Pfälzer Eisfeuer - Harald Schneider - E-Book

Pfälzer Eisfeuer E-Book

Harald Schneider

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Beschreibung

Als bei einer Weinprobe der LandFrauen in Landau ein Feuer ausbricht, wird ein toter Außenprüfer des Finanzamtes entdeckt. Als in Zeiskam bei »Schickes Lädel« eine zweite Scheune abbrennt, ist klar, dass die alte Salat-Züchtung Eiskraut das verbindende Element ist. Palzki erkennt nach weiteren Verbrechen, dass die scheinbar heile Welt der LandFrauen voller Intrigen und Lügen ist. Während diese den neuen Likör »Pfälzer Eisfeuer« vorstellen, versucht Palzki unter widrigen Umständen bei einer Versammlung der LandFrauen in Rockenhausen den Täter zu entlarven …

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Harald Schneider

Pfälzer Eisfeuer

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Frank Fischbach/shutterstock

ISBN 978-3-8392-5824-8

Glossar

Reiner Palzki – Kriminalhauptkommissar aus Schifferstadt

Klaus P. Diefenbach (KPD) – Dienststellenleiter der Kriminalinspektion Schifferstadt und Palzkis Vorgesetzter

Dietmar Becker – krimischreibender Student

Doktor Matthias Metzger – Notarzt

Günter Wallmen – Notfallchirurg und Metzgers Lehrling

Winfried Gansfuß – Besitzer eines Weinguts in Lan­dau-Mörzheim

Ilse Gansfuß – Präsidentin der Pfälzer Landfrauen, Mitbesitzerin des Weinguts

Brigitte Mai – Geschäftsführerin des Landfrauenverbandes Pfalz

Martina Segemeier – Erste Kriminalhauptkommissarin der Kriminalpolizei Landau

Klaus Monetero – Außenprüfer des Finanzamtes

Stefan Lochbaum – Weingutbesitzer

Inge Schick – Landfrau, Inhaberin von ›Schickes Lädel‹, Zeiskam

Norbert Schindler – Politiker

Erna Giessler – Landfrau aus dem Ortsverein Kappeln, Kreis Kusel

Gerda Opnitz – Landfrau aus dem Kreisverband Südwestpfalz

Emmi Walter – Landfrau aus Kalkofen, Mitglied im Ortsverein Oberhausen

 

Kapitel 1 Die Einladung

Es hätte so ein schöner Tag werden können.

»Musst du mir immer alles vermiesen?« Meine Frau Stefanie schaute mich mit einem kurz vor der Explosion stehenden Blick an. Diese Mimik war ein überaus deutlicher Warnhinweis. Ich konnte zwar nicht, wie es klischeehaft regelmäßig beschrieben wurde, meiner Frau jeden Wunsch von den Augen ablesen, aber zumindest aus ihrem Blick erkennen, wenn innerfamiliäre Gefahr drohte.

Ich schaltete rhetorisch einen Gang zurück. »Wer spricht denn hier von vermiesen? Ich wollte dir nur völlig objektiv meine Bedenken schildern.«

»Und wo liegt da der Unterschied?«, brummte sie mich an. »Wir haben selten genug die Gelegenheit, ohne Kinder auszugehen.« Sie sah mich herausfordernd an und stellte mit bittersüßer Stimme die Frage der Fragen: »Oder willst du überhaupt nicht mit mir ausgehen?«

Ich wusste, dass in solch einer Situation ein einziges falsches Wort genügen würde, um den Dritten Weltkrieg auszulösen. Zwecks privater Deeskalation und Bemühungen um den Weltfrieden nahm ich sie in den Arm und lächelte sie an. Gegen mein Lächeln war sie meist wehrlos. »Natürlich freue ich mich auf den gemeinsamen Abend mit dir. Es sind nur die Begleitumstände, die mich stören.«

»Du musst nicht einmal Wein trinken«, erwiderte sie. »Wir sagen den anderen, dass du Auto fahren musst. Damit wird sich wohl jeder zufriedengeben. Du musst also keine Angst haben, dass du wieder Sodbrennen bekommst, Reiner.«

Ich erkannte das Missverständnis. Gut, dass wir darüber gesprochen hatten. »Ich meine doch gar nicht die Weinprobe an sich, Stefanie«, klärte ich sie auf. »Du weißt, dass ich seit einiger Zeit auch mal ein Gläschen Wein trinke. Seit meinen Ermittlungen in Bad Dürkheim und an der Weinstraße habe ich mich mit dem Rebensaft angefreundet. Er soll nur nicht zu viel Säure haben. Dennoch darfst du heute gerne an der Weinprobe aktiv mitmachen. Ich will doch, dass du auch mal deinen Spaß hast.«

Stefanie sah mich ratlos an. »Und wozu dann das ganze Theater? Ich dachte, du willst dich um den Abend drücken?«

»Ich doch nicht!«, wehrte ich mit beiden Händen ab, wohl wissend, auf der Verliererseite zu stehen. »Wie gesagt, es geht mir nur um die Begleitumstände.«

Meine Frau verstand immer noch nicht.

»KPD«, antwortete ich fast flüsternd.

Jetzt hatte sie verstanden und lachte laut heraus. »Du machst dir solch einen Stress wegen deines Chefs? Du siehst ihn die ganze Woche.«

»Eben drum. Da will ich ihn nicht auch noch am Samstagabend ertragen müssen. Seit Tagen erzählt er auf der Dienststelle jedem, der es nicht wissen will, dass er uns beide zu einer Weinprobe nach Landau eingeladen hat. Du kannst dir nicht vorstellen, welches Spießrutenlaufen ich täglich im Büro durchstehen muss. An den kommenden Montag möchte ich jetzt gar nicht denken.«

KPD, wie wir den Dienststellenleiter der Kriminalin­spektion Schifferstadt wegen seiner Initialen nannten, hieß in Wirklichkeit Klaus Pierre Diefenbach. Man konnte ihn mit einem einzigen Attribut beschreiben: Egozentrisch. Das klang im ersten Moment relativ harmlos, sind doch viele bekannte Politiker, Schauspieler und andere A- bis D-Promis Egozentriker. Bei KPD war es weitaus schlimmer. Sein Weltbild bestand ausschließlich aus ihm. Alles, was sich um ihn herum abspielte und nicht in seine Gedankenwelt passte, gab es für ihn nicht. Um KPD zu verstehen, muss man die Zeit 13,8 Milliarden Jahre zurückdrehen. Nach der Urknalltheorie gab es vor diesem Zeitpunkt weder Materie noch Raum oder Zeit. Alles war in einer sogenannten Singularität vereinigt. Wenn man sich meinen Chef charakteristisch als solch eine Singularität vorstellte, dann war man an der Wahrheit verdammt nah dran. Selbst Donald Trump war gegen meinen Chef ein Altruist.

»KPD wird die ganze Veranstaltung sprengen. Ich befürchte, dass der Winzer Suizid verübt, wenn ihm KPD dauernd ins Wort fällt und ihn korrigiert.«

»So schlimm wird’s schon nicht werden«, wiegelte Stefanie ab. »Herr Diefenbach ist zwar ein ausgeprägter Narzisst, aber wir müssen uns ja nicht neben ihn setzen.«

Natürlich würde es so kommen, dachte ich. KPD würde mir den ganzen Abend feuchte Sprechsalven in mein Ohr spucken, alles andere wäre ein Wunder.

»Außerdem gibt es nicht nur die Weinprobe«, sprach meine Frau weiter. »Wie du weißt, sind mehrere Landfrauen anwesend, die Einblicke in ihre Projekte über gesunde Ernährung geben.«

»Ich weiß«, sagte ich leise, fast schon verbittert. Von dieser Sache hatte ich erst nachträglich erfahren. Was das Thema Ernährung betraf, lagen Welten zwischen meiner Frau und mir. Konflikte ohne Ende. Stefanie ernährte sich als Vegetarierin gesundheitsbewusst: Rohkost, Gemüse und weitere grausame Dinge tauchten regelmäßig, das heißt täglich, in unserem Speiseplan auf. Unter der Woche konnte ich auf der Dienststelle meine Nahrungsaufnahme teilweise damit kompensieren, dass wir einen Dauerauftrag mit einem Pizzalieferanten unterhielten. An den Wochenenden und manchmal abends gelang mir gemeinsam mit den Kindern eine familiäre Futterflucht in Richtung Speyer, wo meine geliebte »Currysau« residierte. Aber auch hier hatten die letzten Wochen für einschneidende Veränderungen gesorgt: Zunächst war meine Tochter Melanie ernährungstechnisch konvertiert, seit sie in der Schule an der AG »Gesundes Kochen« teilnahm. Gemeinsam mit ihrer Mutter hatte sie einen kleinen Teil unseres Rasens herausgestochen und ein Kräuterbeet angelegt. Da sie mich und mein gesamtes Naturwissen kannten, hatten die beiden das Beet mit einer kleinen Steinmauer eingefasst, damit es beim Rasenmähen nicht unter die Räder kam. Das war nicht so weit hergeholt: Stefanie wunderte sich mehrere Jahre lang, warum der von ihr mitten im Rasen gepflanzte Bergahorn nicht richtig anwuchs. Bis sie mir eines Tages beim Rasenmähen zuschaute.

Bezüglich Nahrungsaufnahme gab es eine weitere Veränderung im Hause Palzki: Bei meinen Ermittlungen im Mannheimer Luisenpark war ich, als ich den Fernmeldeturm treppenmäßig besteigen musste, zu der Erkenntnis gekommen, einen kleinen Teil meines Körpergewichtes zu reduzieren. Stefanie war zwar der Meinung, dass ich einen größeren Teil meines Körpergewichtes reduzieren müsste, doch das meinte sie sicher nur im Scherz. Seit diesem Zeitpunkt waren die Besuche in der »Currysau« viel seltener geworden und statt Pizza in der Mittagspause gab es dreimal wöchentlich mit trockenen Käsescheiben belegtes Vollkornbrot, das mir Stefanie morgens zubereitete.

Stefanie tätschelte mir den Bauch. »Vielleicht finden wir doch noch etwas, was dir schmeckt und wenig Kalorien hat. Warst du in der letzten Zeit auf der Waage gestanden?«

»Vor zwei oder drei Tagen«, antwortete ich annäherungsweise. Dass ich mich frustriert mehrmals am Tag wog, musste ich ihr nicht auf die Nase binden. »Fast zehn Pfund habe ich inzwischen runter. Sieht man doch, oder was meinst du?«

»Fünf Kilogramm?«, fragte Stefanie und schaute mir auf den Bauch. »Sehen tut man noch nicht so viel.«

»Zehn Pfund«, beharrte ich. »Abnehmen tut man in Pfund, nur zunehmen in Kilo. Außerdem spannt die Hose bei Weitem nicht mehr so arg wie vorher.«

»Das ist auch eine neue«, antwortete Stefanie und seufzte. »Du wirst das schon schaffen, Reiner. Ich unterstütze dich, so gut ich kann.«

Eine weitere Diskussion rund um die Teilnahme an der Weinprobe erübrigte sich, da meine Schwiegermutter eintraf, die sich für den Abend als Kinder- beziehungsweise Babysitter zur Verfügung stellte.

»Hallo, Reiner«, begrüßte sie mich und stierte sogleich auf meinen Bauch. »Du wirst immer fetter.«

Stefanies Mutter konnte ich noch nie sonderlich gut leiden, glücklicherweise wohnte sie in Frankfurt und kam nur selten zu Besuch. Nachdem ich ihr ein paar Freundlichkeiten wie »Du wirst auch immer älter« und »Trägt man das jetzt so in Frankfurt?« retourniert hatte, ging sie eingeschnappt mit Stefanie ins Nebenzimmer zu unseren inzwischen einjährigen Zwillingen Lisa und Lars, die lautstark ihren Mittagsschlaf beendeten.

Die größte Pein blieb mir erspart: Stefanie verzichtete darauf, von mir das Tragen einer Krawatte zu verlangen. Das aufgezwungene Jackett, das noch aus Hochzeitsbeständen stammte, reichte. In Landau würde ich eine Gelegenheit finden, es schnellstmöglich über die Stuhllehne zu hängen oder an der Garderobe zu vergessen.

»Hoffentlich stinkt KPD nicht so sehr wie das letzte Mal. Weißt du noch?«

Stefanie nickte. Vor einiger Zeit hatte uns mein Chef zu den Nibelungenfestspielen nach Worms eingeladen. Als er uns abholte, blieb uns im wahrsten Sinne des Wortes die Luft weg: Er musste in Parfüm gebadet haben, so entsetzlich hatte es gestunken. In seiner näheren Umgebung mussten damals sämtliche Sauerstoffmoleküle abgestorben sein. Ich wusste bis heute nicht, wie er seine Atmung aufrechterhalten konnte.

Es klingelte. Stefanie schaute ein letztes Mal an mir herunter und schien zufrieden. Ich durfte die Tür öffnen.

Da ich wusste, was mich erwartete, war der Schock nicht allzu groß. KPD stand in seiner obligatorischen Maßuniform vor mir. Ich hatte ihn, mit einer einzigen Ausnahme kürzlich im Luisenpark, nie ohne Uniform gesehen. Von der Uniform, zumindest dem oberen Teil, sah man nicht viel. Sie war über und über mit Orden und Ansteckern zugepflastert. In der Hand hielt er einen überdimensionalen Blumenstrauß, der sicherlich ein Vermögen gekostet hatte. Die ihn umströmende Parfümwolke hielt sich in Grenzen. Doch es gab noch eine andere Auffälligkeit: KPD kam mir unnatürlich groß vor, irgendetwas stimmte nicht.

»Na, haben Sie es schon bemerkt, Palzki?«, begrüßte er mich freudestrahlend. Er zeigte in Richtung Boden. »Das habe ich meinem Ideenreichtum zu verdanken. Schuhe mit hohen Absätzen, auf diesen Trick muss man erst mal kommen.«

Ich stellte mir meinen Chef als Transvestit vor, doch das Ergebnis war einfach nur geschmacklos. »Schuhe?«, stammelte ich stattdessen.

Er nickte, dabei klimperte das Metall an seiner Brust. »Damit bin ich statt 1,82 Meter beinahe 1,90 Meter groß. Jetzt bin ich auch in dieser Hinsicht der Größte auf der Dienststelle. Mit diesen Maßen wird man von seiner Umgebung gleich ganz anders wahrgenommen. Sie wissen ja, der erste Eindruck ist entscheidend.« Er musterte mich herablassend.

Für meinen Chef war diese Aussage symptomatisch. Aussehen und optische Wirkung, dies war ihm um Äonen wichtiger als Charakter, soziales Verhalten oder gar Empathie, das es in seinem Wortschatz nicht gab. Dass der Schein speziell bei ihm trog, wussten alle, die ihn kannten. Nur KPD nicht.

»Wo ist denn Ihre Frau? Der Blumenstrauß wird langsam schwer. Fast hätte ihn meine Frau zum heutigen Hochzeitstag bekommen. Ich kann meine Frau leider nicht zur Weinprobe mitnehmen, da sie mit der Hausarbeit nicht rechtzeitig fertig geworden ist.«

Dass seine Frau unter der Fuchtel ihres Mannes stand und ein jämmerliches Schattendasein als Mauerblümchen führte, war mir bekannt. Doch dieser Machospruch toppte alles Bisherige. Ich wollte ihn fragen, ob dies ein Scherz war, obwohl er strikt humorlos durchs Leben ging. Zu der Frage kam es nicht mehr, da Stefanie hinzukam.

»Guten Abend, Herr Diefenbach«, säuselte sie. »Schick sehen Sie aus.«

KPD lächelte und zeigte seine goldenen Backenzähne. Er streckte ihr wortlos die Blumen entgegen.

»Oh, sind die für mich?«

KPD nickte nur kurz und wandte sich mir zu. »Erlauben Sie Ihrer Frau mitzufahren oder sind wir heute nur zu zweit?«

Uns fiel synchron die Kinnlade herunter. Schnell hatte ich mich wieder unter Kontrolle und konnte den ersten Eklat des Abends verhindern. »Herr Diefenbach hat nur einen seiner berühmt-berüchtigten Scherze gemacht. Selbstverständlich fährst du mit zur Weinprobe.« KPD machte zwar nie Scherze, auf der anderen Seite hatten wir schon tausendfach über ihn gelacht. Und zwar immer dann, wenn es uns selbst nicht betraf. Den Scherz, dass meine Frau sich stets bemühte und ihre Hausarbeit zu meiner Zufriedenheit erledigt hatte, verkniff ich mir besser.

Die Verabschiedung fiel kurz aus. Meine Schwiegermutter spielte mit den Kleinen, und den Schaden, den der zehnjährige Paul anrichten würde, konnte ich am Montag der Haftpflichtversicherung melden. Von der 13-jährigen Melanie war nichts zu sehen.

Stolz zeigte KPD auf seinen neuen Dienstwagen. Nach meiner Zählung der dritte in diesem Jahr.

»Dieses Übergangsmodell wurde erst vorgestern geliefert. Ich bin noch etwas unsicher beim Chauffieren, weil ich mich an die vielen Schalter und Anzeigen noch nicht so richtig gewöhnt habe.«

Ich musste grinsen. Mein Chef gab zu, dass er unsicher fuhr. Da ich seit Kurzem die bittere Wahrheit kannte, versuchte ich, unser Leben zu retten. »Sie können beim Chauffieren ruhig Ihre Brille aufsetzen, Herr Diefenbach. Sie wissen, dass ich Ihr Geheimnis kenne.«

Fragend sah er mich an. »Haben Sie das Ihrer Frau verraten?«, flüsterte er.

»Nur meiner Frau«, beruhigte ich ihn. »Sie hat volles Verständnis dafür, wenn Sie Ihre Brille aufsetzen. Sonst weiß das natürlich niemand.«

Wenn der wüsste, dachte ich. Allen auf der Dienststelle hatte ich verraten, dass KPD extrem kurzsichtig und bei Entfernungen größer als ein oder zwei Meter blind wie ein Maulwurf war. Da eine Brille für ihn als Dienststellenleiter ein absolutes No-Go war, mogelte er sich wie ein Blindfisch durchs Leben. Im Büro, wo er alles kannte, fiel dies nicht weiter auf. Aber wehe, man musste mit ihm in einem Wagen sitzen, wenn er fuhr. Solche Todestouren hatte ich schon mehrfach hinter mir und stets nur mit knapper Not lebend überstanden.

KPD fühlte sich sichtlich unwohl, als er auf dem Fahrersitz saß und umständlich seine Brille aus dem Jackett zog.

»Die steht Ihnen vorzüglich«, meinte Stefanie, sichtlich erleichtert, aus dem Fond. »Die können Sie im Büro tragen.«

»Nein, nein, nein, das geht nicht, Frau Palzki.« Er fuchtelte mit seinen Armen so arg, dass er die Sonnenblende herunterriss. »Solche Hilfsmittel sind für einen sehr guten Chef wie mich nicht opportun. In meinem Job darf ich keine Schwächen zeigen. Das würde man sofort ausnutzen und gegen mich verwenden. Die Brille setze ich nur auf, wenn ich im Urlaub bin und mich keiner kennt.«

Endlich fuhr er los. Aus einem bestimmten Grund war mir wohler, nachdem wir die erste Kurve hinter uns hatten. Frau Ackermann, unsere Nachbarin, hatte uns nicht entdeckt. Ob sie ernsthaft krank war? Tagsüber stand sie hinter dem Küchenfenster und wartete darauf, nach draußen zu rennen, sobald sich ein menschliches Wesen auf der Straße zeigte. Da sich dieses unschöne neurotische Verhaltensmuster herumgesprochen hatte, gab es kaum Passanten auf unserem Gehweg. Nur meine Frau und ich waren des Öfteren unfreiwillige Opfer. Ausschließlich ein Umzug könnte uns aus diesem Dilemma retten, leider war diese Alternative aus wirtschaftlichen Gründen nicht umsetzbar.

Frau Ackermann hatte ein Problem. Das Problem war weniger ihr tranfunzliger Mann, der den ganzen Tag nur auf der Couch lag und dessen Toilettengänge zu Hochleistungsaktivitäten mutierten. Unsere Nachbarin war redselig. Im radikalen Sinn. Genau genommen konnte sie nichts anderes als reden. Und zwar ununterbrochen, sicherlich sprach sie auch im Schlaf. Hinzu kam ihre ausgeprägte Redegeschwindigkeit. Mittlere bis ältere Bürger kennen die Micky-Maus-Stimmen, wenn man auf einem Plattenspieler eine Langspielplatte statt mit 33 Umdrehungen mit der Single-Geschwindigkeit von 45 Umdrehungen je Minute abspielen ließ. Wenn man jetzt seine Fantasie strapazierte und, rein theoretisch, an der Welle des Plattentellers eine Bohrmaschine befestigte und diese einschaltete, dürfte dies in etwa der Sprechgeschwindigkeit unserer Nachbarin entsprechen. Kein Mensch beziehungsweise Zuhörer hielt diese Folter länger als ein paar Sekunden aus, ohne Spätfolgen davonzutragen. Mein persönlicher Zwangsrekord lag bei über einer Minute.

Doch Fortuna war uns hold. Jetzt musste ich nur noch diese ominöse Weinprobe nebst Produktvorstellungen der Landfrauen überstehen. Dann konnte ich diesen Tag in meinem Kalender erleichtert als »überlebt« abhaken.

»Nächstes Jahr«, begann KPD, während er mehr schlecht als recht die B9 in Richtung Speyer befuhr, »also das dritte oder vierte Nachfolgemodell dieses Dienstwagens, das wird ein Autonomer.« Er schaute zu mir auf die Beifahrerseite und setzte ein Grinsen auf, das nichts Gutes versprach. »Dann brauche ich zu Beginn der Fahrt nur das Ziel einzugeben und kann mich entspannt zurücklehnen, während der Wagen alleine fährt. Selbstfahren ist sowieso unter meiner Würde. Jeder Hansel darf heutzutage ein Auto lenken, sogar Frauen. Und mittlerweile sogar in Saudi-Arabien!« KPD bemerkte nicht, wie im Fond Stefanies Gesichtszüge entglitten. »Aber ich als sehr guter Chef bin immer die Speerspitze der technischen Innovation. Ich werde als erster Live-Tester des Autoherstellers das neue autonome Fahrsystem auf öffentlichen Straßen ausgiebig unter die Lupe nehmen.« Er seufzte. »Leider ist da nicht nur Licht, sondern auch Schatten. Sobald alle Autofahrer das neue System nutzen, gibt es keine Geschwindigkeitsübertretungen mehr. Dadurch bedingt, fallen in diesem Bereich keine Bußgelder mehr an und meine Schwarzkasse wird sich nicht mehr so schnell wie bisher füllen. Das wird aber noch ein paar Jahre dauern. Vielleicht kann ich durchsetzen, dass alle Bürger, die in Flensburg Punkte haben, das autonome System aus erzieherischen Gründen nicht nutzen dürfen.«

Hinter der Leitplanke blitzte gegenüber der ehemaligen Kurpfalzkaserne ein rotes Licht auf. KPD ging reflexartig vom Gas. »Immer diese Speyerer!«, schimpfte er. »Halten es nicht einmal für nötig, mich zu informieren, wenn sie eine Geschwindigkeitskontrolle durchführen. Denen werde ich am Montag mal kräftig die Leviten lesen. Mich so zu brüskieren, das ist unverantwortlich. Ich würde den Speyerer Beamten sogar zutrauen, an dieser Stelle absichtlich den Verkehr zu kontrollieren.« Er schielte zu mir. »Haben Sie extern etwas darüber verlauten lassen, dass wir diese Strecke fahren?«

Ich schüttelte energisch den Kopf. »Alles topsecret, wie immer, Chef.«

Beruhigt lehnte er sich zurück, drückte aber parallel wieder auf das Gaspedal. »Diese Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Speyerer Umgehungsstraße ist eine reine Schikane«, schimpfte er. »Das nächste Mal nehmen wir einen Streifenwagen.« Der Rest der Fahrt verlief einigermaßen routinemäßig. Der einzige Aufreger war die äußerst schmale Landstraße zum Landauer Vorort Mörzheim, die man eher als Schotterpiste bezeichnen konnte. So wie es aussah, wurde das Sträßchen seit mehreren Jahrzehnten in jedem Frühjahr mit ein paar Fuhren Asphalt notdürftig ausgebessert. Die zudem kurvenreiche und schlecht einsehbare Strecke machte die Anfahrt nach Mörzheim zu einem Trainingslager für Kamikaze-Autofahrer. Details würde man am Montag in den diversen Polizeiberichten der Region nachlesen können.

Kapitel 2 Die Weinprobe

»Da ist alles so furchtbar eng«, regte sich KPD auf, als wir im Landauer Ortsteil Mörzheim rechts in die Brühlstraße abbogen. »Nirgendwo ein Reservierungsschild für meinen Dienstwagen. Da nimmt man an einer Weinprobe teil und der Winzer sorgt nicht einmal für Parkplätze. Ah, da ist es ja: Weingut Gansfuß. Am besten, ich fahre gleich in den Hof. Irgendwo werden die hoffentlich einen Platz für meinen Wagen reserviert haben.«

KPDs Plan wurde durch ein Cabrio vereitelt, das quer vor dem Gittertor parkte. »Bei uns in Schifferstadt würde ich den Wagen sofort abschleppen lassen. Jetzt muss ich garantiert ewig weit laufen.« Er hielt mitten auf der Straße an und sondierte die Lage. »Was meinen Sie, Palzki? Zwischen den beiden Blumenkübeln, das könnte doch reichen.«

Vor dem Anwesen des Weinguts, das an den schmalen Gehweg gebaut war, standen mehrere Blumenkübel auf der Straße, um ein wildes Parken zu verhindern. »Ein bisschen eng ist das schon«, bewertete ich die Situation. »Wie wäre es, wenn meine Frau und ich aussteigen und schon mal vorgehen. Sie können dann in Ruhe in der Nähe einen geeigneten Parkplatz suchen. Vielleicht in Landau in Bahnhofsnähe?«

»Nichts da!«, bellte er zurück. »Aussteigen geht in Ordnung, aber nur, um mich in die Parklücke einzuweisen.«

In seiner Selbstüberschätzung zog er seine Brille ab, während ich ausstieg. Zu meiner eigenen Sicherheit stellte ich mich einige Meter abseits des vorderen Blumenkübels. »Jetzt langsam rückwärts und das Lenkrad rechts einschlagen«, rief ich durch die offenen Fenster. KPD drehte natürlich links ein. Kurze Zeit später war das Chaos perfekt: KPDs Wagen stand verkeilt zwischen Hauswand, Blumenkübel und dem vorderen von mehreren Autos, die aufgrund der schmalen Straße nicht vorbeifahren konnten. KPD stieg aus und machte das, was er immer machte: Er gab anderen die Schuld für sein eigenes Unvermögen. Er schimpfte auf die schmale Straße, die Blumenkübel, das Haus, das seiner Meinung nach zu nah an der Straße stand, und am lautesten mit dem vordersten Autofahrer, der mit seiner Hand eine Scheibenwischerbewegung vor seinem Gesicht machte.

»Könnten Sie bitte etwas Platz machen?« Verdutzt schauten wir in Richtung der Stimme. Eine junge Dame, vermutlich gerade im Alter, um einen Führerschein zu bekommen, öffnete die Tür des Cabrios. »Wenn Sie etwas zurückstoßen, kann ich durch die Lücke raus«, meinte sie zu dem von KPD blockierten Autofahrer. Dieser schüttelte den Kopf und deutete auf die hinter ihm wartenden Autos. Das junge Fräulein stakste nun zu den einzelnen Wagen und wiederholte ihren Spruch. Wahrscheinlich reagierten die anderen Verkehrsteilnehmer aus optischen Gründen vernünftig. Es dauerte einige Minuten, bis der größte, jemals in Mörzheim gesehene Verkehrsstau aufgelöst war.

»Und was mache ich jetzt?«, fragte KPD, der immer noch ziemlich schräg in der Parklücke stand, überfordert.

»Lassen Sie mich mal ran«, sagte ich autoritär und KPD gehorchte. Er stieg aus und machte mir Platz. »Passen Sie auf die für Sie ungewohnt hohe PS-Zahl auf«, gab er mir mit auf den Weg. Zum Dank für diesen Hinweis ließ ich den Motor erbarmungslos aufheulen. Aus der Parklücke zu kommen, war ein Kinderspiel. Da das Cabrio nicht mehr die Zufahrt blockierte, versuchte ich, selbstverständlich in Schrittgeschwindigkeit, durch das offene Tor in den Hof des Weinguts zu fahren. Ein junger Mann mit einem Ziegenbart versperrte mir den Weg.

»Im vorderen Hof ist es zu eng«, sagte er. »Nicht, dass Sie den schönen Lack des Wagens zerkratzen. Wenn Sie auf der Straße ein paar Meter weiter rechts um unser Flaschenlager fahren, sehen Sie einen kleinen Seitenweg. Fahren Sie um das Gebäude herum, danach folgt unsere Mehrzweckhalle. Dahinter können Sie in den hinteren Hof fahren. Parken Sie am besten neben der alten Scheune. Dort kann dem Wagen nichts passieren.«

Ich vermutete, dass es sich um den Sohn der Eigentümer handelte. Mit einer gewissen Genugtuung folgte ich seiner Anweisung. Im Rückspiegel sah ich, wie uns KPD mit seinen hohen Absätzen nachstolperte. Er fuchtelte wirr mit beiden Armen, da er keine Ahnung hatte, was ich vorhatte. Der Weg war leider sehr kurz. Das Gebäude mit dem Flaschenlager war das Eckhaus zwischen Brühlstraße und dem Stichweg. Dahinter, etwas zurückversetzt, stand eine Neubauhalle. Der hintere Hof war bedeutend größer als der vordere. Dort parkten einige landwirtschaftliche Fahrzeuge und viele andere Maschinen gab es auch. An der Rückseite der Halle war ein einstöckiger Anbau angeflanscht, im Anschluss stand eine alte Scheune. Unter deren Stirnseite stellte ich KPDs Dienstwagen ab.

Dann kam auch schon KPD angestürmt. Ohne auf mich zu achten, untersuchte er den Lack seines Wagens. An einer Stelle wischte er mit einem Taschentuch über den Kotflügel, dann nickte er zufrieden. Stefanie, die inzwischen wie ich ausgestiegen war, wurde die ganze Szene peinlich. »Kommen Sie, Herr Diefenbach. Lassen Sie uns die anderen suchen.«

»Ja, ja«, antwortete KPD und drehte sich zu mir um. »Schauen Sie bitte, ob alles korrekt abgeschaltet ist. Bringen Sie mir anschließend den Schlüssel.«

Da ich keinen gesteigerten Wert auf die Begrüßungszeremonie meines Chefs legte, ließ ich mir Zeit. Stefanie und KPD waren um die Halle herumgelaufen, um zum vorderen Hof zu gelangen, daher war es für mich zwangsläufig, einen anderen Weg zu wählen. Und der führte durch die Halle. Auf beiden Seiten gab es große Tore, die offen standen, sodass man durch die dunkle Halle hindurch in den vorderen Hof schauen konnte. Zunächst lief ich an dem niedrigen Nebengebäude vorbei. Laut einem Schild befanden sich darin die Toiletten. Als ich das Tor der Halle erreichte, staunte ich nicht schlecht: An einer der Querseiten befand sich eine Ausschanktheke. Die Halle selbst war mit schätzungsweise 200 bis 300 Stühlen bestuhlt. Es handelte sich um alte Sperrholzstühle, wie sie früher in Schulen verwendet wurden. Ich lugte weiter um die Ecke und entdeckte vor den Stuhlreihen gegenüber der Theke eine große Bühne.

»Ilse, das wird mir langsam zu viel!« Eine Männerstimme drang zu mir. Ich blieb ruckartig stehen und schaute scharf um die Ecke. Halb versteckt hinter einem Pflanzenarrangement hatte sich ein Mann in Winzerkleidung vor einer kleineren Frau aufgebaut. »Nächstes Jahr brauche ich den Platz wieder«, motzte er weiter. »Du kannst doch nicht einfach die Reben rausreißen, so wie es dir gefällt.«

»Komm, stell dich nicht so an«, konterte die Frau. »Der Betrieb gehört mir schließlich wie dir zur Hälfte. Diese paar Quadratmeter tun nicht weh.«

»Es geht nicht nur um den Platz.« Der männliche Part, anscheinend ihr Ehemann, ließ nicht locker. »Denk nur an die viele Zeit, die du mit diesem sinnlosen Zeug vertrödelst. Du weißt genau, dass unser Betrieb arbeitsintensiv ist. Und wenn du laufend ausfällst, können wir bald dichtmachen.«

»Jetzt mach dich mal locker, Winfried. Ich nehme dir immerhin die komplette Buchhaltung ab und auch die Steueraußenprüfung, die wir gerade haben, bleibt an mir hängen. Dann musst du halt eine zusätzliche Aushilfe einstellen.«

»Du weißt genau, wie unsere Finanzen aussehen. Wo ist der Prüfer überhaupt? Ich habe ihn das letzte Mal heute früh gesehen.«

»Weißt du, wie spät es ist, Winfried?«, sagte sie. »Der ist Beamter, die haben längst Feierabend. Jetzt komm mit nach vorne, die Gäste sind da. Meine Kolleginnen von den Landfrauen haben alles vorbereitet.«

Bevor sie mich entdeckten und des Lauschens bezichtigten, räusperte ich mich laut.

»Hallo, kann ich Ihnen helfen?« Die Frau klang nun viel freundlicher.

»Ich suche die Weinprobe«, sagte ich.

»Da müssen Sie in den vorderen Hof. Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen den Weg. Mein Name ist übrigens Ilse Gansfuß und das ist mein Mann Winfried.«

Ich nickte ihm zu. »Sehr erfreut. Kann ich den Wagen neben der Scheune stehen lassen? Er gehört meinem Chef, Herrn Diefenbach.«

»Selbstverständlich. Die Scheune soll zwar irgendwann mal abgerissen werden, aber natürlich nicht heute.«

Frau Gansfuß führte mich zur anderen Seite der Halle. »Nächstes Wochenende spielt hier die Mörzheimer Erbsenbühne. Alle paar Jahre üben Laienschauspieler ein neues Theaterstück ein, das immer irgendetwas mit Wein zu tun hat. Dieses Jahr heißt das Stück ›Starenschreck‹.«

»Kommen da so viele Zuschauer?«, fragte ich, wegen der vielen Stühle überrascht. »Mörzheim ist doch relativ überschaubar.«

Frau Gansfuß lachte auf. »Haben Sie eine Ahnung! Die ›Erbsenbühne‹ ist in weitem Umkreis bekannt für ihre guten Stücke, die übrigens alle selbst geschrieben werden. Das Stück wird am nächsten Wochenende an drei Abenden aufgeführt. Alle Veranstaltungen sind restlos ausverkauft. Es sind so viele Nachfragen da, wir könnten glatt ein zweites Wochenende dranhängen.« Sie zeigte auf das Bühnenbild. »Das wird alles selbst gebaut. Schon Wochen vorher wird damit begonnen. Normalerweise stehen unsere landwirtschaftlichen Maschinen in der Halle, doch zurzeit müssen sie im Hof parken.«

Nachdem wir aus der Halle getreten waren, standen wir im vorderen Hof, dort, wo mir vorhin der junge Kerl mit dem Ziegenbart die Einfahrt verwehrt hatte.

Frau Gansfuß zeigte zunächst nach rechts, dann nach links. »Das ist unser Wohnhaus und dort drüben unser Flaschenlager nebst Weinkeller. Die Weinprobe wird ganz rustikal im Flaschenlager stattfinden, natürlich haben wir vorher Platz geschaffen und aufgeräumt.«

Der große Raum war absolut authentisch für eine Weinprobe. KPD, der auf Etikette und Luxus großen Wert legte, würde es zwar zu viel authentisch sein, doch mir gefiel es, dass die Veranstaltung vor Ort stattfand, wo ansonsten der Wein lagerte. Eine Betontreppe, die neben dem Eingang steil nach unten führte, war mit Flatterband abgesperrt. »Nicht, dass sich jemand das Genick bricht«, erklärte Frau Gansfuß.

In der Mitte des Raumes hatte man mehrere Tische aneinandergereiht und mit weißen Tüchern festlich abgedeckt. Mich irritierten weniger die vielen Weingläser und die für die Weinprobe benötigten Utensilien als die weiteren fünf Tische, die an der Wand standen und mit seltsamen Dingen bestückt waren. Bevor ich mir über dieses Arrangement im Einzelnen Gedanken machen konnte, kam Stefanie auf mich zu. »Das ist fantastisch, Reiner«, flötete sie zufrieden. »Frau Mai hat mir eben das Rahmenprogramm erklärt.«

»Rahmenprogramm, Frau Mai?«, stammelte ich, während ich im Hintergrund KPD verfolgte, wie er die zur Dekoration aufgestellten und ungekühlten Weinflaschen einzeln in die Hand nahm, kritisch das Etikett beäugte und mit dem Kopf schüttelte. Damit würde er sich heute Abend keine Freunde machen, dachte ich, als mir eine unbekannte Dame die Hand schüttelte.

»Ich bin Brigitte Mai«, erklärte sie mir selbstbewusst. »Ihre Frau würde gut in unseren Verein passen. Schade, dass wir in Schifferstadt keinen Ortsverein haben. Aber das kann man durchaus ändern.«

»Frau Mai ist Hauptgeschäftsführerin des Landfrauenverbandes der Pfalz«, klärte mich Stefanie auf. »Ich wusste zwar, dass es die Landfrauen gibt, doch was sie genau machen, war mir unbekannt.«

»So geht es vielen«, sagte die Landfrauenchefin. »Daher sind wir immer bemüht, mit unseren Aktionen an die Öffentlichkeit zu kommen. Ich schicke Ihnen nächste Woche weitere Informationen zu, Frau Palzki. Ach, da kommt Frau Gansfuß. Darf ich Ihnen unsere Präsidentin vorstellen?«

Nach der Begrüßung schaute Frau Mai auf die Uhr. »Sollen wir langsam beginnen, Frau Gansfuß?«

Die Präsidentin blickte sich um. »Wo steckt nur mein Mann? Sobald er hier ist, gebe ich das Zeichen.«

Ich nutzte die kurze Zeit bis zum Beginn der Weinprobe für einen Toilettenbesuch. Wie mir bekannt war, musste ich dazu erneut durch die Mehrzweckhalle gehen, um zu dem Anbau mit den Toiletten zu kommen. Schemenhaft sah ich zwei Männer, die zwischen dem Eingang zur Toilette und der Scheune standen. Zum zweiten Mal wurde ich unfreiwilliger Zeuge eines Disputs.

»Das stimmt doch überhaupt nicht!«, flüsterte eine männliche Stimme erregt.

»Doch«, verteidigte sich dessen Kontrahent, den ich stimmlich als den hiesigen Weingutbesitzer identifizierte. »Wenn du das machst, wirst du dein blaues Wunder erleben. Außerdem kenne ich ja das eine oder andere Geheimnis von dir.«

»Was, du drohst mir, Winfried? Ich lasse mich nicht erpressen. Alles wird genau so gemacht, wie ich es dir gesagt habe. Und was das angebliche Geheimnis angeht: Ich treffe mich nachher mit den anderen, vielleicht sollten wir dir einen Warnschuss vor den Bug knallen.«

Schneller als ich reagieren konnte, schoss ein langhaariger Kerl um die Ecke und stieß mit mir zusammen. Ohne eine Wort zu sagen, nicht einmal seine zornige Mimik veränderte sich, rannte er durch die Halle. Winfried Gansfuß, der den Aufprall gehört haben musste, kam hinzu. »Nanu, suchen Sie immer noch die Weinprobe?«

»Toilette«, antwortete ich einsilbig mit drei Silben.

»In fünf Minuten fangen wir an«, gab er mir mit auf den Weg. Ganz so lange benötigte ich nicht. Zeit für ein paar Gedanken hatte ich dennoch. Dieser Winfried schien mit jedem in seinem persönlichen Umfeld Stress zu haben. Ich wusste natürlich, dass diese Verallgemeinerung alles andere als objektiv war. Ich hatte den Weingutbesitzer bisher nur zweimal für jeweils einen kurzen Augenblick gesehen beziehungsweise gehört. Als Kriminalbeamter hörte ich durch meine jahrelange Erfahrung die Flöhe förmlich husten, obwohl mich die Dispute dieses Weingutbesitzers nichts angingen. Schließlich war längst wissenschaftlich und statistisch bewiesen, dass mehr als 300 Prozent der Bürger in irgendwelchen Bereichen des Lebens Dreck am Stecken hatten. Die hohe Zahl 300 entstammte nicht KPDs unrealistischer Verbrechensstatistik, sondern aus der Einsicht, dass es jede Menge vordergründig harmlose Bürger gab, die gleich vielfach Dreck am Stecken hatten. 300 Prozent war der reine Durchschnitt, egal ob Lehrer, Arzt, Politiker, Winzer oder normaler Bürger.

Ich kam rechtzeitig zurück. Der Weingutchef richtete ein paar Begrüßungsworte an die 30 anwesenden Personen und ich beobachtete meine temporären Zeitgenossen. Über KPDs Verhalten war ich wenig erstaunt. Wichtigtuerisch hatte er sich mit durchgestrecktem Kreuz neben Winfried Gansfuß positioniert und bestätigte jeden einzelnen seiner Sätze mit einem heftigen Kopfnicken. Als dieser uns aufforderte, am großen Tisch Platz zu nehmen, setzte sich mein Vorgesetzter neben ihn. Prima, dachte ich. Soll er zur Abwechslung mal jemand anderen nerven. Stefanie und ich saßen neben Frau Mai, die zwar grundsätzlich zufrieden wirkte, doch ein paar Sorgenfalten in ihrem Gesicht blieben mir nicht verborgen.

Die Weinprobe begann. Gansfuß gab zunächst eine allgemein gehaltene Einführung, dann leitete er zu den Produkten seines Gutes über. Er nannte viele Details, alle Anwesenden hörten konzentriert zu, mit einer Ausnahme: KPD. Fast keinen Satz seines Sitznachbarn ließ er unkommentiert. Winfried Gansfuß war die Ruhe selbst und steckte die Kommentare der Obernervensäge ohne sichtliche Regung weg. Wahrscheinlich gab es so gut wie bei jeder Weinprobe immer einen, der aus der Rolle fiel und den Anwesenden sein angebliches Allwissen präsentieren musste. KPD war für Gansfuß auf alle Fälle die größte Herausforderung seines Lebens. Ein etwas labilerer Zeitgenosse hätte KPD längst einen Korkenzieher oder zumindest ein größeres Messer in den Brustkorb gerammt. Nicht so Gansfuß: In aller Ruhe spulte er sein Programm ab, das alles andere als eintönig war. Vor nicht allzu langer Zeit hätte ich mich zu Tode gelangweilt, inzwischen fand ich Gefallen an den vielfältigen und interessanten Informationen rund um den Wein.

Der Umgang der Anwesenden mit den ausgeschenkten Weinproben war sehr unterschiedlich: Die meisten probierten die angebotenen Weine und spuckten sie dann in die bereitgestellten Blecheimer. Ein paar wenige schluckten den Wein herunter, waren aber grundsätzlich darauf bedacht, die Gesamtmenge des getrunkenen Weins nicht zu groß werden zu lassen. Ich war der Einzige, der sich jeglichen Trinkgenusses enthielt. Autofahren und Alkohol waren bei mir ein absolutes No-Go. Mit Blick auf meinen Chef war mir klar, dass dieser heute kein Auto mehr fahren würde. Und garantiert auch nicht konnte. KPD, der immer auf Stil und Etikette bedacht war, wurde von dem Weingutchef regelrecht abgefüllt. Ständig schenkte er wie selbstverständlich KPDs Glas nach, der das gar nicht richtig wahrnahm. Der einzige Nachteil war, dass seine Stimme im Laufe des Alkoholgenusses immer lauter wurde und er damit die Erklärungen des Weingutchefs akustisch überdeckte.

Schließlich zog Winfried Gansfuß einen vorläufigen Schlussstrich: »Bevor wir eine kleine Pause machen, werden uns die anwesenden Landfrauen ihr erstes Projekt vorstellen.« Während wir gebannt zu einer Dame sahen, die aufstand und zu einem der Tische, die an der Wand standen, ging, füllte der Weingutchef KPDs Glas randvoll auf. Wahrscheinlich hoffte er, dass dieser zur zweiten Halbzeit schlafend unter dem Tisch liegen würde. Mein böser Gedanke, dass man KPD irgendwo in den Weinbergen verscharren könnte, ging in der Realität dann doch zu weit. Selbst wenn man zum Andenken eine Lage nach ihm benennen würde. Aber als Kopfkino war die Idee herrlich.

»Guten Abend, mein Name ist Gerda Opnitz. Ich engagiere mich bei den Landfrauen im Kreisverband Südwestpfalz.« Sie hob eine dünne Flasche in die Höhe. »Gemeinsam mit der Geschäftsführung des Verbandes arbeite ich bei der Entwicklung von neuen Produkten mit, die über unseren Verband vermarktet werden. Hier sehen Sie zum Beispiel einen noch namenlosen Likör, der nächste Woche auf der Landesverbandssitzung in Rockenhausen vorgestellt wird. Der Name und um welche Sorte Likör es sich handelt, ist noch streng geheim.« Sie stellte die etikettenlose Flasche wieder ab.

»Die Landfrauen vermarkten aber nicht nur Produkte. Unser Angebot ist äußerst vielseitig. Wir bieten in manchen Kreisverbänden mehr Kurse an als so manche Volkshochschule. Besonders stolz sind wir auf den Ernährungsführerschein des Deutschen LandFrauenverbandes. Viele meiner Kolleginnen sind regelmäßig in den Schulen im Einsatz, um Dritt- und Viertklässlern die Basics des gesunden Kochens beizubringen. Grundschulkinder bereiten unter deren Anleitung leckere Brote und Grumbeeren, fruchtige Quarkspeisen und andere kleine gesunde Gerichte zu.«

Sie hob von dem Tisch einen DIN A6 großen Zettel auf und streckte ihn in die Höhe.

»Das Unterrichtskonzept, das hinter dem Ernährungsführerschein steht, beinhaltet den praktischen Umgang mit Lebensmitteln und Küchengeräten. Die Schülerinnen und Schüler lernen, wie die Profiköche zu schneiden, zu rühren, zu reiben oder auch abzuschmecken. Alle Kinder, die die schriftliche und die praktische Prüfung bestanden haben, bekommen zum Schluss einen Ernährungsführerschein verliehen.«

Jetzt wusste ich, warum Melanie die Fronten gewechselt hatte. Zuerst der Ernährungsführerschein in der Grundschule, dann der SchmExpertenkurs in den höheren Klassen. Auch wieder ein Angebot des LandFrauenverbandes, welches Frau Opitz kurz und voller Stolz verkündet hatte. Kein Wunder, dass sie nichts mehr von Hamburgern und Co. wissen wollte. Hoffentlich blieb wenigstens mein Sohn Paul normal.

Stefanie war von dem Ernährungsführerschein begeistert. Ich selbst hatte vor einiger Zeit ein Ernährungsprojekt entwickelt, aber leider keinen Verlag dafür begeistern können. Ich war mir immer noch sicher, dass mein Projekt FFF-VP, der Fastfoodführer Vorderpfalz, eine absolute Marktlücke war.

Nachdem Frau Opnitz fertig war, nutzten einige der Weinprobengäste die Pause für einen Toilettenbesuch, auch KPD wackelte in diese Richtung. Ein fieser Gedanke fesselte mich. Klar, ich hatte mein neues Smartphone dabei. Es war zwar ausgeschaltet, um nicht ständig den Akku laden zu müssen, doch die Grundfunktionalitäten wie einschalten, telefonieren und sogar fotografieren hatte ich inzwischen drauf. Mit einem gemeinen Lächeln folgte ich KPD. Was ich in den folgenden Minuten sah, möchte ich der Nachwelt, zumindest vorläufig, vorenthalten. So viel sei gesagt: Mir waren ein paar tolle kompromittierende Fotos mit KPD als Protagonist gelungen. Vielleicht konnte ich die Aufnahmen irgendwann einmal in eigener Sache verwenden. Natürlich nur aus Notwehr. Jetzt war zwar der Akku des Handys leer, doch es hatte sich gelohnt.

Nachdem ich das Smartphone weggesteckt hatte, sah ich, wie sich neben einem Stehtisch Frau Mai, die Geschäftsführerin der Landfrauen, mit einer weiteren Dame stritt, die mit Nachnamen Schick hieß.

Um was es bei der Auseinandersetzung ging, konnte ich aufgrund der Entfernung leider nicht verstehen. Selbst bei den Landfrauen schien es nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen zu geben.

Ein heller Gong ertönte.

»Im zweiten Teil kommen wir nun zu den etwas lieblicheren Weinen«, begann Herr Gansfuß. KPD war eines Kommentars nicht fähig, er saß mit debilem Gesichtsausdruck am Tisch und starrte Luftlöcher.

Irgendwie roch es rauchig. Zuerst dachte ich, dass sich jemand heimlich eine Zigarette angezündet hatte, möglicherweise eine dieser neumodischen E-Zigaretten, die angeblich weniger schädlich sein sollten, dafür einen Qualm wie eine Dampflokomotive produzierten. In der Fachzeitschrift »Psychologie und Polizei heute« hatte ich gelesen, dass die Raucher dieses Teufelszeugs damit ihre vermeintliche Wichtigkeit und, psychologisch gesehen, vor allem ihre Unsicherheit demonstrierten, was aber in der Umgebung nicht so gut ankam, da der Qualm stets als Belästigung angesehen wurde.

Inzwischen hatten auch die anderen etwas bemerkt. Immer mehr Gäste rümpften die Nase und schauten sich um. Als hochsensibilisierter Beamter wollte ich gerade aufstehen, doch Frau Gansfuß kam mir zuvor. Als sie die Tür zum Hof öffnete, flutete eine Rauchwolke den Raum. Sie stand auf der Türschwelle und war geschockt. »Feuer«, flüsterte sie zunächst mehr zu sich selbst. Doch schließlich hatte sie es begriffen. »Feuer!«, rief sie. »Alles raus!«

Sofort sprangen alle von ihren Stühlen auf und rannten zur Tür. Ihr Mann stoppte sinnvollerweise die gefährliche Aktion. »Nicht in den Hof«, schrie er. »Nehmen Sie die andere Tür auf der Rückseite. Gehen Sie auf der Straße entlang zum Wohnhaus.«

Die Evakuierung lief einigermaßen in geordneten Bahnen ab, keiner reagierte panisch. Mit einer Ausnahme: KPD. Dieser hatte wohl als Letzter begriffen, dass im Hof irgendetwas brannte. »Mein Wagen!«, schrie er. »Mein neuer Dienstwagen. Palzki, helfen Sie mir auf der Stelle.« Wie von Sinnen rannte er hinaus in den Nebel.