frage nach der Verantwortung, nach persönlicher Schuld. Kriterien sind die eigenen Bedürfnisse und die eigene Befindlichkeit. Rücksichtslosigkeit ist weniger direkt intendiert als eine logische Folge. Faust schiebt vor allem die Schuldfrage weg. Das ist angesichts der Dramatik und des entstandenen Schadens erstaunlich. In der realen psychotherapeutischen Praxis des 21. Jahrhunderts sieht man aber häufig, dass diese Karikatur mitunter Fleisch annimmt. Die eigene Schuld und die eigene Verantwortung können durchaus in einem Grad weggeblendet und verdrängt werden, dass einem unbeteiligten Zuschauer schwindlig wird.

Faust verdrängt seine Schuld. Ist das nun so schlimm? Nun, dadurch, dass er seine eigenen Motive nur mangelhaft hinterfragen kann, reduziert er Gretchen tatsächlich auf ein Triebziel und handelt letztlich nach dem Motto »Der Zweck heiligt die Mittel«. Und der Zweck ist die eigene Befindlichkeit, das eigene Bedürfnis, die eigene Befriedigung. Eingeschlagene Handlungsstraßen können vom ihm nicht korrigiert werden, weil er sie nicht richtig zu interpretieren vermag und nicht abschätzen will, wohin sie führen. Faust wird durch seine Verdrängung skrupellos und unfähig, die dramatische Eskalation zu vermeiden. Leicht hätte er die beiden ersten Todesopfer verhindern können. Seine Rücksichtslosigkeit – insbesondere gegenüber Gretchen – gipfelt in seiner Flucht nach erfolgter Schwängerung, die sie in völlige Verzweiflung stürzt.

FALL 1: Herr Alfred G., ein 56-jähriger Mann, kommt zum Psychiater. Auf die Frage nach dem Überweisungskontext gibt er an, dass er auf »Befehl seiner Gattin« komme. Die halte ihn nämlich für sexsüchtig und wolle sich scheiden lassen, wenn er sich nicht schleunigst in Therapie begebe. Und für seine Ehe tue er alles, deswegen sei er da. Sie habe blöderweise ein paar Pornos auf dem Computer gefunden, die er mit anderen Frauen gedreht habe. Im Grunde nicht der Rede wert, schon ältere Sachen, er habe ja eigentlich schon alles gelöscht, er wisse gar nicht, wie sie noch etwas habe finden können. Er sei seit über 30 Jahren glücklich verheiratet und habe halt ab und zu die eine oder andere Affäre gehabt. Auf Nachfrage und nach umständlichen Überlegungen wird die Zahl der Frauen mit über 50 angegeben, mit denen teilweise jahrelange Verhältnisse gepflegt wurden. Früher habe er neben seiner Frau etwa sechs Gespielinnen parallel gehabt, das habe sich im Laufe der Jahre stark reduziert. Aber er sei immer sehr rücksichtsvoll mit seiner Frau umgegangen – denn er habe immer versucht, dass sie es nicht merke. Er liebe seine Frau nämlich über alles. Und das mit den anderen Frauen, das seien nur so körperliche Sachen, nichts Ernstes, da habe er schon aufgepasst. Sein Herz schlage nur für seine Ehefrau, da könne sich der Therapeut sicher sein. Deswegen wolle Herr G. auch die Scheidung nicht. In der Zwischenzeit habe er sich ohnehin beruhigt und bis auf zwei Damen alle Affären beendet. Nein, schlechtes Gewissen habe er eigentlich nicht. Wortwörtlich: »Ich bin ja ein anständiger Mensch. Ich habe niemanden umgebracht und niemanden betrogen …« Seine Freunde würden ihm alle bestätigen, dass es ohnehin keinen Mann gebe, der seine Frau nicht betrüge; die würden alle fremdgehen, »obwohl die auch (sic!) alle gute, brauchbare Menschen« seien. Seine Selbsteinschätzung: »Ich bin halt ein lustiger, gepflegter und sportlicher Typ, deswegen laufen mir die Frauen nach.« Später: »Ich hätte ja noch mehr Auswahl, aber man kann in jeder Hinsicht übertreiben, das würde dann massiv auf Kosten meiner Frau gehen, das würde mir gar keinen Spaß mehr machen, da hätte ich auch keine Zeit, weil ich oft zu Hause sein will, nein, eine Frau muss bei mir schon was Außergewöhnliches haben, damit ich zugreife.« Mit den außerehelichen Beziehungen aufzuhören, sei für ihn »fast undenkbar«, aber er wolle nichts mehr riskieren, und es sei ihm sehr, sehr wichtig, dass seine Frau nicht enttäuscht werde. Zum Thema Betrügen meint er: »Was ist überhaupt ›betrügen‹? Nur Geschlechtsverkehr? Das ist ja eigentlich nur eine sportliche Leistung, da sind keine Rückstände da … Viel schlimmer sind diese emotionalen Bindungen, und das würde ich niemals tun, dazu liebe ich meine Frau viel zu sehr.« Warum er an diesem riskanten Hobby hänge: »Ich will den Genen keine Schuld geben, aber wahrscheinlich sind sie’s. Es gibt Männer, die wenig an Frauen interessiert sind, Männer, die gar nicht interessiert sind, und welche, die sehr interessiert sind. Meine beiden Onkeln waren auch Weiberhelden – das soll natürlich keine Ausrede sein!« Zum Schluss die Selbstanalyse: »Ich bin nicht sexsüchtig, es macht mir einfach Spaß. Ich sage nicht: ›Das brauch ich unbedingt.‹ Das ist so wie Alkohol: Ich kann auch ohne Bier leben, ich trinke aber gerne eines … Ich habe kein Problem damit – meine Frau hat ein Problem mit der Situation …«

 

ANALYSE: Das Denken und die Selbstrechtfertigung des Alfred G. zeigen, welches Ausmaß Schuldverdrängung erreichen kann: Herr G. deutet sein Geheimhalten zur Rücksichtnahme um, zelebriert vor dem Therapeuten die Liebe zu seiner Frau, lobt sich als einer, der auf sein Herz aufpasse, und hält sich für anständig, weil er niemanden »betrogen« habe. Dabei übersieht er die Paradoxie seiner Aussage.

Die Verdrängung der Schuld

In den »Aufzeichnungen aus einem Kellerloch« schreibt Fjodor Michailowitsch Dostojewski 30 Jahre vor Freud: »Jeder Mensch hat Erinnerungen, die er nicht jedem erzählen würde, sondern nur seinen Freunden. Anderes, was er im Sinn trägt, würde er noch nicht einmal seinen Freunden erzählen, sondern nur sich selbst, und das heimlich. Aber dann gibt es noch andere Dinge, die sogar sich selbst zu erzählen er Angst hätte, und jeder anständige Mensch hat eine Reihe solcher Dinge tief in seinem Geist vergraben.« Dass dieser Dreischritt besonders für das Thema Schuld zutrifft, wird niemanden ernsthaft verwundern.

Dieses Phänomen der Verdrängung hat Sigmund Freud, der viele bahnbrechende Entdeckungen im menschlichen Seelenleben gemacht hat, wissenschaftlich beschrieben und theoretisch begründet. Mit »Verdrängung« bezeichnet die Psychoanalyse heute den wichtigsten Abwehrmechanismus, durch den tabuisierte und bedrohliche Inhalte und Vorstellungen von der bewussten Wahrnehmung des Menschen ausgeschlossen und ins Unbewusste abgedrängt werden. Oft handelt es sich bei verdrängten Inhalten um schmerzliche und ängstigende Erfahrungen, die von negativen Affekten begleitet werden.

Aber was genau sind tabuisierte und bedrohliche Inhalte und Vorstellungen, die Angst machen? Hier folgen heute nicht mehr alle Schüler ihrem Meister. Freud selbst meinte nämlich, der Mensch stoße bei der Verdrängung »den Trieb und dessen Vorstellungen« in das Unbewusste zurück und halte ihn dort fest. Die Verdrängung geschehe in den Fällen, in denen die Befriedigung des Triebes im Hinblick auf andere Forderungen Gefahr laufe, Unlust hervorzurufen. Welchen Trieb Freud meinte, ist heute jedem klar, der seine Schulpflicht halbwegs erfolgreich zu Ende gebracht hat: »Die Neurosen sind der Ausdruck von Konflikten zwischen dem Ich und solchen Sexualstrebungen, die dem Ich als unverträglich mit seiner Integrität oder seinen ethischen Ansprüchen erscheinen. Das Ich hat diese nicht ichgerechten Strebungen verdrängt.« Als Kurzformel: Neurose ist Verdrängung von Sexualität. Die theoretische Verabsolutierung der Sexualität bei Freud ist schon der Grund des inhaltlichen Auseinanderdriftens mit Alfred Adler und Carl G. Jung gewesen; schließlich hat Viktor Frankl den Begriff »Verantwortung« in das freudianische Modell eingebracht, um diesen Mangel zu ergänzen.

Wenn wir die Werke und darin besonders die Fallbeschreibungen Freuds aber genau lesen, stellen wir fest, dass auch bei Freud nicht jede Sexualität verdrängt wird, sondern nur schuldhaft erlebte Sexualität: etwa Inzest oder Ehebruch. Denn das wirklich Bedrohliche ist nicht die Sexualität, sondern die Schuld. Freud sagt dazu manchmal »verbotene Sexualität«. Das erleben Menschen heute nicht mehr so, deswegen muss Sex auch in der Jetztzeit nicht mehr verdrängt werden. Aber verdrängt wird heute mindestens noch genauso viel Angstmachendes und Bedrohliches wie damals: die eigene Schuld nämlich. In der Psychiatrie begegnet man heutzutage kaum noch Menschen, die Sexualität verdrängen. Sicherlich, manchmal sieht man auch solche Ausnahmeerscheinungen. Aber das sind Raritäten, von denen sich Psychiater am Stammtisch erzählen – freilich anonymisiert, keine Angst! Die Freudschen Fälle sind in Wirklichkeit fast ausgestorben. Es ist, besonders durch die Bemühungen der 68er-Bewegung, bei der Sexualität das moralische Sollen auf ein Minimum heruntergeschraubt worden. Dafür finden wir in den psychiatrischen Praxen eine Reihe von neuen Störungen in der Sexualität, insbesondere sexuelle Unlust, Frigidität und Impotenz aufgrund des erhöhten Leistungsdrucks – aber wie gesagt keine Sexualverdrängung mehr.

Freud beschreibt aber auch meisterhaft, dass das Verdrängte es gerne dunkel hat und keinesfalls zurück in den Scheinwerferkegel des Bewusstseins treten möchte: »Wenn man in der Therapie versucht, diese verdrängenden Regungen bewusst zu machen, bekommt man die … Kräfte als Widerstand zu spüren.« In der Tat: die Konfrontation mit der eigenen, verdrängten Schuld provoziert einen Widerstand, der von paralogischen Erklärungsversuchen bis zur Abwehraggression reicht. Je größer die Angst vor Schulderkenntnis, umso aggressiver die Abwehr. Die Schuldverdrängung wiederum paralysiert die Fähigkeit zur Selbstkritik und führt zur Skrupellosigkeit. Sie führt zu einer wachsenden Selbstentfremdung, verhindert persönliche Weiterentwicklung und reduziert den eigenen Handlungsspielraum, indem der nunmehr unbewusste innere Konflikt handlungsrelevant wird – insbesondere in der Abwehraggression. Anders formuliert: Handeln aus verdrängtem schlechtem Gewissen ist besonders irrational und für die anderen leichter durchschaubar als für den Betroffenen.

FALL 2: Der Psychiater hat als Gerichtsgutachter eine skurrile Begegnung: Er muss einen 16-jährigen Jugendlichen neurologisch begutachten, der aus Frust nächtens in einer dunklen Gasse 20 Autospiegel abgetreten hat. Der kleine Rowdy begrüßt den Arzt mit den Worten: »Ich sag’s Ihnen, ich werde die alle anzeigen, denn ich hab mir den Fuß verletzt, als ich auf die Autospiegel trat. Das kommt die teuer zu stehen!«

 

ANALYSE: Keine Frage, dass der junge Vandale wahrscheinlich eher einfach gestrickt ist. Aber gerade deswegen kommt hier plakativ heraus, dass man die eigene Schuld vollständig wegblenden kann und dass die konsekutive Fremdbeschuldigung – »Angriff ist die beste Verteidigung« – für Außenstehende ungewollt komisch wirkt.

Schuldbewältigung in der Straßenbahn

Fehler machen gehört – wie bereits erwähnt – zum menschlichen Alltag. Man wird an uns schuldig – und wir werden an anderen schuldig. Pausenlos. Das gesellschaftliche Zusammenleben hat im Laufe der Zeit eine Intervention entwickelt, die diesen allzu menschlichen Defekt entschärft und so den halbwegs friedlichen Umgang untereinander sicherstellt: das Entschuldigen. Dabei geht es nicht nur um gewollte Bosheiten, die entschärft werden müssen, sondern zunächst einmal um entstandenen Schaden. Der Selbstanspruch auf Fehlerlosigkeit verkompliziert das menschliche Zusammenleben, weil auf diese einfache Intervention nicht mehr zurückgegriffen werden kann. Machen wir eine gedankliche Turnübung: Stellen Sie sich bitte vor, Sie treten Ihrem Nachbarn in der überfüllten Straßenbahn auf die Füße. Das kann ja passieren. In allen Kulturen, die Straßenbahnen hervorgebracht haben, hat es sich eingebürgert, dass man sich nach einem solchen Vorfall kurz entschuldigt. Damit ist im Regelfall die Dissonanz zwischen Ihnen und Ihrem Opfer schon wieder geglättet. Wenn Sie sich aber nicht entschuldigen – weil Ihnen das peinlich ist oder weil Sie gerade ins Gespräch mit einer attraktiven Blondine vertieft sind oder weil Ihnen das SMS-Schreiben wichtiger ist oder weil Ihnen nie ein Fehltritt passiert, da Sie zur Gattung der fehlerlosen Perfekten gehören – dann bleibt doch etwas Unangenehmes zwischen Ihnen und dem Getretenen in der Luft.

Entweder Sie tun weiter so, als sei nichts gewesen – das wäre letztlich eine Lüge, die jeder durchschaut, denn die von Ihrem Schuhwerk malträtierten Zehen schmerzen ganz real. Oder Sie gehen gar in die Offensive und herrschen das Opfer an: »Machen Sie doch Platz, Sie sind nicht der Einzige in der Straßenbahn!« Damit kaschieren Sie Ihren Fehltritt. Angriff ist bekanntlich die beste Verteidigung. Dann könnte – je nach Temperament Ihres Opfers – ein wilder Streit entbrennen (Choleriker), Sie könnten Zusatzstunden beim Psychotherapeuten verursachen (Melancholiker), es könnte gar nichts passieren (Phlegmatiker) oder ein schlagfertiges Witzchen zurückkommen, bei dem die ganze Straßenbahn über Sie lacht (Sanguiniker). Mit dem kleinen Wörtchen »Verzeihung!« können Sie das alles vermeiden.

Es gibt nun einerseits ein Zuviel an Schuldgefühlen: Wenn Sie in der Straßenbahn einen Empathieanfall erleiden und dem Herrn ungebremst versichern würden, wie gut Sie sich jetzt in ihn hineinversetzen könnten, dass Sie zutiefst bereuen, seine Privatsphäre verletzt zu haben, dass er jetzt unbedingt jemanden brauche, mit dem er diese traumatisierende Schmerzerfahrung aufarbeiten könne, ob er da eh jemanden habe … Das wäre auch kein erfolgversprechendes Ausstiegsszenario, Sie würden Ihrem Opfer irgendwann kräftig auf die Nerven gehen.

Das andere Extrem wäre nun andererseits ein Zuviel an Selbstempathie: Sie erkennen blitzschnell »Ich konnte ja gar nicht anders«. Diese Feststellung untermauern Sie innerlich mit dem Hinweis auf die wirklich sehr enge Straßenbahn, die wirklich vielen Leute, die richtig großen Füße des anderen und dass der Herr auch wirklich blöd und provokant herumgestanden sei. Die Straßenbahn habe auch wirklich sehr wild geruckelt, eigentlich sollte die sich entschuldigen, und so weh tue das dann auch wieder nicht – da hätten Sie persönlich schon ganz anderes erlebt! Diese Wiener Linien, die in der Stoßzeit so wenige Züge auf die Gleise stellen würden! Derweil hätten Sie so viel für die Jahreskarte bezahlt! Und der Fahrer müsse auch nicht so abrupt abbremsen – habe den Führerschein wohl in der Lotterie gewonnen. Und der Verkehr: dass die Stadtverwaltung bis heute keine Lösung für so ein banales Problem habe? Es geht jetzt in erster Linie darum, wie es Ihnen geht, dass Sie Ihre Schuldgefühle in den Griff bekommen. Denn die stören nur, die gehören da nicht her. Wenn Sie dann statt einer Entschuldigung das Gespräch mit dem Opfer suchen und ihm einmal mitteilen würden (im Sinne eines »Sharings«)«, wie es Ihnen eigentlich so damit gehe, sich jetzt sogar als Täter fühlen zu sollen, dass Ihnen da jetzt von den gesellschaftlichen Konventionen ein schlechtes Gewissen gemacht werde wegen einer Lappalie, und ihm dann die acht erarbeiteten Erkenntnisse möglichst authentisch vermittelten – ich garantiere Ihnen, auch das käme nicht gut an! Da haben Sie reflexartig mindestens fünf Täter gefunden: den Mann mit den großen Füßen, die Straßenbahn, die Wiener Linien, den Fahrer, die Stadtverwaltung.

Machen wir noch eine zweite, ganz ähnliche Turnübung: Steigen wir in dieselbe Straßenbahn. Zufällig steht da wieder so ein Herr. Diesmal ist das aber der Typ, der Ihnen vor einem Monat die Freundin ausgespannt hat. Und der hat Sie noch dazu erst gestern ganz gemein angegrinst! Sie wittern die Chance zur Revanche, pirschen sich an, bleiben unentdeckt, warten den nächsten Stoß der ruckelnden Straßenbahn ab und »hoppla« – passiert es leider. Erschrocken drehen Sie sich um und sagen: »Oh, Entschuldigung, das tut mir jetzt aber sehr leid.« Jetzt haben wir die Dimension der Bosheit bei der äußerlich gleichen Tat. Der Mann versteht sofort und flüstert mit schmerzverzerrtem Gesicht ein Wort, das in diesem Buch nicht wiedergegeben werden kann.

Sie haben sich »entschuldigt«, aber das gilt natürlich nicht. Im ersten Moment sind Sie richtig befriedigt und mächtig stolz. Sie erzählen das gleich Ihrem Freund, der auch Ihre Schmach mitbekommen hat, und fühlen sich einfach gut. Aber irgendwann beginnen dann Gewissensbisse. Je nachdem, wie gewissenhaft Sie sind, früher oder später. Lästig. Und lächerlich! Das hat der Typ ja wirklich verdient! Die Gewissensbisse lassen sich nicht abschütteln, nach einer kurzen Beruhigung werden sie sogar stärker. Wieder reden Sie sich ein, Sie hätten wirklich nicht anders gekonnt. Damit geben Sie sich auch eine Zeitlang zufrieden. Sie sind ja schließlich das Opfer, denn wer, bitte schön, hat denn seine Freundin verloren? Und dass sich Opfer auch manchmal wehren, müsse doch wohl erlaubt sein, oder? Der vergnüge sich da mit Ihrer Freundin, die in Wirklichkeit nur Sie liebe. Sie ereifern sich.

Jetzt müssen Sie sich entscheiden: Entweder Sie schmollen jetzt ein Leben lang und reden sich trotzig ein, dass das Notwehr war – oder Sie müssen sich wirklich entschuldigen. Das geht aber anders. Die Entschuldigung, die angenommen werden kann, ist eine Enthüllung der Schandtat. Also: »Mein Herr, es tut mir jetzt wirklich aufrichtig leid, Ihnen auf die Zehen gestiegen zu sein«, das wird nicht genügen. Sie müssten das formulieren – eventuell nonverbal –, was er wahrgenommen hat: Ihre Bosheit. Das ist schwer. Aber dann ist das Kapitel beendet. Vielleicht schaffen Sie das erst, wenn auch der von Ihrer Ex-Freundin verlassen wird, denn das schmälert Ihren Leidensdruck, da Sie ja dann Schicksalsgenossen sind.

Schuld und Schuldgefühl

In weiten Teilen der Psychotherapie sind Schuldgefühle lange mit Pathologie gleichgesetzt worden. Ihren Höhepunkt hat diese Entwicklung in Wien mit Sigmund Freud erreicht, der aufgrund seiner Weltsicht mit Schuld wenig anfangen konnte. Es ist beeindruckend, dass im über tausendseitigen Gesamtregister (Band XVIII) von Freuds 19-bändiger Gesamtausgabe zwar drei Seiten lang die verwendeten Begriffe »Schuldgefühl« und »Schuldbewusstsein« aufgelistet sind, der Begriff »Schuld« hingegen in den Gesammelten Werken Freuds nur in einer Zeile vorkommt: in Bezug auf den Vatermord. Auch im »Ellenberger«, dem Standardwerk für die Geschichte der Psychotherapieforschung, findet man im Stichwortverzeichnis keinen Hinweis auf Schuld, wohl aber jede Menge Hinweise auf Schuldgefühle. Die Schuld selbst wird in der Psychotherapie noch heute oft tabuisiert oder auf ein subjektives Gefühl relativiert. Bis in unsere Tage bieten mehr oder weniger schlaue Ratgeber an, »wie Sie Schuldgefühle überwinden und sich selbst verzeihen können«.

FALL 3: