Philosophische und theologische Schriften - Nicolaus Cusanus - E-Book

Philosophische und theologische Schriften E-Book

Nicolaus Cusanus

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Beschreibung

Zu Unrecht erlebt der Renaissance-Philosoph, dessen Denken bereits zu seinen Lebzeiten revolutionär war, erst in unserem Jahrhundert eine ,Renaissance'. Literarisch hochgebildet, verdichtet sich in seinen philosophischen und theologischen Schriften das mystisch-spekulative Gedankengut eines Meister Eckhart mit den neuplatonischen Theoremen etwa eines Proklon oder PseudoDionysius Areopagita zu einer Lehre, die ihn als einen Philosophen ausweist, der bereits an der Schwelle zur Neuzeit und damit lange vor den postmodernen Theoretikern eine Rationalitätskritik avant la lettre übte.

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NICOLAUS CUSANUS

(1401-1464) war das, was man einen ‚Universalgelehrten’ nennt, denn er war auf nahezu allen Gebieten der Geistes-, Kultur- und Naturgeschichte bewandert, insbesondere auf dem Gebiet der Mathematik, der Philosophie und der Theologie. Dank seines außerordentlichen diplomatischen Geschicks machte er eine exzellente Karriere als Kardinal, päpstlicher Legat, Fürstbischof von Brixen und Generalvikar im Kirchenstaat. Nach seinem Tod hinterließ er ein umfangreiches Schriftwerk, das aus über 50 Schriften, beinahe 300 Predigten sowie zahlreichen Akten und Briefen bestand und sich inhaltlich seinen drei Hauptinteressensgebieten – Mathematik, Philosophie und Theologie – zuordnen lässt.

Zum Buch

Die prägende Gestalt europäischerGeistesgeschichte zwischen Mittelalterund früher Neuzeit

Zu Unrecht erlebt der Renaissance-Philosoph, dessen Denken bereits zu seinen Lebzeiten revolutionär war, erst in unserem Jahrhundert eine ‚Renaissance’. Literarisch hochgebildet, verbindet sich in seinen philosophischen und theologischen Schriften das mystisch-spekulative Gedankengut eines Meister Eckhart mit den neuplatonischen Theoremen etwa eines Proklon oder Pseudo-Dionysius Areopagita zu einer Lehre, die ihn als einen Philosophen ausweist, der bereits an der Schwelle zur Neuzeit und damit lange vor den postmodernen Theoretikern eine Rationalitätskritik avant la lettre übte.

Er war die prägende Gestalt europäischer Geistesgeschichte zwischen Mittelalter und früher Neuzeit und es ist daher nur angemessen, dass Nicolaus Cusanus heute eine – wenn auch denkbar späte – Renaissance erlebt. Zentrum seines hoch reflexiven, sich in seinen zahlreichen philosophisch-theologischen Schriften manifestierenden Denkens ist die coincidentia oppositorum, ein gedankliches Konzept, das die Auflösung und Verschmelzung der zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen Verstand und Vernunft herrschenden Trennlinie gewährt. Metaphysisch und theologisch sieht Cusanus in Gott den ‚Ort’ dieser Einheit. Obwohl eine letztgültige Aufhebung des an sich Unvereinbaren nicht möglich ist, kann sich der Mensch dem Göttlichen durch die vernunftbasierte Auslotung der vom Verstand gesetzten Grenzen immer wieder neu annähern.

Nicolaus Cusanus

Philosophische und theologische Schriften

Nicolaus Cusanus

Philosophische undtheologische Schriften

Auf der Grundlage der Übersetzung von Anton Scharpff,herausgegeben und mit einem Vorwort versehenvon Eberhard Döring

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Es ist nicht gestattet, Abbildungen und Texte dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder mit Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2013Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2012Lektorat: Dr. Bruno Kern, MainzCovergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbHBildnachweis: Nicolaus Cusanus, Kreidezeichnung nach dem Reliefan seinem Grabmal, Kirche San Pietro in Vincoli, Rom, ItalieneBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0098-3

www.marixverlag.de

INHALT

Vorwort des Herausgebers

Einleitung des Herausgebers

Vorwort des Übersetzers

I. SPEKULATIVE SCHRIFTEN

Von der Wissenschaft des Nichtwissens

Von den Mutmaßungen

Über das Gottsuchen

Über die Gabe des Vaters des Lichtes

Dialog über die Entstehung der Welt

Über das Sehen Gottes

Gespräch über das Seinkönnen

Über das Globusspiel

Von der Jagd auf die Weisheit

Sichtung (Kritik) des Alchoran

Über den Frieden oder die Übereinstimmungunter den Religionen

2. SPEZIELL DOGMATISCH-ETHISCHES

Wert der Literatur

Summe der heiligen Schrift

Altes und Neues Testament

Die heilige Schrift

Verständnis der heiligen Schrift

Verherrlichung Gottes – das Ziel aller seiner Werke

Jesus, das Ziel der Weltschöpfung

Lehre von den Engeln

Ursprung der Seele

Die Seele, von Natur eine Christin

Ursprüngliche Unschuld, Verlust derselben

Die Sünde

Das Böse, sein Wissen durch Gott,sein Ursprung nicht aus Gott

Warum Gott die Sünde zuließ

Sündenfall im Verhältnis zu Gott

Gewissen, Sünde, Todsünde

Der Teufel und seine Versuchungen

Fall des Teufels

Wirkungen des Teufels

Einfluß der Dämonen

Die Erlösung der Welt nur durchgöttliche Vermittlung möglich

Bedürfnis einer objektiven substantiellen Wahrheit

Christus, der Erlöser. Bedingung der Aufnahmeseiner Geistes

Jesus

Die Vollkommenheit Christi

Christus, ein Magnet

Maria, frei von der Erbsünde

Unbefleckte Empfängnis Marias

Adams Ungehorsam, Christi Gehorsam

Das Verdienst Christi durch seinen Tod

Rechtfertigung

Die Rechtfertigung ein Werk Gottes

Die Höllenfahrt Christi

Prädestination

Der heilige Geist – das Feuer der Liebe

Die Gaben des heiligen Geistes

Die Kirche als Organismus

Die Kirche und die verschiedenen Geistesrichtungen

Wir erlangen das christliche Leben, die geistigeWiedergeburt durch Vermittlung der Kirche

Über die drei Stände in der Kirche

Die Eucharistie

Transsubstantiation

Bedingung des würdigen Empfangs des Abendmahls

Unsterblichkeit der Seele

Unsterblichkeit

Untergang der Welt

Auferstehung

Allgemeines Gericht

Die Vortrefflichkeit der christlichen Sittenlehre

Die Gebote Gottes sind Gebote der reinen Vernunft

Nachweis des freien Willens

Gnade

Gnade, in uns aufgenommen durch Liebe

Die Bekehrung

Weg zur Lostrennung von der Sünde

Wiedergeburt

Der Christ bringt sich Gott zum Opfer

Glaube, objektiv

Glaube

Irdische Weisheit und Glaube, jedes in seinenWirkungen nach Paulus

Glauben und Wissen

Glaube und Wille

Fruchtbarkeit des Glaubens. Der Glaube ein inneres Erfahren

Lebendiges Wissen – Weisheit

Wissen und Weisheit

Die Liebe als virtus infusa

Die Liebe

Die Liebe im Verhältnis zum Erkennen und zur Freiheit

Die Kraft der Liebe

Wirksamkeit der Liebe

Die Liebe im Verhältnis zu Glaube und Hoffnung

Liebe und Wissen

Liebe zu Gott und dem Nächsten

Über die Nachfolge Christi

Über die Trennung von der Welt und die Freundschaftmit Christus

Christus vergilt unsere Wohltaten

Begriff und Bedingungen des wahren Gebets

Gebet ist Nötigung Gottes

Belehrung über Anwendung des Vaterunser als Gebet

Erklärung des Vaterunser

Erklärung des Vaterunser in Fragen und Antworten

Eine andere Erklärung des Vaterunser

Macht des sittlichen Wandels

Der wahre Seelenhirt

Der Prediger

Der Prediger und wie er anzuhören ist

Der wahre Ordensmann

Erziehung der Jünglinge

Die Heiligen

Freundschaft

Selbstverleugnung

Selbstbeherrschung

Wert frommer Gelübde

Verschiedenheit des Lohnes

Der Friede

Die wahre Freude

Das Schöne

Höchste Glückseligkeit

3. RELIGIÖSE DIALOGE

Über die Verkündigung der glorreichsten Jungfrau Maria

Auf den Karfreitag

Dialog über die Auferstehung Christi

Dialog zwischen Maria Magdelena und einem Christen

4. PREDIGTEN

Rede bei Austeilung des heiligen Abendmahls

Der Beruf des Christen

Scheinchristen und wahres Christentum

Rede auf den Karfreitag

Über Abtötung

Anrede an Kanoniker, aus Veranlassungeiner bevorstehenden Visitation

Aus der Rede auf Mariä Himmelfahrt,gehalten während des Interdicts

VORWORT DES HERAUSGEBERS

Der vorliegende Band als Studienausgabe stützt sich auf eine Übersetzung aus dem Jahre 1865 mit einer für damalige Zeiten üblichen Interpretation durch den Domkapitular Anton Scharpff, der als einer der ersten deutschen Übersetzer der Werke des Cusanus seinerzeit einen Preis von der katholisch-theologischen Fakultät Tübingen erhalten hat. Umso größer fällt die Herausforderung aus, in der Einleitung eine genuin philosophische Interpretation voranzustellen, die sich auch auf neuere Texte der Sekundärphilosophie zu stützen vermag. Die Theologie konnte einige Passagen der Cusanischen Schriften für sich reklamieren, bevor noch die Philosophie den Koinzidenzdenker Cusanus zur Kenntnis genommen hat, was aber in den letzten zehn Jahren immer mehr Verbreitung finden konnte.

Cusanus hat nun nach über 500 Jahren auch in der Philosophie als Reflexionsdisziplin Interesse geweckt, seine primär philosophischen Schriften in den Vordergrund der Beachtung zu rücken und dabei einen dialektischen Denker und einen antidogmatischen Rationalitätskritiker avant la lettre vorzufinden. Seine Philosophie trägt dabei ein Ensemble von aktuellen und noch immer nicht hinreichend beachteten Theoremen.

Will man heute ein Buch herausgeben, dessen Übersetzung ein anderer, noch dazu im Jahre 1865 geleistet hat, ist ein Vorwort erforderlich, das auf verschiedene Aspekte Rücksicht nehmen muß. Kommt noch hinzu, daß der Übersetzer eine vom Herausgeber abweichende Interpretation vertritt und diese bis in viele ausgelassene Passagen des lateinischen Originals hinein zum Ausdruck bringt, befindet man sich bereits inmitten der Philosophie, die als Reflexionsinstanz auf die Bedingungen und Voraussetzungen von Theorien und Interpretationen divergierende Auffassungen zur freien Diskussion stellt, wenn sie nicht einem Dogmatismus anheimfallen will. Noch mehr gilt dies im Zusammenhang der Philosophie des Cusanus, der als Philosoph und Kardinal selbst Positionen vertreten hat, die auf die äußerst denkwürdigsten Oppositionen besonderen Wert legen wollten und konnten.

Es bedarf von daher keiner sonderlich diplomatischen Strategie, die Übersetzungen eines katholischen Domkapitulars mit seinen theologischen Interpretationen einer philosophisch reflektierten Position gegenüberzustellen und dabei dennoch die Unterschiede herauszuarbeiten, wie diese aus verschiedenen Perspektiven ins Auge fallen. Hierbei braucht auch nicht Satz für Satz die in sich geschlossene Übersetzung aufgebrochen und schon gar nicht mit Gegenargumenten versehen zu werden. Es wird vielmehr dem Leser selbst überlassen, worin er die für ihn plausiblere Darstellung sieht, zumal Philosophen die beiden Texte aus einem anderen Blickwinkel in ihrem Kontext verorten als diejenigen, die mit einem theologischen Hintergrund aufwarten. Denn selbstverständlich enthalten auch Übersetzungen bereits Interpretationen, die von der Textauswahl bis in deren Darstellungen und Betonungen reichen. Im vorliegenden Zusammenhang kann die philosophisch geprägte Einleitung auch als gegensätzliche Interpretation zur fast 150 Jahre alten Übersetzung aufgenommen werden, wobei einem Koinzidenzdenker wie Cusanus in besonderem Maße gerecht zu werden versucht wird. So zeigt zumindest das Spätwerk seines Denkens, daß alle Lesarten durch die Brille der Vernunft (»de beryllo«) auf individuelle und kunstvolle Weise mit ihrer »ars coniecturalis« zur Koinzidenz gelangen können. Denn die Wahrheit liegt für Cusanus nicht, wie noch in seinem Frühwerk, im Verborgenen esoterischer Zugangsweise, sondern sie schreit nach Cusanus auf allen Gassen (»clamitat enim in plateis«), zumal der menschliche Geist (mens) als »nexus dei et mundi« sowie als »secundus deus« oder gar als »humanus deus« gedacht wird.

Der Mensch als zweiter Gott bzw. als menschlicher Gott gedacht, kann gerade zu Zeiten des Cusanus eine häresieverdächtige Provokation darstellen, die bis heute aus katholischer Sicht gerne ausgeblendet wird, wie auch Scharpffs Übersetzung nur fragmentarisch (und eklektizistisch) ausgefallen ist. Dies braucht aber auch nicht zu überraschen, wenn man die zeitliche Differenz und den Unterschied zwischen katholischer und philosophischer Betrachtung berücksichtigt.

Die Einleitung des Herausgebers stellt den komprimierten Text meiner Vorlesung dar, die im Sommersemester 2005 an der Staatsuniversität Riga als Kompaktveranstaltung gehalten wurde. Für die Einladung hierzu bedanke ich mich bei meinen dortigen Kollegen und Studenten, insbesondere bei der Direktorin des Philosophischen Departments, Frau Prof. Dr. phil. habil. Maija Kule, sowie für die lebhaften Diskussionen mit den Studenten, die kaum Zugang zu entsprechender Literatur haben und meine Vorlesungen in englischer Sprache verfolgen mußten. Ihnen allen gebührt mein herzlicher Dank.

Eberhard Döring

EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS

Nicolaus Cusanus war zwar ein Kirchenmann, sogar ein Bischof und Kardinal, aber er war kein professioneller Theologe, der etwa eine Professur für Theologie angenommen hätte. Er war eben vor allem ein bedeutender Philosoph, wenn er auch dafür angebotene Professuren schlicht abgelehnt hat. Als Allround-Genie hat er sich nirgends fest binden lassen, sondern hat zunächst als Jurist, als Fürst und somit als Politiker stets mehrere Fäden zugleich zusammengehalten und sich damit synergetisch auf verschiedenen Terrains meist erfolgreich bewegt. In seinem Gesamtwerk, wenn man auch all seine Predigten etc. berücksichtigen will, überwiegen zwar quantitativ seine theologischen Schriften, aber der intellektuelle Gehalt seines nicht nur seinerzeit revolutionären Denkens geht eindeutig aus seinen philosophischen Werken hervor, die in unserem Jahrhundert erneut große Beachtung verdienen und quasi eine Renaissance des Renaissance-Philosophen haben entstehen lassen.

Diese werden auch im vorliegenden Band vorangestellt und umfassender kommentiert, da aus seinen philosophischen Reflexionen auch seine anderen Schriften leichter verständlich werden. Wenn das Wort nicht so schillernd semantisch besetzt wäre, könnte man ihn auch zu den großen Mystikern zählen, wie dies zumindest aus seiner gründlichen Lektüre Meister Eckharts hervorgeht. Darüber hinaus war er ein glänzender Kenner der Schriften des mittelalterlichen Philosophen Raimundus Lullus und anderer Größen aus dieser Zeit. Besonders jedoch hat er sich mit Platon und Aristoteles beschäftigt, dessen Logik und deren Reichweite er so kritisch untersuchte, daß er dafür von einem Heidelberger Theologieprofessor (Johannes Wenck) den Vorwurf des Atheismus, mindestens aber die Einschätzung als unwissenschaftlicher Denker einstecken mußte. Wenn auch die darin erhobenen Einwände gegen Cusanus aus der Perspektive des verabsolutierten oder dogmatischen Aristotelismus den Kern der cusanischen Rationalitätskritik treffen, so wäre es falsch zu vermuten, Cusanus hätte die »süße Simplizität der zweiwertigen Logik« (um mit dem großen amerikanischen Logiker Quine aus dem 20. Jahrhundert zu sprechen) nicht hinreichend durchschaut.

Im Gegenteil: Die aristotelische Logik war Cusanus nicht ausreichend genug, das genuin reflektierte Denken der Philosophie zu erfüllen. Er hat sogar als Philosoph von Rang und Namen die Erfindung der Syllogistik durch Aristoteles in hohem Maße gewürdigt und ihr dabei sogar eine exklusive Stellung im Ensemble der zu berücksichtigenden Regionen des dynamischen Denkens eingeräumt. Er hat sich aber von der Logik nicht blenden lassen, wie etwa der sog. »kritische Rationalismus« sogar noch im 20. Jahrhundert.

Cusanus konnte dem logischen Rationalismus vieles an Bedeutung abgewinnen, aber er hat diese Position von ihrer eigenen Verabsolutierung entgrenzt und sie trotz allen Respekts zugleich begrenzt. Die der aristotelischen Logik verpflichtete Rationalität wollte er keineswegs aus dem Denken exkludieren, sondern vielmehr integrieren in ein dynamisches Schema, das vor ihm und bis hin zu Schelling oder Hegel kaum ein Philosoph in dieser Präzision und elastischen Stringenz zugleich geleistet hat. Logik und Rationalismus waren für Cusanus elementare Bestandteile seiner Philosophie, die mit ihren fast schon transzendentalen Anteilen sowie seiner Unterscheidung zwischen Verstand (ratio) und Vernunft (intellectus) sowie vor allem mit ihrem dynamischen Grundmuster zur Aszendenz und Deszendenz innerhalb seiner (noch zu erörternden) Regionentheorie schon einiges vorwegnehmen konnte, was sich für Kant und seine Auseinandersetzung mit dem Empirismus von Locke und Hume sowie mit dem Rationalismus von Leibniz und anderen Denkern des 18. Jahrhunderts als äußerst hilfreich angeboten hätte. Doch seine Philosophie wurde über lange Zeit nur aus zweiter Hand (Giordano Brunos) und auch da nur fragmentarisch vermittelt, wie man dies bei Hamann und Goethe, aber auch bei Hegel nur stichwortartig, die Oppositionskoinzidenz betreffend, bei näherem Hinsehen feststellen kann.

Die »coincidentia oppositorum« bildet den Mittel- und Schwerpunkt der Cusanischen Philosophie und steht innerhalb dieser quasi trans-logisch oder supra-rational der Vernunft zur Verfügung, übersteigt den rationalen Verstand und leistet damit eine contradictio im Sinne einer regula veri und nicht einer contradictio falsi. Diesen zentralen Aspekt in der Philosophie des Cusanus gilt es stets zu berücksichtigen, wenn man wissen will, wie der Verstand zur Vernunft kommen kann, ohne dabei den Verstand zu verlieren. Besonders jedoch gilt es, die Grenzbegriffe in seiner Regionentheorie (aus »sensatio«, »ratio«, »intellectus« und »deus«) zu berücksichtigen, da sich an der jeweiligen Grenze von einem Bereich gegenüber dem »höheren« oder »niedrigeren« Bereich sein durchaus dialektisches Philosophieren begreifbar machen läßt. Weder die Sinnlichkeit alleine (»sensatio«), noch der Verstandesbereich (»ratio«), noch die Region der Vernunft (»intellectus«) oder gar die Dimension des »deus« (also Gottes) sind für Cusanus in ihrer isolierten Betrachtung oder gar Verabsolutierung reflektierbar. Nur das Sehen (»visio«) aller genannten Bereiche und ihrer Grenzen sowie in ihrem Zusammenhang kann die Einheit im Ensemble der gesamten Aspekte erfassen, wie man auch immer im Blick behalten muß, daß seine Philosophie, wie bereits erwähnt, den großen Philosophen des Deutschen Idealismus (also Kant, Fichte, Schelling und Hegel) aus Gründen der Quellenlage nicht bekannt war.

Anders als z.B. bei Kant1 steht das Philosophieren des Cusanus in einem engen Zusammenhang mit seiner Vita, weshalb man sein Leben auch bis in sein letztes, zwar schmales, aber doch reifes Büchlein »De beryllo« und darauf gestützt, sogar als eine biographische Koinzidenz durch die Brille des Geistes (»mens«) bezeichnen könnte. Cusanus wurde im Jahre 1401 unter dem Namen Nikolaus Chryfftz (d. h. Krebs) in Cues an der Mosel geboren (heute als Bernkastel Kues wegen des von ihm dort etablierten Altenpflegeheimes (St.-Nicolaus-Hospital), aber auch wegen des Moselweins bekannt). Sein Vater Johann Chryfftz war ein reicher Winzer und Schiffseigner im selben Ort, in dem Cusanus bis zu seiner Schulausbildung in einer wohlhabenden Familie aufwachsen konnte. Bereits im Alter von 16 Jahren begann er für kurze Zeit sein Studium der freien Künste (»artes liberales«) in Heidelberg, bevor er schon ein Jahr später sein Studium des Kirchenrechts (1417–1423) in Padua aufgenommen und dort fortgesetzt hat. Bereits vor seinem Studienbeginn wurde der tschechische theologische Reformer Jan Hus aus Böhmen im Jahre 1414 trotz der Zusage freien Geleits zum Konzil von Konstanz unterwegs verhaftet und dort 1415 als Ketzer verbrannt. Die Nachricht hiervon drang natürlich auch zu Ohren des Cusanus, der also frühzeitig gewußt hat, wie man seinerzeit mit Häretikern umzugehen pflegte: verlogen und mit einer harten Brutalität sanktioniert. Die katholische Kirche war äußerst mächtig und nutzte ihre Macht auch dazu, aufs Ganze (»kat’ holou«) zu gehen, wenn sich Skepsis oder Reformbemühungen an ihrer dogmatischen Lehre meldete. Wer sich gegen sie wehren oder sie kritisieren wollte, hatte, trotz und gerade als Intellektueller mit christlicher Überzeugung, mit Verhaftung, Folterung und meist abschließend mit der Todesstrafe auf dem Scheiterhaufen zu rechnen. Schon der bloße Verdacht auf Häresie reichte aus, inquisitorisch behandelt und mit dem Segen Gottes von der Kirche aus dem Verkehr gezogen zu werden.

All dies war Cusanus natürlich bekannt, weshalb er in seinen frühen Predigten auch noch das Bestrafungsritual der Kirche mit ihrem Talionsrecht voll und ganz zeitgenössisch unterstützt hatte. Als Kirchenrechtler hingegen wußte er auch genau, wo die Grenzen des Machbaren liegen und wie man diese diplomatisch für sich nutzen konnte. Wäre sein philosophisches Spätwerk »De beryllo« (1457) schon zu Zeiten seiner »Docta ignorantia« (1438–1440) erschienen, in der er zwar auch schon häresieverdächtige Thesen veröffentlicht hat, hätten ihm auch die Sanktionen wie bei Jan Hus blühen können. Aber vor der Niederschrift von »De beryllo« mit dem Mantel eines Kardinals ausgestattet, mit der Frühschrift »De concordantia catholica« (1437) gerüstet und vor allem mit einer treffsicheren Diplomatie versehen sowie mit kirchenmächtigen Freunden um ihn herum, konnte er es sich eher leisten, bis an die Grenzen zu gehen, diese aber auch nicht zu überschreiten.

Grenzbestimmungen spielen auch in seiner Philosophie eine wichtige Rolle, insbesondere in »De coniecturis«, worin die wichtigsten Unterscheidungen z. B. zwischen Verstand (ratio) und Vernunft (intellectus), aber auch zwischen unserer Sinnlichkeit (sensatio) und dem nicht erfaßbaren Gottesbegriff (deus), zu finden sind, für den Cusanus eine ganze Reihe von Metaphern (»Possest«, »Non-aliud« etc.) kreiert hat, um ihn als Grenzbegriff denken zu lassen. Allerdings folgt aus dem Denkzwang kein Seinszwang, worin die eigentliche Häresie des Koinzidenz-Denkers liegt, der im Jahre 1423 zum Doctor decretorum (Kirchenrecht) promovierte, bevor er nach einem Jahr in Rom wieder in seine Geburtsstadt Cues zurückgekehrt ist. Zwei Jahre später studierte der promovierte Kirchenrechtler an der Universität zu Köln noch Theologie, vor allem jedoch Philosophie und hielt nebenbei, jedoch ohne Professur und quasi als Gastdozent, kirchenrechtliche Vorlesungen. 1428 unternahm er eine Studienreise nach Paris und erhielt im selben Jahr einen Ruf als Professor an die erst kurz zuvor (im Jahre 1425) gegründete Universität zu Löwen, den er jedoch nicht annehmen wollte. Dafür nahm er 1430 die Stelle als Sekretär des Trierer Domherren Ulrich von Manderscheid an und wurde zwei Jahre später dessen persönlicher Berater und Advokat auf dem Konzil von Basel. Die Vertretung seines Anspruchs auf den Trierer Bischofssitz verlief jedoch ohne Erfolg; während im Jahre 1431 Jeanne d’Arc in Rouen unter Leitung des Bischofs von Beauvais verbrannt wurde.

Bereits im Jahre 1435 erhielt Cusanus erneut einen Ruf an die Universität Löwen, den er jedoch abermals ablehnte und dafür lieber die Stelle als Propst des außergewöhnlich begüterten Augustinus-Chorherrenstifts Sankt Martinus und Severus in Münstermaifeld wählte. 1437 wechselte Cusanus zur Konzilsminderheit und verließ schließlich ganz das Konzil, um sich dem Papst Eugen IV. anzuschließen. Ein Jahr später unternahm er eine Gesandtschaftsreise im Auftrag des Papstes und erlebte 1438 auf der Rückreise auf hoher See seine »visio intellectualis«, die ihn von nun an seine Koinzidenzphilosophie etablieren ließ, die wie durch einen Zufall der Forschung als plötzlicher Einfall in einem Augenblick ausgelöst wurde. Der Priesterweihe ein Jahr später folgte im Jahre 1440 die Vollendung seiner »Docta ignorantia« als Resultat seines blitzartigen Erlebnisses auf dem Schiff, die sozusagen sein philosophisches Erstlingswerk darstellt. Damit nimmt die Koinzidenzlehre ihren Lauf, die zwei Jahre später in der Schrift »De coniecturis« und ihrer funktionalontologischen Regionentheorie mit dem Unterschied zwischen Verstand und Vernunft in der Mitte die Dimension Gottes als Grenzbegriff denken ließ.

1448 ernannte ihn sein Freund, der neue Papst Nikolaus V., zum Kardinal in petto. Die Verteidigungsschrift gegen den Heidelberger Theologieprofessor Wenck mit dem Titel »Apologia doctae ignorantiae« erschien im selben Jahr, bevor die öffentliche Erhebung zum Kardinal und zum Bischof von Brixen im Jahre 1450 erfolgen konnte, in dem auch seine »Idiota-Schriften« erschienen sind (»De sapientia I und II«, »De mente« und »staticis experimentis«). In das Jahr 1453 fielen die Eroberung Konstantinopels und eine Vielzahl von weiteren philosopischen und theologischen Schriften (u. a. »De visione dei« und »De pace fidei«), bevor im Jahre 1457 sein eigentliches philosophisches Hauptwerk »De beryllo« erschienen ist. Der neue Papst und Humanist Enea Silvio Picolomini, Pius II., rief ihn ein Jahr darauf nach Rom, wo viele weitere Schriften des Cusanus – seiner Spätphilosophie folgend – entstanden sind: u. a. »De possest«, »De non-aliud«, »De venatione sapientiae«, »De apice theoriae« etc. Am 16. 7. 1464 erkrankte Cusanus auf dem Weg nach Venedig zur Vorbereitung eines Kreuzzuges gegen die Osmanen und starb am 11. 8. 1464 in der umbrischen Bergstadt Todi. (Drei Jahre später starb auch Papst Pius II. in Ancona). Man kann also sagen, daß in den knapp 25 Jahren von 1440 bis 1464, in der Mitte des 15. Jahrhunderts, die eigentliche Schaffenskraft des Cusanus lag, der als beständig häresieverdächtiger Theologe und als dialektisch denkender Philosoph nicht nur eine theoretische Oppositionskoinzidenz, sondern auch eine biographische »coincidentia oppositorum« in sich vereinigen konnte: Als »humanus deus« oder als »secundus deus in creando« in seinen eigenen Worten ausgedrückt. Mit seinem fast schon liberalen Geist (dem Mittelalter gegenüber), seiner dialektischen Philosophie als regula veri (der contradictio falsi gegenüber), seinem vernunftbetonten Geist (dem Rationalismus gegenüber) und mit seinem dynamischen Mentalismus (der Ontologie gegenüber) sowie seinen transzendentalphilosophischen Anklängen (dem Positivismus gegenüber) bis hin zu seinen pragmatischen Individualitäts-Aspekten (dem Dogmatismus gegenüber) und seinem Relativismus (der Beliebigkeit gegenüber) war Cusanus der Universalgelehrte der Renaissance als Jurist, Theologe, Astronom, Mathematiker und nicht zuletzt als der Philosoph des 15. Jahrhunderts, der bis in unsere heutigen Tage noch einige Aufarbeitung benötigt, vor allem aber zur Kenntnisnahme durch die Philosophie und zugleich der Theologie sowie durch die Modeströmung des unreflektierten Naturalismus einlädt.

Und dazu genügt es nicht, dem Verstandesdenken der Wissenschaften alleine die philosophische Reflexion zu überlassen. Es bedarf vielmehr der Vernunft, die den Bedingungen und Voraussetzungen der wissenschaftlich rationalen Theorien und deren Zustandekommen wie auch deren Reichweite und Geltungsbereich mit philosophischer Skepsis und Kritik begegnet. Denn »tanto quis doctior erit, quanto se sciverit ingorantem«. Und dies stellt eine Einsicht der Vernunft (intellectus) und nicht des Verstandes (ratio) dar. Daß der Verstand überhaupt zur Vernunft kommen kann, ist ein Verdienst der Vernunft und nicht des Verstandes – daß die Vernunft dabei nicht um den Verstand gebracht wird, ist hingegen ein Verdienst des Verstandes und der Vernunft, so könnte man im ersten Zugriff das Reflexionsverhältnis bei Nicolaus Cusanus bestimmen, das zu seinen zentralen Theoremen führt.

Warum ist es aber überhaupt sinnvoll, zwischen Verstand (ratio) und Vernunft (intellectus) zu differenzieren, und welche Instanz trifft hierbei die Unterscheidung? Ist es die Wissenschaft, die uns mit ihren rationalen Einteilungen Wissen verschafft? Oder ist es die philosophische Reflexion, die mit ihrer Rückbeugung auf die Bedingungen und Voraussetzungen der Wissenschaft eine zugleich höhere und tiefere Einsicht ermöglicht? Philosophie als Reflexionsdisziplin wäre gewiß überflüssig, wenn die auf Rationalität verpflichtete Wissenschaft von sich aus in der Lage wäre, die genannten Fragen auch selbst zu beantworten. Doch welche Mittel stehen der Philosophie zur Verfügung, wenn sie quasi trans-rational und vernunftgeleitet derartige Spezifikationen explizieren will, die bis in den Kern ihrer eigenen Prinzipien hineinreichen? Oder kurz: Was unterscheidet die wissenschaftlich rationale Vorgehensweise von der Reflexion der Philosophie?

Von der Wissenschaft erwartet man gewöhnlich, daß sie streng rational vorzugehen und dabei verläßliche Ergebnisse zu liefern habe. Sie soll widerspruchsfrei formuliert, präzise und genau, mithin logisch stringent sein. Aber spätestens mit der Diskussion über die Postmoderne und deren facettenreicher Vielfalt der Erkenntnisweisen ist die rationalistische Wissenschaftstheorie wieder einiger Skepsis ausgesetzt. Doch selbst im Umfeld dieser pluralistisch bemühten Vernunft wird kaum beachtet, daß mit der Philosophie des Cusanus bereits an der Schwelle zur Neuzeit eine hoch reflektierte Rationalitätskritik avant la lettre vorgestellt wurde. Denn nach Cusanus berührt der menschliche Geist »das Unberührbare unberührenderweise«, womit eine seltsam erscheinende Formulierung gewählt ist. Entweder berührt der Geist etwas, oder er berührt es nicht, aber daß er unberührenderweise etwas berührt, klingt logisch verdächtig, vor allem wenn der Gegenstand dieser Berührung auch noch das Unberührbare sein soll.2 Nach Cusanus ist dieses scheinbare Paradoxon jedoch lösbar, da die formale Logik als ein Werk des Verstandes und nicht der Vernunft begriffen wird. Die Ratio (als diskursiver Verstand) ist auf die meßbaren Einteilungen und finiten Begrenzungen, auf Identität und Differenz, also letztlich auf Widerspruchsfreiheit und Definitionen (per genus proximum et differentiam specificam) angewiesen, denen zufolge »unmöglich dasselbe demselben in ein und derselben Beziehung zugleich zukommen und nicht zukommen kann«3. Der Verstand findet seinen Halt demnach nur innerhalb seiner definitiven Widerspruchsfreiheit; seine Kompetenz bleibt der Bestimmung logischer Setzungen verhaftet und kann dafür auch alle kalkulatorische Haftung übernehmen. Er kann einen Verstoß gegen die Regeln der Logik streng und präzise nachweisen, wie er überhaupt die Instanz für Beweise darstellt. Für den Verstand sind die Gegensätze durch oppositionelle Einteilungen (wahr/falsch, ja/nein, 0/1) fixiert, die uns als unterschiedene Isolate bzw. als nicht zuletzt pragmatisch isolierte Unterschiede zur Orientierung auch im streng wissenschaftlichen Sinne dienen.

Ein Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum) wäre im Bereich des Verstandes hingegen nicht zu fassen oder nur als Widerspruch aussagbar, weil jede Koinzidenz die Grenzen der auf Kontradiktionsvermeidung festgelegten Ratio überschreitet. Für den Verstand (ratio) bleibt die Aufgabe, in gegensätzlich bestimmten Dichotomien und Disjunktionen zu verfahren und dabei dem operational-technischen Charakter der rationalen Axiomatik zu folgen. Dem Verstand wird bei Cusanus seine eigene Region und Kompetenz bzw. ein eigenes Ressort bezüglich seiner Verfügbarkeit zugebilligt, außerhalb dessen seine Bestimmungen und Einteilungen jedoch ihre Tragfähigkeit verlieren. Der Verstand und sein ihm eigenes Ressort verfügen über all die Leistungen und Instrumente, die zur Unterscheidung zwischen Identität und Nicht-Identität erforderlich sind, er besitzt als Ratio demnach Gewalt über alles, was die wissenschaftliche Vermeidung von Widersprüchen als contradictio falsi zu beherzigen hat. Der Verstand sichert somit die Kontradiktionsvermeidung ab, wozu ihm die formale Logik mit ihren binären Unterscheidungen als präzises Instrument zur Verfügung steht. Ein Widerspruch wird auf dieser Ebene der Ratio entlarvt, womit der Verstand seine Funktion erfüllt und der rationalen Ebene der Wissenschaft seine darin unüberbietbare, wenn auch statisch fixierte Kompetenz zur Verfügung gestellt wird.

Auf der Ebene der Vernunft (intellectus) hingegen begreift der dynamische Geist die oppositionell entäußerten Verstandesinhalte der Ratio, auf deren Bedingungen und Voraussetzungen die Vernunft reflektieren kann. Intellectualiter lassen sich die Begrenzungen der Ratio via reflexionis aufheben, indem die Vernunft die Regeln und Muster des Verstandes als dessen funktional-operatives Schema und als statisches Raster durchschaut, die sie zugleich sprengen und umordnen kann. Die Vernunft schafft Synthesen und baut Brücken, während die Ratio aufgrund ihrer statischen Verfaßtheit in ihrem eigenen Schema verharrt. Die Vernunft reflektiert, wo der Verstand nur bestimmt4. Insofern findet das vernünftige Begreifen der Philosophie im Bereich des intellectus statt, der den Verstand übersteigt und dabei die Bedingungen der rationalen Wissenschaften in den Focus der Reflexion rücken kann. Die Bestimmungen des Verstandes sind für den binnen-rationalen Bereich zwar geeignet, aber über diesen hinaus sowie für die voraussetzungskritische Dimension der philosophischen Reflexion inkommensurabel und damit außerhalb seiner selbst ohne jede Bedeutung. Die rein logisch als intrinsische Struktur des Verstandes sich etablierende Kompetenz der Ratio verweilt im funktional-technischen Bereich seiner eigenen Anwendung durch Ontologisierung axiomatisch fixierter Regeln, über die nur durch Reflexion auf deren eigene Bedingungen und Voraussetzungen hinauszugelangen ist.

Cusanus teilt die Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes (»mens«) in vier verschiedene Regionen ein, die keinen ontologischen, sondern einen gnoseologischen oder erkenntnisrelevanten und symbolischen Status für sich beanspruchen. Auf der untersten Stufe ist danach die Sinneswahrnehmung (sensatio) angesiedelt, in welcher keine Negation und damit auch keine Widerspruchsmöglichkeit vorliegt. Ein sinnlich wahrgenommener Gegenstand kann sich nicht selbst widersprechen, widersprechen können sich nur Theorien über ihn (A=A und nicht: A=Non-A). Insofern läßt sich die nächsthöhere Stufe als die des Verstandes (ratio) darstellen, in welcher der Widerspruch durch seine Unterscheidung zwischen Bejahung und Verneinung innerhalb von Theorien, d.h. als wahr oder falsch, allererst ermöglicht wird. Der Verstand geht nach logischen Prinzipien vor und kann – seinem eigenen Gesetz nach – nicht dasselbe sowohl bejahen als auch verneinen.

Doch wie der Verstand als die höhere Stufe gegenüber sinnlich wahrnehmbaren Dingen durch rationale Bestimmungen der sensationes, d. h. durch Abgrenzung bzw. durch Unterscheidung, durch differenzierende Spezifikation aufgefaßt wird, so steht die Region der Vernunft (intellectus) über der Ratio als diejenige Instanz, die zum Verstand selbst auf Distanz (»in alteritate«) zu gehen vermag. In der suprarationalen Vernunft bestehen sowohl Affirmation als auch Negation miteinander in der sie umfassenden Idee der Koinzidenz, welche die Gegensätze der Ratio umschließend begreift. Durch die Sinnlichkeit wird demnach der Verstand affiziert und zu deren Unterscheidungen motiviert, wie sich die Vernunft gegenüber dem Verstand als dessen »Andersheit« zu ihm ins Verhältnis setzt. Die Region der Sinnlichkeit wird demnach vom Verstand auf Begriffe gebracht, indem deren unterscheidbare Begrenzung durch den dynamischen Geist zum Zwecke der Ratio ihre Bestimmung erfährt. Der (supra-sensuale) Verstand ordnet die sinnliche Welt, wie die (supra-rationale) Vernunft die Ordnungen des Verstandes begreift: Als diesen drei Regionen des menschlichen Geistes (sensatio, ratio, intellectus) gegenüber höchste Region nennt Cusanus die absolute Einheit und Einfachheit, in welcher (supra-intellectualiter) alles aufgehoben wird, was in den genannten Regionen des Geistes Gültigkeit hat: Die absolute, unendliche und complikative Einheit ist über all das erhaben, aber zugleich deshalb für den menschlichen Geist in seiner Endlichkeit nicht zugänglich (»summa autem praecisio intellectus est veritas ipsa, quae deus est«)5.

Mit seiner Regionentheorie der Wahrheit greift Cusanus die metaphysischen Einheiten »Körper, Seele, Intelligenz und Gott« auf, wobei es für die oberste, alles in sich enthaltende, absolute Einheit und Wahrheit keine angemessene Ausdrucksweise geben kann. Angemessene und hinreichend mensurable Terminologie besteht aber ohnehin nur im Bereich der rationalen Bestimmung in geschlossener Semantik, die jedoch ihrerseits mit dem Reflexionsdefizit aufwartet, dabei keine ontologische Relevanz erzielen zu können. Von der Gnoseologie zur Funktional-Ontologie führt nach Cusanus einzig die temporär plausible Metapher, die bei sinnaufschließendem Gelingen in offener Semantik auch die Geburt des Begriffs aus ihrem eigenen Geist heraus generieren kann. Deshalb ist es auch (sufficienter spectata) von ausreichender Relevanz, den Bereich der divinalen Gesichtspunkte einer »visio dei« metaphorisch reich und zugleich hinreichend dicht zu halten, ohne damit eine Kommensurabilität mit dem disjunktiven Verstand erzielen zu müssen. Die der menschlichen Erkenntnis zugänglichen Regionen von der Sinnlichkeit über den Verstand bis zur Vernunft machen hingegen die vitalen und dynamischen Stufen des Geistes aus, dessen vollendete Bewegung durch den Intellectus geleistet wird. Auf der endlichen Seite ist der menschliche Geist das Umgreifende des Sinnlichen, Rationalen und Intellectualen in eins mit der Fähigkeit zu Auf- und Abstieg (as-scensus und de-scensus) innerhalb der in seine Ressorts fallenden Regionen, wobei er auch hierbei nur das mit exakter Genauigkeit erkennt, was er analytisch zum Gegenstand hat.

Dies wiederum betrifft die Sphäre der formalen Logik und der diesem Schema folgenden Mathematik sowie aller darauf verpflichteten Wissenschaften. Die Logik bleibt zwar bloßes Verstandesprodukt, hat aber dennoch vorausweisend symbolischen Charakter für den philosophischen Transzensus und für die spekulative Hypothesis des Unendlichen hinaus. Die auf Rationalität restringierte Logik ist jedoch weder allumfassend noch lebendig, denn sie enthält nicht das Gegenteil ihrer selbst als regula veri. Im Gegenteil, die rationale Vorgehensweise ontologisiert quasi bewußtlos ihre eigenen Inhalte, indem sie ihr Schema verabsolutiert und dabei die Reflexion auf ihre eigenen Voraussetzungen und deren Konsequenzen ignorierend exkludiert. Der solchermaßen exklusiv-explikative Verstand differenziert, die inklusiv-complikative Vernunft reflektiert.

Auf der Ebene der (translogisch-suprarational) reflektierenden Vernunft verfügt der Geist über die Beweglichkeit, die ihre eigene Begrenzung wiederum im göttlichen »Denken« oder »Schauen« findet und zugleich mit dem Verstand in Verbindung stehen bleibt. Der Verstand kann also zur Vernunft kommen, ohne daß die Vernunft um den Verstand gebracht würde, wobei der geistige Trans- und Deszensus auch diese beiden Bereiche zu überhöhen und reflexiv zu unterlegen vermag. Im aufeinander verwiesenen Verhältnis von ratio und intellectus kommt die dynamische Erkenntnisfähigkeit des Geistes zunächst darin zum Ausdruck, daß sie wegen ihrer Differenz zum absoluten Wissen und in Distanz zum unbestimmt Sensualen im Bereich von Mutmaßungen und Hypothesen (d. h. von Konjekturen6) verbleibt: »Coniectura est positiva assertio veritatis in alteritate, uti est, participans. «7

Die konjekturale Wahrheitserkenntnis stellt mithin keine Verlorenheit im Chaos völliger Beliebigkeit dar, sondern weist die Fähigkeit auf, im Entwerfen von Theorien ihren eigenen Ursprung und ihre Grenzen zu sehen, die sie allerdings selbst gezogen hat. Sie muß sich zwar notwendig diskursiv ausdrücken, sprengt aber diese Diskursivität kraft ihres transsumptiv-reflexiven Wissens darum, was es damit auf sich hat. Konjekturales Wissen bleibt symbolisches bzw. aenigmatisches Erkennen, indem darin der dynamische Prozeß »zusammenwerfender« (con-iacere/sym-ballein) Synthesis von angemessenen und in der Koinzidenz sich einander anmessender Termini vonstatten geht. Und sobald alles Sein als ein bloßes Eingeteilt -Sein begriffen wird, heben sich seine ontologische Dignität und seine bloß rational verstandene Objektivität auf, deren Moment und Movens im Geist durch seine Subjektivität als Konstituens des Objektiven bzw. als ein genuin Vor-Gestelltes erscheint. Dabei kann der Erkenntnisprozeß des menschlichen Geistes als eine ›phaenomenologia mentis‹ im Unterschied zu einer ›phaenomenlogia entis‹ charakterisiert werden.

Innerhalb einer Erscheinungsweise des Geistes betont Cusanus insbesondere das Moment des Kreativen, wenn er die Mutmaßung als eine geschaffene Einsicht (»creata intelligentia«) vorstellt, die von begrenzter Wirklichkeit sei. Die Mutmaßung drückt also eine subjektive Schöpfung in einer Behauptung aus und erhebt damit einen perspektivisch begrenzten Wirklichkeitsanspruch (als »esse respectu ad …«8). Die Konjektur ist zwar in ihrer Schöpfung verschieden vom göttlichen Schaffen, aber sie läßt doch eine Analogie zum Göttlichen zu und erhebt damit den Menschen zum »secundus deus «, zum »humanus deus«. Und dieser zweite Gott ist in seiner kreativen Potenz als menschlicher Gott gedacht – was er kreiert, schafft er auf seine Weise mit seinen Mutmaßungen und Imaginationen kraft seiner aktiven Produktivität aus seinem geistigen Blickwinkel für seine Bedürfnisse : »Ideo homo habet intellectum, qui est similitudo divini intellectus in creando.«9

Als angemessene Angleichung leistet die kreative Vernunft durch ihre regional angrenzende und berührende Differenz zum Göttlichen in typisch Cusanischer Andersheit und zugleich notwendiger Verwiesenheit eine Ähnlichkeit der Vorgehensweise des Geistes zum göttlichen Schaffen (»in creando«). Fast schon transzendentalphilosophisch positioniert wird der menschliche Geist als mentale Instanz und als kreatives Element seiner eigenen Dynamis zwischen die Pole seiner Grenzen gespannt, für deren binnentheoretische Einlösung und Auflösung der eigenen Kompetenz eine ihn in seiner endlichen Spannkraft transzendierende Abgrenzung zu von ihm selbst nicht einlösbaren Dimensionen der Unendlichkeit hypostasiert werden muß. Die zwar endliche, aber darin vollkommen autonome Mentalität des sowohl rational verständigen wie auch intellectual vernünftigen Geistes findet ihre nach außen (»in alteritate«) begrenzte Freiheit gerade darin, daß ihr eine ins Uferlose abgleitende Entgrenzung bis hin zum Chaos der völligen Beliebigkeit erspart bleiben kann. Rationalitätskritik und Voraussetzungsreflexion der in ihre Konsequenzen reichenden Bedingungen machen demnach die Leistungen unseres Geistes in seiner mentalen Reichweite aus.

Was Cusanus damit auf der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit leistet, ist eine Relativierung des mittelalterlichen Absolutheitsanspruchs und eine Verstandeskritik weit vor der Epoche der Verstandes-Aufklärung und ihrem romantischen Glauben an die rationale Omnipotenz. So betont auch Kurt Flasch, daß die Cusanische Koinzidenzlehre keine dogmatisch-doktrinale » ›Lehre‹, sondern eine ›Brille‹ (ist), die der Vernunft zu sehen gestattet, was dem Verstand verschlossen bleiben muß«10. Denn die Jagd nach der Weisheit (»De venatio sapientiae«) wäre auf der falschen Fährte, wenn sie die Wahrheit zu ihrem Ziel hätte, da sie diese niemals erreichen, obschon vielfältig intendieren kann. Die Einsicht in den Stellenwert diskursivrationaler und sprachlich-endlicher Einteilungsverhältnisse läßt somit den Mut frei, sich sowohl seines Verstandes als auch seiner Vernunft zu bedienen – quasi als göttlicher Schöpfer auf menschlicher Ebene. Veritas und sapientia sind eben nicht dasselbe!

Im Prozeß der Ent- grenzung des Be- grenzten vollzieht sich die philosophische Reflexion durch die Vernunft als die Andersheit des Verstandes. Auf endliche Weise wird die Erkenntnis des endlichen Geistes als ein »cognoscere … mensurare est« vorgestellt, wobei der Geist selbst als »mens« die Metapher für das angemessene (mens urable) Erkennen liefert11. Dem unendlichen Weltschöpfer aus göttlicher Sicht stellt Cusanus die ›Weisen der Welterzeugung‹ aus endlicher Perspektive zur Seite und erlaubt auch dabei eine Koinzidenz »in creando«12. Mit der Koinzidenz ist »das Eintreten des Unendlichen in unser Denken aufzufassen«, wie Kurt Flasch betont, »aber daraus folgt nicht, sie sei ein Privileg ›Gottes‹ – … sondern ein Prinzip universaler Dialektik.«13 Denn mit der Kunst der Erkenntnis (»ars coniecturalis«) wird eine perspektivisch variable und pragmatisch funktionale Ontologie der Plausibilität (als »esse respectu ad«) erzeugt, deren mensurable Anmessung sofort in dogmatische Anmaßung umkippen würde, sobald die Kreationen des endlichen Geistes aus ihrer ontologischen Relativität gerissen würden.

Dies gilt freilich auch für die Cusanische Regionentheorie des reflektierenden Geistes und seiner prozeduralen Erkenntnis selbst, deren interne Einteilungen symbolisch angesonnene »aenigmata« konjekturaler Herkunft als Funktionen innerhalb einer dynamischen Einheit darstellen und keinerlei ontologische Dignität aufweisen. Als gnoseologisch verstandene Regionentheorie erlaubt sie vielmehr selbst einen Transzensus in die »Idee des Koinzidierens« hinein, die Hegel als »den Gehalt der Philosophie« bezeichnet hat.14 In ihr kommt eine Einsicht zum Ausdruck, die sich als »docta ignorantia« ohne Doktrin, als belehrte Unwissenheit ohne dogmatische Standpunktanmaßung und als perspektivische Endlichkeit zu erkennen gibt. Als ihrerseits schematisches Symbol leistet die Regionentheorie des Cusanus einen Hinweis auf den transsumptiv-dialektischen Bildungsprozeß, in welchem die stets reversible Plausibilität pragmatischer Entwürfe für die Endlichkeit des menschlichen Wissens angemessener als die Anmaßung auf absolute Wahrheit erscheint.

In Dimensionen der Koinzidenz herrscht ein anderer Wahrheitsbegriff als im Bereich des Verstandes, weshalb eine Erkenntnistheorie des Rationalismus auch in seiner als ›kritisch‹ propagierten Version mit inkommensurablen Mitteln operiert. Die Substitution der Wahrheit oder die Aufhebung des metaphysischen Wahrheitsbegriffs durch den pragmatischen Relativismus einer reflektierten Plausibilität mag zwar zunächst anstößig für die wissenschaftliche Forschungslogik wirken. Sie stellt jedoch nur eine positive Bestimmung der belehrten Unwissenheit als Einsicht in die Unmöglichkeit letztbegründbarer Wahrheit dar, wenn im intellectualen Transcensus über die Ratio alles beweisbare Wissen aufhört und die Kunst des koinzidierenden Begreifens im Nichtwissen beginnt. Dann empfiehlt es sich, auch den Status der Wahrheit neu zu bestimmen und ihn als plausibles Kompliment an metaphorisch riskante Konjekturen anzupassen. Damit würde zumindest der dialektische Erkenntnisprozeß der Philosophie gegen die Attacken positivistischer und rationalistischer Korrespondenztheorien der Wahrheit geschützt. Denn die »coniectures« des reflektierenden Geistes können nur auf Zustimmung oder Ablehnung, auf Plausibilität oder Implausibilität, aber niemals auf »reputationes« durch eine Verstandeskritik via falsificationis stoßen. Falsifikationen bleiben intern-relationale Kalkulationsfehler der Ratio und finden keine externen Strukturen vor, an denen ein Scheitern auch nur möglich wäre. Vielmehr scheitern alle rationalen Kriterien am verstandesexternen Bereich der Vernunft, die durch solche Klassifikationsdifferenzen nicht tangiert wird.15 Dabei zeigt sich gerade am Beispiel von Klassifikationsaspekten die kategoriale Verfaßtheit von Einteilungen überhaupt, wozu freilich auch die Regionentheorie des Cusanus gerechnet werden muß. Denn in dieser drückt sich kein Sachverhalt einer subjektunabhängig gedachten Wirklichkeit (Ontologie) aus, es artikuliert sich darin vielmehr die Notwendigkeit perspektivischer Differenzierungen durch den Verstand, die es erlauben, ein Produkt der endlichen Konjektur als ein solches zu begreifen. Dann können via reflexionis auch Bereiche auf den Begriff gebracht werden, die sich rationis via nicht mehr verstehen lassen.

Hierzu gehören alle Metaphern, die als Grenzbegriffe elastisch genug sind, eine Brücke der Koinzidenz zu bauen, die nicht dem starren Flußbett diskursiver Buchstäblichkeit folgt, sondern dieses zu überqueren erlaubt. Insofern lassen sich perspektivisich als abstraktiv oder attentional bestimmt verschiedene Dimensionen eröffnen, welche die gewohnten Aspekte der Tradition aus ihrem dogmatischen Schlummer zu reißen vermögen.16 Was den Festlegungen und Begrenzungen des Verstandes und dessen Wahrheitsbild versagt bleibt, läßt sich durch plausible Metaphern und infinitesimale Grenzbegriffe mit dem Elan des Neuen beleben, indem das zunächst Unsagbare auf kreative Weise zu Wort kommen kann. Der Sprache als dem Ort entfremdend-versöhnender Vermittlungskoinzidenz und ihrer innovativen Aufhebungsbewegung wird solchermaßen eine dynamische Sprengkraft durch die »energeia« der vitalen Interpretation zugetraut, die auch den starrsten Bedeutungen ihr Ableben bescheinigen kann. Hierzu bedient sich der dynamische Geist in seiner Flexibilität und Vitalität keiner Subsumtion durch bestimmende Urteilskraft, sondern der Reflexion auf die Voraussetzungen und Bedingungen des Urteils selbst, wie es sich in statu nascendi durch reflektierende Urteilskraft generiert finden läßt.

Daß sich in einem solch prozessualen Innovationsbereich der kreativen Neubestimmung auf keine Kalkulation von Bestimmtheiten rekurrieren läßt, die aus gegebenen Prämissen deduzieren könnte, wird vielmehr dadurch deutlich, daß die Bewegung des Begriffs eine Elastizität erzeugt, innerhalb derer sich die Metaphernbildung als der Ursprung und die Quelle neu gewinnbarer Einsichten mit der Kraft des vollzogenen Urteils durchzusetzen vermag. Dialektik und Metapher bilden hierbei eine synthetisch gestiftete Einheit auf prozeduralem Wege, welcher von der Vernunft zunächst für den Verstand und dynamisch wieder zurück zur Vernunft beschritten wird. Grenzbegrifflich regelsprengend wird eine Innovation durch das Aufbrechen von Traditionen metaphorisch individuell artikuliert, angesonnen und prae- schematisiert, bevor die Resonanz der communis opinio darin ein allgemeines Paradigma17 akzeptiert und die Geburt des Begriffs aus dem Geist der Metapher sanktioniert. Doch selbst als translogisch und suprarational bestimmt, verweilt auch die Vernunft im Bereich der Endlichkeit, die das Unendliche nur wiederum in alteritate, also nicht begrifflich zu fassen vermag. Für die Region des »possest« oder des »non aliud« lassen sich zwar noch Metaphern für das Unbenennbare des Absoluten bilden, jedoch nunmehr auch trans-intellectual in der höchstmöglichen Grenzbegrifflichkeit selbst, die nicht einmal mit der »intuitio« oder der »visio« begriffen werden können. Es bleibt dabei eine Differenz von verschiedenen Seiten derselben Medaille, die das Sehen Gottes (visio dei) und Gottes Sehen (visio dei) zugleich thematisiert18.

Für die Wahrheitsfrage bei Cusanus von Interesse sind nicht nur die jeweiligen Inhalte seiner Regionentheorie, sondern die Grenzbereiche, an denen sich das eigentliche Koinzidenzgeschehen ins Verhältnis von Dialektik und Metapher setzt. Es wird damit eine Rationalität im Übergang skizziert, die ihren eigenen dynamischen Wahrheitsstatus stufenweise ein- und aufzulösen vermag und dabei dem Positivismus der Rationalität eine Alternative zur Seite stellt. Darin würde mit der translogisch-suprarationalen Dimension der Vernunft nicht nur auf die Bedingungen und Voraussetzungen der formalen Logik mitsamt ihrer Methode der Wissenschaft abgezielt, sondern über diese hinaus eine neue Wahrheitsdimension eigens erfunden. Denn gegenüber der rationalen Erkenntnistheorie zeichnet sich die Wahrheit bei Cusanus ebenfalls in alteritate aus, womit eine spekulative Plausibilität in Anerkennung endlicher Fertigkeit zum stets Unfertigen geltend gemacht werden kann. Nicht im sicheren Bereich der geschlossenen Semantik analytischer Urteile, die in tautologischem Wissen angesiedelt ist, verfährt die synthetische Wahrheit bei Cusanus, sondern im Bereich des reflektierten Nichtwissens, in dem die Philosophie als Reflexion perspektivischer Standpunkthaftigkeit und als konjekturale Erkenntnis erscheint.

Wie inmitten einer Wolke nur ein undurchdringlicher Nebel gesehen wird, während in Distanz zu ihr die Konturen der Wolke sichtbar werden, so findet die visio mentis im Durchgang der Andersheit (Alterität) durch Reflexion auf ihre eigenen Bedingungen und Konsequenzen zu einer Sichtweise, die sich von ihrem Ursprung löst und diesen zugleich im Blick behält. Dies kann als Reflexionsfigur des Denkens selbst interpretiert werden, das die Auswirkungen aus seiner Bewegung vollzieht und sich zu dieser ins Verhältnis setzt. Allerdings geschieht diese Reflexion nicht im Bereich des Wissens, sondern im Bereich der docta ignorantia, die alle Dogmatik des rationalen Erkenntnis-Schemas hinter sich gelassen hat und dabei um den regionalen Stellenwert der wissenschaftlichen Praxis weiß. Das Schema der Rationalität wird somit nicht aus dem Wissen suspendiert, sondern durch Verortung systematisch und funktional integriert, woraus sich die distanzierende Perspektive der Reflexion und des Geltungsanspruchs von Hypothesen dynamisch ergibt.

Bezüglich des rationalen Erkenntnisanspruchs leistet die visio mentis aus dem »posse-Denken« der docta ignorantia heraus eine dynamische Selbstintensivierung im Versuch, das Unendliche begrifflich, wenn auch »in alteritate« zu artikulieren, indem sie als »aenigmatica scientia« ein symbolisch vollziehbares Können aus dem Geist der Unwissenheit selbst gewinnt19. Zwar bleibt die bewegende Kraft des innovativ-konjekturalen Denkens an der Polarität zwischen Wissen und Nichtwissen orientiert, wenn sie jeweils an ihre eigenen Grenzen heranzureichen vermag und sich vom unerreichbaren Ideal des Absoluten als regulativer Idee motiviert sehen kann. Die Vernunft erreicht mithin die Ebene einer transzendental-affinen Reflexion der Urteilskraft, die sich von der Transszendentalphilosophie Kants nur in wenigen Punkten unterscheidet, wenngleich auch die Restriktion des Verstandes und die Motivation der Vernunft mit verschiedenen Parallelen aufwartet. Hier wie dort wird zumindest die kreative Innovation einer individuellen Potenz einem ingenium zugeschrieben, das sich mentaler Dimensionen bedient, ohne dafür biologische »Metasubjekte« in Gestalt der Natur und deren »Evolution« zu bedürfen. Die konstitutive Funktion der individuellen Autonomie bedarf mithin keiner ontologischen Fiktion zu ihrer empirischen Verifikation. Die Verifikation des Könnens, das sich im Erzeugen bewahrheitet, ist dasselbe Können, das sich im Werden verifiziert: »Hoc enim posse, quod de facere verificatur est idem posse, quod de fieri verificatur.«20

Der Anfang des Werdens setzt zugleich beim Gewordenen wie beim Neuen an, wobei sich die Innovation additiv oder alternativ zur Tradition ins Verhältnis setzt, wenn immer eine Verifikation durch hinreichende Plausibilität etablierter Isolate gelingt. Diese wahrheitstheoretische Leistung des lebendigen Geistes ist originär auch in bewußtlosen Gestalten gewordener Paradigmata regenerativ zu verfolgen, da sich selbst die Axiome formaler Logik in statu nascendi einer attentiv-abstraktiven Einteilung verdanken. Auch darin bleibt noch die Genese der Konsequenzen formal-logischen Denkens in seiner erstarrten Gliederung sichtbar erhalten. Denn selbst die rationalen Bedingungen des Widerspruchsfreiheits-Postulates folgen schlicht aus der gesetzten Bestimmung von A, das sich in der Perspektive des Verstandes von allem anderen (als Non-A bestimmt) zu unterscheiden hat: aus A=A folgt Non-A=Non-A und damit auch Non: A et Non-A. Was jedoch für eine Region des Geistes zweckmäßig sein mag, kann in einer anderen Region bereits als ungeeignet erscheinen. Die Region des rationalen Wissens verfügt zwar über eine basale Exaktheit sowie über die »süße Simplizität der zweiwertigen Logik«21 im Bereich des operational-technischen Kalküls, die Region der supra-rationalen Vernunft hingegen ist intern-relational auf die logische Schlichtheit der bloßen Verstandesbedingungen nicht angewiesen, sondern stellt innerhalb ihres Verfügungsbereiches eine Perspektivität zur Verfügung, die (qua similitudo divini intellectus in creando) als »posse fieri« das Werden-Können endlos zu initiieren vermag.

An der Grenze zur Ratio übersteigt die Vernunft mit ihren Koinzidenzen den Verstand bis zur infinitesimalen Grenze des Gottesgesichtspunktes22, den sie aus endlichen Mitteln niemals erreichen, sondern immer nur als prae-suppositio intendieren und grenzbegrifflich vor Augen haben kann. Die Vernunft verfolgt intern-relational ihre Zwecke wie der Verstand seine auch; nur der dynamische Geist des humanus deus, der in creando all seine Regionen umfaßt, ja sogar all seine Regionen als seine positionalen Perspektiven durchschaut, bewegt sich nach jeweiliger Zweckbestimmung entweder innerhalb einer Region oder auf der Grenze zwischen mehreren Perspektiven, die allesamt pragmatisch für seine aktualen Ziele in ihr Blickfeld gerückt werden können. Insofern sind die mentalen Regionen auch nicht als ontologische Präfigurationen zu verstehen, wie sie dem Verstand erscheinen mögen, sondern als geistig verschiedene Perspektiven begreifbar, die in der Bewegung sowie an den Grenzen perspektivischer Fixationen und Isolationen ihre Relativierung erfahren. Daß diese Relativierungen sich keiner ontologischen, sondern einer gnoseologischen Funktionalität verdanken, ist eine Leistung der zur Vernunft gekommenen Reflexion, die sich zwischen dem Verstand und der regulativen Idee einer visio dei verorten läßt.

Wie sich in der Geometrie ein Vieleck durch rein numerische Erhöhung der Winkelzahl einem Kreis annähert, wie sich die Peripherie des Kreises durch seine Drehung der Kugel annähert und wie sich der Kreisbogen approximativ seiner Tangente annähern läßt, so unterliegen die Perspektiven der Regionentheorie selbst einer (regulativen) Idee, die ascensual ihre eigenen Voraussetzungen im descensualen Bereich transsumptiv-dynamisch zur jeweils erhöhenden Überwindung ihrer Binnenperspektive zu führen vermag. Doch dazu wird auch eine Potenz mobilisiert, die das fieri posse in ein posse fieri (vice versa) erlaubt, wie sie weder durch die aristotelische »prote hýle« noch durch die neuplatonische »emanatio« geleistet wird oder werden kann. Das posse mentalis bei Cusanus bewegt sich vielmehr relativ zu den regionalen Perspektiven der Regionen selbst, die sich jeweils intern-regional verhaftet zeigen, aber dennoch ein Schema durch ein anderes ersetzen können. Ohne Schema, ohne Regionen und ohne Bereichsdenken vollzieht sich nach Cusanus keine Vorgehensweise des Geistes, dessen mensurable Qualität im Bereich der Rationalität zwar ihren Ursprung findet, aber in deren Überwindung besteht.

Dies hat u. a. zur Folge, daß bei Cusanus notwendig verschiedene Wahrheitsperspektiven zum Ausdruck kommen, die sich jedoch auch regional verorten lassen, ohne den Bereich der Ratio über deren Grenzen hinweg diskursiv verlassen zu müssen: Analog zu Kants Kritiken lassen sich bei Cusanus verschiedene Bestimmungen von Reichweite und Grenzen der geistigen Erkenntnisstufen antreffen, die sich auf die jeweilig regionalisierten Leistungen des dynamischen Geistes beziehen. Als ›Kritik der reinen Sensualität‹ wendet sich das Denken dem rein affirmativen Aspekt des Sinnlichen zu, das seine Daten in positiver Form (A und A…) vorfindet. Es betrifft dies den Bereich der als ontologisch gedachten Sinnlichkeit, aus dem der Verstand mit seinem Unterscheidungsvermögen die von ihm selbst differenzierten Fakten isoliert, die sich mit rationaler Hilfe wechselseitig spezifizieren lassen. Die krude Faktizität der zunächst verworrenen, da noch nicht eingeteilten Sinnlichkeit nötigt den Geist, Ordnung im Chaos der sensualen Mannigfaltigkeit zu schaffen, wozu der Verstand die Form der Einteilung liefert (A oder Non-A), mit deren Hilfe Affirmationen und Negationen in ihrer Bestimmtheit getroffen und erstellt werden.

Wissenschaftlich rationale Theorien erlauben dem Verstand, konstruktiv gesetzte Verschiedenheiten im Aufbau der sinnlichen Welt zu unterscheiden, für die der Bereich der Sensualität über kein hierzu geeignetes Schema verfügt, sondern dieses erst im ihr übergeordneten Bereich des Verstandes findet. Die ›Kritik der reinen Sensualität‹ befreit die Sinnlichkeit aus ihrem Schema der Affirmation durch die Einführung der Negation, mit deren Hilfe Gegensätze und Widersprüche konstruierbar werden23. Der rationale Diskurs ist im Bereich des Verstandes eröffnet, in welchem die Fragen nach Alternativen mit disjunktiven Urteilen beantwortbar werden. Die bloß additive Iteration sensualer Faktizität erlaubt auf der Ebene des Verstandes den Einspruch durch andere Einteilungen und Theorien, die sich mit alternativen Disjunktionen gegenseitig beurteilen lassen. Die Wissenschaften sind diesem Bereich der Rationalität verpflichtet, sofern darin nicht nur unterschieden, sondern auch widersprochen werden kann. Die ›Kritik des reinen Verstandes‹ hingegen gestattet es der Vernunft, die bloß formale Äußerlichkeit im Schema der Verstandesleistungen zu durchschauen und auf das in Gegensätzen formulierte Gesetztsein der Fakten (facere) zu reflektieren. Die entweder affirmierte oder negierte (jedenfalls statisch bestimmte) Faktizität des Verstandes wird durch die Reflexion der Vernunft als schematisierte Abstraktion begriffen, wenn die intellectuale Spekulation auch die Wurzeln des Rationalen und des Sensualen in Erinnerung ruft. Dann sind die schematischen Einteilungen nicht von ihrer Genese zu trennen, sondern es wird die Verwiesenheit ihres Verhältnisses zum dynamischen Geist begriffen: Die regional spezifischen Ontologien werden in ihrer funktionalen Relativität aufgedeckt und in der vernünftigen Reflexion aufgehoben (A und Non-A). Die Sinnlichkeit stellt keine Fragen, sondern kompiliert affirmativ, der Verstand fragt nach dem Unterschied und spezifiziert alternativ, die Vernunft fragt nach der Voraussetzung des Fragens selbst und koinzidiert reflexiv.

Die zur Bestimmung der kategorialen Dimensionen des Geistes vorgenommenen Unterscheidungen zur Abgrenzung untereinander und zur Thematisierung von Reichweite und Grenze der jeweiligen Bereiche lassen sich nicht nur bezüglich dieser paradigmatischen und für den Verstand pragmatischen Spezifikationen mentaler Erkenntnisstufen ins Auge fassen, sondern geben auch einen Blick darauf frei, daß alle genannten Regionen des Geistes als dessen Perspektiven in Erscheinung treten und dabei außer dem jeweils eigenen Geltungsbereich auch transsumptiv Übergänge zu extern-relationalen Bereichen erschließen, die nur unter Verabsolutierung der jeweiligen Binnenperspektive den Bereichen der Andersheit unaufgeschlossen bleiben. Der Übergang an den Grenzen hingegen gestattet es, den Geist als das bewegende Element und Bindeglied zum Auf- und Abstieg innerhalb der konsequent entfalteten Dynamik des Denkvermögens selbst zu begreifen24. Hierbei steht die Leistung des Verstandes in der Mitte zwischen Sensualität und Intellectualität, da im Bereich der Rationaliät die eingeteilte Sinnlichkeit einerseits und die reflektierte Vernunft andererseits zum Zwecke der Diskursivität vermittelt sind. Der Verstand transzendiert die Sinnlichkeit, wie die Vernunft den Verstand transzendiert, woraus sich verschiedene Wahrheitsbestimmungen durch den lebendigen Geist treffen lassen.

Sensualiter spectata sind alle der Sinnlichkeitsregion zugänglichen Dimensionen aufgrund ihrer erst noch zu erfolgenden Unterscheidungen quasi »wahr und wahr«, bzw. als solche konstatierbar, da alle Affektionen des Geistes von der Sensualität in identisch bejahender Qualität wahrgenommen werden; alles sinnlich Gewonnene gilt durch das Schema der Sensualität als gleichermaßen »wahr« für den Verstand. Auf dieser Stufe der sensualen Unterschiedslosigkeit findet keinerlei produktive Erkenntnis statt, da hier die bloß passive Rezeption (w/w) vonstatten geht. Ein Wahrheitswert auf dieser Stufe wäre bestimmbar als neutrale Beliebigkeit für die stets affirmative Rezeptivität. Rationaliter spectata sind jedoch alle dieser Region zugänglichen Dimensionen entweder »wahr oder falsch« (w/f) und damit alternativ konstatierbar, da alle Affektionen des Geistes von der Rationalität in bejahender oder verneinender Modalität beurteilt werden können. Auf dieser rationalen Stufe der Unterscheidung findet produktive Erkenntnis statt, da hier die Spezifikation argumentativ vonstatten geht. Ein Wahrheitsmodus auf dieser Stufe wäre als alternierende Wahrheit der Empirie oder als gesetzte Bipolarität durch schematisierte Differenz bestimmbar. Intellectualiter spectata sind jedoch alle der Region der Vernunft zugänglichen Dimensionen »wahr und falsch« (w + f) und damit koinzidentell konstatierbar, da alle Affektionen des Geistes von der Intellectualität in complikativ bejahender und verneinender Qualität wahrgenommen werden; alles vernünftig Gewonnene ist durch das Schema der Intellectualität sowohl wahr als auch falsch. Auf dieser Stufe des Zusammenfalls findet die höchstmögliche geistige Erkenntnis statt, da hier die coincidentia oppositorum inklusiv im Sinne eines Zusammenfalls als regula veri und nicht als contradictio falsi vonstatten geht. Ein Wahrheitsmodus in diesem Bereich der Vernunft wäre als reflektierte Philosophie bzw. als begriffene Einsicht in die Unzulänglichkeit der rationalen Insuffizienz bestimmbar. Das Resultat zeigt sich dann in einer negativen Erkenntnis durch positive Plausibilität. Nur in der grenzbegrifflich supra-intellectualen Perspektive (der visio dei) wären die Divergenzen innerhalb der geistigen Regionendynamik hinfällig oder bestenfalls als in diesen unbestimmbar bzw. als irreduzible Inkompatibilität gegenüber den geistigen Bewegungen insgesamt faßbar. An dieser Grenze, die Cusanus mit der Metapher der »Mauer des Paradieses« skizziert, berührt der Geist das Unberührbare unberührenderweise (»attingitur inattingibilis inattingibiliter«25), was von der spekulativen Perspektive jenseits der Grenze für den Geist nur als seine immerwährende Konjekturalität reflektiert werden kann, die in der intellectualen coincidentia oppositorum ihr Maximum an der Grenze zwischen mentaler und transmentaler Explikation erreicht.

Wenn jedoch alle Perspektiven so zugeschnitten sein müssen, daß der Verstand, wenn auch in alteritate, als zentral für das Verstehen unumgänglich erscheint, läßt sich die Regionentheorie des Cusanus als Bewegung des Begriffs in der Bildung sowie in der Vermittlung des Individuellen und Allgemeinen dahingehend begreifen, daß in ihr nicht nur verschiedene Mikrokosmen zu Wort kommen, sondern daß zuvor noch der Kontext eine Erweiterung erfährt, die sich der Reflexion auf die jeweiligen Bedingungen verdankt. An Hegel erinnernd, zeigt sich in der Denkweise des Cusanus eine Bewegung des Begriffs, die sich in dynamischer und dialektischer Intention aus dem Denken selbst ergibt. Die Rationalität bezieht ihre Plausibilität aus den Axiomen der Logik, die Intellecualität bezieht ihre Plausibiliät aus der Beschränkung rationaler Bestimmungen, die trans-intellectuale visio dei erfährt ihre Perspektive aus dem Absoluten, das sich keiner – stets defizienten – Beschreibung unterziehen läßt. Bezüglich der Cusanischen Regionentheorie des Erkennens liegt ein durch regulative Ideen aufgehobener Prozeß des Geltungs- und Wahrheitsbereiches für alle Stufen des Geistes vor, weshalb dieser Prozeß sich auch als eine Bewegung des Begriffs in der Bildung zur Weisheit (sapientia) beschreiben läßt, die jeden erreichten Mikrokosmos zugunsten eines erweiterten Weltbildes verlassen kann, aber dabei nie zu einem sicheren und abschließbaren Ende (veritas), sondern wieder nur zu einem anderen Paradigma neuer aenigmata kommt.

Die nicht artikulierbare Affirmation der sensatio verweilt in ihrem unreflektierten Status der Subjekt-Objekt-Dichotomie, ohne diese selbst erkennen zu können. Die artikulierbare Differenz der ratio verweilt in ihrem unreflektierten Status der Unterscheidungs-Dichotomie, ohne auf dieses Schema reflektieren zu können. Die nicht artikulierbare Oppositionskoinzidenz des intellectus als docta ignorantia verweilt in ihrem Abstand zur visio dei an deren Grenze – jeweils in alteritate – und begreift von dort aus das Sein als ein Eingeteilt-Sein für den Verstand. Daraus folgt für Cusanus eine funktional-ontologische Dynamik, die in direktem Zusammenhang mit der epistemologischen Dimension geistiger Bewegungen als endlicher Vernunft zu sehen ist. Endlich bleibt jeder Wahrheitsanspruch auf jeder Stufe der Erkenntnis und innerhalb von deren jeweils perspektivisch bedingtem Mikrokosmos, der sich zwar erweitern läßt, aber nicht zur Verabsolutierung der jeweilig internen Konjekturen führen kann. Einzig auf der transsumptiven Grenze sind qualitative Verschiebungen möglich, die zugleich den Geltungsbereich ihrer Herkunft – d. h. die Bedingungen der Erkenntnis in statu nascendi – reflektiert hinter sich lassen können. Sowohl im Ascensus als auch in Descensus erscheint der Geist als »mens« in seiner beweglichsten Form, aber eben auch nur als Form des Denkens überhaupt. Die sich dabei vollziehende Dialektik gibt sich jedoch weder als Idee noch als Form, noch als Methode zu verstehen, sondern als ein Prozeß, den das dynamische Denken selbst vollzieht, indem es die eigene Spekulation der Vernunft verstandesaffin artikuliert. Oder, mit Hegel gesprochen: »Die Spekulation versteht … den gesunden Menschenverstand wohl, aber der gesunde Menschenverstand nicht das Tun der Spekulation«26.

Dieser Unterschied zwischen Verstand und Vernunft, zwischen empirischer Rationalität und reflektierter Spekulation findet sich bereits bei Cusanus als Dialektik angelegt, wenn die jeweils höhere Stufe des Geistes aus der jeweils niedrigeren Stufe hervorgeht. Es liegt somit auf der Hand, daß sich der Wahrheitsanspruch im Vollzug des geistigen Auf- und Abstiegs mit verändert, da via reflexionis auch die Fragestellungen (z. B. der rationalen Empirie gegenüber der Reflexion auf deren Bedingungen des Verstandes) nicht dieselben bleiben. Denn auf der Ebene der sensationes liegen keine Unterschiede vor, weshalb dieser Region alles als gleich wahr erscheint (w/w), da sich die Frage nach der Wahrheit hier noch nicht stellt. Auf der Ebene des Verstandes gelangt man via negationis zu entweder wahren oder falschen Urteilen (w/f) und damit auch zu einem rationalen Wahrheitsbegriff, der die Wahrheit in Form von logischer Richtigkeit zur Anwendung bringt. Die Frage nach dem Wahrheitsmodell des Verstandes stellt sich erst auf der Ebene der Vernunft, in welcher sich die Oppositionskoinzidenz auf der Basis der docta ignorantia begreifen läßt.

Auf dieser Stufe der Reflexion wird die rational konstruierte Unterscheidung von wahr und falsch selbst hinfällig, weshalb aus dieser Perspektive alle Theorien gleichermaßen »falsch« sein müssen (f/f). Maß und Gemessenes finden immer nur zu einer pragmatischen Einteilung von hypothetisch hinreichender Plausibilität, die niemals mit der in ihr beanspruchten Wahrheit verwechselt werden darf. Dem Verstand ist der Pragmatismus fremd, der in der Vernunft zu einem Wahrheitsbegriff der Plausibilität durch (rational gesehen) »falsche«, wenn auch zweckmäßige Urteile gelangt. Da sich für die Stufe der visio dei, in der sich alles eingefaltet sowie für den Geist unerreichbar zeigt, die Frage nach der Wahrheit nicht stellt, sind in ihr – wie in der sensatio – alle Bereiche des Absoluten gleich »wahr« oder gleich »falsch« (w/w oder f/f – bzw. weder w noch f) oder liegen bereits außerhalb dieser Art von Einteilung, aus der sich folgende Regionalisierung mit ihren jeweiligen Geltungsansprüchen bezüglich Wahrheit und Falschheit auf Verstandesebene ergibt:

deus (weder w noch f – bzw. w/w oder f/f)

intellectus (w und f)

ratio (w oder f)

sensatio (w und w)

Dem erkennenden Geist bleiben somit nur die beiden (›mittleren‹) Regionen des Mentalen auf den Stufen des Verstandes und der Vernunft zugänglich, wobei erstere im Bereich der (z. B. empirischen) Wissenschaft stattfindet, während letztere im Bereich der reflektierenden Philosophie anzutreffen ist. Die noch nicht eingeteilte und speziell für die Ratio spezifizierbare Sinnlichkeit regt den Verstand zu seinen Unterscheidungen an, woraus sich dessen Affektion durch die Sinnlichkeit ergibt, die rational zu ordnen Aufgabe für den hierfür zuständigen Verstand ist, während die Vernunft auf das Schema des Verstandes reflektiert und von der visio dei ihre Anregung zum Transscensus bezieht. Ascensiv stellen sich alle Regionen in grenzüberschreitend motivierter Aufhebung von defizienten Wahrheitsansprüchen vor, descensiv bieten alle Regionen an der jeweils unteren Grenze einen Sprung über deren jeweils höchste Form sowie zugleich über deren Defizienz auf. Dabei werden die Ebenen der sensatio und des deus als grenzbegriffliche Bereiche gedacht, die in der Reflexion auf die visio dei keinen Unterschied mehr aufweisen können.

Nur der analytisch artikulierte Verstand traut sich die Anmaßung zu, zwischen wahren und falschen Urteilen unterscheiden zu können, obwohl es ihm hierfür an der Kraft zur Bildung synthetischer Urteile (im Sinne Kants) mangelt. Die Vernunft hingegen kann den Wahrheitsbegriff des Verstandes als dogmatische Position begreifen, die nur ihre eigene Perspektive der Wahrheit kennt und diese Schablone (w /f) an alles heranträgt, was sie umgibt. Insofern wird die Vernunft zwar vom Verstand affiziert, findet jedoch in der Imagination einer visio dei die korrelative Funktion ihrer eigenen Vorgehensweise. Und solchermaßen sind alle Regionen aufeinander verwiesen, was sogar bezüglich der untersten und der obersten Stufe zu einer »Deckungsgleicheit« des Wahrheitsbegriffs (w/w) führt, während die espistemologische Schlacht auf dem Feld zwischen Verstand und Vernunft geschlagen wird. Und auch in den Resultaten finden sich ihre Unterschiede von der Art, daß die Vernunft zwar den Verstand begreift, der Verstand aber die Vernunft nicht versteht. Denn die Vernunft ist in der Lage, ihre Reflexion auf die dominante Relevanz plausibel etablierter Isolate und deren Differenzierungen zu richten, da sie sich an deren Herkunft aus ihr selbst zu erinnern vermag. Dem Verstand hingegen werden nur ontologisierte Substrate sichtbar, die er von okkulter Vernunft oder fremder Natur zu kennen glaubt, deren Autorschaft hingegen aus seinem Gedächtnis gewichen ist. Solchermaßen gelingt es, dem Verstand zur Vernunft zu verhelfen, ohne die Vernunft um den Verstand zu bringen.27