21,99 €
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 190
Veröffentlichungsjahr: 2020
Im Islam zu philosophieren, bedeutet, die von der muslimischen Tradition überlieferten Texte den Ansprüchen der Vernunft auszusetzen. Das muslimische kulturelle Universum hat seit Avicenna, Averroes und Ghazali nicht aufgehört, diesen anspruchsvollen Dialog zwischen dem offenbarten Wort und einer Vernunft zu führen, die zu freier Interpretation aufruft.
In einer Zeit, in der überall die Versuchung der Verschließung und Absonderung lockt und die Gefahren von Kulturkonflikten wachsen, spricht dieses Werk deutlich die Einladung aus, an die alte Tradition des Austauschs anzuknüpfen und die Arbeit an den Fragen unserer Gegenwart damit zu befruchten. Eine Lehre der Vernunft und der Hoffnung.
Souleymane Bachir Diagne, 1955 im senegalesischen Saint-Louis geboren, ist Professor für Französisch und Philosophie an der Columbia University in New York.
Aus dem Französischen vonRichard Steurer-Boulard
Passagen Themaherausgegeben vonPeter Engelmann
Deutsche Erstausgabe
Titel der Originalausgabe: Comment philosopher en islam?Aus dem Französischen von Richard Steurer-Boulard
Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-7092-5034-1
ISBN 978-3-7092-0427-6
© 2014 by Éditions Jimsaan
This edition is published by arrangement with Éditions Philippe Rey in conjunction with its duly appointed agents L’Autre agence, Paris, France. All rights reserved.
© der dt. Ausgabe 2021 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
Grafisches Konzept: Gregor Eichinger
Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
http://www.passagen.at
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Vorwort zur französischen Ausgabe
Einleitung: Dialoge
1. Ist es möglich, nicht zu philosophieren?
2. Wie eine Sprache philosophisch wird
3. Was bedeutet es für eine Philosophie, islamisch zu sein?
4. Gegen die Philosophie?
5. Eine Lektion in ökologischer Philosophie
6. Die Pflicht zu philosophieren
7. Das Bedürfnis nach Philosophie
8. Philosophie der Reform
9. Die Philosophie der Bewegung
Schluss: Pluralismus
Danksagung
Anmerkungen
Für Maïmouna und Elsa
Im Jahr 2008 wurde dieses Buch zum ersten Mal veröffentlicht. Der Titel warf die Frage auf, welche Bedeutung man einem „Philosophieren im Islam“ geben könne. Die Entscheidung für diese Formulierung drückte den Wunsch aus, nicht nur zu den ausgezeichneten bestehenden „Geschichten der islamischen Philosophie“ ein paar Kapitel hinzuzufügen, sondern mittels der hier diskutierten Persönlichkeiten und Texte zwei Zielen näherzukommen, die mir heute besonders wichtig erscheinen: erstens der Entkolonialisierung der Philosophiegeschichte und ihrer Lehre; zweitens, daran zu erinnern, dass der Islam vor allem eine intellektuelle und geistige Tradition darstellt, die auch in unserer Zeit offen ist für die Diskussion der Probleme, mit denen wir weltweit konfrontiert sind.
Was bedeutet es also, die Philosophiegeschichte zu entkolonialisieren, und inwiefern trägt Philosophieren im Islam zu dieser Entkolonialisierung bei? Man kennt den mittelalterlichen lateinischen Ausdruck der translatio studii (oder im Plural: studiorum), der verwendet wurde, um von der Vermittlung des philosophischen Wissens Griechenlands zu sprechen. Die Lehre der Philosophiegeschichte, so wie sie im Abendland und in der Welt, die seinem Einfluss unterliegt, kanonisiert wurde, hat dieser Übertragung die Bedeutung des kontinuierlichen und in bloß in eine Richtung verlaufenden Wegs gegeben. Dieser Weg habe von Athen nach Rom und von Rom zu den anderen großen europäischen Universitätsstädten, nach Heidelberg, Paris und London geführt. Die translatio bleibt somit eine ausschließlich europäische Angelegenheit und die Philosophie kann nur das besondere telos dessen sein, was Edmund Husserl die „europäische Menschheit“ genannt hat.
Das ist jedoch nicht die Definition, die Roger Bacon (1214–1294) von diesem Schlüsselbegriff des Mittelalters gegeben hat, als er erklärte, dass Gott die Philosophie zuerst seinen „Heiligen“ in hebräischer Sprache gegeben habe, dass sie danach in griechischer Sprache, vornehmlich von Aristoteles, erneuert worden sei, bevor das abermals in arabischer Sprache, vor allem durch Avicenna, geschehen ist. Und hinsichtlich des Lateinischen fügt er hinzu, dass es Übersetzungen ausgehend von Fremdsprachen erhalten hat, aber dass in dieser Sprache keine Philosophie „gebildet“ worden ist.1
Der erste Akt der Entkolonialisierung der Philosophiegeschichte besteht also darin, die Wirklichkeit der translatio studii, von der Bacon spricht, der späteren Erzählung entgegenzusetzen, die sie als Ausdruck einer Ausnahmestellung Europas konstruiert. Die Wirklichkeit besteht darin, dass die Weitergabe Wege eingeschlagen hat, die sie von Athen nach Nischapur, Cordoba, Fez und Timbuktu, ins Herz von Westafrika geführt hat. Diese Wirklichkeit sagt auch, dass die Philosophie nicht natürlicherweise, wesentlich oder notwendigerweise Griechisch, Lateinisch, Deutsch oder irgendeine andere Sprache Europas spricht: Sie spricht auch Arabisch und andere Sprachen der moslemischen Welt. In diesem Buch findet sich auch ein Kapitel über die Frage des Philosophisch-Werdens einer Sprache durch die translatio. Es wird darin die Geschichte der Übersetzung der griechischen Philosophie diskutiert, aber mehr noch die moderne Frage, wie viel die philosophischen Kategorien, für so universell man sie auch halten mag, den Kategorien unserer Sprachen verdanken.
Ich wollte, dass dieses Buch auch mit einem Kapitel endet, das eine malinesische Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts präsentiert, nämlich Tierno Bikar Salif Tall, genannt „der Weise von Bandiagara“. Dieses Kapitel verfolgt mehrere Ziele. Ein erstes Ziel besteht darin, daran zu erinnern, dass der Weg der translatio studii durch Nordafrika auch ins Herz von Westafrika führt, in die Zentren der Gelehrsamkeit und Bibliotheken, deren bedeutendstes Timbuktu ist, die kulturelle Hauptstadt der Reiche von Mali und Songhay. Dass die Sahara also keine Mauer ist, die zwei afrikanische Welten trennt, den Maghreb und das, was Hegel „das eigentliche Afrika“ nannte, als er in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie von diesem Kontinent sprach. Der „Weise von Bandiagara“ im Zwanzigsten Jahrhundert ist also hier ein Zeuge für eine intellektuelle und spirituelle Tradition, die mit der Islamisierung Westafrikas entstand und die also zumindest bis ins 10. Jahrhundert zurückreicht. Gegen einen bestimmten Ethnozentrismus innerhalb der muslimischen Welt, der Afrika südlich der Sahara, was seinen intellektuellen und spirituellen Beitrag zur islamischen Zivilisation betrifft, für eine Randregion hält, versucht dieses Kapitel auch daran zu erinnern, dass man die Geschichte des philosophischen Denkens ebenso gegen einen solchen Ethnozentrismus verteidigen und entkolonialisieren muss. Schließlich war ein wesentliches Ziel dieses Kapitels natürlich, die für unsere Zeit wichtige Lehre des Pluralismus und der Toleranz zu beleuchten, die die Lehre des „Weisen von Bandiagara“ trägt, die ich am Ende die Weisheit der Liebe genannt habe.
Das führt mich zur zweiten großen Zielsetzung dieses Werks, das sich aus den Vorlesungen über Islamische Philosophie speist, die ich an den Universitäten von Dakar und der Northwestern University gehalten habe und heute an der Columbia University noch immer halte. Es ist wichtig, die Philosophie in der muslimischen Welt als einen Moment und einen Aspekt der Philosophiegeschichte zu lehren, weil es in unserer weitgehend über die Geopolitik des Islamismus gespaltenen Welt notwendig ist, daran zu erinnern, dass der Islam eine intellektuelle und spirituelle Tradition darstellt; dass philosophieren auch in dieser Tradition heißt zu zweifeln, zu untersuchen, in Frage zu stellen, zu argumentieren und zu interpretieren. Das macht aus dem Denken im Islam das, was Henri Bergson eine dynamische Religion genannt hat, die eine offene Gesellschaft beständig beseelen muss. Das ist das Projekt von Muhammad Iqbal, einem modernistischen Autor, dessen Philosophie über das Kapitel, das sich ihm hier widmet, hinaus diesem Buch den allgemeinen Tonfall und die grundsätzliche Orientierung verleiht.
Dies ist die dritte Ausgabe des Buches Comment philosopher en Islam?. Es wird letztlich in drei verschiedenen Verlagen erschienen sein, zuerst bei Panama in der Reihe „Cyclo“ unter der Leitung von Roger-Pol Droit, dann bei Phoenix und heute beim Verlag Jimsaan, der von Felwine Sarr, Boubacar Boris Diop und Nafissatou Dia Diouf ins Leben gerufen wurde.
Ursprünglich hat mich der Philosoph Roger-Pol Droit dazu überredet, einen Text zu schreiben, der in großen Zügen die Philosophie im Islam darstellen soll. Warum diese fragende, problematisierende Wendung – „wie philosophiert man . . . ?“ – bei einer einfachen Darstellung einiger Philosophen der muslimischen Welt? Bedeutete das nicht, so fragten mich einige Leser, die ich getroffen habe oder die mir geschrieben haben, der Skepsis eine übermäßige Bedeutung beizumessen, die bei manchen die Verbindung der Wörter „Islam“ und „Philosophie“ hervorruft? Würde dadurch nicht die Möglichkeit suggeriert, eine Religion, die nach Auffassung dieser Leser einen blinden und unvernünftigen Glauben darstellt, könne sich ihrerseits auf das Infragestellen, Zweifeln und Nachforschen gründen, die das Vorgehen der Kritik und damit die Philosophie selbst ausmachen?
Die Frageform war das Markenzeichen der Buchreihe; aber die eigentliche Antwort kann nicht in dieser Erklärung liegen. Die Frage Wie philosophiert man im Islam? war und ist Ausdruck der Feindseligkeit einiger muslimischer „Denker“ gegenüber einer Disziplin und Methode, die sie für nutzlos und zersetzend halten, wenn es darum geht, in gutem Einvernehmen mit dem zu stehen, was die Religion von uns zu denken, zu glauben und zu tun verlangt. Sobald die islamische Welt mit der „Liebe zur Weisheit“ der Griechen in Berührung kam, traten Hüter des „islamischen Wissens“ auf den Plan, um ein absolutes Misstrauen gegenüber einer „Weisheit“ zu fordern, die keine Weisheit sein könne, sofern sie nicht aus einer Offenbarung stamme und die daher diejenigen nichts lehren könne, die ihr Wissen allein aus der Offenbarung zu beziehen haben.
Ghazali (gestorben 1111) attackierte bekanntlich die Philosophen und beschuldigte ihre Vernünfteleien, zu ketzerischen Thesen zu führen, während er sich gleichzeitig – gegen andere Sekten und Interpretationen des Islam – für das Sunnitentum und die Aschariya einsetzte. Aber derselbe Ghazali offenbart sich in der erstpersonalen Erzählung seiner Suche nach Gewissheit und seiner Errettung aus dem Irrtum als ein moderner Philosoph, der zeigt, wie die Mystik an der Spitze des Rationalismus gedeiht. Und in seiner Reflexion über die Koranverse und die Traditionen, die Gott als Licht darstellen, erklärt er, dass der Pluralismus (der kein Relativismus ist) notwendig sei, da die Wahrheit sich in vielfachen Erscheinungen bricht. Der Philosoph Averroes, der auf seine Angriffe reagierte, nahm im Übrigen die Ausfälle des ascharitischen Theologen gegen diejenigen, die in der Offenheit für die Weisheit und die Wissenschaften der Griechen gedacht haben, nie ernst: „Abu Hamid [Ghazali] bleibt einer von uns“, sagt er im Namen der Philosophen.
Bekanntlich hat das Denken Ibn Taimiyas auf all diejenigen Einfluss ausgeübt, die mit ihm in einem Aufwasch Schiiten, Philosophen oder Sufis verdammen. Selbst Ghazali entgeht nicht dem Anathema, vom gestrengen Gesetzesgelehrten unter die „sogenannten Philosophen“ und/oder „sogenannten Sufis“ gereiht zu werden.2 Es ist nicht uninteressant festzustellen, dass er gerade als Autor der Kostbaren Perle im Wissen des Jenseits verurteilt wird, eines Buches, das die gemeinsame Sprache der Philosophen und der Mystiker spricht.
Unserer Gegenwart näher behauptete Sayyid Qutb, die Dichtung des indischen Denkers Mohamed Iqbal zu lieben, lehnte es aber ab, sich auf dessen Philosophie einzulassen, so wie sie in Iqbals Prosa dargelegt ist, durch die sich seine Dichtung doch erhellen lässt. Man erkennt leicht, weshalb: Verse kann man sagen lassen, was man zu hören wünscht, um leichter die Aufgabe ignorieren zu können, zu der Iqbal einlädt, nämlich mit den Philosophen, auch wenn sie keine Muslime sind, wie Henri Bergson, die Bedingungen einer „Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam“ zu denken.
Wer sich weigert, als Philosoph und mit den Philosophen zu denken, glaubt damit zu behaupten, dass der Islam sich selbst genüge, dass er selbst seine eigene Philosophie sei. Wer würde das Gegenteil behaupten? Diese Behauptung ist nämlich schlicht und einfach eine Tautologie, wenn man unter „Philosophie des Islam“ die Lehren, Rituale, Dogmen und Vorschriften der Religion versteht. Doch diese „Philosophie“, als Wahrheit der Religion, dem Irrtum der „fremden“ Wissenschaften und dem entgegenzusetzen, was einst Al Farabi, Avicenna oder Averroes im Dialog mit den Weisheiten Griechenlands und anderer Länder, heute Iqbal im Gespräch mit Bergson und andere nach ihm gedacht und geschrieben haben, hat keinen Sinn. Dieser Unsinn hat jedoch verheerende Auswirkungen, die wir in der heutigen Welt feststellen, wenn Bewegungen sich darauf stützen, muslimischen Mädchen oder Muslime im Allgemeinen mittels Mord das Recht auf Bildung (die sie absurderweise als „westlich“ bezeichnen) zu verweigern. Deshalb muss man für die Philosophie kämpfen. Dieser Kampf war immer und ist weiterhin der Kampf für das Licht der Erziehung gegen den Geist der Verschlossenheit und gegen den Fanatismus, zu dem Letztere führt. Erziehen – die Etymologie des Wortes macht das deutlich – bedeutet, aus der Selbstverschlossenheit auszuziehen, im Namen der Pflicht, sich selbst zu erkennen, um besser zu sich zurückzukehren. Der Befehl des Propheten, sich auf die Suche nach dem Wissen zu begeben, „und sei es bis nach China“, bedeutete nichts anderes. Zu sich zurückkehren, sich verbessern, das heißt seine Bewegung wiederaufnehmen: Darin steckt die Aufgabe der Wiederbelebung, zu der Iqbal aufruft. Und jene, die in diesem Buch dem Philosophieren im Islam Gestalt verleihen, machen auf unterschiedliche Weisen diese Aufgabe deutlich.
New York, den 3. November 2013
„Philosophieren im Islam“ und nicht „islamische Philosophie“, selbst wenn „islamische Philosophie“ die übliche Bezeichnung in der Nomenklatur der universitären Lehre und der unterschiedlichen „Geschichten der islamischen Philosophie“ ist. Ich habe sie selbst unter anderem unterrichtet und weiß aus Erfahrung, zu welchen Missverständnissen dieser Ausdruck führen kann.
Manchmal erwartet man von dieser Bezeichnung, dass sie erklärt, welche Philosophie aus dem Islam „hervorgeht“, gleichsam als Quintessenz der Blüte. Im Islam philosophieren heißt im Gegenteil, im Universum der muslimischen Kultur den Dialog fortzusetzen, in dem die Philosophie beständig und von Rechts wegen überall entsteht. Eine Form des Dialogs ist die Übersetzung von Texten, insofern die Übersetzung immer Veränderungen und Hybridisierungen in die Sprache, die die Texte empfängt, einführt. Das Philosophieren im Islam ist somit zuerst durch die Übersetzung griechischer Werke ins Arabische und durch den Austausch entstanden, zu dem die Gedanken, die diese Werke ausdrücken, geführt haben. Man hat also, um nur ein Beispiel zu nennen, der Theologie des Aristoteles eine entscheidende Rolle zugeschrieben. Später stellte sich heraus, dass sie von Plotin stammt, denn tatsächlich handelt es sich um die ersten Bücher der Enneaden.
Dialoge also mit Plotin, Platon, Aristoteles, heute mit Nietzsche, Bergson und anderen … Die Kapitel, die man lesen wird, stellen mehrere Dialoge dar, von denen manche im Traum stattfanden, andere waren Konfrontationen oder sogar richtige Gefechte. Sie sagen uns vor allem, dass die Philosophie im Islam nicht durch die Selbstverschlossenheit eines geistigen Universums gekennzeichnet ist, das abseits jenes Abenteuers stünde, das man als „westlich“ nur dann definieren kann, wenn man es von allem abschneidet, was nicht aus dem „Westen“ stammt und von dem es doch auch zehrt.
Dialoge auch deshalb, weil die Philosophie nicht „hervorgeht“, kein natürlicher Ausdruck weder einer Kultur noch einer Religion ist. Sie ist jenes oft lebhafte Gespräch, in dem Personen begriffen sind, die wissen, was freies Denken bedeutet und wert ist, und dies verlangt, sich von den unmittelbaren Bedeutungen frei zu machen, in denen uns die Kulturen und Religionen einschließen. Diese Personen tauschen sich also jenseits der Zeiten und Zugehörigkeiten aus: Die Gesellschaft der Philosophen weitet sich immer mehr aus.
Was bedeutet es für diese Dialoge, sich „im Islam“ zu verorten, das heißt von Gegenständen, Texten und Erzählungen zu sprechen, die Teil der muslimischen Tradition sind? Anders gesagt, handelt es sich noch um Philosophie, wenn man damit beginnt, den Gott des Monotheismus zu setzen, d. h. mit einer Offenbarung, die von ihm stammt und die man akzeptiert, und mit einer Menge an Glaubensinhalten, die sich aus dieser Akzeptanz ergeben? So wie der Heilige Augustinus oder Thomas von Aquin Philosophen und Christen sind, sind Avicenna, Averroes und andere, um die es auf den folgenden Seiten gehen wird, Philosophen und Muslime. Dass das nicht ohne Probleme vor sich geht, ist gewiss, doch im Islam philosophieren heißt, wie man sehen wird, gerade über die Texte und Erzählungen, die durch die Tradition gegeben sind, der Vernunft gemäß sprechen zu wollen, das heißt über sie zu sprechen, ohne sie jemals den Anforderungen der Verständlichkeit und der Mitteilbarkeit zu entziehen, die den philosophischen Dialog leiten. Dieser Wille beruht selbst wiederum auf der Überzeugung, dass es eine menschliche Weisheit gibt, die in höchstem Maße abseits jeglicher Offenbarung durch den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs bei göttlichen Personen – göttlich in dem Sinne, in dem man beispielsweise vom „göttlichen“ Platon spricht – gestrahlt hat, und dass diese Weisheit helfen muss, die Wahrheit der religiösen Bedeutungen philosophisch zu konstruieren.
Es kommt vor, dass die Missverständnisse im Hinblick auf die Bedeutung des Ausdrucks „Philosophieren im Islam“ bei denjenigen zur Ablehnung führen, die meinen, dass dieses Philosophieren zahlreichen „Ungläubigen“ (infidèles) einen zu großen Platz einräumt. Glücklicherweise kommt es öfter vor, dass man darin die Einladung sieht, sich zu fragen, was Treue (fidelité) ist, wem und in welchem Sinn man jemandem oder einer Sache die Treue halten kann; Treue ist nicht Versteifung gegen die Zeit und gegen den Unterschied, weit gefehlt, sie ist im Gegenteil Bewegung und Pluralismus. Auf den folgenden Seiten wird dieser Einladung forschend nachgegangen.
Im Jahr 632 unseres Zeitalters stirbt Mohammed in Medina. Er wurde zweiundsechzig Jahre alt. Mit vierzig Jahren, im Jahr 610, wurde er zum Propheten, als er mit seiner Mission, den Glauben an einen einzigen Gott zu verbreiten, erklärte, dass er der Träger einer Botschaft sei, Träger des ihm offenbarten Korans, des Wortes Gottes selbst. Aus diesem Wort ist trotz der Verfolgungen, der Verbannung, des erzwungenen Exils und der Versuche, ihn militärisch zu vernichten, eine Religion entstanden, der Islam, der darauf abzielte, die alten Stammesverbindungen aufzulösen und stattdessen eine Gemeinschaft zu errichten, die auf radikal anderen Regeln des individuellen und kollektiven Lebens gründet als das bisher Dagewesene. Der Koran wurde als Inspiration verstanden, aus der diese Gemeinschaft entstand und sich entwickelte. Doch das von Mohammed offenbarte Wort, in dem Gott sagt, wer er ist und welche Bedeutung seine Schöpfung hat, welchen Ursprung und Zweck der Mensch hat, bildet keine Abhandlung über das Regieren oder ein Rechtssystem. Man braucht übrigens nur einen Blick auf die Gestalt des Korantextes zu werfen – der 6236 Verse enthält (oder 6219, je nach Aufteilung), die unterschiedliche Themen behandeln, die wiederum nach ihrem Umfang in 114 Kapitel unterteilt sind, die nach dem Tod des Propheten von seinen engsten Vertrauten zusammengestellt wurden –, um sich davon zu überzeugen, dass man in diesen Versen, bei denen man von einer Erzählung zu einer Ermahnung, von einer Gesetzgebung zu mystischen Vergleichen übergeht, weder eine Abhandlung noch ein System finden kann. Dazu kommt, dass der Korantext, der sehr oft über sich selbst spricht, darauf hindeutet, dass manche seiner Stellen nichts Explizites haben für diejenigen, die sich an ihre bloß buchstäbliche Bedeutung halten wollen, sondern da sind, um diejenigen zum Denken zu bringen, die nachdenken können.
Mohammed brachte prophetische Klarheit in die Fragen, die entstehen konnten, solange er im Kreise seiner Gefährten lebte, die er selbst ausbildete, an der Spitze jener ersten muslimischen Gemeinschaft, deren Anführer er dreiundzwanzig Jahre lang war, in denen die Offenbarung sich in Versen enthüllte, die oft den Umständen geschuldet waren, um ihre Bedeutung zu erhellen, aber auch über sie hinaus gingen. „Wie soll man diese Koranstelle verstehen?“, fragte ein Gefährte. Mohammed machte es deutlich. Was soll man in dieser Situation tun? Er antwortete. Aber er hatte verboten, ihm Probleme reiner Spekulation vorzulegen, sich Situationen in einer Kasuistik auszudenken und zu fabrizieren, die sich selbst zum Gegenstand nimmt und somit von der Bewegung des Lebens löst, das allein die wirklichen Fragen aufwirft. Der Sinn dieses Verbotes ist klar: Man muss die Zukunft offen lassen und darf nicht versuchen, sich Möglichkeiten nur deshalb auszumalen, um sie zu erschöpfen und somit zu verschließen.
Der Tod des Propheten bedeutete gerade die beängstigende Erfahrung dieser Offenheit. Es blieben zwar seine Deklarationen, die manche gesammelt hatten, und die Taten, die er unter vielen Umständen gesetzt hatte; all das bildete seine Tradition, seinen Brauch: seine Sunna, wie der Araber sagt. Wenn man eine Entscheidung, eine Interpretation, eine Meinung bestätigen konnte, indem man auf einen Ausspruch des Propheten (Hadith) zurückgriff, war es, als habe dieser selbst gesprochen. Doch es musste auch einen Ausspruch geben, der auf den in Frage stehenden Fall anwendbar war, und dieser Hadith musste auch authentisch sein. (Als später die Wissenschaft der Traditionen, der Hadithe sich ausbildete, waren die Fragen, für die man Antworten finden musste, um zu entscheiden, ob ein Hadith gut etabliert sei oder nicht, von folgender Art: Welche mündliche Überlieferungskette besteht für diesen Hadith? Ist sie glaubwürdig? Bis zu welchem Punkt?) Und wenn es keinen Hadith gab? Und wenn mehrere Aussprüche, die auf den fraglichen Fall angewandt werden können, in unterschiedliche Richtungen führten? Der Botschaft des Propheten treu zu bleiben, indem man seine Sunna, seinen Brauch weiterführt und somit jede Erneuerung vermeidet, die eine Abweichung von dem Weg darstellt, den er vorgezeichnet hatte, war natürlich das, was es zu tun galt. Doch wenn das Leben selbst ohne Unterlass in Erneuerung begriffen war, wie galt es, diese Treue zu verstehen? Was verlangte sie unter den ständig sich erneuernden Umständen, die die Bewegung des Lebens mit sich bringt?
Der Prophet war noch nicht begraben, als die fürchterliche Erfahrung der Optionen, die sein Tod offenhielt, sich der Gemeinschaft, die er um den Koran und seine eigene Person zusammengeschweißt hatte, auferlegte. Hatte er, als er in seinen letzten Tagen krank gewesen war und seinen Freund und treuen Gefährten Abu Bakr gebeten hatte, die gemeinschaftlichen Gebete zu leiten, nicht damit anzeigen wollen, dass dieser sein Nachfolger (Kalif) an der Spitze der neuen Nation sein solle? Es sei denn, die zahlreichen Bezeugungen der Zuneigung gegenüber seinem Cousin, Adoptivsohn und Schwiegersohn Ali bedeuteten, dass ihm und seiner Nachkommenschaft mit der jüngsten Tochter des Propheten, Fatima, die Rolle des Imams (Führer) der Gläubigen zukomme? Hatte er nicht seine Beziehung zu ihm mit der zwischen Aaron und Moses verglichen? Diejenigen, die erklären, die Partei Alis zu bilden, die Schia Ali, anders gesagt, die Schiiten, standen somit in der Frage, wem es zukommt, die islamische Gemeinschaft zu leiten, denjenigen gegenüber, die entschieden, an ihre Spitze Abu Bakr zu stellen (von 632 bis 634), dann Umar (von 634 bis 644), einen anderen Freund und Gefährten des Propheten, dann Uthman (von 644 bis zu seiner Ermordung 656), ebenso ein Getreuer, der zwei Mal sein Schwiegersohn war, dann Ali selbst (von Uthmans Tod bis zu seiner eigenen Ermordung 662). Jene, die später daran festhielten, dass diese vier ersten Kalifen des Islam alle „rechtgeleitet“ (raschidin) auf dem Weg der Sunna des Propheten waren, nannten sich Sunniten. Die Hauptspaltung im Islam, diejenige zwischen den mehrheitlichen Sunniten und den minderheitlichen Schiiten, war also durch eine politische Frage, die auch zu einer theologischen werden sollte, entstanden, durch die Frage nach dem „Befehlshaber der Gläubigen“. Und doch hielt jede Partei die Frage durch die Treue zum Propheten und zur von ihm verkündeten Botschaft für gelöst. Man wollte, dass die Entscheidung der Diskussion, der Kontroverse, der Spekulation entzogen sei, dass sie sozusagen automatisch aus dem Koran und der Tradition folge. Die Treue erwies sich jedoch selbst als Gegenstand der Spekulation. Wie sollte man vor diesem Hintergrund nicht philosophieren?