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Michael Hahn

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Beschreibung

Exactly 200 years ago, on 28 July 1821, General José de San Martín solemnly proclaimed the independence of Peru from the Spanish crown, in the country=s capital, Lima. The date symbolizes the end of the monarchical form of government and the beginning of Peru as a republic. In the course of its 200-year history, the Andean republic has swung between dictatorship and democracy, economically between boom and depression, and sociopolitically between the exclusion and inclusion of the majority of the population. Michael Hahn=s account starts in the final years of Spanish rule and covers Peru=s republican history from independence to the present day. He gathers together a mosaic of the cultures and ethnicities of a pluricultural state in which all of the parts exist both jointly and alongside each other, largely on an equal footing.

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Der Autor

Dr. Michael Hahn ist ein Historiker und Autor zweier kulturhistorischer Reiseführer und eines dreibändigen Handbuchs zur Geschichte Perus.

Michael Hahn

Peru

Geschichte und Politik seit 1821

Verlag W. Kohlhammer

Meiner Familie

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Umschlagabbildung: Grenzübergang nach Peru bei der bolivianischen Ortschaft Desaguadero am Titicacasee (Foto: Michael Hahn)

1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-040946-0

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-040947-7

epub:     ISBN 978-3-17-040948-4

mobi:     ISBN 978-3-17-040949-1

Zusatzmaterial online: https://dl.kohlhammer.de/978-3-17-040946-0

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Das Ende der spanischen Kolonialherrschaft (1808–1826)

Caudillos und Guano (1826–1879)

Der Pazifikkrieg und das Aufleben des militärischen Caudillismus (1879–1894)

Die Aristokratische Republik (1895–1919)

Leguías Elfjahres-Herrschaft (1919–1930)

Zwischen Diktatur und Demokratie (1930–1968)

Militärischer Reformismus (1968–1980)

Ein verlorenes Entwicklungsjahrzehnt (1980–1990)

Neopopulismus und neoliberale Wende (1990–2001)

Peru im 21. Jahrhundert (2001–2020)

Neueste Entwicklungen (ab 2016)

Glossar

Bibliografie

Abbildungsnachweis

Register

 

Einleitung

 

 

 

»Peru ist von diesem Augenblick an frei und unabhängig durch den Volkswillen und durch die Rechtmäßigkeit seiner Forderungen, die Gott schütze. Es lebe das Vaterland! Es lebe die Freiheit! Es lebe die Unabhängigkeit!« (Hall 1824, 193–194; vgl. Ortemberg 2009, 86)

Mit diesen erhabenen Worten verkündete General José de San Martín am 28. Juli 1821 auf dem Hauptplatz von Lima die Unabhängigkeit Perus von Spanien. Trotz der feierlichen Proklamation vor Tausenden von Zuschauern sollte es noch Jahre dauern, bis die letzten spanientreuen Truppen das Land verließen. Erst die Niederlage in der Entscheidungsschlacht von Ayacucho besiegelte das Ende der spanisch-monarchischen Herrschaft in Südamerika. Tatsächlich endete die spanische Herrschaft in Peru mit der Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde durch Vizekönig José de la Serna e Hinojosa nach der Niederlage seiner Truppen gegen Simón Bolívars Befreiungsheer unmittelbar nach der Schlacht von Ayacucho am 9. Dezember 1824. Bis im April 1825 war auch Hochperu (das heutige Bolivien) von spanischen Truppen befreit. Am 22. Juni 1826 kapitulierten die letzten spanischen Truppen, die sich 14 Monate lang in der uneinnehmbaren Hafenfestung Real Felipe in der Nähe Limas verschanzt hatten.

Alljährlich gedenkt Peru der Proklamation der Unabhängigkeit, die das Ende der spanisch-monarchischen Herrschaft und den Beginn als souveräner, republikanischer Staat symbolisiert. Die Nationalfeiertage erstrecken sich jeweils über drei Tage (28.–30. Juli) und werden mit großem Aufwand – inklusive einer Militärparade – gefeiert. Im Jahr 2021 begeht Peru den zweihundertsten Jahrestag der Unabhängigkeit. Wie beim 100-jährigen- bzw. 150-jährigen Jubiläum wird das Andenland weder Mühe noch Kosten scheuen, um den Feiern einen würdigen Rahmen zu verleihen und sie zu einem denkwürdigen Großanlass internationalen Zuschnitts zu machen. Für Nichtperuaner ist das eine gute Gelegenheit, sich mit der neuzeitlichen Geschichte des Andenlandes näher vertraut zu machen.

Das vorliegende Buch beschreibt die Geschichte Perus der letzten zwei Jahrhunderte, angefangen bei den Wirren der Unabhängigkeitskämpfe bis hin zur Gegenwart. Es basiert auf meinem umfangreichen Handbuch zur Geschichte Perus (2016, Bd. 3), ergänzt durch die Erkenntnisse der neuesten internationalen Fachliteratur. Auf eine landeskundliche Einführung folgt der historische Hauptteil. Kastentexte machen auf Besonderheiten und Charakteristiken des Andenlandes aufmerksam oder ermöglichen es, gewisse Sachverhalte über einen längeren Zeitraum hinweg zu verfolgen. Den Schluss bildet ein Glossar, das die wichtigsten Fachausdrücke und fremdsprachigen Begriffe erläutert. Am Ende eines jeden Kapitels finden sich Hinweise auf Standardwerke, empfehlenswerte Neupublikationen und deutschsprachige Bücher. Für detaillierte Quellen- und Literaturangaben sei auf das erwähnte Handbuch verwiesen. Wer aktualisiertes statistisches Material zu Themen wie Demografie, Sprachenvielfalt, Gesundheit, Bildung, Wohnen, Regierung oder Wirtschaft sucht, wird im Online-Anhang fündig (Link siehe Impressum).

Noch ein Wort zur Rechtschreibung. Für zahlreiche peruanische Namen, Orte und Begriffe besteht eine verwirrende Vielfalt von Schreibweisen. Als Beispiel sei die ehemalige Hauptstadt des inkaischen Reichs genannt, die bald als Cusco oder Cuzco, bald als Qosqo oder Q’osqo geschrieben wird. Der Verständlichkeit halber wird im Folgenden die gebräuchlichste Schreibung verwendet, wobei Einheitlichkeit als das Leitprinzip gilt.

Geografie

Mit einer Fläche von 1 285 216 km2 und einer Bevölkerung von etwas über 30 Millionen ist das Andenland fast dreimal so groß wie Deutschland und Österreich zusammen, zählt dabei aber nur knapp ein Drittel so viele Einwohner. Von West nach Ost setzt sich Peru aus einem flachen Küstenstreifen (Costa), dem andinen Hochland (Sierra), den Ostabhängen der Anden und dem Amazonas-Tiefland (Selva) zusammen. Flächenmäßig am kleinsten ist der Küstenstreifen, der rund 12 % des nationalen Territoriums einnimmt, jedoch die meisten Bewohner umfasst (58 % der Bevölkerung). Im Hochland, das 28 % der Landesfläche ausmacht, leben 28 % der Bevölkerung, während die größte Region – die Dschungelgebiete mit 60 % der Landesfläche – nur 14 % der Bevölkerung beherbergt. Zur Sierra gehören die mächtigen Bergketten der Anden, fruchtbare Täler und zwei riesige Hochebenen, in denen die beiden größten Seen des Landes liegen (Titicaca- und Junínsee). Im Hochland liegen die meisten der 12 000 Seen des Landes, und hier haben die großen Flüsse ihren Ursprung. Ein Teil strebt dem Pazifik zu, die restlichen fließen ostwärts in Richtung Amazonas-Tiefland und Atlantik. In den zwischen 2000 und 3500 Metern gelegenen Hochtälern gibt es zahlreiche größere Siedlungen und Städte. Kleinere Dörfer und Einzelgehöfte finden sich bis auf 5000 Meter Höhe. Hier lebt die Mehrzahl der indianischen Bauern, die dem beschränkten Ackerland eine Vielzahl von Knollengewächsen, Getreidearten, Hülsenfrüchten und Gemüsesorten abringt. Die dünn besiedelte Dschungelregion (Selva) zeichnet sich durch ihre biologische und sprachliche Vielfalt aus. Kulturell und ökologisch unterscheidet sie sich stark vom Rest des Landes.

Abb. 1: Karte Perus mit den Departements, den wichtigsten Städten, Flüssen und Bergen.

Zieht man auch noch das Meer mit ein, so eröffnen sich folgende Naturräume:

1) Der Pazifische Ozean mit dem kalten Humboldtstrom, der im Norden Perus von warmen tropischen Meeresströmungen in westliche Richtung abgedrängt wird. Von der Antarktis kommend, fließt der nährstoffreiche Humboldtstrom an der südamerikanischen Westküste entlang. Der kalten Strömung verdanken Chile und Peru ihre außerordentlich reichhaltige Meeresfauna. Die gewaltigen Sardinen- und Sardellenschwärme machten Peru jahrelang zum weltgrößten Produzenten von Fischmehl. Zudem ernährten sie riesige Kolonien von Meeresvögeln, deren Exkremente als nitratreiches Düngemittel (Guano) im 19. Jahrhundert ein Exportschlager waren. Der Humboldtstrom beeinflusst die Witterung an der Küste entscheidend, indem er das an und für sich heiße äquatoriale in ein gemäßigtes Klima verwandelt.

2) Die Küstenzone, die, abgesehen vom äußersten Norden und den Flussoasen, eine Wüstenlandschaft bildet. Sie umfasst die vorgelagerten kahlen Inseln und den Küstenstreifen landeinwärts bis zu einer Höhe von rund 500 Metern. Von den über 50 Flüssen, die aus den Anden kommend in den Pazifik münden, führen nur etwa ein Dutzend das ganze Jahr hindurch substanzielle Wassermengen. Sie lassen fruchtbare Oasen entstehen, die mit ihrem saftigen Grün die Eintönigkeit der Sand- und Geröllwüsten durchbrechen. Von Mai bis Oktober (während des südlichen Winters) liegt über vielen Küstenorten ein feiner Nebel, den die Peruaner Garúa nennen. Aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit werden dann Wüstenzonen grün, Pflanzenteppiche schießen aus dem Boden und kahle Hügel blühen auf.

3) An den Küstenstreifen schließt sich die Yunga-Zone an (Quechua für »trockenes oder heißes Tal«). Tiefe Schluchten und enge Quertäler mit Steinwüsten und Sukkulenten prägen die Landschaft. Mehr als neun Monate lang bestimmt die brennende Sonne das Klima. Nur in den Hochsommermonaten, von Januar bis März, nimmt die Bewölkung etwas zu. Dennoch kommt es nur selten zu Niederschlägen. Wo Talböden und Hänge bewässert werden, sind sie bestens für den Anbau tropischer und subtropischer Nutzpflanzen geeignet.

4) Die vierte Zone, Kichwa genannt, liegt zwischen 2300 und 3500 Metern Höhe. Dank einem gemäßigten Klima, reichlich kultivierbarem Land und genügend Wasser kann sie für einen ertragreichen Ackerbau genutzt werden. Die ergiebigsten Äcker befinden sich auf den Talböden und den talnahen, benachbarten Hängen, wo insbesondere Mais gut gedeiht.

5) Die sanft ansteigende Kichwa-Region geht über in eine stark akzentuierte Landschaft mit steilem, kantigem und schroffem Relief. Diese Suni genannte Landschaft liegt zwischen 3500 und 4000 Metern in der kalten Klimazone, mit durchschnittlichen jährlichen Temperaturen zwischen 7° und 10 °C. Das Sommermaximum liegt bei 20 °C, das Winterminimum zwischen −1° und −16 °C. Auf den kargen Böden gedeihen Knollenfrüchte wie Kartoffeln, Oca, Olluco und Mashua, die proteinreiche Lupinie Tarhui sowie die widerstandsfähigen Getreidearten Quinua, Cañihua und Amarant.

6) Auf die Suni-Zone folgt die Puna in Höhenlagen zwischen 4000 und 4800 Metern. In den unteren Lagen (bis ca. 4200 Meter) wachsen noch die vorhin genannten Getreidearten und Knollengewächse. Oberhalb der landwirtschaftlichen Anbaugrenze erstreckt sich eine Hartgrassteppe – die Nahrungsgrundlage für die Lama- und Alpakaherden. Das weite Hochplateau im Süden, das sich zwischen der westlichen und der östlichen Andenkette ausdehnt, ist unter dem Namen Altiplano bekannt, was so viel wie »Hochebene« heißt. Es herrscht ein kaltes Klima mit Temperaturen, die nachts in der regenlosen Zeit von Mai bis September bis weit unter 0 °C fallen können. Zwischen Tag und Nacht bzw. Sonnen- und Schattenseiten bestehen markante Temperaturunterschiede. Abgesehen von einigen wenigen kleinen Oasen mit Gras und Polstergewächsen, die bis auf eine Höhe von 5200 Metern auftreten, dominieren Schnee, Firn, Eis und Gletscher die über der Puna gelegene Hochgebirgslandschaft. Die Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht sind extrem, wobei das Thermometer bis auf −30 °C fallen kann. Permanente Schneefelder bedecken die Gebirgslandschaft von etwa 5300 Metern an aufwärts.

7) An der Ostflanke der Anden geht das Hochgebirge ebenfalls in die Puna über. Je tiefer man kommt, desto dichter wird die schüttere Grassteppe. Ananasgewächse und niedrige moosbehangene Bäume zeigen den nahen tropischen Regenwald an. Weiter unten geht der Niederwald in den immergrünen tropischen Bergwald über. Die Höhe dieser Übergangszone zwischen Puna und Wald schwankt gemäß der jeweiligen Topografie. Sie kann auf bis zu 3800 Metern liegen, der Obergrenze der vom Amazonas-Becken aufsteigenden feuchten Luftmassen. Der hoch gelegene tropische Regenwald (Selva Alta) bedeckt die zerklüfteten Gebirgsausläufer und die breiten Täler. Dazwischen gibt es auf Höhen zwischen 1000 und 2300 Metern inselartiges Siedlungs- und Ackerland, das sich zum Anbau von tropischen Pflanzen hervorragend eignet. Diese hügelige, von den Quellflüssen des Amazonas durchzogene Übergangszone zwischen der Sierra und dem Tiefland wird Montaña genannt.

8) Wo die äußersten Hügel der Montaña in das riesige Amazonas-Becken auslaufen, nimmt der tief gelegene tropische Regenwald (Selva Baja) seinen Anfang. Die fruchtbarsten Gebiete des Tieflanddschungels liegen entlang des Amazonas-Stroms und dessen Zuflüssen, die ihrerseits eine reiche aquatische Fauna bergen. Alljährlich treten die Flüsse über die Ufer und überschwemmen weite Ebenen, wobei sich nährstoffreiches Material ablagert. Dagegen sind die Urwaldböden zwischen den großen Flüssen im Allgemeinen weitaus karger, nährstoffärmer und besitzen nur eine dünne Humusschicht. Da die dichte Vegetation, aber auch die Überschwemmungen, Sümpfe und Seen ein Durchkommen auf dem Landweg stark erschweren, wickelt sich der Personen- und Warenverkehr hauptsächlich auf dem weit verzweigten Flusssystem ab. Ausgiebige Niederschläge – im Jahresdurchschnitt 2,9 Meter – und eine ganzjährig ziemlich konstante Temperatur sind für das feucht-heiße Klima verantwortlich. Die Durchschnittstemperatur beträgt 26 °C, wobei der Oktober mit Werten zwischen 34° und 37 °C wärmster Monat ist.

Abb. 2: Die Straßen in den Anden führen über steile, gefährliche Strecken. Hier eine der Passstraßen, die den Callejón de Huaylas mit dem Callejón de Conchuco (Dep. Áncash) verbinden. Die Passhöhe, die Punta Olímpica, liegt auf 4890 Metern über dem Meeresspiegel.

Naturgewalten

Seit Urzeiten haben Naturkatastrophen die Andenländer schwer getroffen. Vor der Westküste Perus liegt die sogenannte Nazca-Platte – eine ozeanische Platte, aus der die Erdkruste und der oberste Teil des Erdmantels aufgebaut sind. Sie bewegt sich ostwärts, wo sie mit der Südamerikanischen Platte kollidiert und wo ein Vulkangürtel entstanden ist. Von den über 400 peruanischen Vulkanen gelten zwölf als Sicherheitsrisiko. Bei einem etwaigen Ausbruch bedrohen Gase, Asche, Staub und Lavaströme Großstädte wie Arequipa oder ländliche Siedlungen. Den jüngsten Vulkanausbruch registrierte das Geophysikalische Institut Perus im Juli 2019. Es handelte sich um den 5672 Meter hohen Ubinas, den aktivsten Vulkan des Landes. 30 000 Personen mussten aus der Gefahrenzone evakuiert werden. Die bislang verheerendste Eruption ereignete sich im Jahr 1600, als der Vulkan Huayna Putina explosionsartig ausbrach. Ein Regen aus Lava und Asche ging über Felder und mehrere Indianerdörfer nieder. Im Umkreis von etwa 90 Kilometern bedeckte eine bis zu einem halben Meter dicke Ascheschicht Äcker, Weiden und Weingärten. Die austretende Lava versperrte dem Río Tambo den Weg, sodass sich der Fluss zu einem fast 40 Kilometer langen See staute. Als der natürliche Staudamm brach, schossen die Wassermassen durch das Tal in Richtung Meer. Auf einer Strecke von über 100 Kilometern verwüstete die Flut sämtliche Gärten und Äcker, sie entwurzelte die Fruchtbäume, fegte die Zuckerrohrfelder hinweg und riss das weidende Vieh mit in den Tod. Im Gefolge der Katastrophe verhungerte drei Viertel des Viehs, fast sämtliche Reben sowie die Frucht- und Olivenbäume starben ab. Die Aschewolke verdunkelte das Sonnenlicht und ließ weltweit die Temperaturen sinken. Während der nächsten zweieinhalb Jahre setzten kühle Sommer und bitterkalte Winter Mensch und Tier schwer zu. Es kam zu Hungersnöten, die unzählige Tote forderten.

Seit dem Jahre 1568 haben über 70 schwere Erd- oder Seebeben Peru erschüttert. Lima, Arequipa und Cusco, um nur die wichtigsten Städte zu nennen, sind im Verlauf ihrer Geschichte mehrmals zerstört oder schwer beschädigt worden. Immer wieder lösten Seebeben auch gefährliche Flutwellen (Tsunamis) aus. Am 28. Oktober 1746 brandeten mehrere Flutwellen über Limas Hafen Callao. Ein mit 34 Kanonen ausgerüstetes Kriegsschiff wurde über die Hafenstadt hinweggespült und blieb eineinhalb Kilometer von der Küste entfernt auf dem Festland liegen. Im Hafen Callao selbst blieben nur mehr Reste des Schutzwalles und einzelne Gebäudemauern stehen. Von der auf 5000 bis 6000 Personen geschätzten Einwohnerschaft überlebten keine 200 Menschen. Von 1970 bis heute suchten sieben schwere Erdbeben Teile Perus heim. Sie erreichten Stärken von 6,7 bis 8,4 auf der Richterskala. Das letzte schwere Erdbeben, gefolgt von einem Tsunami, fand im August 2007 statt.

Im Verbund mit den Erdbeben stellen überhängende Felsen und Gletscher eine unberechenbare Gefahrenquelle dar. Ein schweres Beben verursachte am 31. Mai 1970 einen fatalen Gletscherabbruch. Vom höchsten Berg des Landes stürzten gewaltige Eismassen in zwei Seen. Sie lösten eine Flutwelle und in ihrem Gefolge eine 800 Meter breite Schlamm- und Gerölllawine aus, welche die Provinzhauptstadt Yungay vollständig begrub. Insgesamt starben 70 000 Menschen und 500 000 wurden obdachlos.

Neben dem Vulkanismus und den Erdbeben drohen weitere Naturgefahren. Insbesondere in der Landwirtschaft richten Starkregen, Dürren, Hagel, Kälteeinbrüche und Nachtfrost sowie Knollenfäule, Schädlingsbefall, Ratten- und Mäuseplagen große Schäden an. Während der Regenzeit können sich sintflutartige Regenfälle im Hochland und im Dschungel ergießen. Sie lösen Erdrutsche und Muren aus, die Bewässerungskanäle, Straßen und Bahnlinien verschütten, Weiler, Dörfer oder Stadtteile zerstören und Gemeinden von ihrer Verbindung zur Außenwelt abschneiden. Im Amazonasgebiet schwellen die Flüsse alljährlich stark an und setzen riesige Waldgebiete unter Wasser.

Alle paar Jahre tritt im tropischen Pazifikraum eine Störung der ozeanischen und atmosphärischen Zirkulationsverhältnisse auf mit Auswirkungen auf weite Teile der Welt. Das Zirkulationsphänomen ist unter der Bezeichnung El Niño Southern Oscillation (kurz: ENSO) bekannt, wobei El Niño im Pazifischen Ozean, die Southern Oscillation in der Atmosphäre abläuft. An Perus Küste treten die Auswirkungen üblicherweise im Dezember auf, weshalb die Fischer das Phänomen als El Niño (das Christkind) bezeichneten. In Zyklen von früher fünf bis acht, in neuerer Zeit von drei bis fünf Jahren dringen Warmwasserströmun-

Abb. 3: Zur Zeit des Hochwassers werden Teile des Quartiers Puerto Belén in Iquitos überflutet.

gen bis an Perus nördliche oder sogar zentrale Küstenregion vor. Im kühlen Humboldtstrom steigt weniger kaltes, nährstoffreiches Wasser an die Oberfläche. Der Anstieg der Wassertemperaturen in Kombination mit dem Rückgang des Sauerstoff- und Kohlenstoffgehalts im Meereswasser wirken sich negativ auf die Reproduktionsfähigkeit der Mikroorganismen aus und stören die maritimen Nahrungsketten massiv. Die Kaltwasserfische sterben oder wandern ab, was für die riesigen Vogelkolonien, die Meeressäuger (Robben, Wale, Otter) und die Fischindustrie verheerende Auswirkungen hat.

Die wärmeren Wassertemperaturen wirken sich auch auf das Wettergeschehen aus: Wasser kann leichter verdunsten, die Luft wird feuchter und es bilden sich Wolken. Heftige Regenfälle und Überschwemmungen ziehen die ansonsten trockene Küstenregion in Mitleidenschaft, verwüsten Felder und Plantagen, zerstören Häuser, Brücken, Straßen und Trinkwasseranlagen. Die Überschwemmungen führen zur Verseuchung des Trinkwassers, sodass in den El-Niño-Jahren 1972–1973, 1982–1983 und 1997–1998 in den Flussoasen von Nordperu Typhus, Ruhr, Hepatitis sowie Magen- und Darminfektionen grassierten. Zugleich entstehen in El-Niño-Jahren im Wüstengebiet Sümpfe und Seen. Ödland verwandelt sich dann in grüne Weiden, die für einige wenige Wochen Tausenden von Ziegen zusätzliche Nahrung geben. Während Starkregen und Überschwemmungen die Küstenregionen heimsuchen, treten im zentralen und im südandinen Hochland Dürren auf.

Abb. 4: Das imposante Huayhuash-Gebirge im nördlichen Zentralperu.

 

 

Literaturhinweise

Caviedes, César N. 2005, El Niño – Klima macht Geschichte. Aus dem Englischen übersetzt von Christiana Donauer-Caviedes, Darmstadt

Denevan, William M. 2001, Cultivated Landscapes of Native Amazonia and the Andes, Oxford

Deutsch Lynch, Barbara 2019, Water and Power in the Peruvian Andes, in: Seligmann, Linda J./Fine-Dare, Kathleen S. (Hg.), The Andean World, Abingdon und New York, 44–59

Hall, Basil 1824, A Journal, Written on the Coasts of Chili, Peru, and Mexico, in the Years 1820, 1821, 1822, Bd. 1, London und Philadelphia

Hahn, Michael 2010, Handbuch zur Geschichte Perus, Bd. 1 (Teilband 1): Peru vor den Inkas, Zürich, 5–34

Mächtle, Bertil 2016, Umwelt und Mensch im Naturraum, in: Paap, Iken/Schmidt-Welle, Friedhelm (Hg.), Peru heute: Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt am Main, 17–38

Ortemberg, Pablo 2009, La entrada de José San Martín en Lima y la proclamación del 28 de julio: la negociación simbólica de la transición, in: Histórica XXXIII.2

Vidal Pulgar, Javier 1982, Landschaft und Menschen, in: Kauffmann-Doig, Federico, Peru, Innsbruck und Frankfurt am Main, 29–39

 

Das Ende der spanischen Kolonialherrschaft (1808–1826)

 

 

 

Aus den Unabhängigkeitskämpfen ging in den 1820er-Jahren die Republik Peru hervor. Für fast drei Jahrhunderte bildete das Andenland das Kerngebiet des riesigen Vizekönigreichs Peru, das zum überseeischen Erbbesitz der spanischen Monarchie gehörte. Für die Loslösung der amerikanischen Kolonien war letztlich die wirtschaftliche und militärische Schwäche Spaniens ausschlaggebend. Im 18. Jahrhundert waren Großbritannien und Frankreich die führenden europäischen Großmächte, die eine Reihe von Kriegen um die weltweite Vorherrschaft ausfochten. Wieder und wieder wurde Spanien im Soge Frankreichs in langwierige, kostspielige Kriege hineingezogen.

Seit dem Dynastiewechsel im Jahr 1700 lösten sich Könige aus dem französischen Adelsgeschlecht der Bourbonen auf dem spanischen Thron ab. Dem Vorbild des absolutistischen Frankreichs nacheifernd, bemühten sie sich, Spanien wieder zu altem Glanz und zu alter Größe zurückzuführen. Eine Reihe einschneidender Neuerungen – bekannt unter der Bezeichnung Bourbonische Reformen – sollte die Autorität der spanischen Zentralregierung stärken, die Wirksamkeit des staatlichen Verwaltungssystems erhöhen und die Wirtschaft ankurbeln. Unter König Philipp V. (Felipe V.; 1700–1746) wurde vom riesigen Vizekönigreich Peru, das eine Fläche von rund zehn Millionen km2 einnahm, das Vizekönigreich Nueva Granada (Neu-Granada) mit der Hauptstadt Santa Fe de Bogatá abgetrennt. Aufgrund dieser territorialen Neuordnung büßte Peru seine nördlichsten Gebiete ein mit den heutigen Ländern Kolumbien, Ecuador, Panama und Teilen Venezuelas.

1759 übernahm mit Karl III. (Carlos III.) ein ausgeprägt reformorientierter König für fast drei Jahrzehnte den spanischen Thron. Weit stärker als seine bourbonischen Vorgänger war er gewillt, die mit dem monarchischen Absolutismus verbundene Machtfülle zu nutzen, neue Institutionen zu etablieren und an der französischen Verwaltung orientierte Arbeitsmethoden einzuführen. Unter Karl III. kam es 1776/1777 zur Etablierung des Vizekönigreiches Río de la Plata mit der Hauptstadt Buenos Aires. Damit wurden Buenos Aires, Tucumán, Paraguay, Santa Cruz de la Sierra, Hochperu (Bolivien) mit der sagenhaften Silberstadt Potosí und ein Teil Westargentiniens (Cuyo) dem politischen und ökonomischen Einfluss von Lima entzogen. Das Vizekönigreich Peru bestand somit nur noch aus dem heutigen Peru und aus Chile.

Trotz breiten Widerstandes konnten die Bourbonen viele ihrer Reformen durchsetzen, wobei die Steuereinnahmen substanziell erhöht, die administrative Effizienz gesteigert und die grassierende Korruption reduziert wurden. Der Preis dafür war allerdings unverhältnismäßig hoch. Zum einen führten die revidierte Steuerpraxis sowie das Schließen zahlreicher Schlupflöcher in der Verwaltung zu erheblichen Animositäten zwischen der einheimischen Elite und frisch aus Spanien eingereisten Funktionären. Zum anderen machte sich die allgemeine Empörung in Gewaltausbrüchen und Meutereien Luft, die ihren Kulminationspunkt im Großen Aufstand von 1779 bis 1782 erreichten. In dieser Zeit erschütterten Massenerhebungen ein riesiges Gebiet, das von Cusco über La Paz bis ins heutige Nordwestargentinien und Nordchile reichte. Im Verlauf des Großen Aufstands verloren Zehntausende ihr Leben und es spielten sich unfassbare Gräueltaten ab. Nach der blutigen Zerschlagung der Aufstandsbewegung dauerte es fast drei Jahrzehnte, bis sich erneut Widerstandsherde bildeten, die eine ernsthafte Gefahr für die spanische Herrschaft darstellten.

Auf Karl III. folgte Karl IV. (Carlos IV.), der von 1788 bis 1808 herrschte, das Werk seines Vaters jedoch nur unvollkommen weiterverfolgte. Nach seiner Inthronisation sah sich Karl IV. mit dem Ausbruch der Französischen Revolution (1789) konfrontiert, die zur Hinrichtung des französischen Königs Ludwig XVI. führte. Die Enthauptung seines bourbonischen Verwandten beeinträchtige zwar das traditionell enge Verhältnis zwischen den beiden Nachbarländern, Hauptfeind Spaniens blieb aber auch weiterhin England. Seit 1796 bekriegten die beiden rivalisierenden Seemächte einander fast ständig. Die dreijährige Blockade des spanischen Haupthafens Cádiz unterbrach die Versorgungslinie zwischen Spanien und seinen überseeischen Gebieten, noch bevor die vernichtende Niederlage des spanisch-französischen Flottenverbandes in der Schlacht von Trafalgar (21. Oktober 1805) den Engländern endgültig die Vorherrschaft zur See verschaffte. Spanien verlor einen Großteil seiner Flotte und büßte damit weitgehend seine Fähigkeit ein, Truppen aus dem Mutterland über den Atlantik zu verschiffen.

Die bourbonische Reformpolitik, welche die überseeischen Provinzen deutlicher denn je als abhängige Kolonien behandelte, stieß bei den Betroffenen auf entschiedene Ablehnung. Indianer und Angehörige der Unterschichten rebellierten gegen die erhöhte finanzielle Belastung, die das verschärfte Steuerregime und die Einführung neuer Staatsmonopole nach sich zog. Unter den einheimischen Eliten trug der Abbau angestammter Privilegien zusammen mit der Bevorzugung von Europaspaniern bei der Ämtervergabe zur Entfremdung vom Mutterland bei. Ebenfalls Anlass zur Unzufriedenheit gab das merkantilistische Außenhandelssystem: Die Lockerungen bestehender Handelsbeschränkungen gingen den einen nicht weit genug, für die Profiteure des alten Handelssystems gefährdeten die Neuregelungen die wirtschaftliche Existenz.

Als 1808 napoleonische Truppen in Spanien einmarschierten und weite Teile der iberischen Halbinsel besetzten, eröffnete sich für die überseeischen Gebiete die Möglichkeit, ihre Beziehungen zum Mutterland neu auszuhandeln. Auf Forderungen nach mehr Rechten folgte bald der Ruf nach einer vollständigen Lösung von der spanischen Monarchie – wenn nötig auch mit Waffengewalt. Bei den frühen militärischen Konflikten bekämpften spanientreue Truppen – Royalisten oder Loyalisten genannt – Aufständische, die sich selbst als Patrioten bezeichneten. Anfänglich nahmen beide Seiten für sich in Anspruch, für den spanischen König Ferdinand VII. zu kämpfen, der in Frankreich unter Hausarrest stand. Bald jedoch stellte sich heraus, dass der Hauptantrieb für viele Kämpfer kein übergeordnetes »höheres« Ziel war, sondern dass sie ihre eigenen Partikularinteressen verfolgten. Dazu gehörten das Streben nach lokaler oder regionaler Dominanz gleichermaßen wie das Beutemachen, Rachefeldzüge oder die Verbesserung der eigenen sozioökonomischen Position. Seitenwechsel aus Opportunitätsgründen, wechselnde Gefolgschaft, hohe Desertationsraten und häufige Amnestien waren die Folge.

Während mehrere Regionen Spanisch-Amerikas aus eigener Kraft die Unabhängigkeit erkämpften, blieb Peru lange Zeit fest in spanischer Hand. Als letztes Bollwerk Spaniens erreichten Peru und Hochperu (Bolivien) die Unabhängigkeit nicht ohne auswärtige Hilfe. Heere aus den befreiten südamerikanischen Gebieten übernahmen diese Aufgabe.

Die Geschehnisse in Europa

Im März 1808 zwangen die Anhänger des spanischen Kronprinzen Ferdinand (Fernando) dessen Vater – König Karl IV. – zur Abdankung. Der Streit innerhalb der königlichen Familie lieferte Napoleon Bonaparte, dem Kaiser der Franzosen, den willkommenen Vorwand zum Eingreifen: Die Bourbonen mussten abdanken, und Ferdinand) wurde zusammen mit seiner Familie in Frankreich faktisch unter Hausarrest gestellt. Am 6. Juni ernannte Napoleon seinen älteren Bruder Joseph zum neuen spanischen König, womit er Spanien zum Satelliten des französischen Imperiums degradierte.

Gegen die französische Machtübernahme formierte sich in Spanien breiter Widerstand, der in einen erbitterten Kleinkrieg mündete. In den einzelnen Landesteilen organisierten regionale Juntas (Regierungsausschüsse, Komitees) den Widerstand gegen die französischen Besatzungstruppen. Im September 1808 schlossen sich die zahlreichen autonomen Juntas zu einem Zentralkomitee (Junta Suprema Central) zusammen, das im Namen Ferdinands VII. die Regierung und das militärische Oberkommando übernahm. Von der Isla de León vor Cádiz aus organisierte die Zentraljunta den Widerstand. Dank des Flottenschutzes durch die verbündeten Engländer blieb Cádiz für die französischen Truppen uneinnehmbar. Zu Beginn des Jahres 1810 trat die Zentraljunta die provisorische Regierungsgewalt an eine Nachfolgeinstitution – den Regentschaftsrat – ab. Im Einklang mit der spanischen Rechtstradition sollte eine auf den September angesetzte Ständeversammlung (Cortes) eine politische Neuordnung ausarbeiten. Die amerikanischen Gebiete wurden eingeladen, eigene Abgeordnete für die Ständeversammlung zu wählen und diese nach Cádiz zu entsenden. Allerdings blieben die überseeischen Territorien mit ihren 15 bis 17 Millionen Einwohnern gegenüber den rund 10,5 Millionen Einwohnern Spaniens deutlich unterrepräsentiert.

Das deklarierte Ziel der Ständeversammlung war die Ausarbeitung einer Verfassung. Nach eineinhalb Jahren war das Werk vollbracht. Am 19. März 1812 unterzeichneten 183 Deputierte, davon 47 aus Amerika, die Constitución Política de la Monarquía Española. An der Ausarbeitung der Konstitution war der peruanische Jurist Vicente Morales Duárez (1757–1812) beteiligt. Kurz nach der Unterzeichnung der Verfassung wurde er zum Präsidenten der Cortes gewählt. Der Verfassungstext traf am 20. September in Lima ein.

Das liberale Tauwetter in Spanien war nur von kurzer Dauer. Napoleons Niederlage in Russland besiegelte das Ende der französischen Besetzung. Im März 1814 kehrte König Ferdinand aus seinem Exil nach Spanien zurück, um schon im Mai die neue Verfassung und die damit verbundene Ordnung wieder aufzuheben. Der Monarch ließ die Cortes auflösen und die liberalen Führer, die in seinem Namen den Widerstand gegen Frankreich mitorganisiert hatten, verfolgen und inhaftieren. Mit der Wiedererrichtung des absolutistischen Regimes lebte auch die Inquisition wieder auf, während liberale Rechte wie die Meinungs- und Pressefreiheit zurückgenommen wurden.

Um die abgefallenen Gebiete in den Kolonien wieder fest in sein Reich einzubinden und die separatistischen Unruheherde ein für alle Mal zu ersticken, sandte Ferdinand das stärkste militärische Truppenkontingent seit Beginn der überseeischen Eroberungen über den Atlantik. Zwischen 1811 und 1818 überquerten über 40 000 spanische Soldaten und Offiziere das Meer. Nur wenige überlebten und kehrten in ihre Heimat zurück. Viele, vielleicht sogar die meisten, starben nicht bei Kampfeinsätzen, sondern aufgrund von Krankheiten wie Ruhr, Pocken, Skorbut und verschiedenen tropischen »Fiebern«, insbesondere Gelbfieber.

Während sechs Jahren regierte Ferdinand persönlich in »absoluter« Form, eisern am dynastischen Prinzip und am Gottesgnadentum des Absolutismus festhaltend. Mit der absolutistischen Restauration zerschlugen sich die letzten Hoffnungen, den Abfall der überseeischen Territorien mittels Reformen auf friedlichem Wege aufzuhalten. Am 1. Januar 1820 meuterten in Cádiz Teile eines spanischen Expeditionskorps, das für einen Militäreinsatz in Südamerika aufgeboten worden war. Unter dem Druck der Ereignisse sah sich Ferdinand gezwungen, die Verfassung von Cádiz wieder in Kraft treten zu lassen. Widerwillig musste er eine aus Liberalen bestehende provisorische Junta einsetzen, Neuwahlen zu den Cortes anordnen und die Kämpfe gegen die Unabhängigkeitsbewegungen vorübergehend einstellen. Bereits im Frühjahr 1823 machte er diese liberalen Schritte wieder rückgängig, indem er verkündete, dass man ihn seit März 1820 zur Bestätigung von Gesetzen und zur Ausfertigung von Erlassen gezwungen habe. Folglich seien alle Akte der sogenannten konstitutionellen Regierung null und nichtig.

Juntas in Spanisch-Amerika

Die napoleonischen Kriege banden die militärischen Kräfte der Großmächte Spanien, Frankreich und England, sodass die spanischen Überseegebiete vorübergehend sich selbst überlassen blieben. Für die einheimische Oberschicht weitete sich der politische Spielraum stark aus, emanzipatorische und separatistische Bestrebungen erhielten starken Auftrieb. In Anlehnung an die Junta-Bewegung im Mutterland bildeten Angehörige der lokalen Elite in den Regionalzentren La Plata (auch: Chuquisaca), La Paz und Quito Regierungsausschüsse (Juntas de Gobierno), die vorgaben, die Regierungsgewalt im Namen Ferdinands VII. auszuüben. Tatsächlich ging es diesen Juntas in erster Linie um die regionale Unabhängigkeit von den vizeköniglichen Hauptstädten Lima, Buenos Aires und Bogotá.

Die ersten Juntas hatten nur kurzen Bestand. In Hochperu marschierten royalistische Truppen aus den Vizekönigreichen Peru und Río-de-La-Plata ein, welche die Junta-Bewegung im Oktober 1809 in einer kombinierten Aktion gewaltsam zerschlugen. Am 13. Juli 1810 verkündete der peruanische Vizekönig Abascal den erneuten Anschluss der hochperuanischen Provinzen an das Vizekönigreich Peru. Im Falle der Stadt Quito brach die Junta infolge interner Streitigkeiten auseinander, noch bevor die von den Vizekönigen in Peru und Neu-Granada entsandten Streitkräfte in der Stadt eintrafen. Trotz dieser Rückschläge bildeten sich andernorts neue Juntas, die für mehr Autonomie und nun sogar für die Unabhängigkeit von Spanien kämpften. Im Mai 1810 verweigerte die kreolische Oberschicht von Buenos Aires dem Regentschaftsrat im spanischen Cádiz die Gefolgschaft. Der Vizekönig wurde mitsamt der vizeköniglichen Gerichts- und Verwaltungsbehörde (Audienz) auf die Kanaren verfrachtet und durch eine Regierungsjunta ersetzt. Damit vollzog sich am Río de la Plata bereits 1810 die Loslösung vom Mutterland. Bis Ende des Jahres fielen große Teile Hochperus (Boliviens) unter die Kontrolle der Regierung von Buenos Aires (Bonaerenser Junta). Nach der Niederlage gegen königstreue peruanische Truppen bei Guaqui (auch: Huaqui; am südlichen Ende des Titicacasees, nahe der Grenze zum Vizekönigreich Peru) mussten sich die bonaerensischen »Patrioten« im Juni 1811 fluchtartig aus Hochperu zurückziehen. Zwei weitere Militärexpeditionen zur Eroberung der hochperuanischen Gebiete scheiterten. Obschon lokale Freischärler dort einige ländliche Zonen kontrollierten, blieb Hochperu nominell unter der Herrschaft des Vizekönigs in Lima.

Am 19. April 1810 verkündete in Caracas eine Junta, der sich der spätere Nationalheld Simón Bolívar angeschlossen hatte, die Selbstverwaltung Venezuelas. Nach jahrelangen Kämpfen und wechselndem Kriegsglück musste Bolívar ins Exil nach Jamaika flüchten. In der Zwischenzeit eroberten royalistische Truppen auch Chile zurück, wo seit September 1810 verschiedene Regierungsjuntas das Sagen hatten. Ein Teil der in der Entscheidungsschlacht von Rancagua (1./2. Oktober 1814) geschlagenen »patriotischen« Armee floh über die Anden ins argentinische Mendoza. Abgesehen von der Río-de-la-Plata-Region hatte die spanische Monarchie damit die Herrschaft über sämtliche Gebiete zwischen dem Río Grande im nördlichsten Mexiko und Feuerland wieder zurückgewonnen.

Lima – Bollwerk der Loyalisten

Dank der frühen Allianz zwischen staatlicher Gewalt und privaten Machtgruppen blieb die Hauptstadt des Vizekönigreichs Peru fest in königstreuer Hand. Von der revolutionären Begeisterung, die 1809 La Plata, La Paz und Quito erfasst hatte, ließen sich in Lima nur eine Handvoll Männer um das Brüderpaar Silva anstecken. Ihre Umsturzpläne flogen aber auf und die Verschwörer wurden vor Gericht gestellt und anschließend in die Verbannung geschickt. Ungeachtet aller Klagen über die Bourbonischen Reformen genoss der monarchische Absolutismus unter den konservativen Eliten Limas lange Zeit einen starken Rückhalt. Dieser machtvolle Kreis aus aristokratischen Großgrundbesitzern, in der Kaufmannsgilde (Consulado) versammelten Monopolisten, Wirtschaftsprotektionisten und Manufakturbetreibern gehörte zu den Nutznießern des herrschenden Systems, der sich bis zum bitteren Ende gegen die Loslösung von Spanien stemmte. Der Große Aufstand von 1779 bis 1782 und zahllose lokale Rebellionen hatten ihnen die Gefahren eines Kasten- und Klassenkriegs vor Augen geführt und Forderungen nach mehr Autonomie oder gar Unabhängigkeit gedämpft. Außer den konservativen Eliten hatten natürlich auch die königlichen Spitzenbeamten und der hohe Klerus ein vitales Interesse an der Erhaltung des Status quo. Gemeinhin profitierte die Hauptstadt von ehrgeizigen Entwicklungs- und Modernisierungsprogrammen, welche die letzten Vizekönige in Angriff genommen hatten. Besonders aktiv und gewandt erwies sich Vizekönig Abascal, der im kritischen Jahrzehnt von 1806 bis 1816 die Regierung führte. Mit verschiedenen Maßnahmen steigerte Abascal die militärische Schlagkraft der königstreuen Truppen. Unter Einbezug der Kader und Truppen aus dem Mutterland gelang ihm die Formierung eines regulären Heeres, das bald gegen die Autonomiebewegungen eingesetzt werden sollte.

Die allgemeine Aufrüstung, die Militäreinsätze gegen die Junta-Hochburgen sowie die finanzielle Unterstützung des besetzten Mutterlandes verursachten hohe Kosten. Zur Überbrückung finanzieller Engpässe mussten die Vizekönige auf die Hilfe von Privatpersonen und Körperschaften zurückgreifen. Dabei erwiesen sich die vermögenden Großhändler der Kaufmannsgilde (Consulado) als besonders dienlich. Ab 1810 ließ sich die Kaufmannsgilde in eine Spirale von Darlehen und Abgaben hineinziehen, mit deren Hilfe die separatistischen Bewegungen bekämpft wurden. Damit rückte die Korporation zur wichtigsten Kapitalgeberin und Verbündeten des Vizekönigs Abascal in dessen Kampf gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen auf. Als gewiefter Politiker nutzte Abascal eigenmächtig den Freiraum, den das weitgehend paralysierte Mutterland ihm bot. Nach eigenem Ermessen setzte er Reformdekrete um. Er verhinderte oder behinderte die Implementierung von Maßnahmen, die er für den Fortbestand des Vizekönigreichs als gefährlich erachtete. So ließ er fünf Monate nach der Verkündung der Pressefreiheit in Cádiz (10. November 1810) diese formell zu, ging aber dennoch energisch gegen missliebige Publikationen und deren Herausgeber vor. Ohne Erfolg bekämpfte er dagegen die Abschaffung des im März 1811 verordneten Indianertributs, eine Steuerabgabe, die ausschließlich die Indianer bezahlen mussten. Er konnte nicht verhindern, dass dem Schatzamt bis zur Wiedereinführung des Indianertributs im Jahr 1815 etwa ein Drittel der gesamten jährlichen Steuereinnahmen entgingen.

Wenn dem Vizekönig gewisse liberale Reformen auch zu weit gingen, so ließ er dennoch Wahlen durchführen. Nach dem ersten Wahlaufruf der Zentraljunta in Spanien trat 1809 Limas Stadtrat (Cabildo) zusammen und bestimmte José de Silva y Olave zum Abgeordneten für die Cortes. Der angesehene Rektor der Universität von San Marcos erhielt unter anderem die Weisung, in Cádiz für die Einführung eines uneingeschränkten Freihandels zu plädieren und Chancengleichheit zwischen Kreolen und Europaspaniern bei der Ämterbesetzung zu verlangen. Nachdem Abascal und die vizeköniglichen Funktionäre den Schwur auf die neue Verfassung im Oktober 1812 geleistet hatten, organisierten sie, wie von der Konstitution verlangt, Wahlen für die Stadt- und die Provinzräte im Vizekönigreich sowie für die Parlamentsabgeordneten in Spanien. Erstmals durften Europaspanier, Kreolen, Mestizen und Indianer gemeinsam wählen. Das Resultat der Limeñer Stadtratswahl behagte dem Vizekönig überhaupt nicht, denn von den 16 Gewählten waren nur vier Europaspanier. Die intensiven Aktivitäten, die das Gremium entfaltete – 81 Sitzungen im Jahr 1813 und 92 im Folgejahr – bildeten für Abascal Anlass zu konstanter Sorge. Auch in anderen Städten gingen die Kreolen als Sieger aus den Wahlen hervor.

Durch die Gewährung politischer Rechte und größerer Freiheiten bezweckten die Cortes letztlich, eine Abspaltung der überseeischen Gebiete auf friedlichem Wege zu verhindern. In Lima hatten sie mit ihrer Politik insofern Erfolg, als es zu keinen offenen antispanischen Kundgebungen kam. Außerhalb der Hauptstadt flackerten jedoch immer wieder separatistische Unruheherde auf, die ein militärisches Eingreifen provozierten. Mit der Bekämpfung der Separatisten wurden Truppen beauftragt, die sich fast ausschließlich aus Einheimischen zusammensetzten.

Aufstände im Vizekönigreich Peru

Kleinere Erhebungen – im Juni 1811 und im September 1813 in Tacna oder zwischen Februar und April 1812 im Gebiet von Huánuco – brachen schnell in sich zusammen. Ganz andere Dimensionen nahm 1814 der Aufstand von Cusco an, der den Bestand der spanischen Herrschaft im Vizekönigreich Peru ernsthaft gefährdete. Der Aufstand hatte eine lange Vorgeschichte, die bis auf das Jahr 1809 zurückging. Damals versuchte Vizekönig Abascal die Position der Royalisten durch die Ernennung von Europaspaniern in der Gerichts- und Verwaltungsbehörde (Audienz) von Cusco zu stärken. Tatsächlich wurde die Audienz die wichtigste Stütze der spanischen Herrschaft im Hochland. Das ging so weit, dass sie die Veröffentlichung der liberalen Verfassung von Cádiz hinauszögerte und deren Anwendung in Bezug auf die Wahl der Repräsentanten für die Cortes wie auch der Stadträte zu vereiteln suchte. Dennoch fanden im November 1812 Wahlen zur Bestimmung der Parlamentsabgeordneten in Spanien statt. Dabei offenbarten sich erneut Spannungen zwischen Anhängern der von Europaspaniern dominierten Audienz und deren Gegenspielern, den sogenannten Constitucionalistas. Letztere wollten die Verfassung von Cádiz wortgetreu und ohne Abstriche umgesetzt haben. Bei den Wahlen zum neuen Stadtrat im Februar 1813 gingen die Constitucionalistas als Sieger hervor. Kaum im Amt setzten auch schon die ersten Polemiken und Kompetenzstreitigkeiten zwischen den neu gewählten Räten und den Audienz-Funktionären ein. Diese befolgten die Anweisungen des Vizekönigs Abascal und verhinderten, dass die Constitucionalistas ihre verfassungsmäßigen Funktionen in vollem Umfang ausüben konnten. Inmitten des scharfen institutionellen Konflikts brach die Revolution im August 1814 aus. Unter Führung des Kreolen José Angulo besetzten 200 Aufständische das Militärhauptquartier in Cusco. Sie befreiten die gefangenen Gesinnungsgenossen und inhaftierten ihrerseits Exponenten des vizeköniglichen Regimes. Nach dem unblutigen Putsch setzten die Rebellen eine dreiköpfige Übergangsregierung ein, der auch der indianische Curaca (Anführer; Häuptling) Mateo García Pumacahua beitrat. Am 5. Oktober übernahm José Angulo das Amt eines Gobernador-Presidente und leistete einen Eid auf die Verfassung von Cádiz. Dabei bekräftigte er, dass er keine vizeköniglichen Befehle umsetzen würde, die nicht gerechtfertigt seien. Cuscos Stadtrat verhielt sich opportunistisch und unterstützte halbherzig die Aufständischen.

Nach dem erfolgreichen Putsch schwärmten Rebellenverbände aus der Gegend von Cusco Richtung Hochperu, Arequipa und Ayacucho aus. Kampflos nahmen die Aufständischen Puno ein. Sie stießen gegen La Paz vor, das sie nach kurzer Belagerung am 24. September 1814 besetzten. Auch Ayacucho und Arequipa fielen für kurze Zeit in ihre Hände. Trotz dieser Anfangserfolge konnten die gut ausgerüsteten und ausgebildeten royalistischen Truppen das Ruder noch herumreißen. Sie schlugen die Rebellen bei La Paz und in Ayacucho. Zur Entscheidungsschlacht kam es am 11. März 1815 in Umachiri (in der Nähe von Ayavirí, heutiges Dep. Puno), wo 1200 Königstreue 12 000 Aufständischen gegenüberstanden. Bei Letzteren handelte es sich überwiegend um schlecht gerüstete Bauernsoldaten, die mit ihren traditionellen Waffen kämpften. Das ungleiche Gefecht endete mit dem überwältigenden Sieg der disziplinierten und taktisch überlegenen Truppen aus Lima, wobei über 1000 Rebellen und nur 13 ihrer Gegner gefallen sein sollen. Einer der prominentesten Rebellen, der in spanische Gefangenschaft geriet, war der junge arequipeñische Poet und Feldrichter Mariano Melgar. Einen Tag nach seiner Gefangennahme richteten ihn die Spanier hin. Wenig später hängten sie auch den von Melgar besungenen 75-jährigen Curaca Pumacahua. Dessen Leichnam wurde zerstückelt und der Kopf zur öffentlichen Zurschaustellung nach Cusco gebracht. Am 25. März marschierten die royalistischen Truppen in Cusco ein. Die Sieger lösten den Stadtrat auf, setzten die entlassenen Audienzbeamten wieder ein und machten den Rädelsführern den Prozess. José Angulo und seine Brüder Vicente und Mariano wurden zusammen mit dem Priester und Militärkommandanten José Gabriel Béjar am 29. Mai erschossen. Nachdem die Stadt Cusco wieder fest unter vizeköniglicher Kontrolle stand, brach eine Militärexpedition auf, um die letzten Aufstandsherde südlich von Cusco gewaltsam zu ersticken. Im Verlauf des Feldzugs verloren Hunderte von Rebellen bei Kämpfen und Strafaktionen ihr Leben.

Zu Beginn des Aufstandes konnten die Verfassungsbefürworter auf breite Unterstützung aus fast allen städtischen Gesellschaftsschichten zählen – der niedere Klerus, der Bischof und der Stadtrat mit inbegriffen. Anfänglich versicherten sie, dass die Verfassung von Cádiz die einzige Richtschnur ihres Handelns sei. Mit der Ausweitung und Radikalisierung der Bewegung rückten jedoch neue Optionen ins Blickfeld: die Etablierung einer von der spanischen Krone unabhängigen Regierung mit Cusco als neuer Hauptstadt. Im selben Maß, wie die Aufstandsbewegung einen dezidiert antispanischen Charakter annahm, schwand die Unterstützung seitens der vermögenden Kreolen und Mestizen, die zudem über den wiederholten Einzug von »freiwilligen« Spenden zur Finanzierung der Erhebung verärgert waren. Besetzungen von landwirtschaftlichen Gütern (Haciendas), Überfälle, Plünderungen und Gewaltexzesse sowie die Exekution hoher vizeköniglicher Funktionäre taten ein Übriges. Schließlich entzog auch der Cusqueñer Stadtrat den Aufständischen seine Unterstützung.

Neue Angriffsstrategie

Drei Mal waren »patriotische« Truppen aus der Río-de-la-Plata-Region in Hochperu eingedrungen, um vom heutigen Bolivien aus das Vizekönigreich Peru anzugreifen. Und drei Mal hatten royalistische Verbände die Vorstöße zurückgeschlagen. Die Misserfolge bewogen den »patriotischen« General José de San Martín zu einer fundamentalen Änderung der Angriffsstrategie: Peru sollte nicht mehr über den langwierigen Landweg attackiert werden, sondern von seiner südlichen Flanke in Chile aus, und zwar auf dem Seeweg. Voraussetzung zur Verwirklichung dieses kühnen Planes waren die riskante Überquerung der Anden, die Eroberung des Generalkapitanats Chile sowie die Übernahme der Seeherrschaft im südlichen Pazifik.

Gegen Ende des Jahres 1816 stand San Martíns Armee bereit, um von Mendoza aus über die Anden in Chile einzumarschieren. Über mehrere Einfallsachsen rückten die Truppen ins Generalkapitanat vor. Während der Überquerung der Berge, die ungefähr 20 Tage beanspruchte, mussten die einzelnen Heeresteile Passhöhen von bis zu 5000 m bewältigen. Unter den 5000 Soldaten befand sich ein großes Kontingent ehemaliger Sklaven und eine Handvoll Europäer – Veteranen der Napoleonischen Kriege. Nach verschiedenen blutigen Zusammenstößen fiel die definitive Entscheidung in der Schlacht von Maipú (auch: Maipó) am 5. April 1818. Die 3000 Mann starken royalistischen Verstärkungstruppen aus Peru – die Hälfte davon Peruaner, die andere Hälfte Europaspanier, die frisch aus Panama eingetroffen waren – wurden vernichtend geschlagen. Dank diesem Sieg war die Unabhängigkeit Chiles erkämpft, auch wenn im Süden noch einige Jahre royalistische Guerillas operierten und die letzte spanische Festung auf Chiloé sich erst im Jahr 1826 ergab. Mit der Niederlage von Maipú verlor Peru einen Teil seiner Pazifikflotte und büßte eine seiner dynamischsten Handelszonen ein. Dem königlichen Schatzamt in Lima entgingen die substanziellen Abgaben auf Getreide- und Talgimporte beziehungsweise Zucker- und Melasse-Exporte, während der legale Überseehandel mit Spanien über die Kap-Hoorn-Route praktisch zum Erliegen kam. Bislang waren jährlich rund 180 000 Fanegas (ca. 10 Million Liter) chilenisches Getreide nach Lima verschifft worden. Mit der Unterbrechung des Handels schlitterte die Hauptstadt in eine lange Versorgungskrise, in der Getreidemangel, Lebensmittelspekulation und Hunger eine verheerende Rolle spielen sollten.

Nicht nur im südlichen, auch im nördlichen Südamerika mussten die Royalisten herbe Niederlagen einstecken. Im Juli 1818 nahmen Simón Bolívars Truppen im nordöstlichen Venezuela die Stadt Angostura (heute Ciudad Bolívar) ein. Damit verfügten auch Venezuelas »Patrioten« über einen festen Stützpunkt, der ihnen als Aufmarschgebiet gegen die Spanier diente. Selbst innerhalb Perus flackerten wieder Unruhen auf, so im Juli in der Provinz Andahuaylas und im Oktober in der Provinz Aymaraes.

Unterdessen erstanden die »Patrioten« Zentralchiles in London Schiffe und Ausrüstungsmaterial. Als Kommandanten für ihre neu geschaffene Flotte mit sieben Kriegsschiffen gewannen sie den schottischen Lord Thomas Cochrane, einen der bekanntesten Marineoffiziere Großbritanniens. Im Januar 1819 stieß Cochranes Flottenverband, dem auch ein Kontingent von 100 Schwarzen aus der La-Plata-Region angehörte, in peruanische Gewässer vor. Die Kriegsschiffe nahmen Limas Hafen Callao unter Beschuss. Während ein Teil der Flotte den Hafen abriegelte, griff Cochrane mit den restlichen Schiffen Häfen entlang der Nordküste an. »Patriotische« Emissäre gingen an Land, verteilten Propagandamaterial und nahmen Kontakte zu peruanischen Unabhängigkeitskämpfern und Rebellenführern auf. Gleichzeitig verschlechterte sich die Sicherheitslage im peruanischen Küstengebiet merklich: Sklaven flohen aus den Plantagen, subversive Aktivitäten hatten Hochkonjunktur, das Banditentum wucherte und Raubüberfälle auf den Straßen häuften sich.

Angefangen mit Supe am 5. April proklamierten mehrere peruanische Küstenorte die Unabhängigkeit. Lord Cochrane gelang es aber nicht, Lima in die Knie zu zwingen. Im Mai hob er die Blockade des Hafen Callao auf und segelten nach Chile zurück. Im September des gleichen Jahres fuhren Cochranes Schiffe abermals Richtung Norden los. Sie sperrten erneut die Zufahrt zu Limas Hafen und stießen anschließend bis nach Guayaquil vor. Ohne vorgängige Absprache mit der chilenischen Regierung nahm Cochranes Flottenverband Anfang Februar 1820 in einem Husarenstreich den stark befestigten Hafen von Valdivia in Südchile ein. Außerdem gelang es dem Schotten, royalistische Verstärkung aus Spanien abzufangen, den spanischen Handel im Südpazifik zu unterbinden und die peruanische Küste weiterhin unsicher zu machen. Dem nicht genug: Mit der tollkühnen Kaperung der gut gesicherten Fregatte Esmeralda im Hafen Callao im November erwies der schottische Marineveteran der Unabhängigkeitsbewegung einen unschätzbaren Dienst. Denn mit der Esmeralda, die über 44 Kanonen verfügte, verloren die Königstreuen das Flaggschiff ihrer Pazifikflotte.

Die Ausrufung der Unabhängigkeit

Der Hafen von Valparaíso bildete das Aufmarschgebiet für die »patriotischen« Invasionstruppen. Chiles Oberster Staatsführer Bernardo O’Higgins (1817–1823) übertrug dem befreundeten San Martín das Chefkommando mit weitgehenden politischen und militärischen Vollmachten. Die Seestreitkräfte befehligte, im Range eines Vizeadmirals, Lord Cochrane. Am 21. August 1820 lichteten 18 Transport- und sieben Kriegsschiffe ihre Anker. Neben 1600 Seeleuten waren die Division der Anden und die Division von Chile mit einer Truppenstärke von rund 4500 Mann sowie 35 Feldgeschütze an Bord. Bei rund 2000 Männern, die als Infanteristen, Kavalleristen, Artilleristen oder Seeleute dienten, handelte es sich um freigelassene Sklaven. Unter den Hauptleuten befanden sich Briten und US-Amerikaner. Buenos Aires beteiligte sich nicht an der Finanzierung der Militärexpedition, sodass der chilenische Staat die hohen Kosten allein zu schultern hatte. Am 7. September 1820 erreichte der Flottenverband die Bucht von Paracas, 250 Kilometer südlich von Lima. Tags darauf besetzten die Truppen die benachbarte Stadt Pisco. Angelockt vom Versprechen auf Freiheit, reihten sich viele geflohene Sklaven als Soldaten ins Invasionsheer ein.

San Martíns Offensive fiel in eine Zeit, in der politische Auseinandersetzungen und Bürgerkriege das spanische Mutterland und die Royalisten in Amerika erheblich schwächten. Die Rebellion der liberalen Kräfte in Spanien verhinderte das Auslaufen von Truppen und löste eine Welle von Desertionen in den spanischen Garnisonen in Übersee aus. Mit Truppen- und Materialnachschub aus Europa war nun nicht mehr zu rechnen. Kurz vor San Martíns Landung verkündete Vizekönig Pezuela das neuerliche Inkrafttreten der Verfassung von Cádiz. Verfassungskonform setzte er Wahlen für die Stadt- und Gemeinderäte, für die Abgeordneten der Cortes und diejenigen der Provinz an. Aus Madrid erhielt er den Befehl, mit San Martín Verhandlungen über einen Waffenstillstand aufzunehmen. Zugleich versprach die neue spanische Regierung, eine Verhandlungsdelegation nach Peru zu entsenden.

San Martín willigte tatsächlich in Verhandlungen ein, die am 25. September in Miraflores in der Nähe von Lima begannen. Schnell wurde klar, dass keine gütliche Einigung möglich war. Als Repräsentant des spanischen Monarchen konnte und wollte Pezuela in keine Form von Unabhängigkeit einwilligen, zumal er davon überzeugt war, dass sich mithilfe der liberalen Verfassung die kreolischen Forderungen nach Gleichstellung und mehr Autonomie auch ohne Abspaltung vom Mutterland verwirklichen ließen. Nach ergebnislosen Verhandlungen und dem Auslaufen des Waffenstillstands am 4. Oktober setzte San Martín seine Streitkräfte wieder in Bewegung. Eine Truppeneinheit marschierte über Ica ins zentrale Hochland ein. Die »Patrioten« stießen bis ins Bergbaugebiet von Cerro de Pasco vor, wo sie den königstreuen Truppen am 6. Dezember 1820 eine empfindliche Niederlage bereiteten. Sie besetzten für kurze Zeit den Minendistrikt und beschlagnahmten das Silber. Außerdem beschädigten sie die englischen Dampfmaschinen, die man vier Jahre zuvor neu installiert hatte. Im Zuge dieser Militärexpedition erklärten sich neben Ica auch Tarma, Pasco und Huánuco für unabhängig.

In der Zwischenzeit schiffte sich das Gros des »patriotischen« Heeres wieder ein mit dem Ziel, einen Belagerungsring um Lima aufzuziehen. Die Hauptstreitkraft ging bei Ancón nördlich der Hauptstadt an Land. Sie richtete etwas später im nahen Huaura-Tal ihr Hauptquartier für sechs Monate ein. San Martín vermied es, seine zahlenmäßig unterlegenen Truppen in eine alles entscheidende Schlacht zu führen. Er konzentrierte seine Anstrengungen auf die Verbreitung antispanischer Propaganda und die logistische Unterstützung aufständischer Einheimischer. Durch die Blockade Limas beabsichtigte er, die Royalisten auszuhungern und sie durch Nadelstichoperationen zu zermürben. Obwohl Vizeadmiral Cochrane und manche Offiziere eine solche Strategie ablehnten, konnte San Martín erste Erfolge verbuchen. Eine wachsende Zahl peruanischer Gemeinden und Ortschaften erklärte sich für unabhängig. Angeführt vom Aristokraten José Bernardo de Tagle y Portocarrero, proklamierte der Stadtrat von Trujillo am 29. Dezember 1820 die Unabhängigkeit und unterstützte die Aufständischen mit Rekruten und Nachschub. Dem Beispiel Trujillos folgten alsbald Piura und weitere nördliche Orte. Bis im Mai 1821 sprach sich der gesamte Norden für die Loslösung von Spanien aus. Zahlreiche royalistische Soldaten und Offiziere liefen zu San Martín über. Im zentralen Hochland verstärkten sich währenddessen die antispanischen Guerillaaktivitäten.

Für die eingeschlossenen royalistischen Truppen in Lima, die unter Versorgungsengpässen und epidemischen Krankheiten litten, wurde die Lage immer schwieriger. Zugleich wuchs von ziviler Seite der Druck auf Vizekönig Pezuela, denn die neu gewählten Limeñer Stadträte forderten Verhandlungen mit San Martín. Auch die spanischen Offiziere haderten mit dem Vizekönig, dem sie Passivität und Tatenlosigkeit vorwarfen. In einer beispiellosen Aktion zwang das Offizierskorps am 29. Januar 1821 Pezuela zum Rücktritt. An seine Stelle trat General José de La Serna, ein in den napoleonischen Kriegen erprobter Kommandant und treibende Kraft unter den meuternden Offizieren. La Serna versicherte, die Verfassung von Cádiz respektieren zu wollen. Der Putsch zog keinerlei disziplinarische Maßnahmen seitens der spanischen Regierung nach sich. Im Gegenteil: La Serna wurde nachträglich offiziell zum Generalkapitän Perus ernannt.

Wie angekündigt traf im April eine Abordnung des spanischen Parlaments in Lima ein, um Verhandlungen mit San Martín aufzunehmen. Die Verhandlungsdelegationen einigten sich auf die Erneuerung des Waffenstillstands und die Einberufung eines Friedensrats. San Martín warb für sein politisches Projekt, das die Etablierung einer konstitutionellen Monarchie unter Beibehaltung der althergebrachten Privilegien vorsah. Spanien sollte die Unabhängigkeit der Río-de-la-Plata-Region, Chiles und Perus anerkennen und einen spanischen Prinzen für den Thron in Lima benennen. Für La Serna waren diese Vorschläge inakzeptabel, ganz gleich was die spanischen Parlamentsabgeordneten davon halten mochten. La Serna hatte schon früh eingesehen, dass ein Ausharren in Lima aussichtslos war. Vizeadmiral Cochrane blockierte den Hafen Callao und damit die Zufahrt von der Seeseite, während die »patriotischen« Truppen eine adäquate Versorgung der Hauptstadt auf dem Landweg unterbanden. Das Brot wurde knapp und unerschwinglich teuer. Pferdefutter war Mangelware; Epidemien und Desertionen dezimierten den Truppenbestand. Darüber hinaus erwiesen sich der Consulado und Limas Elite außerstande, dringend benötigte Gelder für die Fortsetzung der Kämpfe aufzutreiben. Angesichts dieser Schwierigkeiten leitete La Serna den Abzug der royalistischen Truppen aus der Hauptstadt in die Wege. Am 25. Juni verließ die Hälfte der Infanterie und Kavallerie Lima. Der 4000 Mann starke Heeresteil zog via Cañete-Tal ins zentralperuanische Hochland. Anfang Juli 1821 rückten auch die restlichen Truppen unter dem Befehl von La Serna ab. Nur mehr ein kleines Kontingent blieb in der uneinnehmbaren Festungsanlage Real Felipe im Hafen Callao zurück. Eine Spur der Verwüstung nach sich ziehend und die Hälfte seiner Truppen einbüßend, gelangte La Serna ins Mantaro-Tal, wo sich die beiden royalistischen Heeresteile am 4. August erneut vereinigten. Durch die Aufgabe Limas entledigte sich La Serna auf einen Schlag aller Probleme, die bei der Belagerung einer Großstadt anfielen und bürdete die Verteidigung der Stadt seinen Gegnern auf. Im fruchtbaren Mantaro-Tal hingegen waren die Versorgungslage und die Möglichkeiten zur Aushebung neuer Rekruten ungleich viel günstiger als in Lima.

Ohne militärischen Schutz und den unmittelbar bevorstehenden Einmarsch von San Martíns Armee vor Augen, traten am 15. Juli in aller Eile 340 Notabeln im Stadtrat von Lima zusammen. Im Namen sämtlicher Stadtbewohner unterschrieben sie eine Deklaration, die sich für die Unabhängigkeit von Spanien aussprach. Die formelle Proklamation der Unabhängigkeit beziehungsweise der Schwur auf die neue Ordnung wurden auf den 28. und den 29. Juli angesetzt. Unter den Unterzeichnern der Unabhängigkeitserklärung befanden sich viele, die der »patriotischen« Bewegung skeptisch gegenüberstanden. Sie schlossen sich notgedrungen oder aus Opportunitätsgründen, ohne tiefere innere Überzeugung, den »Befreiern« an. Ein ansehnlicher Teil der Limeñer Elite zog die Flucht einem Arrangement mit den neuen Machthabern vor. Mindestens die Hälfte der Adligen, zwei Drittel des Stadtrats, ein Fünftel des Kirchenrats und die Hälfte der Audienz-Mitglieder flohen aus der Stadt.

San Martíns Protektorat

Am 28. Juli 1821 rief San Martín auf dem Hauptplatz von Lima die Unabhängigkeit aus. Er organisierte eine Übergangsregierung, deren politische und militärische Führung er selbst unter dem Ehrentitel Protector de la Libertad del Perú (Beschützer der Freiheit Perus) übernahm. Seine Führungsrolle gedachte er bald wieder zugunsten eines europäischen Prinzen abzugeben, entsprechend seines politischen Konzepts, das vorsah, die unabhängig gewordenen amerikanischen Länder in einem Verbund monarchisch regierter Staaten zusammenzufassen.

Zu Beginn des Protektorats befanden sich nur die nördlichen Küstengebiete und die Gegend um Lima unter Kontrolle der »Patrioten«. Über das Hochland, von Quito bis Potosí, geboten nach wie vor die Royalisten. Diese hatten in Hochperu ein starkes Heer stationiert und kontrollierten den Süden des Landes. Die spanischen Truppen im Mantaro-Tal stellten eine unmittelbare Gefahr für die Hauptstadt dar. Direkter Gegenspieler von San Martín blieb La Serna, den die spanische Regierung am 15. August 1821 zum höchsten politischen Kommandanten Perus ernannte. Damit vereinigte sich die politische und militärische Führung der Royalisten auch offiziell in seiner Person. Im Dezember verlegte La Serna den Regierungssitz, das militärische Hauptquartier, die Münzprägeanstalt und die amtliche Druckerei nach Cusco. Das Hauptkontingent seiner Truppen blieb im Mantaro-Tal. Für drei Jahre sollte Cusco die Hauptstadt des schrumpfenden spanischen Imperiums in Südamerika sein. Weit von der Küste entfernt bot die ehemalige Hauptstadt der Inkas Sicherheit vor maritimen Überraschungsangriffen. Zudem verfügte Cusco über die nötigen Einnahmequellen – in erster Linie die indianische Kopfsteuer, Verkaufssteuern und Staatsmonopole –, um sowohl die royalistische Regierungsadministration als auch die Armee zu unterhalten. Den Anordnungen der spanischen Cortes Folge leistend, ließ La Serna Wahlen zu und etablierte Provinzräte in den Zentren Cusco, Huamanga, Arequipa, Puno und La Paz. Die Royalisten kontrollierten ein bevölkerungsreiches Gebiet mit zahlreichen indianischen Bauerngemeinschaften. Diese stellten auch den Großteil der neu rekrutierten Soldaten, was den indianischen Führern die Möglichkeit bot, mehr Machtbefugnisse im Austausch gegen militärische Hilfe auszuhandeln. Zudem wussten viele indianische Gemeinschaften das Wahlrecht zu schätzen, das ihnen die Verfassung von Cádiz garantierte und das ihnen die Selbstbestimmung ihrer Gemeinderäte sowie die Mitbestimmung bei den Provinzräten und den Abgeordneten für die Cortes in Spanien gewährte.

Während La Serna seine Position im Hochland konsolidierte, hatte sein Kontrahent in Lima mit zunehmenden Schwierigkeiten zu kämpfen. In den ersten fünf Monaten seiner Herrschaft unterzeichnete San Martín eine Fülle von Dekreten und drohte sich im administrativen Gewirr zu verlieren. Bezüglich seines Hauptauftrags, den Feind zu stellen und den Krieg siegreich zu beenden, machte er keinerlei Fortschritte. Im Gegenteil: Mitte September schlugen sich royalistische Streitkräfte vom Mantaro-Tal bis zum Hafen Callao durch. Sie evakuierten die Festung Real Felipe, plünderten Limas Stadtkasse und kehrten unbehelligt ins Hochland zurück. Dass San Martín eine offene Konfrontation vermied, trug ihm bei der hauptstädtischen Bevölkerung wenige Sympathien ein. Mit einer Reihe von unpopulären Maßnahmen brachte er breite Sektoren zusätzlich gegen sich auf. Am schwerwiegendsten erwies sich die gegen Europaspanier und spanientreue Kreolen gerichtete Verfolgungskampagne unter Leitung seines Sekretärs, des neu ernannten Kriegs- und Marineministers Bernardo Monteagudo (1790–1825). Monteagudo, der einen schwarzen und einen weißen Elternteil hatte und aus dem argentinischen Tucumán stammte, war ein gewiefter Ideologe, der die politischen Vorstellungen des Protektors teilte. Nicht zuletzt wegen seiner Hautfarbe schlug ihm der offene Hass mancher Limeñer Kreolen entgegen, die ihn als »mulattischen Priapos und Entjungferer weißer Mädchen« verspotteten. San Martín und Monteagudo drängten auf der Schließung der kirchlichen Bußhäuser, in denen adlige Spanier und mutmaßliche Gegner aufgrund des kirchlichen Asylschutzes Zuflucht gefunden hatten. Ihr Druck wurde so stark, dass der Erzbischof von Lima, Bartolomé de Las Heras, der die Unabhängigkeits-

Abb. 5: Cusco, einstige Hauptstadt des inkaischen Großreiches.

urkunde mitunterzeichnet hatte, die Stadt mit dem Ziel Spanien verließ. Gegen Jahresende verschärfte Monteagudo die Ausweisungs- und Konfiszierungskampagnen. Die Schiffe im Hafen Callao füllten sich mit Flüchtlingen und Vertriebenen. Wer emigrierte, verlor zwangsläufig mindestens die Hälfte seiner Güter. Hatten sich die Repressalien anfänglich gegen unverheiratete Europaspanier gerichtet, so wurden sie bald auf alle Personen ausgeweitet, die nicht beweisen konnten, dass sie die Unabhängigkeitsbewegung unterstützt hatten. Selbst bewährte »Patrioten«, deren republikanischer Liberalismus dem monarchistischen Konzept der Machthaber zuwiderlief, wurden bestraft und verbannt. Laut dem Reisetagebuch des schottischen Geschäftsmanns und Pflanzensammlers Alexander Caldcleugh lebten vor Monteagudos Amtsübernahme 10 000 Spanier in Lima. Als dieser am 25. Juli 1822 aus dem Amt gejagt wurde, sollen es kaum mehr 600 gewesen sein. Unter den Exilierten befanden sich nebst dem Erzbischof auch der Bischof von Ayacucho, fünf hohe Audienz-Funktionäre und prominente Mitglieder des Consulado. Die Vertreibung der kommerziellen und finanziellen Elite schädigte die Wirtschaft in starkem Maße. Fachwissen und Investitionskapital gingen unwiederbringlich verloren. Die entstandene Lücke füllten britische Importeure und Exporteure, womit sich neue wirtschaftliche Abhängigkeiten abzeichneten. Die Zwangsmaßnahmen empörten überdies viele Angehörige der kreolischen Mittel- und Oberschichten, die mit den Deportierten durch familiäre, geschäftliche und freundschaftliche Beziehungen verbunden waren.

Gegen Jahresende befand sich das Protektorat in einer kritischen Lage. San Martín reagierte auf die zunehmenden Schwierigkeiten, indem er im Dezember 1821 ein Dekret zur Einberufung des ersten peruanischen Kongresses – eines Verfassungskongresses – unterzeichnete. Nichtsdestotrotz nahmen die allgemeine Unzufriedenheit und die Enttäuschung über seine Regierungsführung weiter zu. Bei der Limeñer Elite stieß die Wirtschafts- und Sozialpolitik auf offene Ablehnung. Die Bevorzugung auswärtiger Vertrauensleute bei der Ämterbesetzung schürte zusätzliche Ressentiments. Verschlimmernd wirkte sich die prekäre Finanzlage aus. San Martíns Regierung sah sich außerstande, die Truppen angemessen zu entlohnen, weshalb viele Soldaten desertierten. Nur mehr 600 Chilenen und eine noch geringere Anzahl an Soldaten aus der La-Plata-Region harrten in Peru aus. Angesichts des drohenden Staatsbankrotts richtete die Regierung eine Bank ein, die Papiergeld herausgab, was die finanzielle Situation aber nur mehr verschärfte. Um den ökonomischen Verpflichtungen nachzukommen, vergab das Protektorat Monopole, prägte Münzen und requirierte die Reichtümer der Kirche. Bald zirkulierten gefälschte Geldscheine, während Zwangseintreibungen und Monopolvergaben die Vermögenden empörten. Weil es trotz aller Bemühungen nach wie vor an finanziellen Mitteln fehlte, entsandte San Martín zwei Vertraute nach Großbritannien, um den ersten Auslandskredit in der Geschichte Perus aufzunehmen. Offiziell hatten die beiden Gesandten den Auftrag, in Europa ein Darlehen von 1,5 Millionen Pfund Sterling (6 Mio. Pesos) aufzunehmen, für die diplomatische Anerkennung Perus zu werben sowie Handels-, Freundschafts- und Bündnisverträge auszuhandeln. Insgeheim sollten sie außerdem eruieren, ob sich ein europäischer Prinz – wenn möglich katholischen Glaubens – bereitfände, als Monarch die Herrschaft in Peru zu übernehmen. Nach ihrer Ankunft in London im September 1822 handelten San Martíns Abgeordnete ein Darlehen über 1,2 Millionen £ mit einem britischen Kaufmann aus.

Das Ende des Protektorats

Zu Beginn des Jahres 1822 kam es zum Bruch zwischen dem Protektor und Vizeadmiral Cochrane. Weil die Zahlungen für seine Mannschaft ausblieben und er Meutereien befürchtete, beschlagnahmte Cochrane kurzerhand Gelder, die der peruanischen Regierung und Privatpersonen gehörten, und bezahlte damit seine Seeleute. San Martín erzwang darauf den Abzug des Schotten aus dem Hafen von Callao. Während Cochrane seine Kampagne gegen spanische Schiffe auf eigene Faust weiterführte, musste sich der Protektor um den Aufbau einer gesonderten peruanischen Flotte kümmern. Tatsächlich gelang es ihm, zunächst einige kleine Schiffe und später zwei spanische Fregatten zu erwerben. Unter widrigen Umständen entschloss sich San Martín zur Entsendung eines Befreiungsheeres, das die südlich von Lima gelegene Stadt Ica den Royalisten wieder entreißen sollte. Der Feldzug endete bereits im April 1822 in einem Debakel und beeinträchtigte den ohnehin schon angekratzten Ruf des Protektors weiter. Jedoch hielt sich der militärische Schaden in Grenzen. Denn am 24. Mai 1822 triumphierten »patriotische« Truppen in der Schlacht von Pichincha in der Nähe von Quito, womit sich ganz Ecuador der spanischen Herrschaft entledigte. Den Oberbefehl über die siegreichen Truppen hatte Antonio José de Sucre inne, einer der engsten Vertrauten Simón Bolívars. Am 16. Juni 1822 hielt Bolívar seinen Einzug in Quito, wo er die Eingliederung Ecuadors in die Republik Großkolumbien verkündete. Zugleich forderte der »Libertador« (»Befreier«) den Anschluss von Guayaquil, dem einzigen größeren Hafen für das Hochland von Quito. Die peruanischen Ansprüche auf das südecuadorianische Küstengebiet negierend, dekretierte er am 13. Juli 1822 die formelle Inkorporation Guayaquils in das großkolumbianische Territorium.

Während Bolívars Renommee ständig wuchs, wurde die Lage für San Martín immer prekärer. Seine Armee setzte sich hauptsächlich aus Sklaven und frisch rekrutierten Kräften zusammen. Weil die Soldaten nur unregelmäßig ihren mageren Sold erhielten, verkauften oder verpfändeten manche ihre Uniformen. Die undisziplinierte Soldateska, die sich an Überfällen und kleinkriminellen Delikten beteiligte, stellte eine ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung dar. Mitte 1822 musste Limas Stadtrat die Zahlungen seiner wichtigsten Verpflichtungen einstellen. Im September erhielten die Truppen nur noch zwei Drittel des ihnen zustehenden Soldes. Nicht besser erging es den Beamten, die schon seit Monaten nur die Hälfte ihrer Saläre bezogen. Obschon das Londoner Darlehen kurzfristige Linderung versprach, verblieb ein Schuldenberg. Denn das Protektorat hatte Schulden in der Höhe von 6,5 Millionen Pesos anerkannt, die es von den vizeköniglichen Vorgängerregierungen geerbt hatte. Die Hauptstadt litt unter Lebensmittelknappheit und dem Mangel an Hartgeld. Anfänglich kooperationswillige Adlige und Angehörige des Mittelstandes, die auf eine Karriere im Dienst des Protektorats gehofft hatten, wandten sich enttäuscht von San Martín ab. Da dieser weder von Chile noch von Buenos Aires Truppenverstärkung, Waffenlieferungen oder Finanzhilfe erwarten konnte, wandte er sich Hilfe suchend an Simón Bolívar.

Kurz nach der faktischen Annexion Guayaquils trafen sich die beiden Helden der Unabhängigkeitskämpfe in der südecuadorianischen Hafenstadt. Die Zusammenkünfte vom 26. und 27. Juli fanden im privaten Rahmen und hinter geschlossenen Türen statt. San Martín musste widerwillig akzeptieren, dass Guayaquil nun zu Großkolumbien gehörte. Kein Gehör fand er mit seinem monarchischen Projekt, denn Bolívar strebte eine Föderation zwischen den befreiten Republiken an. Zwar sicherte der »Libertador« San Martín militärische Hilfe zu, allerdings bei weitem nicht genug, um die royalistischen Truppen vernichtend schlagen zu können. Entmutigt reiste San Martín nach Lima zurück, wo ihn neue Schwierigkeiten erwarteten. Während seiner Abwesenheit war der verhasste Kriegs- und Außenminister Monteagudo abgesetzt und aus Lima deportiert worden. Weitgehend isoliert trat der Protektor am 20. September 1822 von seinen Ämtern zurück und übertrug seine Autoritätsbefugnisse dem ersten Kongress des Landes. Unverzüglich reiste er nach Chile und von dort aus weiter ins europäische Exil, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1850 bleiben sollte.