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Mit literarischem Anspruch und persönlichem Blick verwebt der Autor wie in seinen anderen Büchern persönliche Reiseerlebnisse mit fundierter Landeskunde, lebendiger Geschichte und feinfühligen Naturbeschreibungen. Er entführt in ferne Länder und macht mit fremden Kulturen vertraut – kenntnisreich, inspirierend, berührend. Taiwan: Inselreich im Südchinesischen Meer zwischen Tradition und Hochtechnologie. Gewaltige Gebirgswelten, spannende Meeresküsten, superlative Architektur, überbordende Tempel, freundliche Menschen, köstliche Küche. Dieses Buch lässt seine Leser das Reiseabenteuer nacherleben, eindrucksvoll bunt wie das spektakuläre Reiseland Taiwan selbst. Die Fülle der 785 hochwertigen Fotografien trägt dazu bei, Reisesehnsüchte anzufachen.
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Seitenzahl: 843
Veröffentlichungsjahr: 2025
EINE REISE DURCH TAIWAN
HANS-ULRICH SCHLAGETER
© 2024 Hans-Ulrich Schlageter
Lektorat von: Ute Haller-Göggelmann Coverdesign von: Hans-Ulrich Schlageter Satz & Layout von: Hans-Ulrich Schlageter ISBN 978-3-384-27352-9
Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Dr. Hans-Ulrich Schlageter, Türnenstraße 10, 78647 Trossingen, Deutschland.
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Bildnachweis: 785 Abbildungen Fotograf: Hans-Ulrich Schlageter Kamera: Nikon D5200 Fotograf: Tillman Leander Caspar Schlageter Kamera: Nikon D90, Bilder mit [C] gekennzeichnet
1
[1] Landkarte
2
[2] Zum Geleit
3
[3] Taiwan, wir kommen!
4
[4] In Taiwan und erste Eindrücke
5
[5] Tempelbesuche und ein beherzter Vorstoß in das Gebirge
6
[6] Wuling, ein Wasserfall, Lishan und dann?
7
[7] Lukang, Changhua und ein berühmter See
8
[8] Rund um den Sonne-Mond-See und weiter
9
[9] Von Teegärten und einer alten Hauptstadt
10
[10] Kaohsiung, eine Tempelstätte und der Süden der Insel
11
[11] In Kenting und am südlichsten Punkt Taiwans
12
[12] Taitung und die Unsterblichen von Sanxiantai
13
[13] Durch die Taroko-Schlucht ins Hochgebirge
14
[14] Im Shei-Pa-Nationalpark: Aufstieg zur 369-Cabin
15
[15] Xueshan: Auf dem Gipfel des Schneebergs
16
[16] Entlang der Nordostküste Taiwans
17
[17] Keelung und der Norden der Insel
18
[18] Die letzten Stunden in Taipeh
19
[19] Flug via Peking nach Hause
20
[20] Anstelle eines Epilogs
21
[21] Der Autor
22
[22] Schreibweisen einiger Namen: (vereinfachtes) Chinesisch, Pinyin
23
[23] Quellenangaben
24
[24] Über dieses Buch
Formosa, du Glückliche, die du dich aus dem Meere erhebst,
uns fruchtbare Ebenen bescheidest,
deine Gebirge bis in den Himmel hinaufschickst.
Taiwan: Der Name war vonZeit zu Zeit in meinen Gedanken aufgetaucht, eine große, vor dem chinesischen Festland liegende Insel, auf der Höhe der Zeit, mit den modernsten Technologien gesegnet, demokratisch regiert, jedoch von seinem schier übermächtigen Nachbarn im Norden ständig in seiner Existenz bedroht.
Aber war Taiwan eine Reise wert? Hatten dort Reste der jahrtausendealten indigenen Kultur aber auch die der vor wenigen Jahrhunderten eingewanderten Chinesen überlebt? Gab es für Reisende genug zu entdecken? Städte und Architektur? Tempel und Kultur? Kulinarisches und Folklore? Womöglich exotische Landschaften mit Bergen und Meer?
Eines Tages riskierte ich einen näheren Blick und informierte mich grob. Und dann stand fest: Offenbar existierte das Genannte sogar in faszinierender Form, gedrängt auf dem wenigen Platz dieser knapp 400 Kilometer langen Insel, deren Gestalt auf der Landkarte der einer Süßkartoffel ähnelt. Ferner stand fest: Die Zeit für einen, wenngleich kurzen Besuch war gekommen, gleich im Frühsommer, und das war der Mai 2013, das Jahr der Wasser-Schlange.
Trossingen, Freitag, 17. Mai 2013: Seit heute Morgen um acht Uhr waren wir auf dem Weg. Wir hatten unser schwäbisches Kleinstadtnest mit unserem alten rostigen Auto in Richtung Flughafen Frankfurt verlassen. 15 Tage würden wir auf der Insel Formosa verbringen, einem exotischen Reiseziel, das den meisten von uns bisher unbekannt geblieben und allenfalls durch die Hightech- und Computerindustrie ein Begriff ist und durch den Konflikt mit dem übermächtigen Nachbarn, dem kommunistischen China. Taiwan ein Reiseland? Ganz unbedingt!
Ein halbes Jahr zuvor hatte ich grob vier asiatische Wunschreiseziele abgesteckt, die ich irgendwann einmal spontan bereisen würde. Im Dezember hatte ich daraus Sri Lanka gewählt und bereist. Waren Laos, Burma und Taiwan geblieben.
Als dann die Pfingstferien mit zwei Wochen Schulferien heranrückten, kribbelte es mich, und ich dachte sofort an Taiwan. Aber alleine konnte ich nicht weg. Schließlich gab es da meinen Sohn Caspar, der bei mir lebte.
Warum nimmst du den Kerl nicht einfach mit? Hm! Er wandert nicht zwingend gern, er hasst es, lange durch Museen zu schlurfen oder ein Architekturmonument nach dem anderen abzuklappern. Ein Bad im Meer oder in einem See hingegen verlockt ihn noch jedes Mal. Und Meer gibt es bei einer so großen Insel im Ozean freilich reichlich.
Gut, ich würde Kompromisse schließen müssen, beispielsweise durch ein Mehr an Meer, aber er auch. Ich setzte darauf, dass ihn das fremde Land faszinieren und es seine Neugier entfachen würde. War das der Fall, dann war er sicherlich auch bereit, auf Entdeckungstour zu gehen, vielleicht sogar in einem Museum, einem Tempel oder einer quirligen Altstadt. Außerdem gab es da diesen einen Berg, der seinen bisherigen Höhenrekord in den Dolomiten um ein Beträchtliches nach oben rücken würde. Mit so einer Aussicht hätte man mich früher in meinen Jugendjahren alleine schon geködert.
»Hättest du Lust«, fragte ich meinen Sohn eines Abend, »hättest du Lust, 17 Tage zu verreisen? Wir würden uns, und da kommst du im Leben nicht drauf, Taiwan ansehen?«
»Taiwan, was bitte ist Taiwan?«
»Schlag es im Atlas nach, oder, da du ohnehin meistens vor dem Computer hängst, dazu sinnigerweise ausgerechnet einem, der in Taiwan hergestellt wurde, nimm ein Landkartenprogramm aus dem Netz und lies etwas über das Land. Gib mir dann Bescheid. Aber ich sage dir gleich, du kommst nur mit, wenn du dich vorher wenigstens ein bisschen über das Land schlau gemacht hast! Du darfst dann Wünsche äußern, wo du hinwillst. Drei Wünsche sind mir Beweis genug.«
Was ich ihm nicht unter die Nase rieb, war folgendes: Sollte er es vorziehen, zu Hause zu bleiben und mit seinen Kumpels etwas zu unternehmen, dann war ich ebenfalls gezwungen hierzubleiben.
Aber Caspar wäre nicht mein Sohn gewesen, wenn er nicht etwas von mir und seinem Großvater väterlicherseits und dessen Vorfahren geerbt hatte, nämlich den Drang nach neuen Horizonten und nach Erkenntnis. Noch war er sich dessen kaum bewusst, aber ich glaubte, es im Ansatz bereits zu erkennen. Aber er war gerade erst 14 Jahre alt. »Ich bin fast 15«, würde er sich entrüstet haben.
Noch etwas hatte ich betont, aber das wusste er ohnehin: »Wir machen keinen Urlaub, wir reisen. Das bedeutet: Morgens sind wir früh auf den Beinen und bis spät Abends unterwegs. Strände besuchen? Auch das, aber nur stundenweise. Wir sind Entdecker! Wir wollen ein neues Land kennenlernen!«
Noch am selben Abend fand er mich an meinem Schreibtisch: »Ich will auf den Taipei 101, im Süden irgendwo bei Kenting an einen tollen Strand und an den Sonne-Mond-See.«
Den Taipei 101 nahm ich ihm sofort ab, denn das war mit 509 Metern bei seiner Fertigstellung 2003 das höchste Gebäude der Welt gewesen und 2013 immer noch auf Platz drei. 2023 allerdings dann nur noch auf Platz 17. Ein toller Strand war sicherlich leicht zu finden. Den Sonne-Mond-See jedoch hatte er sich zwei Minuten länger erarbeitet, und auch nur, weil ich ihn gezwungen hatte, drei Plätze zu finden. Wer jedoch seinen Computer anwirft, ins Netz geht, Taiwan in die Suchmaschine eingibt und sich nur Bilder anzeigen lässt, kommt am Sonne-Mond-See nicht vorbei. Er war auch mein Ziel gewesen, Touristenrummel hin oder her. Jedenfalls hatte Caspar damit seine Fahrkarte nach Taiwan gelöst. Er durfte mitkommen, und da ich alle Daten bereits vorbereitet hatte, buchte ich noch am selben Aprilabend die Flüge. Blieben gerade drei Wochen für die Vorbereitungen, und da musste ich mich ranhalten, denn die Zeit ging rasch vorbei.
Drei Tage später lag der papierne Reiseführer im Briefkasten. Sofort erzeugte er einen Hunger, und zu den bisher schon ausgesuchten Zielen gesellten sich jede Menge neue und dazu die vielen Sehenswürdigkeiten, die am Wege lagen und wie nebenbei mitgenommen werden wollten, ein Tempel hier, ein Wasserfall dort, etwa ein urwüchsiges Stück Landschaft oder ein ursprüngliches Gebirgsdorf.
Es war wie immer: Ich wollte in zu kurzer Zeit zu viel. Ich musste aussortieren beziehungsweise auf die Warteliste setzen. Es brauchte nur einmal zwei Tage am Stück durchregnen, und schon waren viele Sehenswürdigkeiten ohnehin ins Wasser gefallen. Das gleiche galt, wenn es uns irgendwo so gut gefiel, dass wir einen Tag dranhingen. Kurz, es gab so viele Einflussfaktoren, die geeignet waren, mich einige Vorhaben umwerfen zu lassen. Aber das war nicht weiter schlimm, ein Plan war allenfalls ein grobes Konzept und Gerüst. Er war wichtig, eine erste Idee zu bekommen, das zu besuchende Reiseziel im Groben kennenzulernen, es vorzuvereinnahmen.
Allerdings stand es uns frei, uns jederzeit umzuentscheiden und neue Pläne zu schmieden. Die Kunst war es, sich durch das erlangte Vorwissen gezielt treiben lassen zu können und nicht, völlig den Verhältnissen und seiner eigenen Unkenntnis ausgeliefert, naiv herumzuirren. Das wäre dann ganz gewiss ein Abenteuer gewesen. Jedoch wollte ich stets die Kontrolle haben und mich nur aus eigenem Willen und aus Neugierde auf etwas einlassen. Selbst da blieb mehr als genug Raum für Überraschungen und Erlebnisse.
Jedenfalls war ich gespannt darauf, das Endergebnis hinterher mit den ersten Tagesplanungen auf meinem Konzeptpapier zu vergleichen, das ich mir in meiner gesammelten Zettelwirtschaft aufbehielt. Wenn sich das zu 80 Prozent deckte, dann war das nicht schlecht. Wenn nicht, dann war es nichts weiter als völlig egal. Was mir jedoch bei allen Planungen auffiel, auch denen vergangener Reisen, war, dass am Schluss immer genau ein Tag fehlte. Diesmal würde uns ein Tag in Taipeh fehlen, dort dieses und jenes zusätzlich zu sehen. Aber auch das war nicht weiter schlimm, ich hatte das dann bereits aus Erfahrung nicht anders erwartet.
Mittlerweile waren wir nach fast 300 Kilometern auf einen Autobahnzubringer gewechselt und nahe an den Glasgebäudekästen des Frankfurter Flughafens vorbeigefahren.
Zugegeben, die Idee, hohe Parkgebühren am Flughafen zu vermeiden, indem man einen Ort in der Nähe »heimsuchte«, hatten viele Reisende. Das war nicht verboten, und die meisten würden die allernächsten Orte im Umkreis bevorzugen, ich jedoch, genau aus diesem Grund, die zweite Reihe. Und das war heute Raunheim.
In das S-Bahn-nahes Wohngebiet hatte mich ein System von Einbahnstraßen auf Umwegen geführt. Auf meinen zusammengestellten ausgedruckten Umgebungsplänen hatte das alles weniger kompliziert ausgesehen, schließlich waren auch keine Einbahnstraßen eingezeichnet. Nebeneffekt dieser sogenannten verkehrsberuhigten Zonen war, dass die Ortsunkundigen viel länger suchend herumgurkten.
Endlich: Das Auto stand in einer ruhigen Straße vor einer Reihe Büsche und Bäume, die das in die Jahre gekommene Einfamilienhaus dahinter recht gut versteckten. Hier zu parken, war erlaubt. Damit das Umfeld sich hier jedoch nicht über ein altes rostiges Auto mit ortsfremdem Kennzeichen wunderte, klingelte ich die Eigentümerin des Hauses heraus, um sie in Kenntnis zu setzen.
»Flugreisende, die hier im Wohngebiet parken, das haben wir das ganze Jahr über, aber dass jemand fragt, das ist die Ausnahme. Das ist nett. Ja, Sie dürfen hier parken, aber bitte dort drüben auf der anderen Seite, momentan stehen Sie nämlich genau unter unseren Kirschbäumen.«
So irritiert ich war, ich hakte nicht nach, ob etwa mein Automobil eventuell eine Gefahr für die Kirschbäume und die Reifung derer Früchte darstellte, die im Übrigen erst Mitte August zu erwarten war, also in knapp drei Monaten. Oder ob der Kirschbaum meinem Auto etwas zuleide tun könnte, aber um meine Person und mein Eigentum war sie sicherlich zuletzt besorgt.
Ich versprach, ihren Wünschen nachzukommen, ich wolle ja nicht, dass jemand sich durch mein Auto in irgendeiner Weise gestört oder belästigt fühle. Womöglich fürchteten sie auch nur das Gerede der Nachbarn, wenn ein fremdes Fahrzeug vor ihrem Haus parkte.
Es wäre vielleicht geraten, schlug sie vor, einen Zettel ins Auto oben auf das Armaturenbrett zu legen, wie lange ich hier stünde und mit der Telefonnummer, wo ich notfalls zu erreichen sei.
Ich versprach, das in Erwägung zu ziehen, obwohl wir natürlich von Taiwan aus nicht würden kurz einmal vorbeisehen können. Nicht auf die Nase band ich ihr, dass nicht meine Person hier stand, sondern deren Auto. Stattdessen bedankte ich mich und parkte den Wagen um. Drüben war ein parkähnliches Gelände, ideal für Jugendliche, die nachts feiern und trinken wollen, aber doch hoffentlich nicht randalieren würden. Wenn sie mir dann wenigstens bloß ans Auto pissten und sich nicht sonst irgendwie an ihm vergingen, dann sollte es mir recht sein.
Wir waren knapp mit der Zeit. Eilig sperrte ich den Kofferraum auf und lud Rucksäcke und Taschen auf den Gehsteig. Caspar war ein wenig träge. Es behagte ihm nicht, einen großen Rucksack schleppen zu müssen und zusätzlich noch einen kleinen auf dem Bauch. Das fand er doof und ein wenig peinlich.
»Das ist die Art der Globetrotter und Rucksackreisenden. Beobachte einmal nachher am Flughafen andere Menschen mit Rucksack, die haben sicherlich auch zusätzlich vorne einen kleinen Rucksack umgeschnallt, für die kleinen wichtigen Dinge. Der große Rucksack steht meist im Hotelzimmer, während der kleine dein Tagesrucksack ist, mit dem du durch die Städte und Landschaften wanderst, versehen mit Geld, Kamera, Wasserflasche und Regenjacke, Landkarte, Reiseführer, und einer Kleinigkeit zum Schnabulieren«
Zwei Straßen weiter stand ein alter Mann in seinem Garten.
»Na, auf großer Fahrt?«, fragte er.
»Wir wollen ein bisschen weiter weg«, sagte ich.
»Jetzt bin ich neugierig«, sagte er. Das war er zuvor schon gewesen, dachte ich und erwiderte: »Wir sind auf dem Weg nach Taiwan.«
»Zu den Chinesen? Das ist aber mal ein interessantes Reiseziel. Ist das nicht eine Insel? Was gibt es denn da?« Immerhin wusste er mit Taiwan etwas anzufangen. Ich listete kurz das Wichtigste auf, denn wir waren weiterhin knapp mit der Zeit. Tempel, Kultur, Dschungel, Tropenstrände und einen fast 4000 Meter hohen Berg besteigen. Uns würde schon nicht langweilig werden.
Er fand das toll, dass ich das mit meinem Sohn machte, und wünschte uns gutes Gelingen.
Gute 500 Meter entfernt lag die S-Bahn-Station. Die nächste Bahn kam schon in drei Minuten, und der Automat wollte meinen Fünf-Euro-Schein nicht fressen, obwohl der ausnahmsweise nicht zerknittert war. Ein Mann mit »Migrationshintergrund«, - eine der schlimmsten neueren deutschen Unwortschöpfungen -, war als einziger so freundlich, mir zu helfen, während alle anderen desinteressiert taten, jedoch genau beobachteten. Der Mann brachte nur 4,50 Euro in Münzen zusammen, weswegen ich ihm die 50 Cents schenkte. Und da kam auch schon der Zug, während ich noch mit der Eingabe des Fahrtziels in den Automaten und dem Ausdrucken der Fahrkarte kämpfte.
Wenn du es eilig hast, verlierst du in der Hektik gerne die Übersicht und kapitulierst erst recht bei Automaten, deren Bedienung nur so intuitiv ist, wie sich das Technokraten ausgedacht haben. Es passte gerade noch. Uff!
Nur zwei Stationen fehlten bis in den »Keller« unter dem Flughafen. Bereits nach der zweiten Minute meldete sich eine wohlbekannte Stimme in meinem Hirnkasten, und sie behauptete, mit einer 87 prozentigen Wahrscheinlichkeit zu wissen, dass ich vergessen hatte, das Auto abzuschließen. Gut, ich rief mir den Vorgang ins Gedächtnis zurück und erhöhte dann auf 98 Prozent.
Wir würden es auf dem Rückweg erleben, wie es um das Auto stand, ob die Jugendlichen aus dem Park gleich nebenan allabendlich darin gefeiert hatten, und Radio gehört, bis die Batterie leer war. Leere Flaschen und Dosen tauchten vor meinem geistigen Auge auf. Dazu verschmutzte Sitze, beziehungsweise Polster, die noch dreckiger waren, als die ohnehin schon jetzt mit Schokoladenresten und Krümeln übersäten. Dann schob ich die Gedanken bis nach der Reise beiseite, es hatte ohnehin keinen Sinn, und noch einmal umkehren wollte ich nicht. Lieber vertraute ich auf unser Glück. Meinetwegen konnten wir in Nationalchina eigens für diesen Zweck zur Sicherheit ein paar Glückskekse naschen.
Was empfindet jemand, der zum ersten Mal in seinem Leben fliegt, wenn er sich in den weiten nüchternen Hallen verliert, in die er, langen trostlosen Gängen folgend, gefunden hat? Hoch oben das Glasdach und unten die verwirrend vielen Eincheckschalterreihen verschiedenster Fluglinien. Wie erwartet waren wir zuerst in der falschen Halle, und dann immer noch nicht richtig, denn es gab Air China und ChinaAirlines, weiters China Southern Airlines und China Eastern Airlines.
Einzig Air China nahm schließlich unsere großen Rucksäcke; und China Airlines ist übrigens die taiwanische Fluglinie.
Als wir die Sicherheitskontrollen passierten, wollte Caspar mir nicht glauben, dass er seine Trinkflasche nur leer mit hineinnehmen durfte. Dann trank er sie in einem Rutsch aus, unter den kritischen Augen der bis an die Zähne bewaffneten Beamtin mit der kugelsicheren schwarzen Weste, die ihm bedeutet hatte, er sollte die Flasche in den Müll werfen, gleich dort.
Die wegweisenden Zahlen- und Buchstabenkombinationen abwandernd erreichten wir unseren Flugsteig. Das dreifach geteilte riesige Fenster zeigte das Bild unserer Boeing 777 der Air China im Großformat. Caspar konnte sie in aller Ruhe betrachten und fotografieren. War er in seinem jungen Leben überhaupt schon einmal einem großen Flugzeug so nahe gekommen? Nachher würde er sogar dort drinsitzen und zum ersten Mal fliegen.
Gleich drei Zeitungen hatte ich unter den Arm geklemmt, chinesisch nur, um die Bilder und die Aufmachung zu begutachten.
Das Bild endlos sich wiederholender Sitzreihen war dasjenige, dass uns dann auf unserem langen Weg durch die Luft ziemlich unverändert begleitete, gewiss nichts Spannendes, nicht einmal für meinen Sohn und Erstflieger, der sich im Übrigen erwartet wortkarg gab und traurig darüber war, von seinem Mittelplatz aus nicht aus dem Fenster auf die Wolkengebilde und das ferne Land unter uns sehen zu können, denn das war etwas, worauf er sich lange gefreut hatte.
Immerhin war der Start ein Erlebnis, wenn die Maschine sachte abhob, die Luft uns trug und wir steil und geräuschvoll in den Himmel stiegen. Nach wenigen Stunden schon herrschte draußen die Nacht, und der Vorteil eines Fensterplatzes hinfällig, um nicht zu sagen mit tiefem Schwarz übertüncht.
Unsere Position und das Fortschreiten unserer Flugbewegung relativ zum Erdball ließ sichauf digitalen Landkarten verfolgen. Lange Zeit weilten wir über Russland, Sibirien und dann der Mongolei, und ich konnte noch nicht einmal auf einen Blick sagen, ob es sich um die äußere oder die innere Mongolei handelte, was dem Umstand zuzuschreiben war, dass ich die Mongolei zwar gerne einmal bereist hätte, mich jedoch bisher nur grob mit ihr beschäftigt hatte. Da gab es ganz eindeutig Lücken zu schließen. Bis dahin einige ich mich im Scherz auf die äußerste innere Mongolei.
Die Namen der großen russischen und sibirischen Städte wie Tomsk, Novosibirsk, Krasnojarsk, Irkutsk konnte ich hingegen geistig jederzeit verorten, ohne je dort gewesen zu sein. Für Städte wie Urumchi oder Ulan Bator galt dasselbe. Ich erklärte mir das damit, dass ich wohl zu oft auf sie gestoßen war, als in meiner Jugend meine Augen über die leeren nördlichen Weiten Asiens aufgeschlagener Atlanten strichen.
Aber Urumchi liegt doch in Ostturkestan beziehungsweise im »Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang«! Und Ulan Bator in der Mongolei! Und wir flogen in etwa 200 Kilometer Entfernung südlich an Urumchi vorbei. In gewisser Weise folgten wir in der Luft der Seidenstraße, zumindest war das grob der Korridor.
Wenige Stunden später zeigte die Landkarte erstmals das Zielgebiet. Offenbar lag Peking (Beijing)[北京 Běijīng] in einem Längstal zirka 1400 Meter hoch. An einer Gebirgskette entlangfliegend sanken wir zuletzt der Hauptstadt entgegen. Nur noch 3000 Meter hoch fehlten Minuten, die uns Turbulenzen lang werden ließen. Das Ruckeln war für diejenigen nicht weiter schlimm, die das Geschüttele schon viel heftiger erlebt hatten. Die Neulinge an Bord waren durchaus besorgt und angespannt. Angenehm waren diese Durchsacker nicht. Zumal wir nie wussten, was uns erwarten würde.
Peking, Samstag, 18. Mai 2013: Der Flughafenasphalt von Peking hatte uns aufgenommen. Es war 4 Uhr morgens, als wir Reisenden bei einer Temperatur von 8 Grad Celsius über den nassen Asphalt auf einen der wartenden Busse zuliefen.
Vor einem riesigen Glaskasten abgesetzt betraten wir die erste von zwei steilen langen Rolltreppen, die uns bis fast unter das flache Dach des Gebäudetraktes brachten.
Nicht erst hier fühlten wir Ankömmlinge uns beobachtet von einem Schwarm chinesischer Beamter und Militärpolizisten, oder harmloser uniformierter Angestellterund sonstiger Offiziellen.
Einen Uniformierten hatte ich wohl zu genau gemustert. Durchdringend sah er mich an, gab dann zumindest im Ansatz und bücklinghaft steif die Verbeugung zurück, die ich mit einem gewissen Gefühl des Unbehagens freundlich lächelnd zustandezubringen gedacht zu haben geglaubt hatte.
Nach dem langen Sitzen im Flugzeug die kurze Nacht hindurch war heißes Wasser ins Gesicht, Seife auf die Hände und Zahnpasta in den Mund ein Bedürfnis. In den nüchternen sauberen Toiletten war das Reinigungspersonal permanent zugegen und am Werk. »Säuberungsaktionen, wenngleich nicht politisch motiviert«, dachte ich im Stillen.
Mit vier Stunden blieb hiernach genügend Zeit, den Flugsteig für den Weiterflug nach Taipeh zu finden und ein wenig durch die Hallen zu wandern, um Eindrücke von diesem protzigen chinesischen Flughafen der Superlative zu sammeln, der selbstverständlich eines der Aushängeschilder des fortschrittlichen kommunistischen Chinas war und ein Ausdruck modernster Architektur.
China spielte demnach ganz vorne mit im Konzert der technischen Vorreiter, das sollte uns doch wohl vermittelt werden. Eingeschüchtert und verloren sollten wir uns fühlen, und das war ein Gefallen, den wir den Erdenkern dieses Bauwerks unbewusst taten. Tatsächlich waren wir beeindruckt. Aber auch reichlich neugierig.
Ziellos auf der weiten Empore der noch weiteren Haupthalle entlangwandernd sahen wir durch die etliche Meter hohe Panzerglasscheibe auf die untere Ebene hinunter, wo sich mindestens 15 Meter tiefer die transitierenden Menschen zwischen und in den Duty-Free-Läden, Restaurants und Cafés verloren. Künstlich, steril, leblos die Marmorböden dazu auf weiter Flur im stumpfen Glanz.
»Sauber wie eine Gehirnwäsche«, durchfuhr es mich, aber das war genau das Vorurteil, das ein westlich geprägter Mensch von streng kommunistischen Ländern hatte. »Dann eben Säuberungsaktionen um der reinen Sauberkeit willen«, korrigierte ich mich, der ich nicht von Vorurteilen geleitet sein wollte.
Eben dort hinunter mussten wir jedenfalls, wollten wir uns die verbleibenden drei Stunden an anderer Stelle langweilen, und zur fragwürdigen Erbauung, - nur um etwas anderes zu sehen als unsere jetlag-geprüften Mitwartenden auf den Sitzbänken -, durch die Läden stöbern, und da war chinesisches Kunsthandwerk tatsächlich einmal etwas anderes als diese ewigen Parfüm- und Whiskey-Regale und all das andere internationale Duty-Free-Repertoire, zu dem mir immer nur einfiel, dass ich angesichts dessen am liebsten off duty sein würde.
Einreise- statt Durchreiseschlange: dieser Fehler war gleich korrigiert und gefunden in dieser riesigen Halle endlich das Nadelöhr, das wir passieren mussten. Es hatte die Gestalt eines wuchtigen disziplinierten Beamten, der streng gesichert in seinem Glaskasten saß und Pass und Bordkarte prüfte.
Passbild und zugehöriges Gesicht verglich er peinlichst genau und kam bei mir zu dem richtigen Schluss, dass beides übereinstimmte. Nicht auszudenken, wenn ich kurzfristig meinen Vollbart abrasiert hätte, den mein Passbild selbstverständlich weiterhin zierte. Dann nämlich wäre ich dankbar für die Technik gewesen, die bei meinem Sohn jetzt zum Einsatz kam. Er schaute in eine Kamera und hielt still, während seine biometrischen Augendaten genommen wurden. Auch er war zum Glück ganz er selbst.
Das emotionsfreie Durchwinken des Beamten, so erleichtert wir es aufnahmen, es war lediglich die erste Hürde gewesen, sozusagen die Eintrittskarte, sich weiteren Kontrollen unterziehen zu dürfen.
Dazu glitt die Rolltreppe mit uns langsam und unaufhaltsam ein Stockwerk tiefer. Ein nüchterner Gang, eine kleinere Halle, darin Glaskästen mit Schaltern, hinter denen chinesische Passkontrolleure warteten. Der Weg zu ihnen war durch blaue Bänder vorgezeichnet, die an Stellpfosten befestigt waren, sinnvoll, wenn hunderte Menschen abgefertigt werden mussten. Jetzt jedoch waren wir mit zwei anderen Personen die einzigen, die sich in einem weiten Zickzack langsam bis an das Etappenziel vorarbeiteten.
Der Chinese griff sich die Dokumente und ausgefüllten Formulare für den Transit, verglich alle Daten akribisch, schaute uns durchdringend an, jedoch ohne eine Gemütsregung zu verraten. Endlich stempelte er kraftvoll die Pässe. 72 Stunden war uns der Aufenthalt gestattet, und wir hätten sogar ins Stadtzentrum gedurft, aber wir wollten ja weiter nach Taipeh beziehungsweise Taipei.
Um die Ecke fraßen Röntgengeräte die mit unseren metallischen Gegenständen, Kameras und Filmen bestückten Plastikwannen. Meine Filmpatronen durfte ich einzeln öffnen und jeden darin enthaltenen Film vorzeigen. Filme bekamen die Beamten heutzutage immer seltener zu Gesicht, aber es gab sie noch. Unsere kleinen Wasserflaschen mussten wir abgeben, obwohl sie leer waren. Ein strenger Blick der Chinesin in Uniform hatte genügt, jeden weiteren Diskutierwunsch zu unterdrücken. Das Spiel Kontrolle und Schikane hätte sie sehr weit treiben können. Wer hätte das wegen zweier leerer Plastikflaschen riskiert?
Jetzt waren wir eingereist und durften uns frei bewegen, zumindest im Transit, in der begrenzten Welt der himmelhohen Halle mit den sich verlierenden Läden und Restaurants, die wir zuvor von oben betrachtet hatten. Mit dem Angebot waren wir ziemlich schnell durch und saßen dann stoisch die Zeit auf einer Bank ab.
Ähnliche penible Kontrollen brachten uns hinaus zu unserem Flugsteig, und wir stiegen pünktlich um 8.30 Uhr Ortszeit in den Himmel, um das andere China anzufliegen. Taipeh lag Luftlinie circa 1750 Kilometer von Peking entfernt in südlicher Richtung. Die meiste Zeit lag das chinesische Festland unter uns. Über der Taiwanstraße war die Luft dann so turbulent wie die diplomatischen Beziehungen der beiden Chinas. Durch das Bullauge spähend entdeckte ich alsbald das hohe zerklüftete Gebirge, das Rückgrat der Insel Formosa. Schön anzusehen, zumindest wo Bergspitzen durch die dichten Wolken fanden, dieses Chungyang- beziehungsweise Zhongyang-Gebirge [中央山脈 Zhōngyāng Shānmài] oder einfach das Taiwanische Zentralgebirge.
Zwanzig Minutenfehlten zur Landung auf dem »Taoyuan International Airport«. Allmählich sank unser Flugzeug durch dienächste Wolkenschicht. Das Licht brach gleichmäßig grellgrau zu den Bullaugen herein. Caspar drückte sich die Nase platt, ob nicht unter uns das Chinesische Meer der Taiwan-Straße sichtbar würde, vielleicht sogar mehr als nur ein paar Berge, die große Insel Formosa oder wenigstens ein paar verlorene Eilande. Da aber musste ich ihn enttäuschen. Wohl gab es kleinere Inselgruppen, in der Hauptsache die Penghu-Inseln beziehungsweise die Pescadoren, aber die lagen weiter im Südenwestlich der Hauptinsel Taiwan und sogar knapp südlich des Wendekreises des Krebses und somit bereits in den Tropen. Taiwan war demnach im Norden subtropisch und im Süden tropisch.
Wow, Caspar würde auf dieser seiner allerersten Flug- und Fernreise gleich die Tropen erleben. Der Wechsel von subtropisch nach tropisch würde unmerklich, nicht wirklich wahrnehmbar sein. Obwohl im südlichen Taiwan eine andere Pflanzenwelt existierte als im Norden der Insel. Unterschiede gab es jedoch auch zwischen Ost und West, und selbstverständlich zwischen Tiefland, mittleren Lagen und Hochland. Aber das hatte grob nichts mit tropisch oder subtropisch zu tun, sondern eher mit Wind und Wetter, den Meeresströmungen, der Höhenlage et cetera.
Eben wurden wir nochmals kräftig durchgeschüttelt. Die Turbulenzballen, die da draußen unterwegs waren, man sah sie nicht, man fühlte sie, und das mit Unbehagen. Dann wurde die blassblaue Wasserfläche tatsächlich sichtbar.
»Straight over the strait«, kam es mir in den Sinn. Und ich zog zum wiederholten Male meine grobe Taiwankarte heraus, wie um das Land schon einmal im Vorfeld in Besitz zu nehmen. Und was entdeckte ich, als ich unsere momentane Position bestimmte? Es gab auch nördlich der Hauptinsel zu Taiwan gehörige Inseln in der Taiwan-Straße. Die Matsu-Inseln und lagen in unmittelbarer Nähe der Chinesischen Volksrepublik, - genauer gesagt vor Fuzhou in der Provinz Fujian [福建 Fújiàn].
Sicherlich sind, seit Taiwan als eigener, formell so gut wie von keinem Land der Welt anerkannter Staat existiert, die Eilande stets ein besonderer Dorn im Auge der Herrscher über Großchina gewesen. Taiwan jedoch unterhält entsprechend viel Militär und Ausrüstung auf den kleinen Inseln versammelt, um eine Einnahme derselben vorerst uninteressant zu machen. Aber die Volksrepublik China beansprucht ohnehin Taiwan als Ganzes, und wenn ihnen eines fernen Tages Formosa in Hände fallen sollte, sei es durch einen politischen Konsens, was eher unwahrscheinlich ist, oder durch militärisches Eingreifen, dann sind diese Inseln sogenannter Beifang.
Tatsächlich waren die Inseln in den 1950er- und 1960er-Jahren von den Festlandchinesen mehrfach bombardiert worden. Im 21. Jahrhundert erfreut man sich eher der wirtschaftlichen Kontakte, so wie die Volksrepublik weltweit alle Anstrengungen unternimmt, um finanzielle Geschäfte zu machen und somit nicht zuletzt ihren Einfluss zu mehren und abhängig zu machen. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass weiter südlich, direkt vor der großchinesischen Haustüre, nur zwei Kilometer vom Festland entfernt, die beiden Inseln Kinmen und Lieyu sitzen, die ebenfalls zu Taiwan gehören. Auf die Geschichte, wie und durch welche Umstände Taiwan nach dem Zweiten Weltkrieg selbständig wurde, zumindest de facto, werde ich an anderer Stelle sicherlich zurückkommen.
Im gleißenden Mittagsdunst wurde jetzt eine weit ausgedehnte Stadt sichtbar. Das musste Taoyuan [桃園市 Táoyuán] sein. Schon erkannten wir die flachen Flughafengebäude. Dann setzten wir auf. Das Flugzeug bremste scharf und rollte auf das Terminal zu, wo es zum Stillstand kam.
Gleichmäßig gleißend fiel das mittägliche Sonnenlicht durch einen höhenbewölkten Himmel und hatte die wie unter einer Glocke liegende subtropische Atmosphäre bereits einige Stunden aufgeheizt, exakt bis auf 33 Grad. Entsprechend schwülwarm schlug es uns gleich vor dem Flugzeug entgegen, als hätte uns jemand ein feuchtes Handtuch ins Gesicht geschlagen. Ich empfand das nicht als so schlimm, wie ich es beispielsweise von Brasilien oder Südindien her kannte. Es war eine Sache der Gewöhnung, und in den Bergen würde es sicherlich bedeutend kühler sein.
Mit all den anderen Ankömmlingen wanderten wir durch die Gänge und bewunderten erste Plakatwerbung auf chinesisch. Junge attraktive Frauen zeigten vergnügt ihre Smartphones oder tranken irgendwelche Fruchtsäfte und Erfrischungsgetränke.
Unser Gepäck hatte den Quantensprung über die insgesamt 9300 Kilometer unbeschadet mitgemacht, obwohl es in Peking wahrscheinlich gründlichst untersucht worden war, ähnlich wie zuvor unser Handgepäck. Eher aus Neugierde und zur Statistik als aus Sicherheitsgründen.
Die Schlange vor den Einreiseschaltern war nur kurz. »Nihao«, grüßte ich die Beamtin in dunkelblauer Uniform und schob ihr unsere Pässe mit den Formularen hin, die wir bereits im Flugzeug ausgefüllt hatten. Sie erwiderte den Gruß, nahm mit einer tausende Male eingeübten Bewegung die Dokumente auf und steckte jedes in das Lesegerät. Dann nahm sie nickend den Stempel zur Hand, und nach kaum einer Minute waren wir eingereist. Die große Volksrepublik China hatte das Prozedere nicht ansatzweise so lässig gehandhabt.
»Bukeqi! [不客气 Bùkèqi]«, hatte die Frau gesagt, »Welcome!«. Ich hatte es erst auf Englisch verstanden und hätte noch nicht einmal mit »wo tingbudong [我听不懂wŏ tīngbùdŏng]« antworten können: »Ich verstehe nicht« Dafür sagte ich »xie xie [谢谢 xièxie]«, Danke! Dieses wie shishe klingende Wort würde neben Nihao [你好nĭ hăo] der zweite Leuchtturm unserer Sprachkenntnisse werden. Und wahrscheinlich einsam bleiben. Für ein wenig Grundvokabular und rudimentäre Phrasen für eine Minimalkonversation war die Vorbereitungszeit einfach zu knapp gewesen. Leider. Das war mir sogar peinlich, weil ich es sonst leidenschaftlich mit den Sprachen halte: Aus Höflichkeit meinem Gastland gegenüber, und weil auf diese Weise viel intensivere und herzlichere Begegnungen möglich sind. Und nicht zuletzt, weil jede Sprache, die sich in deinem Hirnkasten breitmachen darf, ungemein bereichernd ist, eine andere Art zu denken, zu assoziieren und zu abstrahieren. Das gilt umso mehr für Sprachen, die mit der Muttersprache, in unserem Falle der indoeuropäischen Sprachfamilie, überhaupt nicht verwandt sind.
Jetzt also waren wir in Taiwan angekommen. Nun begann unser Abenteuer. Im Gegensatz zur großen Volksrepublik durften wir uns in der kleinen Inselrepublik völlig frei bewegen. Richtig frei bewegen konnten wir uns freilich erst, wenn wir einheimische Währung gekauft hatten, Neue-Taiwan-Dollar, und da gab es für einen Euro gleich 40 NT$. Anfangs würde das ein komisches Gefühl sein, wenn ein Artikel mit 400 Dollar ausgezeichnet war und dann umgerechnet nur 10 Euro kostete. Vollkommene Bewegungsfreiheit würden wir erlangt haben, wenn wir unseren Mietwagen in Besitz genommen hatten. Und diese Freiheit konnten wir uns, so fürchtete ich, jederzeit selbst beschneiden, indem wir uns im fremden Verkehrsdschungel nicht zurechtfanden. Aber der Reihe nach.
In der weiten Eingangshalle des Flughafens stand ich an einem der Wechselbüros an und verbeugte mich dann vor gleich drei Damen hinter Glas, die einträchtig selbiges taten, ein höfliches Lächeln auf dem Gesicht. Ich blätterte acht 50-Euro-Scheine hin und erhielt dafür 15000 Neue-Taiwan-Dollar in 15 Scheinen und 300 Dollar in klobigen Münzen.
Wann hatte ich das letzte Mal mit einem Tausender herumgewedelt? Jetzt, wo wir reich waren, stellte sich die spannende Frage, wie lange dieser Reichtum vorhielt, bevor ich mir bei einer Großbank eine ATM-Maschine suchen musste. Vier Tage? Fünf Tage? Der Kompromiss war eine gute Woche, wenn wir Benzin und Hotels mit der Kreditkarte bezahlten, vielleicht sogar noch länger.
Ich hatte schon gehört und gelesen, dass die Restaurants ein ähnliches Preisniveau kannten wie Westeuropa und Amerika. Dort würde man uns dann eher selten antreffen. Eine leckere Alternative waren die Straßen- und Nachtmärkte, wo man sich für wenig Geld durchfuttern konnte. Darauf waren wir gespannt.
Der Normal-Taiwaner suchte überdies gerne einen 7-Eleven oder einen Family Mart auf, um sich mit Getränken, Knabberzeug und Sonstigem einzudecken. Auch darauf würden wir bald und gerne zurückkommen. Die erste Aufgabe war jedoch, den Pendelbus nach Taoyuan zu erwischen, und dort beim Hochgeschwindigkeitsbahnhof, oder einfach HSR-Station, HSR für »High Speed Rail«, den vorgebuchten Mietwagen in Empfang zu nehmen. Das wäre in diesen Minuten gewesen, jedoch hatte unser Flug sich verspätet, man würde also auf uns warten müssen, ausgerechnet auf einen Deutschen, ha ha ha!
Wir irrten durch die Hallen des Erdgeschosses, aus denen es mehrere Ausgänge gab. Die kleine Chinesin vom kleinen Tourismusbüro verwies mit mehreren abbiegenden Handbewegungen, als seien das Tai-Chi-Handformen, auf einen weiteren Ausgang.
Wir fanden ihn schließlich um einige Ecken. Es war ein Nebenausgang, und draußen befand sich ein Fahrkartenschalter für Busse in alle Himmelsrichtungen und somit auch nach Taoyuan. Der Schalter war dort, wo die Menschen geordnet anstanden, zum Glück nicht viele. Für 80 NT$ erhielt ich zwei Fahrkarten und den Hinweis, der Bus warte gleich um die Ecke.
Beinahe wäre ich schon beim Kauf der ersten Fahrkarte gescheitert, weil es mir nicht gelungen war, Taoyuan für einen Taiwaner verständlich auszusprechen. Mir wurde bewusst, dass fortan jedes ausgesprochene taiwanische Wort automatisch Missverständnisse und somit Scheitern in sich barg. Nicht umsonst waren in meinem papiernen Reiseführer hinter den Orts- und Namensbezeichnungen in Klammern die chinesischen Schriftzeichen gesetzt, die Langzeichen. So konnte ich bei Fragen nach dem Weg einem netten Taiwaner kurzerhand das Buch vor die Nase halten und auf das Wort deuten. Das immerhin.
Für 12 Kilometer fehlten bis zum HSR-Station in Taoyuan. Der Bus war unerwartet modern und so bequem, als sei er für die Langstrecke gemacht. Ebenso waren die Straßen mehrspurig und wie neu. Viele Male bogen wir in ähnliche Straßen ab, die aussahen wie Autobahnzubringer. Mit dem Auto hätte ich den Weg sicherlich nicht auf Anhieb gefunden. Nachher jedoch musste ich den Weg nach Hsinchu [新竹 Xīnzhú] finden. Da machte ich mich jetzt schon auf einiges gefasst.
Das Bahnhofgebäude war ein flacher Glaskasten mit viel Parkfläche drumherum. Wir fuhren um das Gebäude herum, sozusagen zum Hintereingang, und dort war die überdachte Endstation, das Terminal. Jetzt hätten wir bequem in den Bus nach Hsinchu wechseln können und hätten die 65 Kilometer in wahrscheinlich weniger als 50 Minuten hinter uns gebracht.
Vom Busbahnhof wäre unser Hotel in Laufweite gelegen, was noch einmal 20 Minuten gewesen wären, insgesamt also eine Stunde und zehn Minuten. Mit der Bahn lag Hsinchu sogar nur 37 Minuten entfernt. Wenn wir das mit dem Auto in zwei bis zweieinhalb Stunden erledigt bekommen würden, dann war ich bereits hoch zufrieden. Allerdings wurde in mir eine Vorahnung laut. Ach was! Das Abenteuer gehört mit zum Reisen. Warum hatte ich nicht ein Navigationsgerät mit zum Mietwagen dazugebucht? Das hatte ich tatsächlich versucht. Nicht nur, dass die Landkarten alle auf Taiwanisch oder wahlweise auch Hochchinesisch gewesen wären, also Regen und Traufe, selbst eine englische Stimme war nicht einstellbar.
»Gua bää-chiau gonj inj-gi-bo«, meinte dazu mein kleiner Sprachführer, der dazu sogar mit Ziffern die richtigen Töne anzeigte: »I do not speak English!«
Das Taiwanisch kennt sogar sieben Töne, das Hochchinesisch indes nur vier. In Taiwan war ich also, was die Sprache anbelangt, ein siebenfacher Versager, mindestens, denn bei mehrsilbigen Ausdrücken gab es umso mehr Kombinationsmöglichkeiten, da war die Gefahr, irgendeinen Stuss zu stammeln oder sogar etwas Beleidigendes vonsichzugeben, omnipräsent. Töne konnten steigen, fallen, niedrig sein, mittel oder hoch, niedrig gehalten und hoch gehalten sein.
Fazit: Das Navigationsgerät war ebenso bunt wie für uns wertlos. Es blieb uns nichts, als uns auf unsere Nasen zu verlassen: Langnasen in unserem Fall.
Hatte ich gedacht, dass sich drinnen im Bahnhofsgebäude die Mietwagenfilialen aneinanderreihten, sah ich mich getäuscht. Nachdem ich zweimal hilflos im Kreis die Halle abgelaufen war, und Caspar immer brav hinterdrein, jedes Mal genervter, stellte ich fest, dass jeglicher Hinweis in englischer Sprache fehlte, der im Entferntesten mit Car rental in Zusammenhang stand. Ratlos fragte ich bei der HSR-Information nach, und die schicke Dame zeigte in die Südostecke der Halle. Diese Ecke steuerte ich vage an. Aber da war doch nichts!
Da bemerkte ich einen Mann, der hinter einem Schreibtisch saß und eben den Telefonhörer auflegte. Jetzt kam er mir entgegengelaufen. Er war es, der uns den Mietwagen vermittelte, offenbar hatte ihn die Schalterdame angerufen und informiert.
Auf seinem Schreibtisch lag alles sauber geordnet in Ablagen aus Plastik gestapelt. Recht besehen saß der Mann in einem kleinen offenen Büro, hinter ihm an der Wand eine abschließbareAnrichte, die jetzt offen war und viele Fächer mit Formularen, Ordnern und sogar Prospekten zeigte. Unsere Unterlagen hatte er schon herausgesucht und festgestellt, dass wir 40 Minuten zu spät, jedoch immerhin gekommen waren, unseren Mietwagen in Empfang zu nehmen. Wir regelten die genaue Rückgabeuhrzeit am Ultimo desselben Monats. 13 Uhr 30 sagte, er und blickte auf seine Uhr, die exakt 13 Uhr 30 anzeigte.
»Ich versuche, eine Stunde eher dazusein«, versprach ich, »man kann nie wissen« Er sei ohnehin da, gab er zurück, während er meine Kreditkarte durch seine Maschine zog und sie mit 29900 NT$ belastete. Dann zog er sie noch einmal durch für die Kaution, die ich selbstverständlich wiederbekommen würde.
Taiwan war im Vergleich zu den USA oder Japan ein teures Land, um ein Auto zu mieten. Rund 70 Dollar musste ich für einen Tag in einem Wagen der Kompaktklasse hinlegen, und das waren keine Neue-Taiwan-Dollar sondern US-Dollar. Jetzt würden wir uns zwei Wochen lang im Auto über die Insel bewegen.
Der Mann kam mit uns hinaus. Da stand ein silberfarbener Kleinwagen, ein Nissan Tiida, und ich bekam den Schlüssel ausgehändigt. Unser Gepäck verschwand im Kofferraum. Dann wanderten wir um das Fahrzeug herum, und der Mann notierte alle bekannten Mängel wie Kratzer, Beulen und Schrammen im Lack, indem er sie auf einer Abbildung ankreuzte. Hoffentlich hatten wir nichts übersehen, was er mir hinterher bei der Abgabe des Wagens in Rechnung stellen würde.
Ich bekam den rosafarbenen Durchschlag und weitere Papiere ausgehändigt und klemmte mich dann hinter das Steuer. Wenn du in einem fremden Fahrzeug sitzt, ist immer alles neu und anders als gewohnt. Du sitzt vor den Armaturen und Schaltern wie ein Fahrschüler bei der ersten Fahrstunde. Dir ist es peinlich, zu viel zu fragen. Du willst nicht als dumm gelten. Als einziges fragte ich immerhin nach dem Lichtschalter, alles andere würde sich mir nach und nach erschließen.
Unsere ersten Meter rollten wir in relativer Geborgenheit auf dem Bahnhofsgelände. Dann wurde es ernst und fortan rein taiwanisch, betreffend Schrift, Fahrweise und die Verkehrsregeln. Wir waren sozusagen unmittelbar ins kalte Wasser geworfen worden, mitten in einem fremden Dschungel ausgesetzt, spätestens ab dem Moment, als wir direkt in eine mehrspurige Straße eingebogen waren, die zum Glück, zumindest in Bahnhofsnähe, kaum Verkehr auf sich sah.
Nachdem ich den vergangenen Minuten zwei Mal eine selbstverschuldete Erfahrung gemacht hatte, über die mein Sohn als mitfahrendes Opfer sich entrüstet hatte, vor allem beim zweiten Mal, versuchte ich das dritte Mal unbedingt zu vermeiden. Tatsächlich sollte es erst wieder nach einer halben Stunde passieren, ganz spontan, und selbst für mich überraschend.
Recht besehen ist es paradox, dass man über eine Handlung, die man bewusst ausführt, erstaunt sein soll. Was, in aller Welt, hatte ich nur getan? Ich hatte Geschwindigkeit aufgenommen und wollte einen Gang höherschalten. Dazu trat ich die Kupplung kräftig bis zum Anschlag durch. Nur, dass das fern von ratsam ist, wenn man in einem Auto mit Automatik sitzt. Aber es war die reine Gewohnheit. Und es war selbstverständlich das Bremspedal. Erstaunt war ich, und das ist nicht paradox, über die seltsame Reaktion des Fahrzeugs. Erst verzögert zog ich den Fuß zurück und beobachtete den Vorgang wie ein Unbeteiligter. Bis es mir dämmerte, warum wir beide in den Sitzgurten hingen und das Fahrzeug so gut wie stillstand.
»Zumindest arbeiten die Bremsen optimal, was gut ist zu wissen«, sagte ich, bevor ich Caspar meine Tat erläuterte. Diese Schwierigkeit ließ sich leicht beheben, einfach durch Unterlassen. Aber es gab ein zweites Problem.
Der Autovermietungsmann hinter dem Schreibtisch hatte mir in seinem knappen Englisch erklärt, wie wir auf den Freeway »3« kämen, und ich hatte versprochen, das zu memorieren. Schon nach der zweiten Kreuzung ahnte ich, dass ich meiner Intuition trauen musste. Warum? Die »3« war in beide Richtungen angezeigt worden, jedes Mal begleitet von einem Satz chinesischer Schriftzeichen, die kompliziert aussahen und manche von ihnen noch weitaus komplizierter. Ich ahnte wohl, dass es sich um »3« Nord und »3« Süd handeln musste, und so entschied ich mich tatsächlich nach der Himmelsrichtung, nur um gleich darauf über eine dieser Stelzenviadukte in einem weiten Bogen in die falsche Richtung zu wechseln. Na schön, dann eben einfach der Straße einige Kilometer folgen bis raus aus der Stadt und dann die erstbeste nach Süden. Es sei denn, die Straße korrigierte abermals ihre Richtung. Aber das war nach drei Kilometern eher unwahrscheinlich.
Vielleicht mogelte sich ja auch einmal ein englisches Schild unter all die Chinesischen, oder es wurden dann sogar mehrere Ziele mit Kilometerangaben auf einer Tafel angeschlagen. Zu wünschen war uns das, und ich war durchaus optimistisch. Zumindest vorerst.
Selbst wenn ich chinesisch, inklusive Schriftzeichen gelernt beziehungsweise Sinologie studiert hätte, und das hatte ich nicht, ich hätte mich zumindest in Taiwan herausreden können, weil hier, im Gegensatz zur Volksrepublik China, statt der vereinfachten Kurzzeichen immer noch die Langzeichen in Gebrauch waren. Tatsächlich erschienen uns einzelne der auf den Straßenschildern angezeigten Morpheme äußerst komplex, und wer hätte sie auf einen Blick erfassen, geschweige denn nach einigen Minuten wiedererkennen mögen? Das war eine rhetorische Frage, die ich dennoch beantworte, mit: selbstverständlich ein jeder erwachsene Taiwaner. Dafür hatten sie jetzt bereits meinen höchsten Respekt.
Aller Respekt half mir nicht weiter. Für mich hätten sie die Schilder ganz abbauen können, es wäre auf dasselbe hinausgelaufen. Verlorengehen konnten wir indes dennoch nicht. Im Osten lag das zentrale, die Insel wie ein Rückgrat durchziehende Hochgebirge, allerdings momentan im frühnachmittaglichen Dunst begraben und noch nicht einmal als schwache Linie oder Silhouette zu erkennen. Im Westen begrenzte eindeutig das Meer die Möglichkeiten, uns zu verfahren.
Nur 64 Kilometer südlich von Taoyuan wartete die große Stadt Hsinchu auf uns, in der ich über das Internet ein Hotelzimmer vorgebucht hatte. Ich hatte mir das einfach ausgemalt. Die große Nord-Süd-Autobahn »1«, hier Expressway genannt, führte in zirka drei Kilometern Abstand an Taoyuan vorbei und, wenn wir erst einmal auf ihr waren, ohne Schnörkel direkt nach Hsinchu City, Ausfahrt Zentrum.
Noch aber waren wir nicht auf ihr. Vielmehr trog mich bald das Gefühl nicht, unter eben diesem Expressway »1« weggefahren zu sein, der sich mindestens 40 Meter über unseren Köpfen, von mächtigen breiten Betonpfeilern getragen, wie eine Schlange durch die grüne Tiefebene wand; im Gegensatz zu uns Nebensträßlern zielgerichtet. Ich versuchte, in der Nähe dieses Betonmonstrums zu bleiben und gegebenenfalls geeignet in dessen Richtung abzubiegen. Ich kam ihm sogar nahe, aber eine Auffahrt gab es nicht noch einen Hinweis auf eine solche. Und schon hatte die Straße uns in den nächsten weitläufigen Ort geführt, weit weg von jedem Expressweg.
Für jedes Zeichen war ich dankbar, ausgenommen ein chinesisches Schriftzeichen. Schon war die erste halbe Stunde verstrichen, ich oft kreuz und quer abgebogen, immer den Schildern »2« oder »3« hinterher, anscheinend bald in Richtung Nord, bald in Richtung Süd. Einmal waren wir sogar für Kilometer auf einem dieser Stelzenviadukte gefahren, und ich hatte bereits frohlockt: »Jetzt endlich sind wir richtig.« Schon senkte sich die Straße hinab in den nächsten Stadtdschungel. Dabei waren auf meiner groben Karte kaum Städte verzeichnet. Es war wie verhext.
Da ich den Mietwagen nur zu einem Viertel betankt übernommen hatte, steuerte ich eine einsame Tankstelle an, die ein junges Paar führte. Er tankte mir den Wagen voll, und sie nahm meine Kreditkarte in Empfang. Englisch verstand keiner der beiden. Ich wollte nach einer Landkarte fragen, aber das Tankstellenhäuschen verkaufte noch nicht einmal Getränke und Snacks, dafür mindestens fünf Sorten Motorenöl in verschiedengroßen Gebinden, etwas wofür sich allenfalls der Motor meines Leihfahrzeugs erwärmt hätte.
Ich versuchte, wenigstens den Weg nach Hsinchu zu erfragen, sprach den Namen jedoch anscheinend und wie erwartet falsch aus, und zu meiner Ernüchterung noch nicht einmal so, dass man ihn wenigstens hätte erraten mögen. Dabei behauptet man auch in diesem Land, alles so zu schreiben wie man es spricht. Zumindest ist die lateinische Schreibweise nur eine grobe Näherung, eine unzureichend grobe offenbar, die die verschiedenen Tonlagen geflissentlich ignoriert, genau wie ich. Wenigstens war der Tank nun randvoll und das Auto bereit für mindestens 600 Kilometer weitere Irrfahrten.
Zwei Kilometer weiter kam mir die Idee. Wie wäre es, wenn ich das nächste Mal dem Gegenüber mein Buch unter die Nase hielte und auf den chinesisch geschriebenen Namen deutete. Das hielt ich für eine famose Eingebung. Was ich dann mit der chinesischen Antwort anfing, stand auf einem ganz anderen Blatt, jedoch bestimmt nicht in meinem Buch.
Wir bewegten uns durch sattgrüne Felder, die ich zum Teil für Reis hielt. Wenn eine kreuzende Straße breiter war als unsere momentane, dann nahm ich sie. Ich wollte mich allmählich auf das Niveau einer Autobahn hocharbeiten. Wie war ich überrascht, als, nachdem beinahe die erste Stunde verstrichen war, die großen Gebäudekästen des internationalen Flughafens Taoyuan auftauchten. Um mich nicht vollends zu demütigen, hielt die Straße respektvoll einen Kilometer Abstand. Als nächstes kam ein Schild, das sogar auf Englisch »Taoyuan« und die »High Speed Railway Station« ankündigte.
»Warum nicht zur Abwechslung dort einmal hinfahren«, schlug ich in bitterer Ironie vor, und Caspar ergänzte: »Dann können wir ja gleich das Auto abgeben.«
Als gelernter »Sarkast«, hätte ich das auch mit: »Endlich kenne ich mich aus« kommentieren können. Nein, bevor wir dort ankommen würden, was die höchste aller Schmachen bedeutet hätte, wollte ich lieber egal wohin abbiegen. Und ich bog nach Süden ab.
Ich schlug Caspar vor, er könne unser gutes Vorankommen gerne mit seiner Kamera dokumentieren. Dabei hatte er, neben mir auf dem Beifahrersitz, bereits einige Male dies und das durch die Frontscheibe fotografiert. Da war ich gespannt auf seine Ergebnisse.
Caspar war ein Neuling, was das Fotografieren anbelangt. Vor der Abreise hatte ich ihm meine alte digitale Spiegelreflexkamera Nikon D90 vermacht und ihm das Gröbste erklärt. Wahrscheinlich hatte ich ihm tatsächlich zu wenig beigebracht, oder die Fülle der Einstellungsmöglichkeiten hatte ihn schlicht erschlagen. Aber er konnte jederzeit fragen oder einfach selbst herumexperimentieren. Jedenfalls war diese Reise sein Debut, und wenige Jahre später schon war er ein Meister seines Fachs.
Bald befuhren wir einen Highway, der mir bekannt vorkam. Fieberhaft überlegte ich, wo wir, sofern wir uns tatsächlich auf dieser Strecke schon einmal bewegt haben sollten, das zweite Mal anders abbiegen würden, um uns ein mir den Rest gebendes drittes Mal unbedingt zu ersparen. Ferner fragte ich mich, ob es uns wohl auf der gesamten Reise tagtäglich so ergehen würde, dass wir mindestens die dreifache Zeit benötigten, um irgendwo anzukommen, - nein, nicht irgendwo, irgendwo war zu einfach, vielmehr exakt am gewünschten Ort.
Hoffentlich waren das alles nur die Anfangsschwierigkeiten. Was hätte ich jetzt um eine gute Straßenkarte gegeben! Oder noch besser: ein Navigationsgerät. Letzteres hätte bedeutet, den Abenteuerstufenregler »Autofahren in Taiwan« von 5 auf nur mehr 2 herunterzudrehen.
Wieder einmal stand ich vor einem Rätsel beziehungsweise hilflos vor einer Kreuzung. Um uns herum erstreckten sich in erfrischend sattem Grün nichts als Reisfelder, allenfalls begleitet von dem hohen Schilf der sie durchziehenden Wassergräben, die offenbar einst zu deren Entwässerung angelegt worden waren. Da steckten wir in einer uralten Kulturlandschaft, selbst wenn der erste Blick nur unbedeutende Reisfelder wahrnahm. Die erfolgreiche Kultivierung des Reises aber war ungleich komplizierter, als sich beispielsweise um bedürfnislose Maisfelder zu kümmern.
Das Rätsel war jedoch die Frage gewesen, wohin ich mich nun wenden sollte, nach links, nach rechts oder geradeaus? Rechts schied aus, weil rechts nach Norden geführt hätte. Links erschien mir die Straße zu schmal, außerdem schlängelte sie sich unschlüssig dahin, bevor ich sie hinter Schilf aus den Augen verlor. Der Asphalt geradeaus war am breitesten. Also geradeaus! Dort vermutete ich das Meer, aber Meer war viel zu weit gegriffen, jedenfalls für Leute wie uns, die nach nur hundert Metern im Hof eines kleinen schmucken Drachentempels standen und jetzt umständlich und ein wenig hilflos rangierten, derweil eine komplette taiwanische Reisbauernfamilie mit vier halbwüchsigen Kindern uns neugierig zusah.
Während ich mit beiden Händen das Lenkrad hin und herdrehte, nahm ich eine Hand kurz zum Gruß nach oben und erntete für diese Tat ein vielfältiges Lächeln und Kopfnicken. Ich gab das gerne zurück, und schon waren wir wieder fort, nicht über alle Berge, jedoch hinter die erstbesten Felder entschwunden.
He, das war unser erster Tempelbesuch gewesen, ein flüchtiger, jedoch umso einprägsamerer. Jedenfalls war mir der rote Anstrich des Baus in Erinnerung geblieben und die beiden grünen Tempeldrachen, die auf dem Dach herumlungerten.
Nun schlängelten wir dem Verlauf des Sträßchens hinterher nach Süden, vertauschten die Straße im nächsten Dorf mit einer größeren und freuten uns dann über ein wappenförmiges mattblaues Schild, das eine weiße »15« trug. Wir folgten dem Pfeil und endlich: Endlich waren wir zumindest auf der »15«.
Die »15« entpuppte sich als eine größere, in der Nähe der Küste verlaufende Straße, nicht unbedingt die schnellste Verbindung, jedoch ungleich interessanter, zumal sie die kleinen Fischerorte verband beziehungsweise abklapperte, zumindest theoretisch, wenn man zu einem Hafen hin abbog. Vor allem jedoch: Wenn wir ihr treu blieben, konnten wir bis Hsinchu nicht mehr verlorengehen.
Bald hatte ich ein Weiteres gelernt. Auf einer mehrspurigen Straße waren alle Spuren gleichberechtigt. Nicht nur durfte ich rechts überholen, es regte sich auch niemand darüber auf, dass jemand auf der linken Seite langsamer fuhr. Dennoch blieb mir mein Hang zur rechten Seite erhalten, vorerst. Die linke Spur war oft besser in Schuss. Wenn jemand die linke Spur blockierte, weil er links abbiegen wollte, dann wurde ich ausgebremst. Nach einiger Zeit gelang es mir, im Verkehr mitzuschwimmen, die Spuren stets geschickt zu wechseln, um immer das beste aus beiden Spuren herauszuholen.
Allerdings durfte ich mich nicht dazu verleiten lassen, zu schnell zu werden, denn es gab Radarfallen. Alle Kosten für meine Vergehen, seien sie nun absichtlich heraufbeschworen oder versehentlich aus Unachtsamkeit verursacht, würden mit einiger Verzögerung beim Halter des Wagens auflaufen. Mein Autovermieter hatte sich meines Einverständnisses versichert, dass alle Strafzettel und Ähnliches, die in meinen Mietzeitraum fielen, in Form einer Rechnung an mich gehen würden, selbst dann, wenn ich längst wieder zu Hause war. Ich hatte das als selbstverständlich deklariert, und er hatte gesagt, es habe Fälle gegeben, da hätte sich ein US-amerikanisches Paar beispielsweise geweigert, und er wäre dann auf den Kosten sitzengeblieben; das sei nicht schön.
»Nein, das ist wirklich nicht schön«, hatte ich zugegeben. »Aber seien Sie unbesorgt, ich bin stets bemüht, in niemandes Erinnerung schlecht wegzukommen.«
Ich weiß nicht, ob er mich gut verstand, aber der Mann sah sichtlich erleichtert aus. Das war ja fast, als erwartete er geradezu, dass wir uns etwas zuschulden kommen ließen.
Der flache Küstenstrich war auffallend grün. Hier hatte man fast die gesamte Fläche für den Anbau von überwiegend Reis genutzt. Entwässerungsgräben und kleinere Flüsse durchzogen das Land, mitunter Dämme und Heckenreihen.
Da zeigte ein Schild uns in weißer Schrift auf braunem Grund, also in den Farben, denen üblicherweise Sehenswürdigkeiten und Orte von touristischem Interesse angekündigt werden, den »Yongan Fishery Harbour« an. Auf der Stelle bogen wir ab und folgten dem Sträßchen vorbei an einfachen Restaurants und offenen Garküchen. Nein, nicht vorbei, wir zwängten unseren Wagen vor einem schmuddelig aussehenden Restaurant in eine Parklücke.
Eine alte Chinesin mit fleckiger Schürze und Kopftuch empfing uns freundlich lächelnd.
»Nihau«, sagte ich und zeigte auf eine Colaflasche. Eine Flasche Wasser kam dazu, aber auf keinen Fall eine Auswahl dieser frittierten undefinierbaren Dinger, auf die sie ermunternd gezeigt hatte. Angesichts der in den Woks vorsichhinschmurgelnden, übersottenen Köstlichkeiten, - und die tiefen Ölbäder schrien nach einem dringenden Wechsel -, schüttelte ich nur lächelnd den Kopf. Dabei roch das durchaus verlockend, aber das meiste war aus Fleisch geboren und für uns Vegetarier kaum geeignet. Etwas Fleischloses zu finden, versprach problematisch zu werden, denn die Taiwaner lieben Gerichte mit Huhn oder Schwein. Selbstverständlich gab es auch Salate, Früchte, Gemüsegerichte und Suppen auf Tofu und Nudelbasis, und natürlich Reis, aber wir mussten uns verständlich machen, um sie herauszufiltern.
Ich wurde zwei Fünfzig-Dollar-Münzen los. Die Frau gab mir heraus und strahlte, als ob sie mit uns das große Geschäft gemacht hätte. Aber wer weiß, wann der nächste Kunde kam? So lange jedenfalls musste dieses Allerlei in den Ölkesseln weitersieden. Es sei denn, es war zwischenzeitlich abgefischt worden und kam kurz vor dem Servieren noch einmal in den Genuss des Ölbads.
Die Straße traf nach wenigen hundert Metern ein rechteckiges Hafenbecken, in dem einige Schiffe vor Anker lagen. Es gab Fischereianlagen, Ladekräne und flache Verwaltungs- oder Abfertigungsgebäude. Wir fuhren an dem Becken vorbei und erreichten mit der Küste einen großen Parkplatz und somit das Ende der Straße. Vor der hohen Schutzmauer aus Beton stellte ich den Wagen ab. War das alles gewesen?
Als neugierige Menschen stiegen wir selbstverständlich aus, um über die Mauer zu blicken. Caspar war längst hinaufgeklettert. Die Küste war mit Betonpylonen gegen Stürme und vor allem Taifune gesichert. Das Meer zeigte mittelhohe Wellen und bräunliches Wasser. Gestrüpp und Bäume wechselten sich nach Norden hin mit sattgrünen Reisfeldern ab. Im Süden sahen wir die Hafeneinfahrt mit Schleuse. Alles in allem war das nichts Hässliches und eher funktional. Jedenfalls war Yongan keiner dieser alten Fischerhafen mit Dschunken und allerlei Durcheinander an Netzen und Tauen, wie ich es mir allenfalls in der Fantasie ausgemalt hatte. Aber waren jene Tage nicht ohnehin längst Vergangenheit, nicht nur in China?
Immer noch eine gute halbe Stunde fehlte bis Hsinchu. Wir bewegten uns nunmehr geradewegs auf dem »Western Coastal Express Way«, der »61», und sahen von oben von dem Betonstelzenweg aus über das Sattgrün aus Buschland und wie gehabt Reisfeldern. Jenseits der Felder bemerkten wir in Richtung Osten eine große Stadt. Das war Hsinchu. Die großen Bürotürme des Zentrums leuchteten in der tiefstehenden Nachmittagssonne zu uns herüber.
Jetzt war es beinahe 16 Uhr. Über den Expressweg »1» war Hsinchu gerade einmal 50 Kilometer von Taoyuan entfernt. Und wir saßen für diese kurze Strecke, zumindest wenn man sie idealerweise erwischt, seit zweieinhalb Stunden im Auto. Mein ursprünglicher Plan hatte erstens natürlich den Expressweg vorgesehen; zweitens wären wir gute acht Kilometer vor den Toren der Stadt zum »Fangliao Yimin Tempel« abgebogen, der, ebenfalls laut Plan, selbstverständlich bestens ausgeschildert gewesen wäre. Nun hegte ich den Verdacht, dass nicht ein Schild ihn mir angekündigt hätte noch die ungefähre Ausfahrt. Jedenfalls war so bereits der erste große Tempel für uns gestorben, auf den ich mich gefreut hatte. Jetzt mussten für jeden weiteren verpassten Tempel die anderen, die uns vergönnt waren, in ihrer Pracht umso mehr erstrahlen.
Hsinchu hatte über 430000 Einwohner und war das Halbleiterzentrum des Landes. Im »Hsinchu Science Park« waren gerne 20 Firmen angesiedelt, unter ihnen der weltführende Chip-Hersteller TSMC aber auch UMC und Himax Technologies.
In Hsinchu nahm die rasante wirtschaftliche Entwicklung Taiwans ihren Anfang. Als Initiator der taiwanischen Entwicklung vom reinen Agrarstaat zum hochindustrialisierten Tigerstaat in nur einer Generation wird Li Kwoh-ting genannt. Er gilt als »Vater der technologischen Entwicklung« und als »Architekt des Wirtschaftswunders«.
Li Kwoh-ting, 1910 in Nanking (Nanjing) [南京 Nánjīng] geboren, studierte in Nanking und Cambridge Physik, floh 1948 mit Chiang Kai-sheks [蒋介石 Jiăng Jièsh] Nationalpartei Kuomintang [国民党 Guó mín dăng]nach Taiwan, als die Kommunisten Festlandchina übernahmen.
1951 wurde erPräsident der taiwanischen »China Shipbuilding Corporation« und1953 Mitglied der »Industrial Development Commission«, diedie systematische wirtschaftliche Entwicklung Taiwans plante. 1959 wurde er Leiter des »Industrial Development and Investment Center«.
Später war er Wirtschaftsminister (1965), Finanzminister (1969) und Minister ohne Geschäftsbereich (1976). In diesen Positionen trieb er die wirtschaftliche Entwicklung Taiwans voran, legte jedoch auch größten Wert in die Bildung und Ausbildung der Taiwaner.
Das »Industrial Technology Research Institute« (ITRI) wurde 1973 gegründet und hat seinen Sitz seither in Hsinchu City mit Zweigstellen in Europa, USA und Japan.
Gemeinsam mit Sun Yun-suan, dem damaligen Premierminister von Taiwan, gelang es Li Kwoh-ting 1984, Morris Chang, der in den USA leitende Stellungen bei Texas Instruments und zuletzt derGeneral Instrument Corporation innegehabt hatte, als Leiter des ITRI zu gewinnen. Morris Chang brachte sein 25-jähriges Wissen und seine berufliche Erfahrung in der Halbleiterindustrie mit.
1987 gründete Morris Chang die »Taiwan Semiconductor Manufacturing Company« (TSMC), allerdings mit der Beteiligung und dem Knowhow des niederländischen Konzerns Philips Electronics, der erst 2008 seine gesamte Beteiligung verkaufte. Warum hatte sich gerade Philips beteiligt und keine US-Firma? Philips Taiwan war die am schnellsten wachsende und profitabelste Auslandsniederlassung des Philips-Konzerns, und man hatte den japanischen Mark im Blick. Y.C Lo war leitender Vizepräsident von Philips und anscheinend maßgeblich an dem Zustandekommen des Joint Ventures beteiligt. Wie wir sehen, hat der Erfolg stets viele Väter.Und TSMC ist eine Erfolgsgeschichte. TSMC ist heute eines der weltweit wertvollsten Tech-Unternehmen und war 2023 der größte Chip-Auftragsfertiger (Halbleiter-Foundry-Markt) der Welt.
Hsinchu City hat ein weites verstädtertes Einzugsgebiet. Zunächst folgten wir der Straße immer in Richtung Zentrum, ohne uns zu kümmern, wo wir uns befanden. Im Zielgebiet würden wir dann auf die Straßennamen achten und uns sofort zu orientieren wissen, denn mein Reiseführer enthielt einen Plan vom Zentrum.
In der Theorie ist immer alles einfach, und die Praxis ließ sich durchaus gut an. Belebte bunte Straßen mit Einkaufszentren, da konnte nur das Zentrum sein.
Die verfeinerte Idee war jetzt, so lange durch die verstopften Straßenschluchten des Zentrums zu kreuzen, bis ich auf die Straße traf, in der das Hotel lag, dann musste ich nur dieser gefundenen Straße folgen, bis die zweite Straße kreuzte unter der das Hotel firmierte, wenn nicht in der einen, dann in der anderen Richtung.
Diese Vorgehensweise gehörte mit zur Theorie. Und sie wurde tadellos umgesetzt, wenngleich nicht sofort und dann mit kleinen Schönheitsfehlern. Ich konnte nicht zugleich in das Buch auf den groben Plan sehen und draußen die Straßennamen studieren, wenn sie denn angeschrieben standen. Abgesehen davon, dass ich seit einiger Zeit eine Lesebrille benötigte, die immer gerade irgendwo steckte, nur nicht dort, wo ich sie zuerst suchte, kam erschwerend hinzu, dass diese fremden chinesischen Namen, die ich mir aus dem Buch erlas, sofort aus dem Gedächtnis getilgt waren, sobald ich nur einen dieser ähnlich klingenden Namen wie Zhonghua, Zhongshan, Zhongyang und Zhongzheng oder Gongyuan und Gongfu als Straßenschild entziffert hatte. Kaum anders erging es mir mit Wenchan, Wuchang und Dacheng. Einzig lobte ich mir die Linsen Road. Die aber hätte ich als Einstieg erst einmal finden müssen. Weil sie ebenfalls irgendwo die Xida Road kreuzte, welche dann, so lange sie auch sein mochte, die richtige Fährte war.
Sohn Caspar war da absolut keine Hilfe. Wie auch? Er verließ sich einfach auf mich und sah lieber fasziniert dem Treiben in einer fremden Großstadt zu, den bunten Leuchtreklamen, den vielen wuselnden Menschen und Fahrzeugen, den modernen Glaskästen der Shopping Malls und den Bankpalästen im Zentrum. Kurz, er erfreute sich einer kostenlosen Stadtrundfahrt, und vielleicht würde er sich ja später, wenn wir zu Fuß unterwegs sein würden, an eine Straßenecke erinnern, die wir unbedingt sehen mussten, weil es dort besonders marktbunt zuging oder ein großer Tempel verlockte.
Kam hinzu, dass ich mir mit ihm das Buch hätte teilen müssen, und er genauso wenig einen Namen behalten hätte wie sein Vater. So war dies denn eines dieser seltenen Male, dass ich einer roten Ampel dankbar war, denn die gab mir Zeit, mich zu orientieren. Ich würde auf dieser Reise noch viele Male für rote Ampeln dankbar sein. Und ich ahnte es jetzt schon.
»Du magst doch sicher Linsen?«, fragte ich meinen Sohn, der mich irritiert ansah. »Warum ich frage? Aus gutem Grund. Wenn du da draußen auf irgendeinem Straßenschild »Linsen Road« liest, dann schreie sofort.