Philosophieren im Islam - Souleymane Bachir Diagne - E-Book

Philosophieren im Islam E-Book

Souleymane Bachir Diagne

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Beschreibung

Im Islam zu philosophieren, bedeutet, die von der muslimischen Tradition überlieferten Texte den Ansprüchen der Vernunft auszusetzen. Das muslimische kulturelle Universum hat seit Avicenna, Averroes und Ghazali nicht aufgehört, diesen anspruchsvollen Dialog zwischen dem offenbarten Wort und einer Vernunft zu führen, die zu freier Interpretation aufruft.
In einer Zeit, in der überall die Versuchung der Verschließung und Absonderung lockt und die Gefahren von Kulturkonflikten wachsen, spricht dieses Werk deutlich die Einladung aus, an die alte Tradition des Austauschs anzuknüpfen und die Arbeit an den Fragen unserer Gegenwart damit zu befruchten. Eine Lehre der Vernunft und der Hoffnung.

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Veröffentlichungsjahr: 2020

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Im Islam zu philosophieren, bedeutet, die von der muslimischen Tradition überlieferten Texte den Ansprüchen der Vernunft auszusetzen. Das muslimische kulturelle Universum hat seit Avicenna, Averroes und Ghazali nicht aufgehört, diesen anspruchsvollen Dialog zwischen dem offenbarten Wort und einer Vernunft zu führen, die zu freier Interpretation aufruft.

In einer Zeit, in der überall die Versuchung der Verschließung und Absonderung lockt und die Gefahren von Kulturkonflikten wachsen, spricht dieses Werk deutlich die Einladung aus, an die alte Tradition des Austauschs anzuknüpfen und die Arbeit an den Fragen unserer Gegenwart damit zu befruchten. Eine Lehre der Vernunft und der Hoffnung.

Souleymane Bachir Diagne, 1955 im senegalesischen Saint-Louis geboren, ist Professor für Französisch und Philosophie an der Columbia University in New York.

Souleymane Bachir DiagnePhilosophieren im Islam

Aus dem Französischen vonRichard Steurer-Boulard

Passagen Themaherausgegeben vonPeter Engelmann

Deutsche Erstausgabe

Titel der Originalausgabe: Comment philosopher en islam?Aus dem Französischen von Richard Steurer-Boulard

Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-7092-5034-1

ISBN 978-3-7092-0427-6

© 2014 by Éditions Jimsaan

This edition is published by arrangement with Éditions Philippe Rey in conjunction with its duly appointed agents L’Autre agence, Paris, France. All rights reserved.

© der dt. Ausgabe 2021 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien

Grafisches Konzept: Gregor Eichinger

Satz: Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien

http://www.passagen.at

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Vorwort zur französischen Ausgabe

Einleitung: Dialoge

1. Ist es möglich, nicht zu philosophieren?

2. Wie eine Sprache philosophisch wird

3. Was bedeutet es für eine Philosophie, islamisch zu sein?

4. Gegen die Philosophie?

5. Eine Lektion in ökologischer Philosophie

6. Die Pflicht zu philosophieren

7. Das Bedürfnis nach Philosophie

8. Philosophie der Reform

9. Die Philosophie der Bewegung

Schluss: Pluralismus

Danksagung

Anmerkungen

Für Maïmouna und Elsa

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Im Jahr 2008 wurde dieses Buch zum ersten Mal veröffentlicht. Der Titel warf die Frage auf, welche Bedeutung man einem „Philosophieren im Islam“ geben könne. Die Entscheidung für diese Formulierung drückte den Wunsch aus, nicht nur zu den ausgezeichneten bestehenden „Geschichten der islamischen Philosophie“ ein paar Kapitel hinzuzufügen, sondern mittels der hier diskutierten Persönlichkeiten und Texte zwei Zielen näherzukommen, die mir heute besonders wichtig erscheinen: erstens der Entkolonialisierung der Philosophiegeschichte und ihrer Lehre; zweitens, daran zu erinnern, dass der Islam vor allem eine intellektuelle und geistige Tradition darstellt, die auch in unserer Zeit offen ist für die Diskussion der Probleme, mit denen wir weltweit konfrontiert sind.

Was bedeutet es also, die Philosophiegeschichte zu entkolonialisieren, und inwiefern trägt Philosophieren im Islam zu dieser Entkolonialisierung bei? Man kennt den mittelalterlichen lateinischen Ausdruck der translatio studii (oder im Plural: studiorum), der verwendet wurde, um von der Vermittlung des philosophischen Wissens Griechenlands zu sprechen. Die Lehre der Philosophiegeschichte, so wie sie im Abendland und in der Welt, die seinem Einfluss unterliegt, kanonisiert wurde, hat dieser Übertragung die Bedeutung des kontinuierlichen und in bloß in eine Richtung verlaufenden Wegs gegeben. Dieser Weg habe von Athen nach Rom und von Rom zu den anderen großen europäischen Universitätsstädten, nach Heidelberg, Paris und London geführt. Die translatio bleibt somit eine ausschließlich europäische Angelegenheit und die Philosophie kann nur das besondere telos dessen sein, was Edmund Husserl die „europäische Menschheit“ genannt hat.

Das ist jedoch nicht die Definition, die Roger Bacon (1214–1294) von diesem Schlüsselbegriff des Mittelalters gegeben hat, als er erklärte, dass Gott die Philosophie zuerst seinen „Heiligen“ in hebräischer Sprache gegeben habe, dass sie danach in griechischer Sprache, vornehmlich von Aristoteles, erneuert worden sei, bevor das abermals in arabischer Sprache, vor allem durch Avicenna, geschehen ist. Und hinsichtlich des Lateinischen fügt er hinzu, dass es Übersetzungen ausgehend von Fremdsprachen erhalten hat, aber dass in dieser Sprache keine Philosophie „gebildet“ worden ist.1

Der erste Akt der Entkolonialisierung der Philosophiegeschichte besteht also darin, die Wirklichkeit der translatio studii, von der Bacon spricht, der späteren Erzählung entgegenzusetzen, die sie als Ausdruck einer Ausnahmestellung Europas konstruiert. Die Wirklichkeit besteht darin, dass die Weitergabe Wege eingeschlagen hat, die sie von Athen nach Nischapur, Cordoba, Fez und Timbuktu, ins Herz von Westafrika geführt hat. Diese Wirklichkeit sagt auch, dass die Philosophie nicht natürlicherweise, wesentlich oder notwendigerweise Griechisch, Lateinisch, Deutsch oder irgendeine andere Sprache Europas spricht: Sie spricht auch Arabisch und andere Sprachen der moslemischen Welt. In diesem Buch findet sich auch ein Kapitel über die Frage des Philosophisch-Werdens einer Sprache durch die translatio. Es wird darin die Geschichte der Übersetzung der griechischen Philosophie diskutiert, aber mehr noch die moderne Frage, wie viel die philosophischen Kategorien, für so universell man sie auch halten mag, den Kategorien unserer Sprachen verdanken.

Ich wollte, dass dieses Buch auch mit einem Kapitel endet, das eine malinesische Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts präsentiert, nämlich Tierno Bikar Salif Tall, genannt „der Weise von Bandiagara“. Dieses Kapitel verfolgt mehrere Ziele. Ein erstes Ziel besteht darin, daran zu erinnern, dass der Weg der translatio studii durch Nordafrika auch ins Herz von Westafrika führt, in die Zentren der Gelehrsamkeit und Bibliotheken, deren bedeutendstes Timbuktu ist, die kulturelle Hauptstadt der Reiche von Mali und Songhay. Dass die Sahara also keine Mauer ist, die zwei afrikanische Welten trennt, den Maghreb und das, was Hegel „das eigentliche Afrika“ nannte, als er in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie von diesem Kontinent sprach. Der „Weise von Bandiagara“ im Zwanzigsten Jahrhundert ist also hier ein Zeuge für eine intellektuelle und spirituelle Tradition, die mit der Islamisierung Westafrikas entstand und die also zumindest bis ins 10. Jahrhundert zurückreicht. Gegen einen bestimmten Ethnozentrismus innerhalb der muslimischen Welt, der Afrika südlich der Sahara, was seinen intellektuellen und spirituellen Beitrag zur islamischen Zivilisation betrifft, für eine Randregion hält, versucht dieses Kapitel auch daran zu erinnern, dass man die Geschichte des philosophischen Denkens ebenso gegen einen solchen Ethnozentrismus verteidigen und entkolonialisieren muss. Schließlich war ein wesentliches Ziel dieses Kapitels natürlich, die für unsere Zeit wichtige Lehre des Pluralismus und der Toleranz zu beleuchten, die die Lehre des „Weisen von Bandiagara“ trägt, die ich am Ende die Weisheit der Liebe genannt habe.

Das führt mich zur zweiten großen Zielsetzung dieses Werks, das sich aus den Vorlesungen über Islamische Philosophie speist, die ich an den Universitäten von Dakar und der Northwestern University gehalten habe und heute an der Columbia University noch immer halte. Es ist wichtig, die Philosophie in der muslimischen Welt als einen Moment und einen Aspekt der Philosophiegeschichte zu lehren, weil es in unserer weitgehend über die Geopolitik des Islamismus gespaltenen Welt notwendig ist, daran zu erinnern, dass der Islam eine intellektuelle und spirituelle Tradition darstellt; dass philosophieren auch in dieser Tradition heißt zu zweifeln, zu untersuchen, in Frage zu stellen, zu argumentieren und zu interpretieren. Das macht aus dem Denken im Islam das, was Henri Bergson eine dynamische Religion genannt hat, die eine offene Gesellschaft beständig beseelen muss. Das ist das Projekt von Muhammad Iqbal, einem modernistischen Autor, dessen Philosophie über das Kapitel, das sich ihm hier widmet, hinaus diesem Buch den allgemeinen Tonfall und die grundsätzliche Orientierung verleiht.

Vorwort zur französischen Ausgabe

Dies ist die dritte Ausgabe des Buches Comment philosopher en Islam?. Es wird letztlich in drei verschiedenen Verlagen erschienen sein, zuerst bei Panama in der Reihe „Cyclo“ unter der Leitung von Roger-Pol Droit, dann bei Phoenix und heute beim Verlag Jimsaan, der von Felwine Sarr, Boubacar Boris Diop und Nafissatou Dia Diouf ins Leben gerufen wurde.

Ursprünglich hat mich der Philosoph Roger-Pol Droit dazu überredet, einen Text zu schreiben, der in großen Zügen die Philosophie im Islam darstellen soll. Warum diese fragende, problematisierende Wendung – „wie philosophiert man . . . ?“ – bei einer einfachen Darstellung einiger Philosophen der muslimischen Welt? Bedeutete das nicht, so fragten mich einige Leser, die ich getroffen habe oder die mir geschrieben haben, der Skepsis eine übermäßige Bedeutung beizumessen, die bei manchen die Verbindung der Wörter „Islam“ und „Philosophie“ hervorruft? Würde dadurch nicht die Möglichkeit suggeriert, eine Religion, die nach Auffassung dieser Leser einen blinden und unvernünftigen Glauben darstellt, könne sich ihrerseits auf das Infragestellen, Zweifeln und Nachforschen gründen, die das Vorgehen der Kritik und damit die Philosophie selbst ausmachen?

Die Frageform war das Markenzeichen der Buchreihe; aber die eigentliche Antwort kann nicht in dieser Erklärung liegen. Die Frage Wie philosophiert man im Islam? war und ist Ausdruck der Feindseligkeit einiger muslimischer „Denker“ gegenüber einer Disziplin und Methode, die sie für nutzlos und zersetzend halten, wenn es darum geht, in gutem Einvernehmen mit dem zu stehen, was die Religion von uns zu denken, zu glauben und zu tun verlangt. Sobald die islamische Welt mit der „Liebe zur Weisheit“ der Griechen in Berührung kam, traten Hüter des „islamischen Wissens“ auf den Plan, um ein absolutes Misstrauen gegenüber einer „Weisheit“ zu fordern, die keine Weisheit sein könne, sofern sie nicht aus einer Offenbarung stamme und die daher diejenigen nichts lehren könne, die ihr Wissen allein aus der Offenbarung zu beziehen haben.

Ghazali (gestorben 1111) attackierte bekanntlich die Philosophen und beschuldigte ihre Vernünfteleien, zu ketzerischen Thesen zu führen, während er sich gleichzeitig – gegen andere Sekten und Interpretationen des Islam – für das Sunnitentum und die Aschariya einsetzte. Aber derselbe Ghazali offenbart sich in der erstpersonalen Erzählung seiner Suche nach Gewissheit und seiner Errettung aus dem Irrtum als ein moderner Philosoph, der zeigt, wie die Mystik an der Spitze des Rationalismus gedeiht. Und in seiner Reflexion über die Koranverse und die Traditionen, die Gott als Licht darstellen, erklärt er, dass der Pluralismus (der kein Relativismus ist) notwendig sei, da die Wahrheit sich in vielfachen Erscheinungen bricht. Der Philosoph Averroes, der auf seine Angriffe reagierte, nahm im Übrigen die Ausfälle des ascharitischen Theologen gegen diejenigen, die in der Offenheit für die Weisheit und die Wissenschaften der Griechen gedacht haben, nie ernst: „Abu Hamid [Ghazali] bleibt einer von uns“, sagt er im Namen der Philosophen.

Bekanntlich hat das Denken Ibn Taimiyas auf all diejenigen Einfluss ausgeübt, die mit ihm in einem Aufwasch Schiiten, Philosophen oder Sufis verdammen. Selbst Ghazali entgeht nicht dem Anathema, vom gestrengen Gesetzesgelehrten unter die „sogenannten Philosophen“ und/oder „sogenannten Sufis“ gereiht zu werden.2 Es ist nicht uninteressant festzustellen, dass er gerade als Autor der Kostbaren Perle im Wissen des Jenseits verurteilt wird, eines Buches, das die gemeinsame Sprache der Philosophen und der Mystiker spricht.

Unserer Gegenwart näher behauptete Sayyid Qutb, die Dichtung des indischen Denkers Mohamed Iqbal zu lieben, lehnte es aber ab, sich auf dessen Philosophie einzulassen, so wie sie in Iqbals Prosa dargelegt ist, durch die sich seine Dichtung doch erhellen lässt. Man erkennt leicht, weshalb: Verse kann man sagen lassen, was man zu hören wünscht, um leichter die Aufgabe ignorieren zu können, zu der Iqbal einlädt, nämlich mit den Philosophen, auch wenn sie keine Muslime sind, wie Henri Bergson, die Bedingungen einer „Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam“ zu denken.

Wer sich weigert, als Philosoph und mit den Philosophen zu denken, glaubt damit zu behaupten, dass der Islam sich selbst genüge, dass er selbst seine eigene Philosophie sei. Wer würde das Gegenteil behaupten? Diese Behauptung ist nämlich schlicht und einfach eine Tautologie, wenn man unter „Philosophie des Islam“ die Lehren, Rituale, Dogmen und Vorschriften der Religion versteht. Doch diese „Philosophie“, als Wahrheit der Religion, dem Irrtum der „fremden“ Wissenschaften und dem entgegenzusetzen, was einst Al Farabi, Avicenna oder Averroes im Dialog mit den Weisheiten Griechenlands und anderer Länder, heute Iqbal im Gespräch mit Bergson und andere nach ihm gedacht und geschrieben haben, hat keinen Sinn. Dieser Unsinn hat jedoch verheerende Auswirkungen, die wir in der heutigen Welt feststellen, wenn Bewegungen sich darauf stützen, muslimischen Mädchen oder Muslime im Allgemeinen mittels Mord das Recht auf Bildung (die sie absurderweise als „westlich“ bezeichnen) zu verweigern. Deshalb muss man für die Philosophie kämpfen. Dieser Kampf war immer und ist weiterhin der Kampf für das Licht der Erziehung gegen den Geist der Verschlossenheit und gegen den Fanatismus, zu dem Letztere führt. Erziehen – die Etymologie des Wortes macht das deutlich – bedeutet, aus der Selbstverschlossenheit auszuziehen, im Namen der Pflicht, sich selbst zu erkennen, um besser zu sich zurückzukehren. Der Befehl des Propheten, sich auf die Suche nach dem Wissen zu begeben, „und sei es bis nach China“, bedeutete nichts anderes. Zu sich zurückkehren, sich verbessern, das heißt seine Bewegung wiederaufnehmen: Darin steckt die Aufgabe der Wiederbelebung, zu der Iqbal aufruft. Und jene, die in diesem Buch dem Philosophieren im Islam Gestalt verleihen, machen auf unterschiedliche Weisen diese Aufgabe deutlich.

New York, den 3. November 2013