Phantasien und Märchen - Isolde Kurz - E-Book

Phantasien und Märchen E-Book

Isolde Kurz

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Beschreibung

Neue Deutsche Rechtschreibung Isolde Kurz ist auch heute noch eine ambivalente Schriftstellerin. Schon in jungen Jahren selbstständig als Autorin und Übersetzerin, war sie eine Seltenheit im wilhelminischen Deutschland. Später jedoch geriet sie wegen ihres Schweigens im Dritten Reich und ihrer altmodischen Sprache in Kritik. Hervorzuheben sind ihre Werke "Vanadis" und "Florentiner Novellen". Isolde Kurz wuchs in einem liberalen und an Kunst und Literatur interessierten Haushalt auf. Anfang der 1890er Jahre errang sie erste literarische Erfolge mit Gedicht- und Erzählbänden. Null Papier Verlag

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Isolde Kurz

Phantasien und Märchen

Isolde Kurz

Phantasien und Märchen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-962812-39-3

null-papier.de/540

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ha­schisch.

Der ge­borg­te Hei­li­gen­schein.

Ster­nen­mär­chen.

Die gol­de­nen Träu­me.

Kö­nig Filz.

Vom Leucht­kä­fer, der kein Mensch wer­den woll­te.

Dan­ke

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Haschisch.

Aus den Pa­pie­ren ei­nes Ver­schol­le­nen.

Won­ne­schau­er durch­rie­seln mich, ich lie­ge auf mei­nem Di­van aus­ge­streckt, des­sen Pols­ter mich wie wei­che Wol­ken tra­gen, eine stil­le al­les er­fül­len­de Se­lig­keit hat mein gan­zes We­sen durch­flu­tet. Mei­ne Ge­dan­ken zie­hen lang­sam und eben­mä­ßig hin wie ein Kahn den stil­len Fluss hin­un­ter­glei­tet an blü­hen­den Ufern vor­über; es ist ei­gent­lich gar kein Den­ken, son­dern ich schaue wie durch einen plötz­lich ge­ris­se­nen Schlei­er die Ur­be­stim­mung al­ler Din­ge. Das muss Nir­va­na sein, das »Nim­mer­wahn­land«, nach dem die Mensch­heit wie nach ei­ner glück­se­li­gen In­sel seufzt und in der Tat, kein Wahn­bild steigt mir auf, kei­ne ir­di­sche Vor­stel­lung kommt, mich in der Be­schau­ung des un­end­li­chen Glücks zu stö­ren. Die Welt ist mir gleich­gil­tig, Brü­der, Ver­wand­te, Freun­de habe ich nicht mehr, dies ist der Zu­stand der höchs­ten Phi­lo­so­phie und der höchs­ten Se­lig­keit. Ich habe vom Baum der Er­kennt­nis ge­ges­sen – der Baum der Er­kennt­nis heißt cana­bis in­di­ca – ich bin heu­te erst ge­bo­ren – ich bin wie Gott. –

Plötz­lich wur­de ich in der Be­trach­tung mei­nes se­li­gen Zu­stan­des durch das Krei­schen der Türe in den An­geln und durch eine tie­fe Bass­s­tim­me un­ter­bro­chen.

Es war Dr. H., der mit ei­ner Ci­gar­re im Mund und mit ei­ner Tas­se schwar­zen Kaf­fees in der Hand vor mich trat. Er bog sich über mich und be­mäch­tig­te sich mei­nes Hand­ge­lenks, um mir den Puls zu füh­len. Dies war mir im höchs­ten Gra­de läs­tig und ich hat­te ei­gent­lich Lust den un­be­ru­fe­nen Stö­rer weg­zu­schie­ben, dazu war mir aber mei­ne be­que­me Lage zu lieb.

»Gott sei Dank«, sag­te er, »dass Sie mir we­nigs­tens kei­nen Un­fug an­stel­len, die bei­den an­dern sind ganz von Sin­nen. Herr M. starrt mit ver­glas­ten Au­gen vor sich hin und be­haup­tet er sei trans­fe­rier­t und Herr B. woll­te so­eben zum Fens­ter hin­aus­flie­gen, ich muss ihn durch zwei Mann hal­ten las­sen. Das ver­wünsch­te Ex­pe­ri­ment! Ich fürch­te sehr, es nimmt ein bö­ses Ende.« –

Zu je­der an­dern Zeit hät­te die­se Nach­richt einen leb­haf­ten Ein­druck auf mich ge­macht, da die bei­den Ge­nann­ten mei­ne bes­ten Freun­de wa­ren, jetzt stör­te sie mich nur in­so­fern, als sie mei­ne Be­schau­ung un­ter­brach.

»Was kann das mei­ner Glück­se­lig­keit scha­den?« woll­te ich ent­geg­nen, fand es aber be­que­mer zu schwei­gen. Nach ei­ner Wei­le sag­te ich mit An­stren­gung: »Was ist die Uhr?« Mei­ne ei­ge­ne Stim­me klang mir rau und fremd und wie aus großer Fer­ne.

Aber ehe er ant­wor­ten konn­te, sprang die Türe auf und her­ein trat mit der Reit­peit­sche un­term Arm und Spo­ren an den Fü­ßen mein ver­stor­be­ner Freund, der Ritt­meis­ter von F. Ich wun­der­te mich nicht im ge­rings­ten über sein Er­schei­nen. Er kam dröh­nend mit sei­nen lan­gen, wuch­ti­gen Schrit­ten auf mich zu und sag­te mit dem ge­wöhn­li­chen Ton, mit dem er mich sonst zu ei­ner Mor­gen­pro­me­na­de ein­zu­la­den pfleg­te:

»He, Sie­ben­schlä­fer, ste­hen Sie auf und ma­chen Sie einen klei­nen Ritt mit mir, die Pfer­de ste­hen vor der Türe.«

»Der Sie­ben­schlä­fer sind Sie«, ent­geg­ne­te ich, aber nur in mei­nen Ge­dan­ken, denn ich brach­te kei­nen Ton her­vor. »Sie du­seln ja schon seit fast acht Jah­ren.«

Ich er­hob mich in­des­sen und folg­te ihm. Vor der Türe auf der däm­mern­den Stra­ße stan­den zwei ge­sat­tel­te Pfer­de. Er be­stieg sei­nen Brau­nen und ließ mir den Rap­pen, der mir we­gen sei­ner Tücken noch wohl im Ge­dächt­nis war.

»Fürch­ten Sie nichts«, sag­te er, ob­wohl ich mei­ne Be­denk­lich­kei­ten nicht hat­te laut wer­den las­sen. »Das Tier hat sich be­deu­tend ver­bes­sert, seit­dem es trans­fe­riert wur­de. Sie wis­sen ja, bei Se­dan – es ist mir un­ter dem Leib er­schos­sen wor­den.«

Ich be­merk­te jetzt, dass sei­ne Stim­me et­was To­tes, Ein­tö­ni­ges hat­te, was ihr sonst nicht ei­gen war.

Im Flug lie­ßen wir die däm­mern­de Cam­pa­gna, in der mei­ne Woh­nung lag, hin­ter uns, die Pfer­de schie­nen den Bo­den nicht zu be­rüh­ren, denn man hör­te kei­nen Huf­schlag. Als ich zu­fäl­lig nach dem Ber­gein­schnitt hin­über­blick­te, wo das Städt­chen Fie­so­le liegt, da sah ich einen un­ge­wohn­ten Lich­ter­glanz und der Kirch­turm, des­sen Zif­fer­blatt sonst bei Nacht im Mond­licht schim­mer­te, war ver­schwun­den.

»Die Fäs­su­la­ner be­ra­ten eben auf dem Forum, ob sie der rö­mi­schen Ge­sandt­schaft den ver­lang­ten Zu­zug be­wil­li­gen sol­len«, er­klär­te mir mein Beglei­ter, in­dem er mit der Reit­peit­sche nach der er­leuch­te­ten Stadt hin­über deu­te­te.

Ich hat­te kei­ne Zeit mich dar­über zu ver­wun­dern, denn eine rie­si­ge Mau­er, die ich vor­her nicht ge­se­hen hat­te, stieg plötz­lich schwarz vor mei­nen Au­gen auf und wir rit­ten durch einen en­gen Thor­weg, des­sen Pflas­ter un­ter uns ächz­te und dröhn­te.

»Das ist die Por­ta San Gal­lo, wir sind im al­ten Flo­renz«, sag­te mein Ge­fähr­te.

Ich sah mich mit großen Au­gen um, ver­schwun­den war der Via­le mit sei­nen Blü­ten­bäu­men, mit sei­nem Wei­her und sei­nen An­la­gen, eine eng zu­sam­men­ge­dräng­te schwar­ze Häu­ser­mas­se starr­te mir ent­ge­gen, aus der sich nur ein­zel­ne Tür­me und Be­fes­ti­gungs­wer­ke noch dunk­ler und dro­hen­der ab­ho­ben, aber mein Er­stau­nen wuchs, als wir in die en­gen fins­tern Gas­sen ein­bo­gen. Laut­lo­ses Men­schen­ge­wim­mel füll­te alle Stra­ßen und Plät­ze, zer­lump­te halb­nack­te Ge­stal­ten mit fah­len Ge­sich­tern und ver­glas­ten Au­gen lehn­ten an den Häu­sern oder la­gen auf dem Bo­den, Pries­ter dräng­ten sich mit ih­ren Rauch­fäs­sern durch die schwei­gen­de gleich­sam ver­stei­ner­te Men­ge, die schwar­zen Brü­der der Mi­se­ri­cor­dia eil­ten fa­ckel­tra­gend mit Bah­ren und Sär­gen vor­über, Sär­ge wur­den aus den Häu­sern ge­tra­gen, aus den Fens­tern nie­der­ge­las­sen, Sär­ge be­deck­ten den Bo­den, ganz Flo­renz schi­en ein ein­zi­ger, großer schwar­zer Sarg. Und da­bei summ­te und dröhn­te es mir vor den Ohren, wie das Ge­läut von hun­dert Glo­cken und eine feuch­te, mo­der­ar­ti­ge At­mo­sphä­re um­weh­te mich wie Gra­bes­luft.

»Das ist die Pest, die hier ihre Ern­te hält«, sag­te mein Ge­fähr­te, »vor­wärts, vor­wärts!«

Die Pfer­de flo­gen wei­ter, mir aber war es, als ob alle Tür­me der Stadt mit den Köp­fen zu wa­ckeln an­fin­gen, und als ob sich die Häu­ser ge­gen­ein­an­der neig­ten, um sich wie ein Gr­ab­ge­wölb über un­sern Häup­tern zu schlie­ßen. Wei­ter, wei­ter, die schwe­ren Pa­läs­te be­gan­nen zu tan­zen, die Kir­chen schwank­ten hin und her, al­les schi­en aus den Fu­gen ge­ris­sen, ohne Bo­den sich im Lee­ren zu dre­hen. Ängst­lich such­te ich den Turm des Palaz­zo Vec­chio, da­mit er mei­nem Auge einen Halt gebe, denn das war der ein­zi­ge fes­te Punkt in die­sem tol­len Ge­wim­mel.

Als wir die alte Pi­az­za del­la Si­gno­ria er­reich­ten, fan­den wir das Ge­wühl noch dich­ter als in den an­dern Stadt­tei­len. Ich sah aber kei­ne Pest­kran­ken mehr, son­dern ein lär­men­des, to­ben­des Volk, das sich un­ter­ein­an­der dräng­te und stieß und die Häl­se reck­te, um ir­gend ein au­ßer­ge­wöhn­li­ches Schau­spiel zu er­ha­schen. Nie­mand be­merk­te uns, nie­mand wich uns aus und doch glit­ten un­se­re Pfer­de durch das dich­tes­te Ge­wühl ohne je­mand zu be­rüh­ren, es war als sei al­les nur Rauch und Dunst und Sche­men. Vor dem Palaz­zo Vec­chio rag­te ein Gerüst aus Schei­tern, Söld­ner mit Hel­le­bar­den um­stan­den es, Rats­her­ren in wal­len­den To­gen schrit­ten ma­je­stä­tisch die Trep­pe des Palas­tes her­un­ter und wur­den vom Vol­ke ju­belnd be­grüßt.

»Was ist das? Ein Au­to­da­fe!?« frag­te ich mei­nen Beglei­ter.

Er nick­te. »Sie er­war­ten eben den Fra Gi­ro­la­mo. Vor­wärts!«

Un­se­re Pfer­de wand­ten sich dem Arno zu. Da sah ich, wie aus ei­ner der Ni­schen, die die Hal­len der Uf­fi­zi­en schmücken, eine ge­wal­ti­ge Ge­stalt lang­sam her­un­ter­stieg. Sie trug einen Lor­beer­kranz um die stren­gen Schlä­fen, in der Lin­ken hielt sie ein Buch, die Rech­te war dro­hend er­ho­ben, wie zu ei­ner schwe­ren Ver­wün­schung. Mein Beglei­ter wich ehr­er­bie­tig zur Sei­te. »Den Hut ab«, flüs­ter­te er mir zu, »es ist Dan­te.«

Aber so ver­wor­ren es auch in mei­nem Kop­fe aus­sah, das war mir doch zu stark und mein his­to­ri­sches Ge­wis­sen be­gann sich zu sträu­ben. Zu­gleich über­fiel mich aber auch eine töd­li­che Angst, denn es war, als müs­se ich wahn­sin­nig wer­den.

»Um Got­tes­wil­len«, rief ich, »was ist das? Sa­vo­na­ro­la, Dan­te, Rö­mer in Fie­so­le? In wel­chem Jahr­hun­dert le­ben wir denn? Was ist aus der Zeit­fol­ge ge­wor­den?«

»Zeit­fol­ge?« sag­te mein Beglei­ter ge­heim­nis­voll. »Das ist auch so ein be­schränk­ter ir­di­scher Be­griff. Es ist ja al­les gleich­zei­tig vor­han­den, die Staub­ge­schöp­fe kön­nen es nur nicht auf ein­mal fas­sen und ha­ben es des­halb in tau­send klei­ne Schach­teln ein­ge­teilt. Se­hen Sie, das Heu­te ist zu­gleich Ges­tern und Mor­gen, die To­ten sind noch le­ben­dig, die Le­ben­den sind zu­gleich schon tot und die noch Un­ge­bo­re­nen sind schon von Ur­be­ginn vor­han­den. Ver­ste­hen Sie mich?«

So un­sin­nig das al­les war, so glaub­te ich es doch in die­sem Au­gen­blick sehr gut zu ver­ste­hen und es war mir als wür­de es plötz­lich hell in mei­nem Kopf.

»Ja«, rief ich ent­zückt, »das ist die Wahr­heit, sie ist mir oft schon blitz­ar­tig durch den Kopf ge­zuckt, aber ich konn­te sie nicht hal­ten. Jetzt aber habe ich sie ganz er­fasst. Ja, es ist al­les gleich­zei­tig, Ge­gen­wart, Ver­gan­gen­heit und Zu­kunft, al­les durch­dringt sich, al­les ist eins.«

»Sie wer­den dies spä­ter nim­mer ver­ste­hen, ar­mer Freund«, sag­te der an­de­re »und es wird sein, als hät­ten Sie nichts ge­schaut.«

Wir hat­ten jetzt die fins­te­re Stadt­mau­er im Rücken und braus­ten in schwin­deln­der Eile über ein wei­ches Erd­reich hin; Land­häu­ser, Fel­der, Dör­fer tauch­ten auf Se­kun­den auf und ver­schwan­den eben­so schnell in der Nacht. Ich hat­te nicht Zeit, auf das al­les zu ach­ten, ich war nur be­schäf­tigt, die Er­leuch­tung, die plötz­lich über mich ge­kom­men war, fest­zu­hal­ten. »Al­les ist gleich­zei­tig, al­les ist eins«, wie­der­hol­te ich mir un­auf­hör­lich.

Wei­ter und wei­ter ging’s, da öff­ne­te sich end­lich eine wei­te, von za­cki­gen Fel­sen be­grenz­te Ebe­ne vor un­se­ren Au­gen, in der Fer­ne däm­mer­te die schrof­fe Apen­ni­nen­wand.

»Wir sind zu Pi­sto­ja«, sag­te mein Beglei­ter. Das gan­ze Feld war über­sät von Trup­pen, die wie zum An­griff ge­rüs­tet stan­den. Ich ver­nahm ver­wor­re­nes Ge­tö­se, ich sah Waf­fen und Hel­me blin­ken und bog mich im Sat­tel vor, um das Feld­zei­chen zu er­ken­nen, das aus ih­rer Mit­te her­vor­rag­te und ei­nem rö­mi­schen oder fran­zö­si­schen Ad­ler glich.

»Sind das die Le­gio­nen Na­po­le­ons«, frag­te ich, »oder be­rei­tet sich hier im Dun­keln eine Schlacht der Zu­kunft vor, die noch in kei­nem Ge­schichts­buch ver­zeich­net steht?«

»Wir sind im La­ger Ca­ti­li­nas«, war die Ant­wort, »dort ne­ben dem Ad­ler steht der Feld­herr und gibt eben das Si­gnal.«

In die­sem Au­gen­blick er­scholl Trom­pe­ten­ge­schmet­ter, die Ko­hor­ten rück­ten im Lauf­schritt vor, die feind­li­che Rei­te­rei flog von der an­dern Sei­te her­bei, die Hee­re ver­misch­ten sich un­ter marker­schüt­tern­dem Ge­tö­se. Mein Beglei­ter woll­te mich zu­rück­hal­ten, aber schon hat­te mich der Schlacht­ruf mit­ge­ris­sen und mein Pferd trug mich an der Sei­te des Füh­rers in das dich­tes­te Ge­wühl. Ich sah einen ver­wor­re­nen Knäu­el von Men­schen und Pfer­den, ich hör­te das Stöh­nen der Ver­wun­de­ten, und das Klir­ren der Har­ni­sche, die auf­ein­an­der prall­ten, denn hier wur­de Mann an Mann ge­run­gen. Ein See von Blut stieg vor mei­nen Au­gen auf, im­mer wei­ter riss mich die Schlacht, ich saß jetzt auf Pfer­de­kno­chen und ar­bei­te­te mich durch gan­ze Hü­gel von Lei­chen durch. Sieh, wer liegt da am Bo­den ent­seelt, aber mit dro­hend ge­fal­te­ter Stirn, mit der im Tod er­starr­ten Rech­ten noch den Griff des Schwer­tes um­klam­mernd? Ich er­kann­te das trot­zi­ge Ge­sicht des Feld­herrn, teil­neh­mend beug­te ich mich zu ihm nie­der, da er­scholl plötz­lich eine nä­seln­de Stim­me hin­ter mir:

»Pau­lu­lum eti­am spi­rans, fero­ciam­que ani­mi quam ha­bu­e­r­at vi­vus in vol­tu re­ti­nens.« Er­staunt dreh­te ich mich um und er­kann­te mei­nen Beglei­ter, der ne­ben mir stand. Es war aber nicht mehr der Ritt­meis­ter von F., son­dern mein al­ter Prä­zep­tor M., der mit ei­ner Ta­baks­do­se in der Hand auf dem Ka­the­der thron­te und den Sal­lust er­klär­te, in­dem er sich an den mar­kigs­ten Stel­len durch mo­ra­li­sche Be­trach­tun­gen un­ter­brach.

»Ja«, nä­sel­te er und nahm eine Pri­se, »da­hin ha­ben noch im­mer Ehr­geiz und Ver­derbt­heit ge­führt. O Ca­ti­li­na, du warst ein tüch­ti­ger Sol­dat, aber durch­aus kein mo­ra­li­scher Cha­rak­ter. Hü­tet euch, ihr Jüng­lin­ge, ihm nach­zu­ei­fern.«

»Aber so kom­men Sie doch her­un­ter, viel­leicht ist noch Hil­fe mög­lich«, rief ich angst­voll und griff nach der Hand des To­ten.

»Hin­weg«, rief er, und streck­te mir das klei­ne Stöck­chen, in das die Reit­peit­sche ein­ge­schrumpft war, ent­ge­gen: »Sie sind der schlech­tes­te La­tei­ner in der gan­zen Klas­se, Sie ha­ben kein Recht an die­sen To­ten.«

Be­stürzt ließ ich den Arm des Ge­fal­le­nen fah­ren, denn ich sah in die­sem Au­gen­blick, wie der Ka­the­der mei­nes klei­nen Prä­zep­tors den Hals aus­reck­te, sich dehn­te und in die Höhe schwoll und sich plötz­lich als ein rie­si­ger Strauß in die Lüf­te er­hob. Gleich­zei­tig fühl­te ich, dass auch mir der Bo­den un­ter den Fü­ßen schwand, ein Et­was, von dem ich nicht wuss­te, ob es ein Luft­bal­lon, ein Vo­gel oder ein Pferd war, trug mich schwin­deln­den Flugs in die Höhe, dass bald die höchs­ten Za­cken der Apen­ni­nen wie Sand­kör­ner un­ter mir la­gen. Aber Ent­set­zen sträub­te mir die Haa­re, als ich zur Erde nie­der­sah: ich er­blick­te einen wahn­sin­ni­gen Wirr­warr, Mee­re, Ge­bir­ge und Län­der tanz­ten aus den Fu­gen ge­ris­sen in chao­ti­schem Ge­wim­mel, Bla­sen spran­gen auf, aus ih­nen stie­gen an­de­re Bla­sen em­por, al­les misch­te und ver­schlang sich und ganz un­ten saß eine rie­si­ge Kreuz­spin­ne, die end­lo­se Fä­den spann, mit de­nen sie al­les um­strick­te, und ei­ner die­ser Fä­den spann sich bis an mein Hirn em­por. Nir­gends war ein fes­ter Punkt, nur die Zah­len stan­den in Reih’ und Glied, Ge­wehr bei Fuß und zo­gen gleich­sam einen star­ren mi­li­tä­ri­schen Kor­don um das Gan­ze, wie ein streng dis­ci­pli­nier­tes Ar­mee­korps eine auf­rüh­re­ri­sche Stadt ein­schließt.

Im­mer hö­her ging’s mit rei­ßen­der Schnel­le, ich wun­der­te mich selbst, dass mir nicht der Atem ver­ging. Wohl­be­kann­te geo­me­tri­sche Fi­gu­ren saus­ten, hin­k­ten und ku­gel­ten je nach ih­rer Lei­bes­be­schaf­fen­heit an mir vor­über, ei­ni­ge nick­ten mir höh­nisch zu und ich mein­te ge­ra­de die­je­ni­gen zu er­ken­nen, die mir wäh­rend mei­ner Schul­zeit das meis­te Kopf­zer­bre­chen ver­ur­sacht hat­ten, ich sah wie sich par­al­le­le Li­ni­en in der Unend­lich­keit schnit­ten; ein un­förm­li­ches, vier­e­cki­ges We­sen, das mit zwei Ar­men wie mit Wind­müh­len­flü­geln um sich focht, wälz­te sich mir ent­ge­gen und ächz­te und quiek­te: »Das Qua­drat der Hy­po­thenu­se ist gleich dem Qua­drat –«

»Um Got­tes­wil­len«, schrie ich, »das ist ja der py­tha­go­räi­sche Lehr­satz, er kommt, er will mich zwin­gen, ihn zu be­wei­sen.«

»Sei­en Sie ru­hig«, be­schwich­tig­te mein Beglei­ter, den ich jetzt wie­der ganz deut­lich er­kann­te. »Hier muss nichts mehr be­wie­sen wer­den, hier ver­steht sich al­les von selbst, wir sind jetzt in der Sphä­re der Phi­lo­so­phie.«

Hier be­gann mir das At­men schon merk­lich schwe­rer zu wer­den, Schwin­del er­fass­te mich und ich bat mei­nen Beglei­ter zu­rück­blei­ben zu dür­fen.

»Nein, nein«, rief er, »Sie ha­ben die Wahr­heit noch nicht ge­se­hen, wir müs­sen wei­ter, hö­her, ich neh­me Sie mit in die rei­ne Abstrak­ti­on.«

»Gna­de, Gna­de«, schrie ich voll Ent­set­zen, »ich kann nicht mit in die Abstrak­ti­on, ich bin ja Fleisch und Blut.«

»Das macht nichts, Sie wer­den dort oben schon ab­stra­hiert wer­den, die gan­ze Welt muss ab­stra­hiert wer­den, im­mer fort, im­mer fort bis sie schließ­lich von sich sel­ber ab­stra­hiert, das ist die Zu­kunft des Uni­ver­sums. Nur Mut, wir ha­ben nicht mehr weit bis zur ers­ten Sta­ti­on, bis da­hin rei­chen die Zah­len, dann hö­ren aber auch die auf, weil der Wel­täther zu dünn wird.«

Und in der Tat, da stan­den sie noch im­mer und stie­gen und türm­ten sich auf, die wohl­be­kann­ten Zah­len mit ih­rer Deszen­denz ins Äo­nen­haf­te, doch im­mer noch in der Re­gi­on der We­sen­heit, sie ga­ben mei­nem Be­wusst­sein den letz­ten An­halts­punkt, wie soll­te es aber nach­her wer­den? Hö­her und hö­her ging’s, schwin­deln­de blitz­ar­ti­ge Ide­en zuck­ten vor mir auf, ich mein­te schon sie zu fas­sen, aber weg wa­ren sie. Gro­tes­ke Ge­dan­ken­for­ma­tio­nen – ich kann sie nicht an­ders be­zeich­nen – schos­sen an mir vor­über und schri­en im Tone der Flo­ren­ti­ner Drosch­ken­kut­scher: »Vuo­le, Si­gno­re, vuo­le?« Phi­lo­so­phi­sche Sys­te­me bo­ten sich an, uns in die rei­ne Abstrak­ti­on zu füh­ren; mein Beglei­ter stieß sie mit der Reit­peit­sche zu­rück und es ging wei­ter. Auf ei­nem Mei­len­stei­ne saß eine ver­hüll­te Ge­stalt, die mir mit der Hand wink­te. »Es ist die Mys­tik, wei­chen Sie aus«, raun­te mir mein Ge­fähr­te zu. Schau­er er­griff mich und zu­gleich emp­fand ich eine hef­ti­ge An­zie­hung, un­wi­der­steh­lich woll­te es mich nach je­ner Sei­te rei­ßen, aber mein Füh­rer fass­te mich noch recht­zei­tig bei den Haa­ren und zerr­te mich in der ent­ge­gen­ge­setz­ten Rich­tung fort. Ei­nen Au­gen­blick ris­sen die Wol­ken und ich mein­te einen schö­nen wohl­be­kann­ten Frau­en­kopf zu er­bli­cken, aber als­bald ver­wisch­ten sich die Züge und es ward wie­der Nacht um mich.

Aber halt, was ragt dort un­be­weg­lich wie ein Mei­len­zei­ger aus dem Cha­os her­vor und streckt den Arm aus? »Das ist der Weg­wei­ser nach der Sphä­re der rei­nen Abstrak­ti­on«, sag­te mein Füh­rer. Als ich ihn aber nä­her an­sah, er­kann­te ich einen mensch­li­chen Kopf und die­ser Kopf trug ganz deut­lich die Züge des Kö­nigs­ber­ger Phi­lo­so­phen. Im Nu stürz­te ich auf ihn zu und um­klam­mer­te ihn mit Hef­tig­keit, als ob er mich schüt­zen kön­ne. Da las ich auf sei­nem Arm die Auf­schrift: »Zur rei­nen Abstrak­ti­on.« Die Arme san­ken mir her­ab und wil­len­los ließ ich mich wei­ter zie­hen.

»Se­hen Sie hin­ab«, ge­bot plötz­lich mein Beglei­ter. Ich sah hin­ab und er­kann­te un­ser gan­zes Pla­ne­ten­sys­tem, das vor mei­nen Au­gen aus­ge­brei­tet lag. Statt des form­lo­sen Cha­os er­blick­te ich jetzt deut­lich un­zäh­li­ge ein­zel­ne Welt­kör­per, die sich in gleich­mä­ßi­gen Schwin­gun­gen durch­ein­an­der dreh­ten, aber ihre Ge­sich­ter wa­ren schmerz­ver­zerrt und zu­gleich schlu­gen tau­send­stim­mi­ge, mark­zer­rei­ßen­de Jam­mer­lau­te an mein Ohr.

»Das ist der so­ge­nann­te Welt­schmerz«, er­klär­te mein Füh­rer, »und die­se Mu­sik nennt man Sphä­ren­har­mo­nie.«

»Ist’s mög­lich?« rief ich er­schüt­tert aus, »also auch sie lei­den? Aber was tun sie denn?«

»Das Glei­che wie die Klei­nen auch: sie quä­len und wer­den ge­quält.«

»Aber um Got­tes­wil­len, wie kön­nen sie das? Sie ha­ben ja kei­nen Wil­len und ge­hen nur ge­wie­se­ne Bah­nen.«

»Ha­ben wir denn einen Wil­len und ge­hen wir nicht auch ganz ge­wie­se­ne Bah­nen? Gera­de so nimmt sich das Men­schen­le­ben in der Vo­gel­per­spek­ti­ve aus, nur in ver­klei­ner­tem Maß­stab.«

»O Gott«, rief ich, »also hat der Pes­si­mis­mus recht und ich muss­te bis hier her­auf kom­men, um das zu er­fah­ren!«

»Pes­si­mis­mus«, sag­te er streng, »das ist grund­ver­kehrt und ganz ir­disch.«

»Aber die gan­ze Schöp­fung ist doch nur ein dis­har­mo­ni­sches Jam­mer­ge­schrei.«

»Un­sinn«, sag­te er, »vor dem ver­ste­hen­den Ohr wer­den die­se Töne zur schöns­ten Me­lo­die. Ha­ben Sie nie eine Kat­zen­or­gel ge­se­hen? Man kneipt eine Rei­he Kat­zen am Schwanz ein und bringt je­der einen Schmerz bei. Jede kreischt ihre Note und man kann so ein gan­zes Kon­zert auf­füh­ren. So wer­den auch die­se Schmer­zen­s­tö­ne da oben zum rei­nen Voll­ak­kord.«

Ich glaub­te ihn völ­lig zu ver­ste­hen. »Ja«, rief ich hin­ge­ris­sen – »Sphä­ren­har­mo­nie, Welt­schmerz, Kat­zen­or­gel – das ist das Rät­sel, über des­sen Lö­sung Jahr­tau­sen­de ge­son­nen ha­ben. Wenn mir nur die­se gött­li­che Er­kennt­nis nicht wie­der ab­han­den kommt!«

Jetzt aber fühl­te ich, dass mir der Atem aus­ging, das Blut quoll mir aus den Fin­ger­spit­zen und ich emp­fand eine na­men­lo­se Qual, wäh­rend wir im­mer noch hö­her stie­gen.

»Nur Mut«, flüs­ter­te mein Beglei­ter, »wir nä­hern uns schon der rei­nen Abstrak­ti­on, wir sind gleich vollends am Ziel.«

Das be­täu­ben­de Ge­tö­se, das uns bis hier­her be­glei­tet hat­te, ver­stumm­te all­mäh­lich, bläu­li­cher Äther um­floss mich, und mach­te mir das At­men un­mög­lich. Ich streng­te mich an um et­was zu un­ter­schei­den und mein­te auch wirk­lich die rei­ne Abstrak­ti­on bald als einen rie­si­gen De­stil­lier­kol­ben, bald als un­ge­heu­re Luft­pum­pe zu er­ken­nen, aber die Au­gen tra­ten mir aus den Höh­len, Flam­mengar­ben zuck­ten auf, ich glaub­te zu er­sti­cken. Ich sah noch wie sich mein Füh­rer hö­her und hö­her schwang, aber die Kraft, die mich bis­her ge­tra­gen hat­te, wich un­ter mir, ich stürz­te kopf­über ins Lee­re, in rei­ßen­dem Fall ging es ab­wärts, da schoss plötz­lich eine hel­le Stern­schnup­pe vor­über, mit der Kraft der Verzweif­lung pack­te ich eine Za­cke der­sel­ben, an der ich mir die Fin­ger schmerz­lich ver­brann­te, und mit ihr kam ich rasch und nicht all­zu un­sanft zur Erde nie­der. –

Als ich die Au­gen auf­schlug, lag ich wie­der auf dem Di­van, aber am Fin­ger emp­fand ich einen bren­nen­den Schmerz und Dr. H., der mit sei­ner Tas­se in der Hand vor mir stand, sag­te: