Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts - Katharina Bock - E-Book

Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts E-Book

Katharina Bock

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Beschreibung

Dieser Band untersucht anhand ausgewählter dänischer Prosa im 19. Jahrhundert die Ambivalenz philosemitischer Literatur. Es wird gezeigt, wie bestehende Vorstellungen über Juden und Jüdinnen einerseits literarisch entlarvt und gebrochen werden, und wie andererseits jüdische Figuren weiterhin Projektionsfläche und christliches Phantasma bleiben. Philosemitismus wird als spezifisch literarisches Phänomen betrachtet, indem gefragt wird, welche Erzählmöglichkeiten sich durch die jüdischen Figuren im Text eröffnen und was diese Figuren literarisch so attraktiv macht. Obwohl die untersuchten Texte zumeist um das Thema Religion kreisen, interessieren sie sich kaum für das Judentum ihrer jüdischen Figuren. Vielmehr dienen die Juden und Jüdinnen dazu, das Christentum aufzuwerten und zu erneuern. Dabei spielen Fragen nach Politik und nationalem Selbstverständnis ebenso eine Rolle wie nach Geschlecht, Begehren und der Bedeutung von Kunst.

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Katharina Bock

Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts

Umschlagabbildung: Umschlagabbildung: „Abraham empfängt die Verheißung“, in: Das Neue Testament unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi nebst dem Psalter nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers. Durchgesehen nach dem von der Deutschen evangelischen Kirchenkonferenz genehmigten Text. Illustrierte Ausgabe mit hundert Bildern nach Schnorr v. Carolsfeld. Preußische Haupt-Bibelgesellschaft Klosterstr. 71. Berlin 1908, S. 275 (Römer 4).

 

Dr. Katharina Bock

Humboldt-Universität zu Berlin

Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät

Nordeuropa-Institut

10099 Berlin

 

https://orcid.org/0000-0003-1151-6566

DOI: https://10.2357/9783772057472

 

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2019 von der Sprach- und literaturwissenschaftlichen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen.

 

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT.

 

© 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 1661-2086

ISBN 978-3-7720-8747-9 (Print)

ISBN 978-3-7720-0135-2 (ePub)

Inhalt

Danksagungen

Ich möchte mich bedanken bei Stefanie von Schnurbein, meiner Doktormutter, der besten, die ich mir denken kann. Für die fachliche Betreuung, natürlich, vor allem aber für die menschliche Betreuung, die außergewöhnlich war, und die mir immer wieder den Mut gegeben hat, diese Arbeit zu schreiben. Ich danke meinem Zweitgutachter Joachim Schiedermair für die angenehme Zusammenarbeit, für anregende Gespräche und die sehr wertvollen Hinweise für diese Publikation. Ich bedanke mich beim Evangelischen Studienwerk Villigst für die Unterstützung meiner Arbeit durch das Promotionsstipendium und für die außergewöhnlichen und anregenden Begegnungen. Es steckt viel Villigst in dieser Arbeit.

Viele Menschen haben mich in den letzten Jahren begleitet. Fürs Zuhören und gemeinsame Nachdenken über meine Ideen und Fragen danke ich „dem Oberseminar“ am Nordeuropa-Institut, insbesondere Frauke Ebert, Natia Gokieli, Christina Just, Janke Klok, Lill-Ann Körber, Marie Lindskov Hansen, Dörte Linke, Matthias Mergl und Doreen Reinhold. Gleiches gilt für das Selma Stern Zentrum für jüdische Studien Berlin-Brandenburg und das Villigster Forschungsforum zu Nationalsozialismus, Rassismus und Antisemitismus in seinen verschiedenen Besetzungen; insbesondere Mirjam Wenzel, der Philosemitismus-Stichwortgeberin, sei hier gedankt. Christina-Maria Bammel, Christhard Hoffmann und Klaus Müller-Wille danke ich für die Unterstützung bei der Bewerbung um ein Stipendium. Florian Brandenburg für die große Hilfe bei den ersten Schritten zu dieser Arbeit. Clemens Räthel für seinen scharfen Blick, seine frohstimmende Kritik und den erbaulichen Austausch über Musik. Für praktische Hilfe und Unterstützung danke ich Marzena Dębska-Buddenhagen, Uta Kabelitz und Tomas Milosch.

Fürs kritische Lesen erster Kapitelentwürfe, für Hilfe mit renitenten Computerprogrammen, Arbeitsstrukturierungsratschläge, guten Zuspruch und gedeckte Tische danke ich Hanna Acke, Peter Baer, Katharina Brechensbauer, Frank Dietrich, Christoph Erlenkamp, Anja Godolt, Ulrike Hempel, Heike-Rose Janietz, Angela Nikolai, Katharina Pohl, Jonas Sandmeier und Clara Taborda.

Ich danke Frau Büchler, die plötzlich da war und blieb und mir in jeder Hinsicht half, mit Fragen und Zuhören, Reden und Schweigen an den richtigen Stellen und zur richtigen Zeit.

Ich möchte meinen Eltern Peter Bock und Margrit Schugk-Bock danken, die mich trotz ihrer eigenen so schweren, allzu schweren Sorgen unterstützt haben, wo und wie sie konnten.

Am allermeisten aber danke ich meinem geduldigen und ungeduldigen Mann und Freund Manuel Winterscheid. Für sein Drängen und Nerven, fürs Lesen und Fragen, für seine Zusage an mich, für seine Forderung nach meiner Stimme, fürs Schubsen, Umarmen und Festhalten. Danke!

1Einleitung

Philosemitische Schwärmereien – der Titel wirft Fragen auf. Was ist eigentlich Philosemitismus? Und was genau ist hier mit ‚Schwärmerei‘ gemeint? Hat nicht Martin LutherLuther, Martin seine religiösen Gegner als Schwärmer diffamiert? War nicht noch in der deutschen Aufklärung der Vorwurf, ein Schwärmer zu sein, wenig schmeichelhaft? Und ist es überhaupt angemessen, den Begriff auf die dänische Literatur des frühen und mittleren 19.Jahrhunderts zu beziehen? ‚Schwärmerei‘ hat viele Konnotationen, von religiöser über fanatische Schwärmerei für einen unvernünftigen Irrglauben über eine krankhaft wirkende Unruhe bis hin zu einem ausschweifenden, bacchantischen Lebensstil (vgl. GrimmGrimm, Jacob und Wilhelm 1854–1961: 2292–2293). Als Teil des Titels für meine Untersuchung verwende ich den Begriff im Sinne einer moderaten, einer sinnlichen, jedoch nicht unbotmäßigen Form der Schwärmerei, wie sie im Wörterbuch der Brüder Grimm als dritte Bedeutungsnuance mit einem Zitat von Wieland umschrieben wird: „gerade diese schwärmerey, diese schöne seelentrunkenheit, die uns die gegenstände unsrer bewundrung, unsrer liebe, unsers verlangens, in einem so zaubrischen lichte zeigte“ (1854–1961: 2292). Diese Beschreibung, dem Kontext der spätaufklärerischen Schwärmerdebatte entnommen, hat ihren ursprünglichen Charakter als Kampfbegriff zur Diffamierung ideologischer Gegner zu diesem Zeitpunkt bereits weitestgehend verloren. Stattdessen öffnet sich nun, am Übergang zur Romantik, einer nachfolgenden Schwärmergeneration „die Pforte […] der Kunst“, so der Literaturwissenschaftler Manfred Engel. „In der nun anbrechenden neuen Zeit wird auch der Schwärmer in neuer Gestalt und glänzend rehabilitiert wiedergeboren: nämlich als Romantiker“ (2009: 66). Die Schwärmerei kann also, Engel folgend, als Kern der Romantik begriffen werden – und um die Literatur der dänischen Romantik geht es in der vorliegenden Untersuchung im Wesentlichen.1 Obwohl zunehmend positiv besetzt, behält der Begriff ‚Schwärmerei‘ auch im 19.Jahrhundert die einstigen Konnotationen seiner Geschichte bei: Religiöses und Metaphysisches schwingt in ihm ebenso mit wie Diskurse von Liebe, Ästhetik und Moral und schließlich „[f]ast alles, was mit dem nüchternen Verstandesblick auf die Erfahrungswelt nicht konformiert“ (Engel 2009: 58). Zugleich soll die Verwendung des Begriffs bereits im Titel dieser Arbeit anzeigen, wo der Philosemitismus, von dem hier weit häufiger als von der Schwärmerei die Rede sein wird, einzuordnen ist: nämlich im Bereich der Kunst, explizit der Literatur, und stets außerhalb eines „nüchternen Verstandesblicks“. Die Rede ist hier also von einer Schwärmerei, die ihr begehrtes Objekt verklärt und der als Wirklichkeit erlebten Erfahrungswelt enthebt. Wobei nicht außer Acht gelassen werden soll, dass sie zugleich normativ auf diese Erfahrungswelt einwirkt. Das Objekt ist im Falle der vorliegenden Untersuchung das Judentum beziehungsweise dessen Vertreterinnen und Vertreter: Juden und Jüdinnen, reale und fantasierte.

In den folgenden Abschnitten werde ich zunächst die Problemstellung und meine Fragestellung formulieren. Im Anschluss daran erläutere ich in einem kurzen Exkurs, wie in dieser Arbeit gegendert wird. Damit diese Frage von jedem Punkt der Arbeit aus geklärt werden kann, findet die Erläuterung nicht in einer Fußnote, sondern unter einem eigenen Gliederungspunkt statt. Es folgen eine historische und eine literaturgeschichtliche Kontextualisierung sowie die Erläuterung meiner Literaturauswahl und ein Überblick über die Forschungsliteratur. Danach stelle ich meine methodisch-theoretischen Zugänge vor und nehme abschließend eine ausführliche Diskussion des Begriffs ‚Philosemitismus‘ vor.

1.1Ausgangspunkt und Fragezeichen

Ab den späten 1820er-Jahren tauchen jüdische Figuren in den Erzähltexten aller namhaften dänischen Autoren auf, und dieser Trend setzt sich bis in die 1850er-Jahre fort. Wobei von einem Trend zu reden übertrieben scheinen mag, schließlich hält sich die Zahl der Werke über jüdische Figuren in einem überschaubaren Rahmen, und kaum ein Autor oder eine Autorin hat mehr als einen solchen Erzähltext veröffentlicht.1 Dabei fällt besonders die Art und Weise, wie hier über Juden geschrieben wird, ins Auge. Viele dieser Romane und Erzählungen weisen bereits in ihrem Titel die Juden als Hauptfiguren der Erzählung aus. Wenngleich keine dieser Figuren frei von stereotypen und ambivalenten Zuschreibungen ist, fällt doch auf, dass die Erzählstimme sich durchweg empathisch und mit Sympathie den jüdischen Figuren zuwendet. Wie fern jüdischer Lebenswelten und wie problematisch die schwärmerische Zuwendung zu den begehrten Objekten auch sein mag, die Erzählinstanzen nehmen stets eine Haltung der Bewunderung und der Identifikation mit den jüdischen Figuren ein und erzeugen beim Lesepublikum auf diese Weise gleichfalls Sympathie. Diese Besonderheit der ausgewählten Texte begründet den ersten Teil des Titels dieser Arbeit, den Gebrauch des Adjektivs ‚philosemitisch‘. Als höchst ambivalenter und umstrittener Begriff erfordert seine Verwendung eine kritische Reflexion, die in Kapitel 1.6 vorgenommen wird. Zunächst einmal soll der Begriff ‚Philosemitismus‘ als heuristisches Werkzeug dienen, um benennen zu können, was die ausgewählten Texte miteinander verbindet und was sie für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung interessant macht.

Anders als der Antisemitismus ist der Philosemitismus in der Forschung ein relativ wenig bearbeitetes Thema.2 Dabei steigt mit der Aufklärung und der zunehmenden Forderung nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden in Europa ab etwa 1780 die Produktion philosemitischer Texte deutlich an. Um 1800 herum entwickelt sich eine kontrovers geführte öffentliche Debatte über die Möglichkeit und vermeintliche Unmöglichkeit einer rechtlichen Gleichstellung der jüdischen Minderheiten in den verschiedenen europäischen Staaten. Dänemark ist eines der ersten europäischen Länder, in dem die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung umgesetzt wurde, 1814 erhielten die dänischen Juden die Bürgerrechte. 1849 wurde eine neue dänische Verfassung verabschiedet, in der dann auch das Recht auf freie Religionsausübung für alle religiösen Minderheiten verankert wurde. Literatur ist Teil des Diskurses über Juden und Jüdinnen, mehr noch, sie ist diskurskonstituierend (vgl. z.B. Belsey 2000: 51–52). Ein Merkmal philosemitischer Literatur ist, dass sie oftmals eine Reaktion auf den gleichzeitig vorhandenen judenfeindlichen und emanzipationskritischen Diskurs darstellt, ihn also reflektiert, in sich aufnimmt und ihm zugleich eine eigene Position entgegensetzt, die ihrerseits prägend und verändernd auf den Diskurs wirkt. Die vorliegende Untersuchung soll ein Beitrag sein, die bestehende Forschungslücke zu schließen, wobei der Philosemitismus weder als vorwiegend dänisches noch als vereinzelt auftretendes und somit irrelevant erscheinendes Phänomen betrachtet werden soll. Die Fragestellung, die mich durch diese Arbeit leitet, ist stets diese: Was bewirken die jüdischen Figuren im Text, welche Erzählmöglichkeiten eröffnen sie? Und im Anschluss daran interessiert die Frage: Wann, wie und warum wird über jüdische Figuren geschrieben und wie wird Wissen über Jüdinnen und Juden durch die Literatur in Frage gestellt oder verfestigt? Dabei richtet sich mein Blick bei der Suche nach Antworten nicht allein auf die jüdischen Figuren, sondern auch auf diejenigen Figuren und Handlungsstränge, die zunächst einmal nichts mit den Juden und Jüdinnen zu tun zu haben scheinen. Gerade hier, in den scheinbaren Zusammenhanglosigkeiten zwischen den geschilderten Ereignissen und den jüdischen Figuren, finden sich oftmals die eindrücklichsten und überraschendsten Erklärungen für die literarische Attraktivität jüdischer Figuren.

1.2Exkurs: Gedanken über die Verwendung geschlechtergerechter Sprache

Wo es um zugestandene oder verwehrte Gleichstellung von Juden und Jüdinnen und um die wertschätzende oder auch abwertende literarische Darstellung von jüdischen Figuren geht, liegt es auf der Hand, sich auch auf der Metaebene mit der sprachlichen Gerechtigkeit in dieser Arbeit zu befassen. Daher ist es notwendig, diese Untersuchung mit einigen kurzen Überlegungen zur Verwendung geschlechtergerechter Sprache zu beginnen. Bei der Bezeichnung der Leserinnen und Leser verwende ich inkonsequent mal die maskuline, mal die feminine Form, wechsle diese aber auch ab mit anderen Formen der geschlechtergerechten Sprache wie ‚Leser*innen‘, ‚Lesende‘ oder ‚Lesepublikum‘. Ich möchte einerseits den Lese- und Gedankenfluss nicht stören, andererseits möchte ich Geschlechtervielfalt sprachlich sichtbar machen. Eine einzige durchgängige Form hat entweder den Nachteil, Teile des Lesepublikums auf Dauer eben doch unsichtbar zu machen, wie die konsequente Verwendung des Maskulinums, oder aber den Schreib- und Lesefluss massiv zu behindern, wie es beispielsweise häufig in grammatischen Konstruktionen der Fall ist, in denen die Sternchenform ‚Leser*in‘ mit einem Artikel oder Pronomen in Verbindung steht, beispielsweise in einem Satz über den*die Leser*in und dessen*deren Wahrnehmung eines Textes eines*r bestimmten*r Autors*in. Da die Verwendung geschlechtergerechter Formulierungen die Funktion hat, unsichtbare oder marginalisierte Geschlechter sichtbar zu machen, sehe ich diese Funktion in einem moderat wechselnden Gebrauch verschiedener Sprachformen, die sich vor allem am Lese- und Denkfluss orientieren,1 erfüllt. Komplizierter verhält sich es bei der Verwendung von ‚Juden‘ und ‚Jüdinnen‘ – hier schreibe ich häufig ‚Juden und Jüdinnen‘, sofern tatsächlich Männer und Frauen gemeint sind. Gegebenenfalls verwende ich auch nur die maskuline oder feminine Form. Geht es beispielsweise um Fragen der bürgerlichen Gleichstellung, die nur männliche Juden betreffen, wie das Wahlrecht, oder um religiöse Rituale, die nur von männlichen Juden ausgeführt werden, würde eine automatisierte Nennung von Jüdinnen verschleiern, dass es sich in diesen Fällen um explizit männliche Privilegien und somit auch nur um männliche Personen handelt. Aus demselben Grund ist die Verwendung des Gendersternchen in vielen Fällen nicht angebracht. Erschwerend kommt hier noch hinzu, dass es selbst dort, wo tatsächlich Jüdinnen und Juden gemeint sind, je nach Zusammenhang irreführend wäre, von Jüd*innen zu reden. Denn die geschlechtliche Vielfalt jenseits binärer Vorstellungen, auf die das Sternchen verweist, ist in den (meisten der) untersuchten Texten eben ausdrücklich nicht angelegt. Die Texte erzählen explizit von jüdischen Männer- und jüdischen Frauenfiguren.2 Eine weitere Herausforderung stellt die Bezeichnung der Autor*innen dar – denn zwar ist eine Novelle einer Autorin Teil der Literaturauswahl. Allerdings beziehe ich mich nicht an jeder Stelle tatsächlich auch auf sie. Daher versuche ich, sprachlich deutlich zu machen, wen ich im jeweiligen Fall meine. Wo tatsächlich nur männliche Autoren gemeint sind, benenne ich auch nur sie. In den anderen Fällen verwende ich entweder die maskuline und die feminine Form oder das Gendersternchen.

Meine Entscheidungen für die eine oder andere Form des Genderns sind abhängig vom Inhalt des Satzes, von der Frage, wer tatsächlich gemeint ist oder gemeint sein könnte, von seiner grammatischen Struktur und vom Bemühen, den Lesefluss nicht durch umständliche Formulierungen zu behindern. Es gibt keine einheitliche und zugleich vollkommen befriedigende Weise, Sprache zu gendern. Der Versuch, es trotzdem zu tun, führt nicht nur oftmals zu einem umständlichen Satzbau, sondern ist je nach Kontext sogar falsch oder zumindest irreführend und darüber hinaus tatsächlich kaum konsequent durchführbar. In nahezu jedem scheinbar konsequent gegenderten Text findet sich das eine oder andere unbeabsichtigte generische Maskulinum. Der Sinn des Genderns in der vorliegenden Arbeit soll also zum einen sein, die betreffenden Personengruppen möglichst genau zu benennen. Durch die Unregelmäßigkeiten in den gewählten Formen des Genderns sollen zum anderen die Lesenden animiert werden, aufmerksam zu bleiben und stets selbst zu reflektieren, wer hier eigentlich tatsächlich liest, schreibt, spricht, handelt, ausgegrenzt wird, sich emanzipiert und so weiter. Mit dieser unregelmäßigen und teilweise inkonsequenten, keineswegs aber beliebigen Form des Genderns soll der Versuch unternommen werden, so weit wie möglich sprachliche Geschlechtergerechtigkeit, historische Genauigkeit und gute Lesbarkeit miteinander zu vereinen.

1.3Dänemark und die Juden in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts

In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts war Dänemark wirtschaftlich extrem geschwächt. In den Napoleonischen Kriegen hatte Dänemark auf französischer Seite gekämpft, 1807 war Kopenhagen von englischen Seestreitkräften bombardiert und in großen Teilen zerstört worden, tausende Zivilisten waren ums Leben gekommen, die dänische Flotte komplett verloren. Zu Beginn des Jahres 1813 war die finanzielle Lage Dänemark so desaströs, dass der Staat de facto als bankrott bezeichnet wurde. Der Kieler Frieden von 1814 nötigte außerdem den dänischen König Frederik VI.Frederik VI., das Gebiet Norwegen, das 400 Jahre lang der dänischen Krone unterstellt war, an Schweden abzutreten (vgl. z.B. Henningsen 2009: 127). Somit hatte das dänische Königreich innerhalb kurzer Zeit dramatisch an politischer Macht und geografischer Größe verloren. Gerade in dieser Zeit entwickelte sich ein vielfältiges Kulturleben, die Künste blühten auf, und die Literaturproduktion stieg enorm an. Für den Zeitraum zwischen 1800 und 1850 hat sich im ausgehenden 19.Jahrhundert in Dänemark der Begriff Guldalderen, also „das Goldene Zeitalter“, etabliert. Wenngleich das Verklärende dieses Begriffs unverkennbar ist,1 greife ich auf diese Epochenbezeichnung zurück, bezieht sie sich doch, mit Bernd Henningsen gesprochen, auf „ein goldenes Zeitalter in einer eisernen Zeit“ (2009: 137), das „[f]ür Dänemark […] in etwa die Bedeutung wie die ‚Weimarer Klassik‘ für Deutschland“ hat (2009: 138).

Goldenes und Eisernes verbinden sich in Dänemark auch bei der Emanzipation der Juden und Jüdinnen. Die rechtliche Gleichstellung wurde in jenem Zeitraum nicht nur kontrovers diskutiert und schließlich mit der Verankerung der Religionsfreiheit in der Verfassung vollzogen, sondern teilweise auch gewalttätig zu verhindern versucht. Einerseits wurden dänischen Juden und Jüdinnen 1814 Bürgerrechte gewährt. Dänemark war damit nach Frankreich eines der ersten Länder in Europa, die diese Gleichstellung weitestgehend vollzogen hatten. Andererseits kam es in den folgenden Jahren und Jahrzehnten seitens der nicht-jüdischen Bevölkerung wiederholt zu verbalen und physischen Angriffen gegen Juden und Jüdinnen. Darüber hinaus wurden das Recht auf freie Religionsausübung für Juden und alle anderen religiösen Minderheiten sowie das volle passive Wahlrecht zu den Ständeversammlungen für Juden erst mit der Einführung der neuen Verfassung, des Junigrundloven [Junigrundgesetz], 1849 festgeschrieben – und auch hier gegen erhebliche Widerstände von Emanzipationsgegnern (vgl. Schwarz Lausten 2005: 320–371, 2012: 161–195).

Die ersten Juden in Dänemark – zumindest die ersten, deren Aufenthalt dokumentiert ist – waren Sepharden, die zu Beginn des 17.Jahrhundert aus den Niederlanden nach Dänemark kamen. 1684 wurde in Kopenhagen die erste offizielle jüdische Gemeinde gegründet. Jüdisches Leben in Dänemark unterlag im 17. und 18.Jahrhundert zwar ähnlichen Beschränkungen, wie sie auch für die jüdische Bevölkerung in anderen Ländern Europas galten, diese waren jedoch weitaus weniger rigoros als zum Beispiel in Preußen. Ende des 18.Jahrhunderts begann der dänische Kronprinz und spätere König Frederik VI.Frederik VI., schrittweise Reformen zur Besserstellung der Juden umzusetzen. 1796 wurde unter Mitwirkung von Vertretern der jüdischen Gemeinde eine Agenda erarbeitet, deren Ziel eine grundsätzliche Erneuerung des geltenden Rechts war. Die Umsetzung dieser Agenda scheiterte zunächst am Widerstand aus der jüdischen Gemeinde selbst, da mit der rechtlichen Gleichstellung auch der Verlust der jüdischen Identität befürchtet wurde (vgl. hierzu Blüdnikow/Jørgensen 1984: 13–90 und Schwarz-Lausten 2012: 67–156). 1813, zur Zeit der Wirtschaftskrise, wurden vermehrt emanzipationskritische Stimmen dänischer Christen laut, die sich mit judenfeindlicher Rhetorik von der Idee der rechtlichen Gleichstellung distanzierten, vor allem aber wohl einen „syndebuck [Sündenbock]“ suchten, „for at afreagere al sin dumpe vrede [um all ihre dumpfen Rachegelüste abzureagieren]“ (Albertsen 1984: 30).2 Als Auslöser für den Streit, der gemeinhin als den litterære Jødefejden, „die literarische Judenfehde“, bezeichnet wird, gilt Friedrich BuchholzBuchholz, Friedrich’ Abhandlung Moses und Jesus, oder über das intellektuelle und moralische Verhältnis der Juden und Christen [1803] (1803). Buchholz wendet sich darin gegen die Kernaussagen von Christian DohmsDohm, Christian Wilhelm von vielfach rezipierter emanzipationsbefürwortender Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden [1781] (1781). Der Dichter Thomas ThaarupThaarup, Thomas übersetzte Buchholz’ Schrift 1813 aus dem Deutschen ins Dänische (1813). Dabei unternahm er nicht nur einige Modifikationen des Originals, sondern stellte der Übersetzung auch ein 60-seitiges, rhetorisch sogar deutlich schärferes Vorwort voran. Hierin behauptet er unter Berufung auf Beispiele aus dem Alten Testament und unter Anwendung etlicher judenfeindlicher Zerrbilder die moralische Unterlegenheit der Juden gegenüber den protestantischen Christen3 und also deren nachweisliche Unverbesserlichkeit. Infolge dieser Publikation entflammte in der kulturell und politisch gebildeten Öffentlichkeit eine heftige Debatte über die Frage, ob dänische Juden den Nicht-Juden rechtlich gleichgestellt werden sollten, dürften oder vielleicht gerade jetzt sogar müssten. Thaarups und Buchholz’ judenfeindliche Thesen fanden gleichermaßen Befürworter und Gegner, unter letzteren der Autor Steen Steensen BlicherBlicher, Steen Steensen, dessen Novelle Jøderne paa Hald [Die Juden auf Hald; 1828] in dieser Arbeit untersucht wird. Über Monate hinweg lieferten sich dänische Theologen, Autoren und Publizisten einen schriftlich ausgetragenen Streit für und wider die Gleichstellung der Juden. Zu Beginn des Jahres 1814 setzte Frederik VI.Frederik VI. der Diskussion ein vorläufiges Ende, indem er den dänischen Juden die Bürgerrechte erteilte und sie damit de facto in fast allen Punkten den christlichen Dänen gleichstellte.4 So war zwar die rechtliche Situation der Juden und Jüdinnen verbessert, doch die Judenfeindschaft war damit nicht überwunden. Thaarup und andere Autoren übersetzten und publizierten weiterhin judenfeindliche Schriften, und schließlich breiteten sich 1819 die sogenannten „Hep-Hep-Unruhen“ von Deutschland ausgehend bis nach Dänemark aus, wo es im Herbst und Winter 1819/1820 zu offenen Gewaltausbrüchen gegen Juden kam (vgl. Albertsen 1984; Katz 1994; Rohrbacher 2002: 23–42; Schwarz Lausten 2002: 341–374; Tudvad 2010: 17–54; Kjærgaard 2013: 74–99).5 1830 keimte in Folge der Julirevolte in Frankreich und Deutschland erneute Gewalt gegenüber der jüdischen Bevölkerung in Kopenhagen auf (vgl. Blüdnikow 1981–1983). Mit der Unterzeichnung des Danmarks Riges Grundlov [Grundgesetz des dänischen Reichs], dem sogenannten Junigrundlov , das 1849 das bis dahin geltende Kongelov [Königsgesetz] ablöste, wurden schließlich die Religionsfreiheit und das passive Wahlrecht in der Verfassung verankert. Jüdische Bürgerinnen und Bürger waren so rechtlich vollkommen den nicht-jüdischen gleichgestellt (vgl. Blüdnikow/Jørgensen 1984: 13–90; Haxen 2001: 487–494; Schwarz-Lausten 2015: 127–172).

Die Situation im dänischen Nachbarland Norwegen konnte verschiedener kaum sein. Hier war in der jungen Verfassung von 1814 direkt festgeschrieben worden, dass Juden das Land gar nicht erst betreten, geschweige denn sich niederlassen durften. Erst 1851 wurde, nach jahrelangen öffentlichen und parlamentarischen Debatten, der entsprechende Passus gestrichen, so dass Juden und Jüdinnen einreisen, sich niederlassen, ihre Religion ausüben und die gleichen Rechte wie Nicht-Juden genießen konnten (vgl. Bock 2020: 275–278; Haxen 2001: 494–496; Mendelsohn 1969; Sagmo 2000).

Die Situation der Juden und Jüdinnen in Schweden wiederum ähnelte der in Dänemark. Hier siedelten sich ab der zweiten Hälfte des 18.Jahrhundert Juden an und gründeten erste kleine Gemeinden. Unter strengen Auflagen war es ihnen gestattet, unternehmerisch tätig zu sein. Zu Beginn des 19.Jahrhunderts führten politische Spannungen zunächst zu einer Verschärfung der bereits geltenden Beschränkungen, dann wieder zu einer Lockerung, beides begründet vor allem mit wirtschaftlichen Interessen. Nach weitestgehender, jedoch nicht vollständiger Aufhebung der gesetzlichen Benachteiligung im Jahr 1838 erhielten schwedische Juden 1870 die vollen Staatsbürgerrechte (vgl. Haxen 2001: 496–499). Als prägnantester Unterschied zur dänischen Entwicklung kann wohl der Umstand ausgemacht werden, dass es 1819/1820, während es in Deutschland und Dänemark zu offener Gewalt gegen Juden und Jüdinnen kam, in Schweden keine solchen Pogrome gab. Und gerade diese Pogrome sind es, auf die die dänischen Texte sich immer wieder beziehen.

1.4Jüdische Figuren in der dänischen Literatur

1.4.1Vorläufer

In der dänischen Literatur hatten bis in die späten 1820er-Jahre Juden und Jüdinnen fast ausschließlich als dramatische Figuren einen festen Ort in der Literatur. Dabei war ihr Platz tatsächlich auf der Bühne und nicht etwa zwischen zwei Buchdeckeln, da die dänische Dramenliteratur ihre Rezeption ausschließlich im Theater und nicht als Lesedrama fand. Darin unterscheidet sie sich von LessingsLessing, Gotthold EphraimNathan der Weise und Shakespeares Kaufmann von Venedig, die in Dänemark bis dahin vor allem als Lesedramen rezipiert wurden (vgl. hierzu Räthel 2016: 18, 125, 150). Die „Bühnenjuden“ auf dem dänischen Theater des 18. und frühen 19.Jahrhunderts waren zuvorderst komische Figuren. Gleichwohl waren sie nicht zwangsläufig auch lächerlich, wie Clemens Räthel in seiner Monografie Wie viel Bart darf sein? Jüdische Figuren im skandinavischen Theater (2016) zeigt. Sie waren ambivalent und vielfältig, konnten Sympathieträger sein, Gewinner oder Verlierer, Entlarvende oder Schelme. Peter Andreas HeibergHeiberg, Peter Andreas (1758–1841) verlieh in seiner 1792 uraufgeführten Komödie Chinafarerne [Die Chinafahrer] (1806: 287–374) neben anderen, unsympathischen und auf finanziellen Vorteil bedachten jüdischen Figuren, erstmals in der dänischen Dramenliteratur auch einer edlen Judenfigur Körper und Stimme (vgl. Räthel 2016: 108–135).

Fast zur gleichen Zeit wie HeibergsHeiberg, Peter AndreasChinafarerne, 1792/93, erschienen Jens BaggesensBaggesen, Jens (1764–1826) Reisebeschreibungen Labyrinten eller Reise gjennem Tydskland, Schweitz og Frankerig [Das Labyrinth oder Reise durch Deutschland, die Schweiz und Frankreich] (1965), in der er im Kapitel Jødegaden [Die Judengasse] (2007a) seine Eindrücke aus der Frankfurter Judengasse beschreibt. Eindringlich schildert er die armseligen Verhältnisse, in denen die Juden und Jüdinnen gezwungen sind zu leben und die existenzielle Not, in der ein jüdischer Kleiderhändler sich befindet, als er dem Verfasser und dessen Reisebegleitung schließlich zu einem viel zu niedrigen Preis eine Weste überlässt. Im Anschluss an diese Schilderungen fügt Baggesen ein weiteres Kapitel an, Det christne Fadermord [Der christliche Vatermord], in dem er die Ausgrenzung der Juden heftig kritisiert und dabei deren Ausschluss aus der „menschlichen Gesellschaft“ verurteilt:

Er det mueligt, at endu i vort Aarhundrede […] et heelt Folk i Generationers Generationer, med alle sine fødde og ufødde Individuer, kan ansees som uhenhørende til det menneskelige Selskab? Er det mueligt, at man endu i vor Tidsalder kan ansee en Nation, der har physisk og moralsk Existenz tilfælles med alle andre, som politisk uexisterende, som evig bestemt til Landflygtighed? (BaggesenBaggesen, Jens 2007b: 62)1

Ist es möglich, dass in unserem Jahrhundert noch immer ein ganzes Volk, Generation für Generation, mit all seinen geborenen und ungeborenen Individuen, als unzugehörig zur menschlichen Gemeinschaft angesehen wird? Ist es möglich, dass man noch in unserem Zeitalter eine Nation, die die physische und moralische Existenz mit allen anderen gemein hat, als politisch inexistent ansieht, als ewig bestimmt zur Landflucht?

Auf ThaarupsThaarup, Thomas judenfeindliche Publikation im Herbst 1813 reagierte BaggesenBaggesen, Jens mit einer Neuauflage dieser beiden Kapitel aus Labyrinten und unterstrich damit noch einmal die Forderung nach der bürgerlichen Gleichstellung der dänischen Juden. 1816 erschien eine Sammlung von Anekdoter om ædle og gode Jøder [Anekdoten über edle und gute Juden], herausgegeben von E. PetersenPetersen, E., der (oder die? – der Vorname ist nicht bekannt) außer mit dem Lustspiel De kristne Jøder [Die christlichen Juden] aus demselben Jahr literarisch weiter nicht in Erscheinung getreten ist. Während also 1813/1814 die verbalen und 1819/1820 die physischen Angriffe gegen Juden und Jüdinnen große Präsenz in der medialen Öffentlichkeit hatten, begann die literarische Auseinandersetzung mit den Ausschreitungen erst etwa ein Jahrzehnt später mit Bernhard Severin IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle Den gamle Rabbin [Der alte Rabbiner; 1827]. Mit dieser Novelle finden die weiterhin aktuellen Fragen nach Emanzipation und Akkulturation wie auch die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung ihren thematischen Niederschlag in der Erzählliteratur.2

1.4.2Textauswahl und Aufbau der Arbeit

Mit dieser Arbeit soll ein möglichst vollständiger Überblick über die belletristische Literatur des „Goldenen Zeitalters“ gegeben werden, in der von jüdischen Figuren erzählt wird.1 Diese Figuren sind auf eine Art und Weise gestaltet, die sich nur unzureichend mit Attributen wie ‚positiv‘, ‚negativ‘, ‚antisemitisch‘ oder eben auch ‚philosemitisch‘ beschreiben lassen. Warum es für diese Untersuchung unvermeidbar und schließlich sogar produktiv ist, dennoch den Begriff ‚Philosemitismus‘ zu verwenden, erläutere ich in Kapitel 1.6.

Der Hauptteil dieser Untersuchung ist in vier umfangreiche und drei kürzere Analysekapitel unterteilt. In den großen Kapiteln werde ich vier Erzähltexte analysieren, die für meine Fragestellung besonders ergiebig sind. Die übrigen Erzähltexte werden den ausgewählten Haupttexten in Form von Exkursen oder kürzeren Analysekapiteln gegenübergestellt. An den untersuchten Erzähltexten werde ich exemplarisch zeigen, wie sich der Philosemitismusbegriff für die Literaturwissenschaft fruchtbar machen lässt und wie vielfältig die Erzählmöglichkeiten sind, die sich durch die Präsenz jüdischer Figuren in den Texten ergeben. Die Anordnung der vier Haupttexte erfolgt im Prinzip chronologisch, diese Chronologie wird jedoch durch die Gegenüberstellung mit den anderen Texten wiederholt unterbrochen. Einerseits also folgt die Anordnung den Entstehungszeiten der Erzählungen und Romane, andererseits gehorcht sie thematischen Aspekten, indem Texte aus unterschiedlichen Erscheinungsjahren zueinander in Bezug gesetzt werden. Die Kapitel sind so konzipiert, dass sie thematisch aufeinander aufbauen, in sich aber geschlossen sind, so dass sie auch unabhängig voneinander gelesen und verstanden werden können. Kapitel 2 über Bernhard Severin IngemannsIngemann, Bernhard Severin Novelle Den gamle Rabbin von 1827 dient der Einführung der literarischen Topoi ‚edler Jude‘, ‚schöne Jüdin‘ und ‚Ahasverus‘ sowie des kunstreligiösen Diskurses. Ergänzend werden AndersensAndersen, Hans Christian Debütroman Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829 [Fußreise vom Holmenkanal zur Ostspitze von Amager in den Jahren 1828 und 1829; 1829] und sein Märchen Jødepigen [Das Judenmädchen; 1855] herangezogen. Dieses Kapitel dient vor allem dazu, die Leserin mit den philosemitischen Themen und Topoi vertraut zu machen, die in den folgenden Texten ebenfalls aufgenommen, dann aber gebrochen und modifiziert werden. Ein komplexerer Zugang zu ihnen wird bereits in Kapitel 3 an Steen Steensen BlichersBlicher, Steen Steensen Novelle Jøderne paa Hald deutlich. In dieser Novelle verbindet sich ein politisches Sendungsbewusstsein einerseits mit Elementen aus historischer und Schauerliteratur andererseits. Hierauf folgt das kürzere Kapitel 4 zu Thomasine GyllembourgsGyllembourg, Thomasine Novelle Jøden [Der Jude; 1836]. Zu dieser Novelle liegt bereits Forschungsliteratur vor, so dass ich mich hier nur auf einzelne, für meine Fragestellung relevante Aspekte konzentriere. Deutlich umfangreicher ist Kapitel 5, in dem der Roman Guldmageren [Der Goldmacher; 1836/1851] von Carsten HauchHauch, Carsten untersucht wird. In diesem historischen Roman werden zwei gegensätzlich gestaltete jüdische Figuren einander gleichgewichtet gegenübergestellt, was den Roman von den zuvor untersuchten Texten unterscheidet. Hierauf folgt mit Kapitel 6 erneut eine kürzere Untersuchung, denn in Frederik Christian SibbernsSibbern, Frederik Christian Briefroman Udaf Gabrielis’s Breve til og fra Hjemmet [Aus Gabrielis’ Briefen von und nach zu Hause; 1850] gibt es nur wenige, jedoch sehr markante Passagen, in denen die jüdische Figur auftritt. Kapitel 7 behandelt Hans Christian Andersens Roman Kun en Spillemand [Nur ein Spielmann; 1837]. Diese Analyse nimmt aufgrund der äußerst komplexen Romankonzeption und Figurengestaltung nicht nur am meisten Raum ein, sondern steht deshalb auch (fast) am Ende der Untersuchung. Das kurze Kapitel 8 zu Andersens späterem Roman At være eller ikke være [Sein oder Nichtsein; 1857] schließt die Arbeit ab. Somit ergibt sich eine umfassende Diskussion sämtlicher dänischer Erzähltexte nicht-jüdischer Autor*innen, in denen von jüdischen Figuren erzählt wird. Ein Überblick über den jeweils relevanten Forschungsstand sowie eine historische wie biografische Kontextualisierung werden in den jeweiligen Kapiteln gegeben.

 

Wer in der Reihe dänischer Autor*innen des frühen und mittleren 19.Jahrhunderts fehlt, ist Meïr Aron GoldschmidtGoldschmidt, Meïr Aron (1819–1887) mit seinem Debütroman En Jøde [Ein Jude] von 1845 (1927), schließlich fällt das Erscheinungsdatum in den hier untersuchten Zeitraum. Nicht allein die Tatsache, dass Goldschmidt literaturgeschichtlich in der Regel nicht mehr dem „Goldenen Zeitalter“ zugeordnet wird, da er wesentlich jünger ist als die anderen Autor*innen, ist für sein Fehlen in dieser Untersuchung ausschlaggebend – es ist in erster Linie sein Jüdischsein.2 Dieser Umstand fällt als extrem irritierend ins Auge, denn auf diese Weise reproduziert die Untersuchung paradoxerweise den Ausschluss dänischer Juden aus der nicht-jüdischen Gesellschaft. Dabei ist gerade dieser Ausschluss das Thema von Goldschmidts Roman En Jøde. Er erzählt aus einer jüdischen Innenperspektive vom „Lebensweg eines Juden, der aufgrund von Diskriminierungen an der Aufgabe der Akkulturation in der dänischen Gesellschaft scheitert“ (Schnurbein 2006: 118). Wäre nicht eine Einbeziehung dieser Perspektive lohnend? Ja, das wäre sie. Mit unterschiedlichen Fragestellungen sind Stefanie von Schnurbein (2004, 2006), Cecilie Speggers Schrøder Simonsen (2012a, 2012b) und Florian Brandenburg (2014) an Goldschmidt und En Jøde herangetreten. Mogens Brøndsted hat bereits 1967 mit Goldschmidts Fortællekunst [Goldschmidts Erzählkunst] eine Untersuchung von Goldschmidts Hauptwerken herausgegeben. Und 2016 erschien die Monografie Meïr Aron Goldschmidt and the Poetics of Jewish Fiction von David Gantt Gurley, der im Kapitel „Midrash and Metaphor“ En Jøde als Exegese der Hebräischen Bibel liest (2016: 60–102). Der Roman kann mir jedoch bei der Bearbeitung meiner Fragestellung nicht behilflich sein. Tatsächlich wurde GoldschmidtGoldschmidt, Meïr Aron von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde sogar dafür kritisiert, dass er, so formulierte es Georg Brandes, „serverer sin bestemor i skarp sovs [seine Großmutter mit scharfer Soße serviert]“ (zitiert nach Brøndsted 2007b: 25), also eine allzu intime Darstellung jüdischen Lebens aus der Innenperspektive vorgenommen habe. Philosemitismus ist aber ein nicht-jüdischer, in diesem Fall sogar ein dezidiert christlicher Diskurs (vgl. Kapitel 1.6), und dieser Diskurs ist Gegenstand meiner Analyse. Die jüdischen Figuren in den Romanen und Novellen, die ich hier als philosemitisch charakterisiere, sind weder zufällig oder beiläufig dort, noch sind sie Teil einer möglichst realistischen Darstellung dänischer Lebenswirklichkeiten. Sie dienen nicht einmal vornehmlich dazu, die politische Haltung der Autor*innen literarisch verarbeitet zu verbreiten. Die jüdischen Figuren haben als Außenseiter (vgl. Mayer 1981) und ‚Andere‘ (vgl. Polaschegg 2005: 41–49)3 vielmehr eine literarische Funktion für den Text selbst, die es zu erforschen gilt.

1.4.3Forschung

Der Titel dieser Untersuchung wirft die Frage auf, ob neben den „philosemitischen Schwärmereien“ auch Texte mit „antisemitischen Verunglimpfungen“ publiziert wurden, die hier keine Erwähnung finden. Solche Texte existieren tatsächlich. Etliche von ihnen sind während der „literarischen Judenfehde“ erschienen und wurden in verschiedenen Arbeiten zusammengetragen und untersucht (vgl. z.B. Albertsen 1984: 36–57; Schwarz Lausten 2002: 205–375; Tudvad 2010: 17–54). Und auch in Søren KierkegaardsKierkegaard, Søren Schriften finden sich zahlreiche Anfeindungen gegenüber Juden und eine ausdrückliche Kritik am Judentum. Den zunehmenden Antisemitismus in Kierkegaards Denken hat Peter Tudvad 2010 in seiner umfangreichen Studie Stadier på antisemitismens vej. Søren Kierkegaard og jøderne [Stationen auf dem Weg des Antisemitismus. Søren Kierkegaard und die Juden] untersucht und erstmals in dieser Konsequenz benannt. Doch bei allen diesen Schriften handelt es sich um politische, philosophische und theologische, nicht um literarische Texte. Befasst man sich nur mit der Literatur im engeren Sinne, also mit Erzählliteratur, Lyrik und Dramatik, ist die Darstellung jüdischer Figuren zwar stets ambivalent, aber nicht ausschließlich oder überwiegend negativ oder diskreditierend, sondern im weitesten Sinne positiv angelegt. Auf einige lyrische Werke nehme ich im Verlauf der Arbeit am Rande Bezug. Eine Untersuchung norwegischer Lyrik aus den 1840er-Jahren habe ich bereits 2011 mit meiner Masterarbeit Blühende Dornenzweige. Henrik WergelandsWergeland, Henrik Gedichte und der „Judenparagraf“ in der norwegischen Verfassung vorgelegt und die Ergebnisse 2020 als Aufsatz mit dem Titel „Der Jude. Neun blühende Dornenzweige. Henrik Wergelands politische Dichtung gegen den ›Judenparagrafen‹ in der norwegischen Verfassung von 1814“ veröffentlicht. Auf die Studie von Räthel (2016) zu jüdischen Figuren im skandinavischen Theater habe ich in Kapitel 1.4.1 bereits hingewiesen. Ein gattungs- und epochenübergreifender Überblick über jüdische Figuren und Judentum in der dänischen Literatur findet sich bei Niels Birger Wamberg (1984) in seinem Beitrag über Dansk-jødisk digtning og dansk digtning om jødisk skæbne [Dänisch-jüdische Dichtung und dänische Dichtung über jüdisches Schicksal]. Tine Bach hat mit Exodus. Om den hjemløse erfaring i jødisk litteratur [Exodus: Über die Erfahrung von Heimatlosigkeit in jüdischer Literatur] 2004 eine Untersuchung von Erzählliteratur jüdischer Autoren vorgelegt. Bach setzt darin eine stabile, eindeutige und internationale jüdische Identität und mit ihr eine „jødiske identitetsproblematik [jüdische Identitätsproblematik]“ (2004: 12–13) als gegeben voraus, die sie mithilfe einer autobiografischen Lesart zu analysieren versucht. Mit diesen normativen Setzungen verkennt sie jedoch, dass Identität ein gesellschaftliches und wandelbares, durchlässiges Konstrukt ist und somit auch stets ein Produkt von Fremdzuschreibungen, um die es in meiner Arbeit gehen soll. 2007 hat Mogens Brøndsted mit seinem Buch Ahasverus. Jødiske elementer i dansk litteratur [Ahasverus. Jüdische Elemente in der dänischen Literatur] (2007a) eine Sammlung ausgewählter literarischer Texte über jüdische Figuren herausgegeben und so überhaupt erst einem breiteren Publikum die Möglichkeit gegeben, auf sie aufmerksam zu werden. Diese Sammlung umfasst Texte jüdischer und nicht-jüdischer Autor*innen vom späten 18. bis zum 20.Jahrhundert. Vorangestellt ist ihr eine umfangreiche und auf Vollständigkeit angelegte literaturhistorische Einführung in die Geschichte jüdischer Figuren in der dänischen Literatur. Sofern die von mir untersuchten Texte in dieser Sammlung enthalten sind, zitiere ich aus dieser Ausgabe. Nicht nur halte ich dieses Vorgehen für leserfreundlich, es stellt darüber hinaus auch eine Würdigung von Brøndsteds literaturwissenschaftlicher Editionsleistung dar. Zuletzt erschien der Sammelband Figurationen des Jüdischen. Spurensuchen in der skandinavischen Literatur (Räthel/Schnurbein 2020a), hervorgegangen aus dem Arbeitskreis „Juden in Skandinavien“ am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin, in den neben erstmalig publizierten Aufsätzen auch bereits zuvor erschienene Beiträge noch einmal aufgenommen wurden.1

Richtet man den Blick auf entsprechende Forschung zur Literatur der dänischen Nachbarländer Norwegen und Schweden, fällt das Ergebnis bescheiden aus. Für Norwegen ist vor allem die als Übersichtsarbeit angelegte Dissertation Vom Schtetl zum Polarkreis. Juden und Judentum in der norwegischen Literatur von Gertraud Rothlauf (2009) zu nennen. Von Madelen Marie Brovold, die sich in ihrer Masterarbeit mit jüdischen Figuren auf der Theaterbühne beschäftigt hat (2016, 2019), ist derzeit eine weitere Dissertation zu jüdischen Figuren in der norwegischen Literatur im Entstehen. Diese überschaubare Forschungssituation mag damit zu begründen sein, dass die literarische Auseinandersetzung mit Juden und Judentum in Norwegen im 19.Jahrhundert fast ausschließlich in lyrischer und dramatischer Form sowie in Reiseberichten und politischen Schriften vor allem eines Autors stattfand, nämlich Henrik WergelandWergeland, Henrik, sowie in deutlich geringerem Maße bei Andreas MunchMunch, Andreas, Adolph RosenkildeRosenkilde, Adolph und Christian Rasmus Hansson (vgl. hierzu Bock 2011, 2020; Brovold 2019; Mendelsohn 1969: 61–217; Räthel 2016: 267–289, 2020: 122–123; Rothlauf 2009: 69–90; Schnurbein 2014: 90–91; Skorgen 2010; Snildal 2012). Für Schweden bleibt nur die fast vollkommene Abwesenheit jeglicher Forschung zu jüdischen Figuren in der Literatur zu konstatieren und zu fragen, ob hier tatsächlich so wenige jüdische Figuren zu finden sind, dass sich dieser Mangel an wissenschaftlicher Forschung erklären ließe (vgl. Räthel 2020b: 119–122; Räthel/Schnurbein 2020b: 22; vgl. hierzu auch Heß 2020). Neben Räthels Arbeit zur Dramenliteratur (2016: 291–367) ist hier einzig Hilde Rohlén-Wohlgemuth hier mit ihrem schmalen Band Svensk-judisk litteratur 1775–1994: en litteraturhistorisk översikt [Schwedisch-jüdische Literatur 1775–1994: ein literaturgeschichtlicher Überblick] (1995), in dem sie auf Literatur jüdischer Autoren fokussiert, zu nennen. Abschließend sei noch auf den kürzlich erschienenen Band Antisemitism in the North hingewiesen (Adams/Heß 2020), der einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand der Antisemitismusforschung in Skandinavien und innerhalb der Skandinavistik gibt. In der vorliegenden Arbeit nun werden Erzähltexte aus der Zeit des dänischen „Goldenen Zeitalters“ untersucht und das bislang bestehende Forschungsdesiderat literaturwissenschaftlich bearbeitet.

1.5Theoretisch-methodische Zugänge

1.5.1Literaturwissenschaft und Antisemitismusforschung

Zweifellos wohnt der Literatur die Möglichkeit inne, Stimmen marginalisierter Personengruppen zu Gehör zu bringen und Identifikation mit ihnen zu stiften. So stellte beispielsweise Martin Sexl 1996 in seinem Aufsatz Was ist Literatur und warum brauchen wir sie? vor allem die Fähigkeit der Literatur heraus „die Bedeutung von Erfahrung(en) zugänglich zu machen“ (1996: 185). Literatur werde durch ihre „Eigenschaft als implizites Wissen […] zu einer Stellvertretererfahrung und dadurch auch zu einer Basis gesellschaftlichen Lebens (d.h. ethischen Könnens): Denn Kunst ist ein Sensibilisierungsprozeß für unsere Wahrnehmungen und Erfahrungen in der ‚realen Welt‘“ (Sexl 1996: 192). Diese Perspektive steht auch für Ulrike Koch im Vordergrund, deren Beitrag 2017 in der Anthologie Vom Eigenwert der Literatur. Reflexionen zu Funktion und Relevanz literarischer Texte (Bartl/Famula 2017) erschien. Sie betont besonders die Möglichkeit „der Darstellung von Ideen und Problemen aus der Perspektive von marginalisierten Positionen“ (Koch 2017: 282). Außerdem mache Literatur „durch das Ausloten von Grenzen […] den Konstruktionscharakter von Realitäten sichtbar“ (Koch 2017: 283). Außer Zweifel steht allerdings auch, dass Literatur ebenso das Gegenteil bewirken und Vorannahmen festigen kann. So hält Florian Krobb fest: „Die Literatur greift […] in die außerliterarische Realität ein, indem sie zum Beispiel Bewertungsmuster bereitstellt oder Klischeevorstellungen begründen und verfestigen hilft“ (Krobb 1993: 13). In letzter Konsequenz bedeutet dies, mit einer Formulierung der Literaturwissenschaftlerin Catherine Belsey, dass Literatur dazu beiträgt, „die Kultur, die sie hervorgebracht hat, erst einmal selbst zu bilden“ (Belsey 2000: 51–52). Im Schreiben über Juden und Jüdinnen zeigt sich dieses Spannungsfeld in beispielhafter Weise. Doch erst in den letzten zehn Jahren ist die Zahl der literaturwissenschaftlichen Untersuchungen, die sich diesen Texten widmen, signifikant gestiegen. Noch 2007 beklagten die Herausgeber der Anthologie Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz in ihrem Vorwort, dass die Literaturwissenschaft als Disziplin innerhalb der Antisemitismusforschung „bislang eher randständig blieb“ (Bogdal/Holz/Lorenz 2007: VII). Mit dieser Anthologie wurde also selbst ein wichtiger Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung geleistet, und sie beinhaltet, anders als der Titel suggeriert, auch einige Beiträge, die sich der Judenfeindschaft in der Literatur vor Auschwitz widmen. Seitdem sind etliche Arbeiten hinzugekommen, die aus unterschiedlichen Perspektiven literarische Texte auf ihre Darstellung von jüdischen Figuren befragen. Die Auswahl der untersuchten Texte erstreckt sich mittlerweile von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Nike Thurn (2015) untersucht in ihrer Monografie »Falsche Juden«. Performative Identitäten von LessingLessing, Gotthold Ephraim bis Walser Figuren, deren vermeintlich jüdische Identität sich im Handlungsverlauf als Irrtum oder Täuschung herausstellt. Victoria Gutsche richtet in ihrer Arbeit Zwischen Abgrenzung und Annäherung. Konstruktionen des Jüdischen in der Literatur des 17.Jahrhunderts den Blick auf die frühe Neuzeit und stellt dabei die Frage, ob „‚positive Juden‘ in der Literatur des Barock möglich“ waren (Gutsche 2014: 38). Sie kommt zu dem Ergebnis, „dass jüdische Figuren zwar ganz unterschiedliche Funktionen wahrnehmen können und eben nicht zwangsläufig der Diffamierung des Judentums dienen, die meisten der hier untersuchten Texte jedoch eine eindeutig antijüdische Stoßrichtung verfolgen“ (Gutsche 2014: 388). Paula Wojcik (2013) fokussiert in ihrer Dissertation Das Stereotyp als Metapher. Zur Demontage des Antisemitismus in der Gegenwartsliteratur auf Metaphernkonzepte zum Entwurf von Selbst- und Fremdbildern. Mithilfe metapherntheoretischer Zugänge stellt sie dar, wie in deutsch-, polnisch-, und englischsprachigen literarischen Texten der Gegenwart die Dekonstruktion antisemitischer Stereotype gelingen kann. In allen drei, im Abstand von nur jeweils einem Jahr erschienenen Dissertationen geben die Autorinnen einen ausführlichen Überblick über die Entwicklung und die Schwerpunkte der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung (Wojcik 2013: 13–30; Gutsche 2014: 15–23; Thurn 2015: 61–68), so dass ich mich hier weitestgehend auf die Darstellung der jüngeren Entwicklung beschränke. Gutsche konstatiert zusammenfassend zwei Strömungen innerhalb der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung:

zum einen eine historisch-soziologisch argumentierende Stereotypforschung und zum anderen eine auf das System Literatur bezogene Motivforschung. Während erstere meist dazu neigt, Stereotype auf ihren Realitätsgehalt hin zu untersuchen, um so deren ‚fiktiven‘ Charakter zu konstatieren, beschränkt sich die Motivforschung häufig darauf, Figurendarstellungen als ‚stereotyp‘ auszuweisen. Damit wird zugleich ein unveränderlicher Charakter eines solchen Bildinventars suggeriert und durch die Literaturwissenschaft perpetuiert. (Gutsche 2014: 23)

Gutsche selbst betont die „spezifische Literarizität“ (2014: 23) von literarischen Texten und bemängelt an den bislang meist verfolgten Ansätzen der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung:

Literatur wird so zur bloßen Quelle, die jedem einzelnen Text spezifischen Codierungen und Eigengesetzlichkeiten sowie Gattungsdynamiken bleiben weitgehend unberücksichtigt. So kommt es meist zu einer Einebnung von Spannungen und Ambivalenzen, mögliche Gegenmodulationen zur Bildlichkeit werden kaum sichtbar. (Gutsche 2014: 25)

Sie schließt damit an eine Kritik an, wie sie bereits in ähnlicher Weise um die Jahrtausendwende von Franka Marquardt (2003: 23) und Mona Körte (1998: 148, 2007: 63) aufgeworfen wurde. Gutsche kritisiert außerdem, der Begriff ‚Literarischer Antisemitismus‘ sei zu eng gefasst. Untersuchungen, die unter diesem Oberbegriff durchgeführt werden, „konzentrieren sich vornehmlich auf die Literatur ab dem neunzehnten Jahrhundert, insbesondere aber nach 1945.“ Mit der Verwendung des Begriffs ‚Literarischer Antisemitismus‘ werde

für die Erforschung literarischer Judenfeindschaft eine systematische (Eingrenzung auf einen bestimmten Zeitraum) und eine qualitative (Antisemitismus als Forschungsgegenstand) Vorentscheidung getroffen, die den Untersuchungsgegenstand erheblich begrenzen und so entscheidende Facetten ausblenden. (Gutsche 2014: 27)

Erfreulicherweise hat sich, nicht erst mit diesen jüngeren Publikationen, der Blick auf das Forschungsfeld geweitet, sowohl hinsichtlich des erforschten Zeitraums als auch des Forschungsgegenstands. Es geht inzwischen zunehmend darum, die Ambivalenzen und Vieldeutigkeiten literarischer Darstellungen von jüdischen Figuren sichtbar zu machen. 2013 erschien Eva Lezzis Habilitationsschrift „Liebe ist meine Religion!“ Eros und Ehe zwischen Juden und Christen in der Literatur des 19.Jahrhunderts. Lezzi untersucht in ihrer Studie, „inwiefern die prägenden zeitgenössischen Diskurse zu Liebe, Ehe, Familie und Sexualität eine Alterität zwischen Juden und Christen konstruieren – gerade auch dann, wenn diese Alterität im Begehren zugleich überwunden werden soll“ (Lezzi 2013: 8). Mona Körte stellte bereits im Jahr 2000 in ihrer Monografie Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der ewige Jude in der literarischen Phantastik anhand der Untersuchung des Ahasverus-Topos die Flexibilität und Ambivalenz einer um 1600 entstandenen und bis in die Gegenwart vitalen literarischen Figur dar. Auf die Sichtbarmachung von Mehrdeutigkeiten und scheinbaren Widersprüchen legt es auch Franziska Schößler in ihrer 2009 erschienenen Untersuchung Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola an, denn gerade „[d]iese Ambivalenzen, die jegliche Projektionsstruktur prägen, ermöglichen die flexible Adaption an historische Zustände sowie diskursive Vernetzungen“ (Schößler 2009: 34). Die Herausforderung innerhalb der literaturwissenschaftlichen Analyse besteht also gerade darin, dem Impuls zu widerstehen, diese Ambivalenzen in der Analyse zu vereindeutigen und zu glätten. Hierzu, so Körte, „bedarf es des genauen Lesers und der genauen Leserin, die nicht finden, was sie suchen, sondern sich auf die Bewegung und die Widersprüchlichkeit von Sinnangeboten einlassen“ (Körte 2007: 66). Doch wie kann eine solche genaue Lesart vonstattengehen, ohne von den eigenen Erwartungen und Vorannahmen korrumpiert zu werden?

1.5.2Kulturpoetik und Zirkulation

Eine Anregung zur aufmerksamen und neugierigen Annäherung an Literatur bietet Stephen Greenblatt mit seinem freimütigen Geständnis, seine eigene Forschung zur Renaissance sei vor allem von dem Wunsch angetrieben, „mit den Toten zu sprechen“, ein Wunsch, der, „obzwar unausgesprochen, vielen literaturwissenschaftlichen Studien zugrunde liegt“ (Greenblatt 1988: 7). Greenblatt begründete mit diesem Einstieg in seine Verhandlungen mit ShakespeareShakespeare, William. Innenansichten der englischen Renaissance den New Historicism, einen literaturwissenschaftlichen Ansatz, der literarische und nicht-literarische Texte gleichberechtigt zu einander in Beziehung setzt. So wird der literarische Text nicht nur in seinem historischen Kontext berücksichtigt. Vielmehr kann nun aufgezeigt werden, wie bestimmte Ideen und Vorstellungen zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten zirkulieren. Aufgrund dieser Wechselseitigkeit wird neben dem Begriff New Historicism auch der Begriff Kulturpoetik verwendet. Der literarische Text nimmt in diesem Modell zwar als Kunstwerk eine herausragende Position ein. Grundsätzlich steht er jedoch nicht wie ein Monolith in seinem historischen Kontext, sondern wirkt am Erschaffen dieses Kontextes seinerseits mit (vgl. Belsey 2000: 51–52). Dabei sei es Greenblatt, so resümiert der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler (2005) in seiner literaturtheoretischen Monografie Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, nicht daran gelegen zu zeigen, was die historische Person Shakespeare dachte und meinte, und ob diese Person bestimmte persönliche Ansichten in seinen Dramen zu vermitteln oder populär zu machen hoffte. Vielmehr stelle Greenblatt heraus, weshalb und wozu Shakespeare so schrieb, wie er schrieb:

[D]er Dramatiker [ShakespeareShakespeare, William] benutzt das diskursive Material eben nicht, um religionskritische Aussagen zu machen, sondern um dramatische Effekte zu erzeugen. Dabei und dafür aktiviert er auch und gerade die Widersprüche, Absurditäten und dunklen Seiten, die den diskursiven Konstellationen anhaften. (Baßler 2005: 15)

Es geht Greenblatt und Baßler nicht darum, Widersprüche aufzulösen und Ambivalenzen zu glätten, sondern sie sichtbar zu machen und als dramatische Mittel anzuerkennen. Übertragen auf meine Fragestellung bedeutet dies, die durchweg ambivalenten und bisweilen absurd anmutenden Darstellungen jüdischer Figuren und des Judentums als dramatisches, beziehungsweise literarisches Mittel anzuerkennen und sie nicht allein auf ihren politischen, gesellschafts- oder religionskritischen Gehalt zu reduzieren.

In seiner Einführung in den New Historicism fragt Baßler: „Wer braucht überhaupt den New Historicism?“ Die Antwort gibt er umgehend: „Es braucht ihn, wer die theoretischen Prämissen des Poststrukturalismus teilt und nach wie vor mit historischem Interesse in einer kultur- oder textwissenschaftlichen Disziplin arbeiten will“ (Baßler 2001: 7). In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die vorliegende Arbeit. Das Vorgehen orientiert sich prinzipiell an der foucault’schen Diskursanalyse; es wird betrachtet, wie in einer bestimmten Region (Dänemark), Epoche (Dänemarks „Goldenes Zeitalter“) und in einer bestimmten Textgattung (Erzählliteratur) über Juden und Jüdinnen geschrieben wurde, geschrieben werden konnte. Der Aufbau der Arbeit ist zwar chronologisch nach den untersuchten Werken unterschiedlicher Autor*innen gegliedert, aber die Texte werden trotz dieses traditionell anmutenden Aufbaus immer wieder zueinander in Beziehung gesetzt und die Chronologie so gestört, um die Zirkulation von Ideen und Vorstellungen zwischen den Werken aufzuzeigen. Dem von der Diskursanalyse beeinflussten Ansatz dieser Arbeit scheinen allerdings die Kriterien für die Textauswahl zu widersprechen, denn für diese ist die nicht-jüdische Herkunft der Autoren und der Autorin zentral, da mich der nicht-jüdische Blick auf die Juden und Jüdinnen als die Anderen interessiert. Somit wird dem Autor, den Roland BarthesBarthes, Roland 1968 (2000) für tot erklärt hatte in dieser Analyse eine entscheidende Bedeutung beigemessen, die ihm in einer klassischen Diskursanalyse nicht zugekommen worden wäre. Der kulturpoetische Ansatz erlaubt es jedoch, das Material diskursanalytisch zu untersuchen und zugleich auch den Autor als Teil des Kontextes eines Textes zu begreifen. Die Biografie samt Herkunft, Religion und Geschlecht der Autor*innen ist ein Aspekt unter vielen, die das Zustandekommen eines Textes möglich (oder auch unmöglich) machen. Diesen Kontext werde ich folglich in jedem Kapitel in kurzer Form skizzieren, jedoch auf die Punkte beschränken, die für das Textverständnis relevant erscheinen.

 

Greenblatt hat den Begriff der „Zirkulation sozialer Energie“ geprägt (1988: 7–24) und damit die Überzeugung formuliert, dass Literatur nicht oder nicht vornehmlich als Abbildung oder künstlerische Verarbeitung einer außerliterarischen Wirklichkeit verstanden wird, sondern im vitalen Austausch mit der außerliterarischen Welt steht. Dieser Austausch verläuft in beide Richtungen, in die Literatur hinein und aus ihr heraus, und ist dabei höchst lebendig und fruchtbar. So wird auch der Begriff der ‚Intertextualität‘ nicht als Einbahnstraße verstanden, in der ein Autor seinen Text mit Verweisen auf andere Texte spickt. Vielmehr ist der literarische Text Teil des texte général1 und hat an der Zirkulation von Wissen, Konnotationen, Annahmen oder eben: sozialer Energie ebenso Teil, wie jede andere Produktion von Kultur und Sinn auch. Roland BarthesBarthes, Roland nutzt ebenfalls die Metapher der Zirkulation, wenn er in seinem Essay Junge Forscher fordert, dass

endlich eine freie Lektüre zur Norm des ‚literaturwissenschaftlichen Studiums‘ wird. Die Freiheit, um die es sich handelt, ist natürlich keine x-beliebige Freiheit (die Freiheit steht im Gegensatz zum Beliebigen): Hinter der Forderung nach einer unschuldigen Freiheit würde die eingelernte, stereotypisierte Kultur wiederkehren (das Spontane ist das unmittelbare Feld des Bereits-Gesagten): […] Diese Freiheit muß eine Virtuosität sein: diejenige, die gestattet, im Leit-Text, mag er auch noch so alt sein, die Devise jeglichen Schreibens herauszulesen: es zirkuliert. (BarthesBarthes, Roland 2006: 95)

Um diese Zirkulation fassbar zu machen oder vielmehr: in den Texten aufzuspüren und zu reaktivieren, bedarf es einer akribischen und genauen Lesart, eines close reading, das Verallgemeinerungen zu vermeiden versucht (vgl. Baßler 2005: 10, 14, 19–21). Dies wiederum erfordert einen Textbegriff, der nicht jede beliebige kulturelle Äußerung als Text begreift, sondern sich auf physisch (oder digital) archivierbares und mit textwissenschaftlichen Werkzeugen lesbares Material stützt. Eine solche Text-Kontext-Theorie entwickelt Baßler, denn, so bemängelt er, es „geht mit dem Abrücken vom Textualitäts-Theorem regelmäßig eine Tendenz zurück zu abstrakter Beschreibungssprache, zu historischen Metanarrationen und Generalaussagen einher, in der ich keinen Fortschritt erkennen kann“ (Baßler 2005: 10). Durch ein Textverständnis, das sich zwar nicht allein auf literarische, jedoch auf archivierbare und archivierte Kulturproduktion beschränkt,2 soll der Rückgriff auf Verallgemeinerungen vermieden werden. Auf diese Weise bleibt das Forschungsfeld fassbar und benennbar und verallgemeinernde Aussagen können ebenso vermieden werden, wie eine abstrakte und schwer zugängliche Sprache. So fallen denn auch tatsächlich die Arbeiten derjenigen, die einen solchen kulturpoetischen Ansatz verfolgen, wie Greenblatt, Svetlana Alpers (2001), Schößler (2009) und Baßler selbst, durch ihre „Anschaulichkeit und Lesbarkeit“ (Baßler 2005: 10) auf. Diesen Aspekt als methodische Prämisse zu betonen mag ungewöhnlich erscheinen. Doch so wenig wissenschaftlich relevant ein anschaulicher und leserlicher Stil für die Bestimmung eines theoretisch-methodischen Rahmens auf den ersten Blick wirken mag, so sehr ist eine spürbare und für den Leser nachzuvollziehende Freude am Forschungsgegenstand vonnöten, um zu ungewohnten Lesarten und neuen Forschungsergebnissen zu gelangen.

1.5.3Widerstände und die Lust am Text

Der Literatur- und Medienwissenschaftler Markus Spöhrer plädiert in seinen Überlegungen Zum Eigen- und Stellenwert geisteswissenschaftlicher Literaturproduktion. Schreiben als Experimentalsystem für eine „‚Offenheit‘ experimenteller Forschung“ um so „durch die Anordnung und Rekombination von ‚Altem‘ etwas ‚Neues‘ zu generieren“ (2017: 200). Oftmals werde in der Forschung durch „bestimmte konventionalisierte Theorien, Konzepte oder standardisierte Analysemodelle der Kultur- oder Literaturwissenschaft, aber auch ‚stabilisiertes Wissen‘, etwa Thesen, Argumente oder historische ‚Fakten‘“ tatsächlicher Erkenntnisgewinn verhindert (Spöhrer 2017: 201). Spöhrer begreift den Schreibprozess als das Experimentierfeld der Geisteswissenschaften. Im Experiment des Schreibens werde, im besten Fall, nicht allein Ordnung „beobachtet, analysiert und schlichtweg übertragen […], sondern diese Ordnung [wird] zuallererst im Zuge des Prozesses der Beobachtung, Analyse oder allgemein: der Forschung hergestellt“ (Spöhrer 2017: 203). Wie aber den Zufall als wissenschaftlich relevanten Faktor anerkennen, ohne ihn mit Beliebigkeit zu verwechseln? Wo beginnen mit der Ordnungsstiftung, was weglassen, wie auswählen, wenn doch ein Text niemals erschöpfend erfasst und immer auch anders verstanden werden kann? Und wie den Rückfall in vertraute Ordnungssysteme und Schemata verhindern? Hier helfen Roland BarthesBarthes, Roland’ Metaphern von den Rissen und Klüften des Texts und der Wollust des Lesers. In seinem Essay Die Lust am Text schreibt Barthes:

Wenn man einen Nagel ins Holz schlägt, so bietet das Holz unterschiedlich Widerstand, je nachdem, an welcher Stelle man ihn ansetzt: man sagt, das Holz ist nicht isotrop: die Ränder, die Kluft sind unvorhersehbar. Ebenso wie sich die (gegenwärtige) Physik dem nicht-isotropen Charakter bestimmter Milieus, bestimmter Universa anpassen muss, ebenso muß die strukturale Analyse (die Semiologie) die geringsten Widerstände des Textes, die unregelmäßigen Zeichnungen seiner Venen erkennen. (BarthesBarthes, Roland 1974: 55)

BarthesBarthes, Roland verwendet unterschiedliche Metaphern, um diese Widerstände im Text zu beschreiben. Er nennt sie Hindernisse (1974: 43), Unregelmäßigkeiten (1974: 55), Widersprüche (1974: 8), Schatten (1974: 49), Klüfte, Brüche und Risse (1974: 13–14), Zwischenräume (1974: 20) und identifiziert sie als Quellen der Lust beziehungsweise der Wollust beim Lesen.1 Wollust und Begehren sind zentrale Kategorien im Denken Barthes’, er versteht sie als Grundlage des Forschens überhaupt und fordert: „Die Arbeit (Forschungsarbeit) muss dem Begehren abgewonnen werden“ (Barthes 2006: 92). Das Begehren wiederum stellt sich überall dort ein, wo sich Widerstände in einem Text zeigen und wo die Freiheit besteht, diesen Widerständen nachzugehen. Dieses ausdrückliche Begehren nach ihren Forschungsgegenständen – oder vielleicht mehr noch ihr ausdrückliches Bekenntnis zu diesem Begehren – verbindet Greenblatt und Barthes, ebenso wie die Akzeptanz der Zufälligkeit, mit der sich im geisteswissenschaftlichen Arbeiten Dinge anordnen und so neues Wissen generiert werden kann. In Barthes’ Fragmente einer Sprache der Liebe (2014) finden sich am seitlichen Rand neben den einzelnen Fragmenten Verweise auf andere Werke, auf Musik, Literatur, Autoren und weitere Quellen. In seiner Einleitung erklärt er diese Verweise:

Die Quellen, die damit bezeichnet werden, sind nicht die der Autorität, sondern die der Freundschaft: ich berufe mich nicht auf Garantien, ich gedenke, mit einer Art im Vorbeigehen erstatteten Grußes, lediglich dessen, was verführt, was überzeugt, was einen Augenblick lang die Wollust des Verstehens (die des Verstandenwerdens?) geschenkt hat. (BarthesBarthes, Roland 2014: 22)

In meinen Textanalysen begebe ich mich auf die Suche nach Rissen und Unebenheiten, nach Textstellen, Passagen, Zitaten, einzelnen Wörtern, auch nach Figuren, die mit eben jenen Metaphern der Widerstände und Zwischenräume beschrieben werden können: Schatten und Hindernisse, Rauheit und Knirschen. Dabei verfolge ich stets die Frage, was diese Widerstände mit den jüdischen Figuren im Text zu tun haben. Sofern sie bei der Suche nach der Antwort auf diese Frage hilfreich sind, werden neben den Quellen der Autorität hin und wieder auch, um mit BarthesBarthes, Roland zu sprechen, „Quellen der Freundschaft“ aufgeführt, die nicht unerwähnt sein sollen, da sie mir für einen Moment beim Stolpern über die Widerstände des Textes diese „Wollust des Verstehens“ geschenkt haben. Denn wenn ich zum Beispiel im 21.Jahrhundert in einem Museum in Berlin niederländische Landschaftsbilder aus dem 17.Jahrhundert betrachte und sich dabei ganz plötzlich das Verständnis für eine dänische Novelle aus dem 19.Jahrhundert einstellt, muss ein solcher Faden unbedingt aufgenommen und als Beteiligter am Erkenntnisprozess sichtbar gemacht werden (vgl. Kapitel 3.8).

1.6Philosemitismus als literarischer Diskurs

Im Begriff ‚Philosemitismus‘ schwingt viel Ambivalenz mit. Gibt es so etwas wie Philosemitismus überhaupt, und wenn ja, was ist damit gemeint? Ist er nicht immer an Bedingungen und Erwartungen geknüpft, wie Juden und Jüdinnen zu sein, sich zu verhalten und sich zu entwickeln haben? Und ist Philosemitismus nicht immer mit Fremdzuschreibungen verbunden und stellt somit auch eine Form der Diskriminierung und Ausgrenzung dar? Zumindest die letzten beiden Fragen sind leicht zu beantworten: Ja. In der Tat kommt bereits DohmsDohm, Christian Wilhelm von emanzipationsbefürwortende und mithin als philosemitisch zu bezeichnende Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden nicht ohne die explizit formulierte Erwartung aus, dass die Juden sich, sofern sie erst einmal bürgerlich bessergestellt wären, auch moralisch verbessern würden. Der Begriff der Verbesserung bezieht sich also gleichermaßen auf die rechtliche Situation der Juden wie auf ihren vermeintlichen moralischen Zustand, der ganz selbstverständlich als verbesserungswürdig behauptet wird (vgl. Detering 2002b). Wie sehr Philo- und Antisemitismus Hand in Hand gehen und wie leicht sie von einem ins andere Extrem umschlagen können, hat erstmals Frank Stern in seiner Studie Im Anfang war Auschwitz. Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg gezeigt. Stern stellt dar, dass der Wechsel zwischen anti- und philosemitischer Haltung nicht nur leicht und in beide Richtungen vollzogen werden kann, sondern in der Regel aus pragmatischen Gründen erfolgt:

Antisemitismus oder Philosemitismus […] sind keine Verarbeitung der Vergangenheit im Sinne einer geistig-kulturellen Bewältigung, sondern eine pragmatisch Bearbeitung von Vorurteilen und sozialen Erfahrungen. […] Die vorhandenen Haltungen zu Juden sind nicht alternativ „Anti“ oder „Philo“, sondern können in der jeweiligen zeitbedingten Entwicklung in einem dieser Syndrome kulminieren. (Stern 1991: 343)

Darüber hinaus diente in der (west-)deutschen Nachkriegszeit eine philosemitische Haltung auch stets der eigenen Selbstvergewisserung. Zur Illustration zieht Stern die Spielpläne der Theaterbühnen heran, auf denen

„Jud Süß“ 1945 zeitgemäß von „NathanLessing, Gotthold Ephraim“ abgelöst wurde. Alle guten Eigenschaften, die ein Deutscher jetzt haben sollte, blickten wie aus einem Spiegel als das freundlich-nachdenkliche und doch so unverbindliche Gesicht Nathans den Nachkriegsdeutschen an. Im Stereotyp vom guten und weisen Juden konnte jeder Deutsche, so er ideell die Überreste des Tausendjährigen Reiches verlassen wollte, sich selbst wiederfinden, oder zumindest das, was als deutsches Wesen, aller politischen Bezüge entkleidet, aus der „deutschen Katastrophe“ in die deutsche Zukunft hinüberragen sollte: Glauben, Bildung und Besitz. (Stern 1991: 356–357)