Philosophie als heitere Wissenschaft und strenge Kunst - Stefan Broniowski - E-Book

Philosophie als heitere Wissenschaft und strenge Kunst E-Book

Stefan Broniowski

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Beschreibung

Philosophie ist nichts, was man braucht. Philosophie ist etwas, das man will, wenn man bemerkt, dass es sie gibt. Die entscheidende Frage lautet nicht: Was ist Philosophie? Oder: Was war Philosophie? Sondern: Was könnte Philosophie sein? Was will ich daraus machen und was hat das mit dem zu tun, was andere als Philosophie betreiben oder betrieben haben? Philosophie als Widerstand gegen eine vergesellschaftete Wirklichkeit: So sollst du denken, fühlen, sprechen, handeln. So ist es und nicht anders. Aber warum? Und warum nicht anders? Philosophie als Gesellschaftskritik: Was bedeutet es, so oder so zu denken, im Hinblick darauf, welche Verhaltensweisen und welche Beziehungen die gesellschaftlichen Verhältnisse erlauben, erzwingen, empfehlen, fordern usw.? Anders gesagt: Welches Denken unterwirft sich, welches ist widerspenstig und deckt Unterdrückung auf? Denke gefährlich, denke widerständig! Das Gefährliche ist ja gerade nicht das Abenteuer, der Nervenkitzel, die eigene Erregung. Es ist die Erregung des Ärgernisses der anderen, die Kunst, ihnen auf die Nerven zu gehen.

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Seitenzahl: 186

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Die Philosophen schreiben für die Professoren, die Denker für die Schriftsteller.

EMIL CIORAN

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Kapitel XXXI

Kapitel XXXII

Kapitel XXXIII

Kapitel XXXIV

Kapitel XXXV

Kapitel XXXVI

Kapitel XXXVII

Kapitel XXXVIII

Kapitel XXXIX

Kapitel XL

Kapitel XLI

Kapitel XLII

NACHBEMERKUNG

I

Warum philosophiert man? Um zu verstehen, was ist. Solches Verständnis kann immer nur das eigene sein. Warum sollte man es anderen vorschreiben wollen? Noch keinem Philosophen ist es gelungen, seine Philosophie als alleinige durchzusetzen. Sollte man daraus nicht die Lehre ziehen, beim Philosophieren ein gewisses präskriptives Generalisieren aufzugeben? Ich denke so und so. Ich schlage euch vor, ebenfalls so und so zu denken. Wenn ihr anders denkt als ich, lasst uns darüber reden und sehen, worin wir uns einig werden können.

Ohne mich kann ich nicht philosophieren. Mehr noch: Ohne mich gibt es mich nicht.

Nicht weil ich so wichtig wäre, sondern weil ich mich nicht loswerden kann, muss ich mich zum Element meines Philosophierens machen.

Es gibt keine Heiterkeit ohne Selbstironie. Nur wer sich selbst nicht ganz ernst nimmt, ist frei.

Die vielleicht wichtigste Freiheit ist die Freiheit von sich selbst. Man muss sich nicht nämlich nur von dem frei machen, wozu man gemacht wurde und noch wird, was einen also bestimmt und prägt, sondern auch von dem, was man sein will, und vom übertriebenen Interesse an sich selbst.

Kein Philosophieren beginnt bei Null. Aber nicht nur die Philosophie hat eine Geschichte, auch der Philosophierende.

Niemand hat das Philosophieren erfunden. Jeder muss sein Philosophieren selbst erfinden. Philosophie ist nicht notwendigerweise subjektivistisch oder individualistisch, aber notwendigerweise subjektiv und individuell.

„Die“ Philosophie gibt es nicht. Was es gibt, ist das Philosophieren von Philosophierenden.

Das Philosophieren eines Philosophierenden ist kein unausgesetzter Vorgang, sondern ein Stück- und Flickwerk aus Augenblicken des Denkens. Sie wird also keineswegs kontinuierlich, kohärent, homogen sein.

„Die“ Philosophie als das geordnete Ganze aller Denkbewegungen, gar als philosophia perennis, ist ein Phantasma, das Hirngespinst eines Großen Diskurses, der aber niemals konkret werden kann. Zu vielfältig und widersprüchlich ist jede ehrliche Philosophiegeschichte. Der einzelne Philosophierende oder die Institution mag einen solchen Diskurs simulieren, aber real werden kann er nicht.

Man philosophiert um seiner selbst willen. Alle Philosophen haben es getan, was ja gerade nicht heißt, ihr Philosophieren sei ohne jeden Wert für andere. Im Gegenteil, je ehrlicher, genauer und erfindungsreicher man sein Philosophieren als sein eigenes Philosophieren vollzieht, desto stärker kann die Anregung für andere Philosophierende sein.

Man philosophiert, um sich selbst zu erfinden, ob man das nun weiß oder nicht.

Denken ist persönlich und unvertretbar.

Die Philosophie unterscheidet sich als Universalwissenschaft auch dadurch von den Einzelwissenschaften, dass sie nicht stellvertretend betrieben werden kann. Es ist nicht nötig, dass einer selbst zum Chemiker oder Historiker wird, damit er die Erkenntnisse der Chemie oder der Geschichtswissenschaften nutzen kann. Um aber das, worum es in der Philosophie geht, verstehen zu können, muss man selbst philosophieren. Denn es gibt zwar gewiss „Resultate“ des fachphilosophischen Betriebes, die im Grunde nur diesen selbst betreffen und nur für Fachphilosophen relevant sind. Aber ansonsten hat die Philosophie als Wissenschaft keine Ergebnisse, die übernommen werden könnten, ohne dass man den Weg, der zu ihnen geführt hat, wenigstens ein Stück weit nachginge.

Philosophieren ist etwas, was man selbst tun muss, man kann es nicht delegieren. Wenn also Philosophie Not täte, wieso sind dann nicht alle Philosophen? Aber sie sind es ja! Freilich nicht alle im engeren Sinne, nur die wenigsten als Berufsphilosophen, aber doch jeder in dem Maße, in dem ihm Philosophie möglich ist und nötig erscheint.

Wer nur nachspricht, was er von anderen gehört zu haben meint, muss sich fragen lassen: „Wo lassen Sie denken?“

Niemand denkt, was ich denke, aber ich kann versuchen, die mir mitgeteilten Gedanken anderer zu verstehen und meine eigenen Gedanken mitzuteilen. Das von anderen Gedachte löst sich in meinem Denken auf und setzt sich neu zusammen. Ich habe es mir übersetzt; dabei ist es nicht dasselbe geblieben. Indem ich es mir aneigne (noch nicht unbedingt zu eigen mache), verändere ich es schon.

Man muss begreifen, dass man sich seine Begriffe stets selbst machen muss. Man wird zwar versuchen, einiges aufzugreifen, bekommt es dann aber doch anders zu fassen. Es gibt nicht zwei Denker, die ein und denselben Begriff genau gleich setzen, mit denselben Ausdrücken genau dasselbe sagen wollen.

Wer philosophiert, ersetzt nicht das eigene Denken durch einen „objektiven“, unpersönlichen Diskurs und ebenso wenig das Denken anderer. Nur wer als er selbst und damit auf andere hin denkt, philosophiert.

Niemand denkt für sich allein. Wo es nicht verkümmert und verwirrt ist, ist Denken immer, wenn auch meist nur implizit, ein An-Andere-Denken.

Zu philosophieren heißt gerade nicht, so zu denken, wie alle denken. Wie könnte es dann heißen, so zu denken, wie alle denken sollten?

Es liegt in der Natur der Sache, dass es mehr schlechtes, das heißt: ungenügendes, sich seiner Unterlassungen (oder Übergriffe), seiner blinden Flecke nicht bewusstes Philosophieren gibt als rundum gelingendes. Als notwendig individuelles und subjektives Tun ist die Philosophie fehlerhaft, wie es die Menschen sind, die sich ihr widmen.

Alles Unglück in der Philosophie rührt von der Überheblichkeit der Philosophen her, nicht von ihrer Unfähigkeit.

Philosophie kann sich nicht damit begnügen, herauszufinden, was sich von selbst versteht. Sie muss auch ergründen, warum etwas als selbstverständlich gilt und was das bedeutet.

Philosophie wird schwerlich zu einem besseren Leben verhelfen. Aber hoffentlich zu einem besser verstandenen.

Ich bin für eine Philosophie des ganzen Menschen, nicht nur des menschlichen Bewusstsein, gar nur des Körperdinges „Mensch“ mit Bewusstseinsfunktion. Der ganze Mensch soll es sein, von dem und zu dem die Philosophie spricht: der denkt und handelt, aber auch träumt, betet, lacht, weint, schwitzt, tanzt, blutet, taumelt usw. usf., der Mensch mit Vorurteilen, Ahnungen, Geschichten, Hoffnungen und Befürchtungen, Neigungen und Abneigungen.

II

Die entscheidende Frage lautet nicht: Was ist Philosophie? Oder: Was war Philosophie? Sondern: Was könnte Philosophie sein? Was will ich daraus machen und was hat das mit dem zu tun, was andere als Philosophie betreiben oder betrieben haben?

Philosophie ist nichts anderes als der (oft mit großem Aufwand betriebene) Versuch nachzuweisen, dass X nichts anderes als Y (oder vielmehr eben X) ist.

Man werfe einem Philosophen nie vor, was er sage, sei banal, trivial, tautologisch oder selbstverständlich. Denn genau darauf kommt es in der Philosophie an: nachzuweisen, was sich ohnehin von selbst versteht (oder verstehen sollte).

Das philosophische Wissen ist eines, dass man eigentlich schon hatte, nur wusste man das nicht. Oder vielmehr: Man wusste es, wusste aber nicht, dass man es wusste.

Philosophie hat es mit Selbstverständlichkeiten zu tun: Entweder will sie sie bekräftigen oder widerlegen oder beides.

Philosophieren besteht einerseits darin, sich selbst etwas verständlich zu machen. Es wird sich darum tunlichst (aber nicht notwendigerweise) mit dem Verständnis anderer — dem, was andere verstanden zu haben meinten — befassen. Es kann, soll oder will dieses aber vernünftigerweise nicht ersetzen (in dieser Hinsicht sind fast alle Philosophen unvernünftig), möchte es freilich gegebenenfalls berichtigen.

Philosophieren besteht zum anderen darin, etwas, was für verstanden, gar für selbstverständlich gehalten wird, mit Gründen als unverstanden, unverständlich oder zumindest nicht selbstverständlich zu erweisen.

Philosophie soll nicht die Welt erklären, sondern die Erklärungen der Welt kritisch betrachten.

Philosophie ist ein Versuch, die Welt zu verstehen, auf der Grundlage der Erfahrung, die Welt nicht verstanden zu haben. Mehr noch: auf der Grundlage der Entdeckung, dass andere die Welt auch nicht verstanden haben.

Zwei Tendenzen des Philosophierens: Selbstverständlichkeiten abbauen oder aufbauen.

Beides kann Philosophie sein: Das eigene Denken dazu benützen, das Denken anderer in Frage zu stellen. Das Denken anderer dazu benützen, das eigene Denken in Frage zu stellen.

Gegenstand der Philosophie ist nicht die Welt als solche, sondern die Verhältnisse der Menschen zu Welt. Nicht wie die Dinge sich verhalten, sondern wie Menschen sich zu sich, zu einander und zu den Dingen verhalten, ist Sache der Philosophie. Nämlich nicht als ein von außen zu betrachtendes Geschehen, sondern als gelebtes Verständnis. Sich zu jemandem oder etwas zu verhalten, begründet eine Weise des Verstehens — und umgekehrt. Davon handelt die Philosophie.

Was nützt mir das?, fragt der Nichtphilosoph bezüglich der Philosophie. Was ist Nützlichkeit und warum strebt man sie an?, fragt die Philosophie zurück.

Philosophie ist nichts, was man braucht. Philosophie ist etwas, das man will, wenn man bemerkt, dass es sie gibt.

Die Leute glauben, philosophische Fragen seien etwas Nachträgliches, Abstraktes, Lebensfernes. Das stimmt insofern als man im gelebten Leben nicht mit dem Philosophieren beginnt, sondern mit dem alltäglichen Besorgen. Man fragt: Welche Zutaten brauche ich, um diesen Kuchen zu backen, und habe ich sie alle zu Hause? Man fragt nicht: Was ist ein Kuchen? Was heißt Backen? Und sollte ich statt Kuchen zu backen nicht besser etwas anderes machen? Das ändert aber nichts daran, dass das scheinbar rein Pragmatische das Philosophische impliziert. Wer fragt, welche Zutaten er für einen Kuchen braucht, setzt voraus, dass von Kuchen und Zutaten sinnvoll die Rede ist, dass eine Kausalität von Zutat, Backen, Kuchen besteht. Usw.

Mir ist es nicht um allgemeine Prinzipien zu tun, unter die alles Besondere zu subsumieren wäre, sondern um die Besonderheit des Allgemeinen, um die grundsätzliche und Grund stiftende Einmaligkeit und Einzigartigkeit dessen, was ist.

Philosophie ist für mich Wissenschaft von den Gegebenheiten des Wirklichen als des Besonderen, Einmaligen, einzigartigen, Unwiederholbaren.

Philosophie soll, wie jede Wissenschaft, sagen, was ist. Aber anders als jede andere Wissenschaft (die Moraltheologie vielleicht ausgenommen) soll sie auch sagen, was sein soll; dann ist sie Ethik.

Vielleicht nenne ich „Philosophie“ etwas, was für andere gar nichts damit zu tun hat: sich sich gegen die Welt zu wehren, gegen das Vorgegebene anzudenken, gegen die beschränkenden und steuernden Ansichten.

Philosophieren als Andenken gegen die Welt. Nämlich die der vorgegebenen Gedanken und scheinbar undenkbaren Vorgaben.

Philosophie als Widerstand gegen eine vergesellschaftete Wirklichkeit: So sollst du denken, fühlen, sprechen, handeln. So ist es und nicht anders. Aber warum? Und warum nicht anders?

Philosophie als Abwehr einer vergeschichtlichten Wirklichkeit: So musste es kommen. Aber warum und was wäre sonst möglich gewesen?

Philosophie als Gesellschaftskritik: Was bedeutet es, so oder so zu denken, im Hinblick darauf, welche Verhaltensweisen und welche Beziehungen die gesellschaftlichen Verhältnisse erlauben, erzwingen, empfehlen, fordern usw.? Anders gesagt: Welches Denken unterwirft sich, welches ist widerspenstig und deckt Unterdrückung auf?

Denke gefährlich, denke widerständig! Das Gefährliche ist ja gerade nicht das Abenteuer, der Nervenkitzel, die eigene Erregung. Es ist die Erregung des Ärgernisses der anderen, die Kunst, ihnen auf die Nerven zu gehen.

III

Es ist die Eigenart der Philosophie, dass sie zuweilen keineswegs unter diesem Titel, also nicht als eine von anderen Tätigkeitsbereichen unterschiedene, selbständige Betätigung betrieben werden muss. Chemie, Mathematik, Historie, Theologie oder Betriebswirtschaftslehre usw. sind immer als sie selbst von anderem verschieden. Philosophische hingegen pflegt zu diffundieren, an unerwarteter oder ungehöriger Stelle aufzutauchen, sich zu verstecken oder zu maskieren, sich zu verlieren usw.

Sind Kenntnisse der Philosophiegeschichte (und zeitgenössischer Debatten) Selbstzweck oder dienen sie dem eigenständigen Philosophieren? Worin besteht ihr Dienst und ist er unentbehrlich? Kant wusste nichts von Wittgenstein, der Aquinate nichts von Kant und Aristoteles nichts vom Aquinaten. Sind die Früheren bloß „entschuldigt“, weil sie ungebildet sein mussten, oder sind sie durch eigene Leistungen völlig gerechtfertigt? Warum gilt das nicht für Heutige?

Philosophiegeschichte zu betreiben, bloß um fremdes Denken zu rekonstruieren, ist die Tätigkeit eines Archivars (oder Dermoplastikers). Als Philosoph beschäftigt man Philosophiegeschichte, um das eigene Denken zu prüfen, anzuregen und voranzubringen.

Philosophiegeschichte zu betreiben, ist kein Gang über einen Friedhof, sondern ein Besuch in einem Zoologischen Garten.

In Kenntnis der Geschichte der Philosophie zu philosophieren heißt, sich diese Geschichte zu eigen zu machen, was niemals vollständig geschehen kann und niemals „richtig“ (also ohne jede Auslassung oder Veränderung).

Die Geschichte der Philosophie ist eine Geschichte produktiver Missverständnisse. Und von unproduktiven.

Jede echte Aneignung des Philosophierens anderer ist im besten Fall dessen Neuerfindung. Und es wäre ja auch nichts langweiliger, als genau so zu denken, wie schon gedacht wurde.

Fast jeder Philosoph beansprucht, andere Philosophen besser zu verstehen als diese sich selbst. Ob er Recht hat, darüber befinden dann wieder andere.

Dass ist der Fortschritt der Philosophie: Dass sie weiterhin betrieben wird, obwohl schon fast alles gesagt ist. Aber jeder Philosophierende muss eben alle anderen Philosophierenden vor ihm und um ihn herum, die er zur Kenntnis nimmt, einigermaßen verarbeiten, um sein eigenes Philosophieren auszubreiten. Es ist wie das Spiel „Ich packe meinen Koffer“ …

Es ist unmöglich, hinter die bisherige Philosophie zurückzukehren. Es hat allerdings auch nicht viel Sinn, immer neue Philosophien zu produzieren. Man könnte aber versuchen, die real existierende Philosophie zu „verwinden“.

Die Philosophie funktioniert wie eine der Künste: Der Begriff des Fortschritts ist absurd, eine einmal gefundene Lösung ist nie endgültig, verliert aber auch nie an Wert. Kant macht Aristoteles nicht überflüssig und Rembrandt nicht Michelangelo. Man kann vergleichen, aber nicht das eine gegen das andere ins Recht oder Unrecht setzen. Nur sozusagen an vorderster Front, also in der jeweiligen Gegenwart mag es eine querelles des anciens et modernes geben, mag etwas „zeitgemäß“ oder „unzeitgemäß“ sein. Aber schon wenig später kann auch das, was als nicht mehr passend erschien, rückblickend als typischer Ausdruck seiner Zeit gelten.

Hat Sartre gegen Husserl Recht? Man könnte auch fragen, ob Picasso gegen van Gogh Recht hat. — In der Philosophie verhält es sich tatsächlich wie in den Künsten: Wer das, was er macht, gut macht, ist im Recht, ohne einen anderen notwendig ins Unrecht zu setzen. In den Künsten konkurrieren, geschichtlich betrachtet, die Lösungsvorschläge nicht miteinander (nur die Ideologeme).

Philosophie ist permanenter Revisionismus. Ein Philosoph, der auf sich hält, lässt nichts von dem gelten, was andere vor ihm gedacht haben, oder doch nur unter dem Vorbehalt, dass er seine Vorgänger besser versteht als diese sich selbst. Die Revision mag irgendwo in der Philosophiegeschichte einsetzen oder bis zum Ursprung zurückgehen sollen (oder gar vor diesen), sie mag die Parole einer Rückkehr ausgeben oder den ultimativen Fortschritt zur Devise haben, immer geht es darum, dass dieser Philosoph, der jetzt philosophiert, also „ich“, besser, richtiger, genauer, differenzierter, komplexer denkt als bisher gedacht wurde.

Man sagt, die Philosophie werde immer bedrängt, früher von der Theologie, heute von den Naturwissenschaften. Doch ist da eine wichtige Unterscheidung zu machen: Die Theologie wollte die Philosophie hinaufführen, die Naturwissenschaften wollen sie hinunterstoßen.

Für mich kann eine „Philosophie der Gegenwart“ nur eine solche sein, die ausdrücklich und nachdrücklich nicht „zeitgenössisch“ ist. Wer „zeitgenössisch“ denkt, denkt sehr wahrscheinlich zeitgeistig.

Seine Gedankengänge durch Weglassungen, Sprünge, Andeutungen zu verrätseln und durch bewusst undeutlichen und abweisenden Wortgebrauch zu verdunkeln und zu erschweren, ist schlechter Stil.

Man denkt, um zu verstehen, also soll die Mitteilung von Gedachtem auf Verständlichkeit aus sein. Wer nicht verstanden werden will, philosophiert nicht.

Schwieriges zu vereinfachen, statt Einfaches schwierig erscheinen zu lassen, hätte der handwerkliche Anspruch der Philosophen zu sein.

Zu philosophieren ist, wo es nicht bloßes Selbstgespräch sein will, ein Angebot an andere mitzuphilosophieren. Entsprechend offen und zugänglich muss es sich darstellen.

Wie es Schmierenkomödianten gibt, so gibt es Schmierenphilosophen. Sie finden zwar ihre Bühne und ihr Publikum und geben eine abgeschmackte Vorstellung, aber ihr Philosophieren ist ohne Niveau und nur ein Abklatsch echter Kunst des Denkens.

Ein Philosoph, der vom Ungenügen seines Philosophierens nichts weiß und nicht einmal davon ahnt, mag so erfolgreich sein, wie die Leute wollen, er ist doch ein Narr.

Eine strenge Kunst ist Philosophie dann, wenn sie sich ihrer Mittel bewusst ist und einen gelungenen Gebrauch von ihnen macht. In Rede und Schrift ist das Philosophieren so zu veranstalten, dass es zugänglich und fasslich bleibt. Schwierigkeiten des Denkens erfordert eine leichte Sprache. Keineswegs aber ist durch sprachliche Mätzchen Komplexität und Tiefe vorzutäuschen.

IV

Es hilft nichts: Womit das Denken auch anfangen will, es gibt immer etwas, was dem voraus liegt. Einen „reinen Ursprung“ zu denken, ist unmöglich. Die Voraussetzungshaftigkeit des Denkens ist Bedingung seiner Möglichkeit: Wenn dem Denken nichts vorausginge, hätte es keinen Gegenstand, es fände also nicht statt. Selbst um das Denken reflektieren zu können, muss man bereits gedacht haben.

Voraussetzungslosigkeit ist keine Voraussetzung von Philosophie, im Gegenteil. Kritisches Denken will Voraussetzungen erkennen, befragen, beurteilen. Und nicht so tun, als wären keine Voraussetzungen da.

Woher weiß der Philosophierende, dass das stimmt, was er sagt? Er kann nicht einfach irgendeine Meinung verkünden, er muss sie begründen. Er bedarf des Belegs oder gar des Beweises. Wenn er nur an die (impliziten) Vorurteile und (mutmaßlichen) Empfindungen anderer appelliert, treibt er nicht Philosophie.

Das bloße Gefühl, dass etwas stimmt, ist kein Argument, sondern im Gegenteil etwas, was der Analyse und argumentativen Diskussion bedürftig ist.

Der Philosoph tut als Philosoph im Wesentlichen nicht anderes als jeder andere Mensch: Er denkt nach. Nur tut er es, hoffentlich, methodischer, instruierter und zusammenhängender.

Die Philosophie hat keinen besonderen Gegenstand. Alles, was in der Philosophie zum Thema werden kann, kann auch in einer anderen Wissenschaft zum Thema werden. Nicht mit ihren Objekten, wohl aber mit ihren Methoden unterscheidet sich die Philosophie von allen anderen Wissenschaften.

Nicht einmal die Philosophie ist ein Thema, das nur Gegenstand der Philosophie wäre, denn sie kann ja auch historisch, soziologisch, literaturwissenschaftlich usw. betrachtet werden.

Die Arbeit des Philosophen besteht ebenso wenig darin, Begriffe zu erfinden oder zu verändern, wie die Arbeit des Malers darin besteht, Farben anzurühren. Der Maler braucht zwar die Farben, aber erst, indem er sie aufträgt, malt er.

Wer sich mit dem Denken eines anderen befasst, muss es in sein eigenes übersetzen; wie einen Text aus einer Sprache in eine andere. Erst wenn es gelingt, die Begriffe, die ein anderer verwendet, durch eigene Begriffe zu ersetzen, kann sein Denken als verstanden gelten. Zugleich beruhen Missverständnisse selbstverständlich oft auf fehlerhafter Ersetzung von Begriffen. Verstehen und Missverstehen sind eben zwei unterschiedene Ergebnisse derselben Vollzüge.

Es geht nicht darum, dass man nicht voreingenommen sein darf, sondern darum, die (eigene und fremde) Voreingenommenheit zu erkennen, zu verstehen und zu kritisieren.

Ohne Vorurteile und Voreingenommenheiten ist gar kein Denken möglich; es kann ja nicht mit nichts beginnen. Voreingenommenheiten sind das Material der Philosophie.

Je mehr sich jemand von allen Vorurteilen befreit glaubt, desto stärker springen die Vorurteile ins Auge, von denen er sich nachweislich nicht befreit hat.

Das Ideal der Vorurteilslosigkeit ist schädlicher (nämlich verdunkelnder) als die Bereitschaft, die eigenen Vorurteile zu akzeptieren, sie aber auch verstehen und kritisieren zu wollen.

Keine Lebensfähigkeit und also auch keine Denkfähigkeit ohne Voraussetzungen, Vorannahmen und Vorurteile. Es gibt im Leben und im Denken keinen Anfang bei Null, die tabula rasa ist der Tod.

Es kommt nicht darauf an, ob man Vorurteile hat oder nicht (denn man hat unweigerlich welche), sondern darauf, was die Wirkung dieses oder jenes bestimmten Vorurteils ist.

Wenn, wie es zuweilen heißt, beim Philosophieren darum geht, alles in Frage zu stellen, so müsste doch auch dies in Frage gestellt werden.

Diskussionen sind mir wichtiger als Positionen. (Ich diskutierte auch mit Neonazis, wenn sich mit ihnen diskutieren ließe.) Positionen sind für mich Funktionen von Diskussionen, nicht umgekehrt Diskussionen ein Ergebnis des Konfliktes von Positionen.

Das Übel beginnt, wenn man nicht mehr miteinander reden will oder kann. Das Glück begänne vielleicht, wenn man nicht mehr miteinander zu reden brauchte.

Systematischer Größenwahn, methodische Bescheidenheit: Das wäre ein philosophisches Programm. In der Sache kann der Philosophierende nicht wirklich bescheiden sein, denn es geht ihm, auch wo er sich mit Detailfragen befasst, ums Große Ganze. Um so wichtiger wäre es, in den Weisen der Darstellung, des Urteils, der Mitteilung, der Diskussion bescheiden zu sein.

Das Zitat ersetzt in der Philosophie (und den ihr benachbarten Kulturwissenschaften) die Empirie. Fußnoten und Literaturverzeichnis sind ihr, was anderen Wissenschaften Experiment, Laboratoriumsarbeit, Feldforschung, Umfrage, Studie und Metastudie sind; Verbürgungen von Wirklichkeit und auffindbarer Wahrheit.

In der akademischen Philosophie ist es verpönt zu sagen, etwas sei so und so. Vielmehr zitiert man Aristoteles oder Kant oder Foucault sowie die aktuelle Literatur dazu, setzt das Zitierte mit anderen Zitaten in Beziehung, und allenfalls der Vergleich, die „Diskussion“, darf als eigenständiger Beitrag erbracht werden. Selbstdenken ist unfein und betriebsfremd. Es gilt die Autorität der „einschlägigen Literatur“ und „Debatte“.

Wenn Philosophie Wissenschaft ist, ist sie Kunst.

Man muss die völlig falsche Auffassung zurückweisen, dass der Intellekt etwas Kaltes sein müsse, und ihr die brennende Leidenschaft des Denkens entgegenhalten.

Philosophen haben es mit dem Greifbaren zu tun, Literaten und Naturwissenschaftler mit dem bloß Ausgedachten. Denn jene verlangt es nach dem Begreifen der Greifbarkeit selbst, diese aber konstruieren nur Begriffe.

Philosophieren heißt für mich im Grunde: Vorschläge zu machen, wie die Welt zu verbessern ist. Nämlich zunächst besser zu verstehen, wie sie verstanden wurde und wird, um dann zu beurteilen und verständlich zu machen, ob es in ihr und mit ihr nicht bessere Weisen des Denkens und damit letztlich auch des Umgangs und des Zusammenlebens gäbe.

V

Dass der Ausdruck „Metaphysik“ allzu spezifisch aristotelisch ist (platonisch wäre „Ideologie“), kann nicht verwundern. Erst damals, als Philosophie endgültig auch „Physik“ und anderes war, musste die „Erste Philosophie“ als ein gesonderter Bereich des Denkens gesondert bezeichnet werden — und wurde es mit einem recht hilflosen Ausdruck. Der freilich seine eigene Schönheit hat.

Die Metaphysik nicht verabschieden, sondern vorantreiben, zur avancierten Wissenschaft machen!

Es gibt Erfahrungen, die anders sind, als die der sinnlichen Wahrnehmung oder der Vorstellung. Auch diese Erfahrungen sind wirklich. Es mag dabei Täuschungen geben, aber die gibt es bei der Sinneserfahrung auch.

Warum aus dem Bereich möglicher und tatsächlicher Erfahrungen ausgerechnet die metaphysischen ausschließen? Nur dumpfe Gemüter ahnen nicht einmal, dass das Handgreifliche nicht alles ist. Die feinsinnigen wissen es. Die Erfahrungen des Denkens, die Sinnerfahrungen, die Erfahrung des Übersteigens des Endlichen sind nicht weniger wirklich, weil sie nicht messbar und berechenbar sind. Was ist der Zweck eines solchen Ausschlusses? Wie wird davon das menschliche Erkenntnis- und Handlungsvermögen beschränkt?

Es ist unmöglich, nicht Metaphysik zu treiben, zumindest implizite und unbewusste.

Wer etwas sagt, betritt damit das Feld der Metaphysik.

„Realität“ ist ein metaphysischer Begriff, in nicht-metaphysischer Rede hat das Wort keinen Sinn. Wer also „Realist“ sein will, muss Metaphysik treiben.