Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit - Sächsische Jugendstiftung - E-Book

Pilgern als Methode der Sozialen Arbeit E-Book

Sächsische Jugendstiftung

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Beschreibung

Zwischen den Zeiten Junge Menschen in schwierigen Lebenssituationen auf ihren Weg zu führen, dies hat sich die Sächsische Jugendstiftung mit ihrem Programm "Zwischen den Zeiten" zum Ziel gesetzt. Kern des Programms sind maximal einwöchige Pilgerreisen – klar strukturiert und pädagogisch begleitet. Das Pilgern hilft jungen Menschen dabei, das Leben aus einer anderen Perspektive zu sehen, das zuvor durch prekäre Lebenssituationen oder Straftaten gekennzeichnet war. Die bisherige Bilanz kann sich sehen lassen: Mehr als 500 junge Menschen pilgerten auf mehr als 50 Touren über 5.000 Kilometer. Sie leisteten dabei über 7.000 gemeinnützige Arbeitsstunden als gesellschaftliche Wiedergutmachung ab. In diesem Buch beleuchten und diskutieren ExpertInnen aus der Soziologie, Psychologie, Theologie und Pädagogik diesen Ansatz und ziehen schließlich sozialpädagogische Schlüsse daraus. Ein spannendes und zugleich aufschlussreiches Fachbuch für SozialpädagogInnen, TheologInnen und SoziologInnen sowie für Interessierte aus den Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe.

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»Zwischen den Zeiten«

Sächsische Jugendstiftung (Hg.)Sven Enger, Stephan Hein, Angela Teichert

Pilgern als Methodeder Sozialen Arbeit

für junge Menschen in multiplen Problemlagen

unter Mitarbeit von

Ansgar Hoffmann, Kati Masuhr,Iris Milde und Till Winkler

Die Sächsische Jugendstiftung

Die Sächsische Jugendstiftung ist eine landesweit wirkende, privatrechtliche Stiftung. Sie wurde 1997 auf Beschluss des Sächsischen Landtags ins Leben gerufen. Ihre Satzung und Struktur, mit den Organen Vorstand und Beirat, wurde von der Sächsischen Staatsregierung verabschiedet und von der Stiftungsaufsicht genehmigt.

Aus der Absicht des Gründers entsteht ihr hauptsächlicher Stiftungszweck, die Schaffung einer weitestgehend unabhängigen und landesweit wirkenden Einrichtung mit der Zielsetzung, Jugendhilfe insb. Jugendarbeit in Sachsen zu unterstützen und das Engagement in der Generation junger Menschen im Freistaat Sachsen zu befördern.

Sächsische Jugendstiftung

Weißeritzstraße 3

01067 Dresden

www.saechsische-jugendstiftung.de

ISBN 978-3-7398-3017-9 (Print)

ISBN 978-3-7398-8017-4 (EPDF)

ISBN 978-3-7398-0525-2 (EPUB)

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© UVK Verlag 2019

– ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG

Lektorat: Rainer Berger, München

Einbandmotiv: © Sven Enger, Dresden

Druck und Bindung: CPI, Claussen & Bosse, Leck

UVK Verlag

Nymphenburger Str. 48

80335 München

Telefon: 089/452174-66

Narr Francke Attempto Verlag GmbH & Co. KG

Dischingerweg 5

72070 Tübingen

Telefon: 07071/9797-0

www.narr.de

Geleitwort »Zwischen den Zeiten«

von Bernd Holthusen

Ambulant statt stationär– heute aktueller denn je

„Ambulant statt stationär“ oder mit anderen Worten: Vermeidung von Freiheitsentzug durch bessere Alternativen – das war bereits in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die auf den Punkt gebrachte zentrale Botschaft der „Ambulanten Bewegung“. In dieser Zeit wurde immer lauter gefordert, eine grundlegende Reform des Jugendgerichtsgesetzes vorzunehmen. Die Fachpraxis der Jugendgerichte und vor allem auch der Jugendhilfe setzte sich dafür ein, kriminologische Erkenntnisse systematischer im Jugendstrafverfahren zu berücksichtigen. Die Kriminologie hatte durch viele Studien immer wieder belegt, dass freiheitsentziehende Sanktionen hohe Rückfallraten aufweisen und insbesondere für junge Menschen in der Entwicklung schädliche und eben nicht erzieherische Wirkungen mit sich bringen. So bildete sich die Überzeugung heraus, dass freiheitsentziehende, stationäre Sanktionen, wo immer möglich, zurückgedrängt und durch erzieherisch orientierte, ambulante Sanktionen ersetzt werden sollten. Im Fokus der Zurückdrängung standen vor allem die verschiedenen Formen des Jugendarrests, aber auch die Vermeidung und Verkürzung der Untersuchungshaft, als der wohl schädlichsten Form des Freiheitsentzugs.

Die Fachpraxis ging voran und erprobte in Modellprojekten ambulante Alternativen zu den freiheitsentziehenden Sanktionen – noch bevor es eine entsprechende gesetzliche Grundlage gegeben hat. Die wissenschaftliche Begleitung der Modellvorhaben zeigte positive Ergebnisse und so wurden die „Neuen Ambulanten Maßnahmen“ nicht nur fachlich weiterentwickelt, sondern fanden auch immer weitere Verbreitung.

Diese Reform durch die Praxis wurde dann vom Gesetzgeber 1990 im Jugendgerichtsgesetz (JGG) aufgegriffen. In dem auch heute noch lesenswerten Gesetzentwurf heißt es wörtlich: „Es hat sich weiterhin gezeigt, daß die in der Praxis vielfältig erprobten neuen ambulanten Maßnahmen (Betreuungsweisung, sozialer Trainingskurs, Täter-Opfer-Ausgleich) die traditionellen Sanktionen (Geldbuße, Jugendarrest, Jugendstrafe) weitgehend ersetzen können, ohne daß sich damit die Rückfallgefahr erhöht. Schließlich ist seit langem bekannt, daß die stationären Sanktionen des Jugendstrafrechts (Jugendarrest und Jugendstrafe) sowie die Untersuchungshaft schädliche Nebenwirkungen für die jugendliche Entwicklung haben können“ (Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes vom 27.11.1989, BT-Drucksache 11/5829, S. 1). Und weiter: „Durch die Erweiterung der in § 10 Abs. 1 JGG angeführten Erziehungsmaßregeln um die Betreuungsweisung, den sozialen Trainingskurs und den Täter-Opfer-Ausgleich sowie die Aufnahme der Arbeitsauflage in den Katalog des § 15 Abs. 1 JGG unter Beibehaltung der Arbeitsweisung in § 10 Abs. 1 JGG sollen die Reaktionsmöglichkeiten des Jugendrichters vor allem in Fällen der leichten bis mittelschweren Kriminalität verbessert werden, wenn es etwa wegen wiederholter Auffälligkeit oder besonderer Problemlage zwar einer erzieherischen Einwirkung auf den Jugendlichen oder Heranwachsenden bedarf, die Anordnung vor allem von Jugendarrest aber nicht angemessen erscheint“ (BT-Drucksache 11/5829, S. 11).

Mit der Verankerung der ambulanten Maßnahmen im Jugendgerichtsgesetz 1990 verbreiteten sich die Angebote bundesweit. Die bereits im Jahr 1980 gegründete Bundesarbeitsgemeinschaft Ambulante Maßnahmen in der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V. (DVJJ) erarbeitete – um bundesweit fachliche Standards zu etablieren – 1991 den „Leitfaden für die Anordnung und Durchführung der ‚Neuen Ambulanten Maßnahmen‘“ (BAG NAM 1991). Die Standards formulierten als Zielsetzung nicht nur die Zurückdrängung freiheitsentziehender Sanktionen, sondern auch die Erweiterung der Handlungskompetenzen der Jugendlichen sowie deren Legalbewährung. Folgerichtig wurde auch eine Koppelung von Ambulanten Maßnahmen mit Jugendarrest ausgeschlossen. Festgelegt wurde weiter, dass gegen den ausgesprochenen Willen der Jugendlichen keine Weisungen angeordnet werden sollten und für die Durchführung der Maßnahmen besonders qualifizierte, sozialpädagogische Fachkräfte erforderlich sind. Im Fokus der ambulanten Maßnahmen sollten vor allem mehrfach auffällige, mehrfach belastete Jugendliche stehen – für Erst- und Bagatelltäter sollte demgegenüber das Prinzip „informell statt formell“ zur Anwendung kommen, also das Mittel der Diversion im Vorverfahren genutzt werden.

Auf dieser Basis etablierten sich die ambulanten Maßnahmen in den folgenden Jahrzehnten als wichtige Sanktionsform, die die erzieherischen bzw. pädagogischen Handlungsmöglichkeiten der Jugendgerichte erheblich erweiterte und so dazu beiträgt, den 2008 auch explizit im Jugendgerichtsgesetz verankerten Erziehungsgedanken (§ 2 Absatz 1 Satz 2 JGG) umzusetzen. Damit sind ambulante Angebote aus dem Jugendstrafverfahren nicht mehr wegzudenken. Soziale Trainingskurse, Täter-Opfer-Ausgleich, Arbeits- und Betreuungsweisungen werden bundesweit in vielfältiger Form angeboten und genutzt. Fachlich modernisiert haben die damaligen „Neuen Ambulanten Maßnahmen“ die neue Bezeichnung „Ambulante Sozialpädagogische Angebote“ erhalten. Damit wird noch einmal deutlich hervorgehoben, dass es sich um Angebote der Jugendhilfe handelt und eben nicht um justizielle Maßnahmen, auch wenn es sich um jugendrichterliche Sanktionen handelt.

Bei allen aufgeführten Erfolgen der „Ambulanten Bewegung“ zeigt der aktuelle Blick auf die Sanktionspraxis der Jugendgerichte – soweit es die leider immer noch unzureichenden statischen und empirischen Daten zulassen –, dass die formulierten Ziele bei Weitem noch nicht erreicht sind. So ist es trotz des Ausbaus der ambulanten Angebote nicht gelungen, den Freiheitsentzug, vor allem in Form des Arrestes weiter zurückzudrängen. Auch wenn die mittlerweile dreizehn vorliegenden neuen Jugendarrestvollzugsgesetze der Bundesländer eine stärkere pädagogische Ausgestaltung des Jugendarrests fordern, sind der Pädagogik in diesem Setting enge Grenzen gesetzt und die spezialpräventive Überlegenheit der ambulanten Maßnahmen gegenüber freiheitsentziehenden Sanktionen bleibt bestehen. Dennoch werden nach wie vor – wenn auch regional sehr unterschiedlich – „Sanktionscocktails“ ausgeurteilt, in denen neben ambulanten Weisungen auch ein Arrest verhängt wird. Das heißt, dass damit das zentrale Ziel der ambulanten Angebote grundlegend konterkariert wird. Mit dem sogenannten „Warnschussarrest“ (§ 16a JGG) ist im Jahr 2013 entgegen vieler fachlicher Bedenken gar eine neue Arrestform eingeführt worden. Auch wenn in den letzten Jahren ein leichter Rückgang in den Belegungszahlen des Jugendarrests konstatiert werden kann, wurde im Jahr 2017 bei knapp 20.000 jungen Menschen ein Arrest vollzogen. Neben den Urteilsarresten sind dies auch eine kleinere Anzahl von Arresten aufgrund von Ordnungswidrigkeitsverfahren und vor allem auch sogenannte „Ungehorsamsarreste“, wenn Weisungen oder Auflagen durch die Verurteilten nicht befolgt wurden und erzwungen werden sollen. Die hohe Zahl von „Ungehorsamsarresten“ können auch als ein Problemindikator interpretiert werden: Der Abbruch bzw. die Nichterfüllung von Weisungen und Auflagen kann vielfältige Ursachen haben. Als meistverhängte ambulante Sanktion werden Arbeitsstunden (als Weisung oder Auflage) verhängt, deren Stundenzahl dreistellig ist und häufig keine geeignete pädagogische Betreuung haben. Ein anderer Grund für einen Abbruch kann sein, dass die ausgeurteilte Sanktion nicht zu der Lebenssituation und zum pädagogischen Bedarf des jungen Menschen passt: z.B. anstatt eine Betreuungsweisung anzuordnen, um Teilhabeperspektiven zu eröffnen, ein sozialer Trainingskurs verhängt wird. Hier sind die Jugendhilfe im Strafverfahren und die freien Träger, die ambulante sozialpädagogische Angebote durchführen, herausgefordert, für die jeweilige Jugendliche/den jeweiligen Jugendlichen eine passende ambulante Sanktion anzubieten oder neue Angebote zu entwickeln. Nach der Reformphase mit vielen Innovationen bei den Angeboten ist in den letzten Jahren eine gewisse Stagnation bei Neuentwicklungen zu beobachten. Eine der wenigen Ausnahmen ist die niedrigschwellige Leseweisung und der durchaus eingriffsintensive Arbeitsansatz von „Zwischen den Zeiten“, der im Mittelpunkt dieser Publikation steht. Das innovative Angebot ist gleich in mehrfacher Form hervorzuheben: Das Programm ermöglicht den verurteilten Jugendlichen, bei denen das Risiko besteht, dass umfangreiche Arbeitsleistungen nicht erfüllt werden, in gänzlich anderer Form 60 Arbeitsstunden zeitlich kompakt und überschaubar abzuleisten und trägt damit dazu bei – ganz in Sinne von ambulant statt stationär – mögliche Ungehorsamsarreste zu vermeiden. „Zwischen den Zeiten“ zeigt den jungen Menschen ihre eigenen (vormals ggf. noch unbekannten) Ressourcen auf und im Verlauf der Woche eröffnen sich für sie neue Perspektiven. Sie werden gleichzeitig ernstgenommen und aufgefordert, Selbstverantwortung zu übernehmen. In diesem Sinne folgt „Zwischen den Zeiten“ ganz dem vom Jugendgerichtsgesetz geforderten Erziehungsgedanken. Als Sanktion mit hoher Eingriffsintensität bietet „Zwischen den Zeiten“ der Justiz eine überzeugende Alternative zu freiheitsentziehenden Sanktionen.

Das Programm „Zwischen den Zeiten“ der Sächsischen Jugendstiftung sollte auch eine Ermunterung und Motivation sein, neue Angebote zu entwickeln und so zur weiteren erzieherischen Ausgestaltung des Jugendstrafverfahrens beizutragen. So kann die Geschichte der Reform durch die ambulante Praxis fortgeschrieben werden.

Literatur

Deutscher Bundestag (1989): Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes (1. JGGÄndG), BT-Drucksache 11/5829, Bonn.

Bundesarbeitsgemeinschaft für ambulante Maßnahmen nach dem Jugendrecht in der DVJJ (BAG NAM) (1991): Leitfaden für die Anordnung und Durchführung der „Neuen Ambulanten Maßnahmen“ („Mindeststandards“), In: DVJJ-Journal, 2. Jg., S. 288–295.

Vorwort

„Nicht der Beginn wird belohnt,sondern einzig und allein das Durchhalten“

Katharina von Siena

Seit 2013 wird das bei der Sächsischen Jugendstiftung angesiedelte Programm »Zwischen den Zeiten« mit Erfolg umgesetzt und das Pilgern außerhalb kirchlicher und touristischer Kontexte als eine sozialpädagogische Methode betrachtet. Der gesellschaftlich oft bevorzugten Unterstützung von jungen, engagierten und motivierten Jugendlichen stellte die Sächsische Jugendstiftung damit bewusst ein Konzept zur Seite, welches sich an deutlich weniger anerkannte Zielgruppen richtet, nämlich die der jungen Straftäter und Langzeitarbeitslosen. Diese jungen Menschen auf einem sensiblen Stück Weg ihres Lebens zu begleiten und mit ihnen gemeinsam auf die Suche nach den für sie wegweisenden Antworten auf die vielen Fragen des Lebens zu gehen, war die Zielstellung des Programms.

Nach mehr als 5000 km zu Fuß, über 8000 abgeleisteten gemeinnützigen Arbeitsstunden und 68 Pilgertouren mit über 700 jungen Menschen konnte sich der Ansatz von »Zwischen den Zeiten« als Methode der Sozialen Arbeit bewähren und es ist abschließend an der Zeit, mit diesem Fachbuch unsere Ergebnisse zu teilen und dabei auch den vielen Partnern einen großen Dank auszusprechen für die Bereitschaft, neue Wege zu gehen und neue Konzepte auszuprobieren. Verlässliche Partnerschaften sind eine tragende Säule des Projektes, nur gemeinsam mit dem Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Verbraucherschutz, den Sächsischen Jugendämtern, den Jobcentern, den kommunalen Trägern der Jugendarbeit und den Pilgerherbergen entlang der Via Regia konnte dieser Weg so erfolgreich zurückgelegt werden.

Danksagung

Dank geht an den Projektleiter Sven Enger, ohne sein Engagement und die Leidenschaft für diese Zielgruppen hätte es dieses Programm nicht gegeben.

Wir danken herzlich Herrn Markus Vogel, der uns, als Jugendrichter am Amtsgericht Dresden, unterstützte dieses Programm zu etablieren.

Ein besonderer Dank geht an die Kreissparkasse Bautzen, speziell an Dirk Albers und Brigitte Richter, die sich mit besonderem Mut auf dieses Experimentierfeld eingelassen und in eine Zielgruppe investiert haben, die nicht die erste Adresse für den zukünftigen Kundenstamm sein wird. Ohne diese großzügige Geste der Anfangsfinanzierung wäre dieses Programm nicht umsetzbar gewesen. Wir danken für ihr herausragendes gesellschaftlichem Engagement!

Birgit Pietrobelli

VorstandsvorsitzendeSächsische Jugendstiftung

Inhalt

Geleitwort »Zwischen den Zeiten«

von Bernd Holthusen

Vorwort

1Durchhalten wird belohnt – Fragen an Sven Enger, Ideengeber des Programms »Zwischen den Zeiten«

Journalistin Iris Milde im Interview mit Sven Enger

2»Zwischen den Zeiten«

2.1Pädagogische und soziologische Aspekte des Arbeitsweges

von Stephan Hein und Sven Enger

Einleitung

Kurzbeschreibung des Programms im Rahmen der Praxis der Jugendgerichtshilfe

Pädagogische Ziele und Konzeption

2.2Pädagogische, personale und gruppendynamische Prozesse im Arbeitsweg

Voraussetzungen und Rahmenbedingungen

Mehrschichtige Konfrontation mit Erwartungen

2.3Die Moral autonomer Entscheidungen

Ablauf der Befragungen und Gruppendiskussionen

Systematische Auswertung der Befragungen

2.4Schluss

Literatur

Anhang

Anhang A: Fragebögen Lebensmaxime und Heinz-Dilemma

Anhang B: Datensatz und Teststatistiken

3Pilgern aus religiösen Motiven – eine Abgrenzung zum sozialpädagogischen Pilgern

von Ansgar Hoffmann

3.1Pilgern als Weg zu einem heiligen Ort

3.2Pilgern als Deutung menschlicher Existenz

3.3Pilgern als intensives Begegnungsgeschehen

3.4Pilgern aus religiösen Motiven:Gemeinsamkeiten und Differenzen

Literatur

4Pilgern als eine Methode der Sozialen Arbeit – eine Annäherung an den Begriff „Sozialpädagogisches Pilgern“ in Abgrenzung zur klassischen Erlebnispädagogik

4.1Sozialpädagogisches Pilgern

von Angela Teichert

Literatur

4.2Abgrenzung zur Erlebnispädagogik – Erlebnis (pädagogisch)?

von Till Winkler

Literatur

5Erste Ergebnisse zum Programm »Zwischen den Zeiten« – Die Perspektive von professionellen Fachkräften

von Angela Teichert

5.1Forschungsmethodik – Interviews und Berichte mit und von professionellen Fachkräften

5.2Heranwachsende als Zielgruppe beim Programm »Zwischen den Zeiten« – Volljährigkeit als wichtige Voraussetzung

5.3Pilgern im Zwangskontext – Zwang als Rahmen für Soziale Arbeit

5.4In fünf Tagen hin und zurück – eine ungewöhnliche Pilgerreise

Montag – Tag 1:Sich auf den Weg machen und die Komfortzone verlassen

Eigenverantwortung und Selbstorganisation

Vor dem Arbeitsweg

Selbstaufmerksamkeit und Selbstreflexion als Ziel

Die Herausnahme aus dem gewohnten Umfeld

Neue Begegnungen – ein neuer Umgang

Dienstag – Tag 2:Der Gesellschaft etwas wiedergeben – Soziale Arbeitsstunden und über Dilemmata diskutieren

Ableistung von Arbeitsstunden in Form körperlicher Arbeit

Mittwoch – Tag 3:Sich wieder auf den Weg machen – 30 Kilometer Durchhalten

Extreme Körperliche Anstrengung und physische Belastung überwinden

Gruppe als Medien für Durchhalten

Donnerstag – Tag 4:Nähe und Distanz – Die (Nicht-)Zugehörigkeit der Trainer*innen beim sozialpädagogischen Pilgern

Nähe und Distanz in der Beziehungsgestaltung – eine theoretische Perspektive

Exkurs: Eine Befragung von zwei Trainern

Freitag – Tag 5:Das letzte Stück gemeinsam laufen:Die Rolle der Paten, Abschied und durchgehalten

Ein professionelles Netzwerk

Der Jugendrichter als Pate

Das Jobcenter als Pate

Das Landesjugendamt und das Jugendamt als Pate

Die Sozialpädagogen von „Freien Trägern“ als Paten

Die Pilgerherbergen als Begegnungsstätten und als Pate

Literatur

6Pilgern im freiwilligen Kontext – Ergebnisse einer Pilgerreise nach Norwegen

von Kati Masuhr

Hintergrund

Ausgangslage und Rahmenbedingungen

Ergebnisse und Wirkungen der Pilgerreise

Erkenntnisse und Erfahrungen während des Laufens

Fazit

Wirkungschancen und Wirkungsfiktionen:Eine kurze Nachbetrachtung zum Programm »Zwischen den Zeiten«

von Stephan Hein und Sven Enger

Literatur

1Durchhalten wird belohnt – Fragen an Sven Enger, Ideengeber des Programms »Zwischen den Zeiten«

Journalistin Iris Milde im Interview mit Sven Enger

Mit Straffälligen eine Woche auf alten Pfaden pilgern und am Ende bekommen die Teilnehmer sechzig Sozialstunden gutgeschrieben. Das war die Grundidee von Sven Enger, aus dem er das Programm »Zwischen den Zeiten« entwickelte. Inzwischen hat er Hunderte Jugendliche fünf Tage lang auf ihrem Weg zu sich selbst begleitet. In folgendem Interview lässt er die vergangenen Pilgerreisen Revue passieren.

Menschen pilgern, weil sie zu sich selbst oder zu Gott finden wollen, weil sie neue Menschen kennenlernen oder einfach Ruhe und Natur genießen möchten. Die Jugendlichen, die im Rahmen des Programms »Zwischen den Zeiten« pilgern, interessiert das alles herzlich wenig. Was sind das für Jugendliche und welche Motivation haben sie, auf einem Pilgerweg zu gehen?

Sven Enger: Sie unterscheiden sich meiner Meinung nach schon von den „traditionellen Pilgern“. Also zuerst einmal sind die meisten jungen Menschen, die mit uns pilgern, geschickt, von einer Behörde, von einem Amt, von einem Jugendmitarbeiter. Beinahe immer ist das Ausgangsmoment eine akute Problemlage. Das kann alles Mögliche sein, also Straffälligkeit, das können aber auch junge Leute sein, die langzeitarbeitslos sind, oder aber in einer Umbruchsituation stecken, die sie gerade allein nicht recht bewältigen, wie die Ablösung vom Elternhaus oder von einer Einrichtung. Das sind die typischen Zugangsmomente. Beim ersten Mal sind sie fast alle geschickt, es ist also ganz, ganz selten, dass jemand absolut freiwillig mit uns gehen möchte, um sich auf sich selbst und seinen Weg zu besinnen.

Junge Menschen in Umbruchsituationen und schweren Lebenslagen. Daher kommt auch der Name des Programms: »Zwischen den Zeiten«. Was bedeutet der genau?

Sven Enger: Er hat zwei Bedeutungen. Also zum einen die Zeit, in der das Teenagerdasein aufhört und das Erwachsenwerden beginnt. Zum anderen, nehmen an »Zwischen den Zeiten« straffällige Jugendliche von 18 bis 21 Jahren teil. Diese sind eigentlich schon volljährig, werden aber sehr oft nach dem deutschen Jugendstrafrecht als Heranwachsende behandelt und dadurch noch etwas milder verurteilt. Man öffnet ihnen gewissermaßen noch Entwicklungsfenster. Gerade diese Zielgruppe steht vor einem klaren Umbruch, denn mit 21 beginnt definitiv das Erwachsenenstrafrecht, das weniger erziehend, sondern deutlich mehr strafend ist. Deshalb zwischen den Zeiten.

Mildere Verurteilung heißt in diesem Fall, dass die jungen Menschen für ihren Fehltritt nicht in Haft müssen, sondern mit Sozialstunden beauflagt werden. Was haben die Jungs – und bis auf ganz wenige Ausnahmen sind es ja männliche Straffällige, die mit Ihnen pilgern – denn so auf dem Kerbholz?

Sven Enger: Also im unteren Bereich ist das sehr häufig Betrug und Erschleichen von Leistungen, zum Beispiel notorische Schwarzfahrer. Im Mittelfeld wurden viele, vor allem männliche Teilnehmer, aufgrund von Körperverletzung, Raub, Beschaffungskriminalität oder Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteilt. Die Obergrenze bilden Taten, wie etwa fahrlässige Tötung, wenn zum Beispiel jemand alkoholisiert einen Verkehrsunfall verschuldet hat. Solche schwereren Straftaten kommen sehr selten vor. Und alles, was darüber hinausgeht, wird in der Regel sowieso nicht mehr nur mit Arbeitsstunden belegt.

»Zwischen den Zeiten« hat zwar keinen religiösen Ursprung. Aber die Idee zu dem Projekt entstand, als Sie in einer Kirchgemeinde gearbeitet haben. Was gab den Impuls?

Sven Enger: Das war so 2009. Da habe ich für eine Kirchgemeinde hier in Dresden gearbeitet. Ich war zwar Sozialarbeiter im kirchlichen Dienst, aber zuständig für die „Leute von der Straße“. Auch das hatte keinen religiösen Hintergrund. Das war einfach in der Kirche angesiedelt. Und in diesen Jahren hatten wir ein sehr hohes Aufkommen überwiegend an jungen Männern, die – verordnet vom Gericht – Arbeitsstunden leisten mussten. Sie hatten also die Auflage, gemeinnützige Stunden zu absolvieren wegen kleinerer Vergehen und das bot sich in dieser großen Kirchgemeinde an. Die Gemeinden waren damals gerade fusioniert worden und hatten viele Häuser zu erhalten und zu pflegen. Da haben wir Putz abgeschlagen und Laub gerecht, Komposthaufen umgesetzt und Wände gepinselt. Und irgendwann waren die Gebäude und Räume so weit saniert, dass es für ungelernte Kräfte eigentlich keine Einsatzmöglichkeiten mehr gab. Aber die jungen Leute kamen ja trotzdem weiter, wir waren eine etablierte Einsatzstelle geworden. Zu dieser Zeit waren die Pilgerwege in Sachsen noch neu. Und ich hatte von verschiedenen Initiativen gehört, die dort pilgern, und wusste, da gibt es gemeinnützige Herbergen, die gerade im Aufbau sind. Und ich dachte mir: Vielleicht könnte ich mit einer Truppe von jungen Leuten dort entlangziehen und dann könnten sie dort ihre Arbeitsstunden leisten. Da war der Pilgergedanke noch gar nicht so sehr im Vordergrund, sondern eher die Ableistung der Stunden. Man geht eine Woche da lang, es ist sehr kompakt, die jungen Männer können nicht weg und so entstand die Idee aus dem Bedarf heraus.

Von der Idee zur Umsetzung war es ein steiniger Weg, denn Sie brauchten Verbündete. Wie kam die Idee tatsächlich „auf den Weg“?

Sven Enger: Vor der Umsetzung ist die Hürde der Finanzierung zu nehmen. In den Jahren 2009, 2010 und 2011 wurde das Ganze etabliert. Ich musste ein Grundkonzept entwerfen, musste Leute ansprechen. In dieser Zeit habe ich verschiedene Stellen abgeklappert und bin am Ende bei der Jugendgerichtshilfe gelandet. Dort kam ja auch der eigentliche Bedarf her. Und da habe ich hier im Jugendamt Dresden Glück gehabt, denn die Leute hatten Mut. Das muss man ein bisschen erklären: Die Jugendhilfe ist ein Bereich, in dem auch immer mal wieder gespart wird. Zu dieser Zeit war wirklich wenig Geld da. Und dass eine Behörde den Mut hat, in einer „Sparzeit“ eine neue Idee umzusetzen, ist wirklich außergewöhnlich. Und so gab es dann 2011 die erste offizielle Durchführung in Kooperation mit einem kommunalen Jugendhilfeträger.

Und da hieß das Programm auch noch anders.

Sven Enger: Ja, da war es vorerst nur ein Projekt und das hatte verschiedene Arbeitstitel. Einer hat sich hartnäckig gehalten: „Der Arbeitsweg“. Also wie wenn man früh zur Arbeit geht. Und das war tatsächlich so: Sie gehen und arbeiten. Später sind wir von dem Begriff abgewichen. Ich finde ihn nicht so treffend.

Warum nicht?

Sven Enger: Klar, er beschreibt das Wesentliche für die Zielgruppe der Straffälligen. Aber für andere Zielgruppen als die Straftäter würde ich ihn nie verwenden, er ist sehr einseitig. Und wenn ich Vertreter anderer europäischer Projekte getroffen habe, zum Beispiel in Italien, dann haben die mich völlig entgeistert angeschaut: „Das ist ja wie im Dritten Reich, Arbeitsweg.“ Das hatte für sie einen Widerhall, der mir selbst nie in den Sinn gekommen war.

Seit 2013 läuft das Programm unter dem Dach der Sächsischen Jugendstiftung. Wie kam es dazu?

Sven Enger: Das ist ein großer Schritt gewesen, ein richtiger Perspektivenwechsel. Die Ergebnisse, die auf kommunaler Ebene in Dresden erzielt wurden, waren so vielversprechend, dass die Stiftung gesagt hat: Ja, das könnten wir vielleicht auf andere Zielgruppen und den ganzen Freistaat ausweiten. Und so ist das Projekt 2013 zur Sächsischen Jugendstiftung gekommen, zunächst in unveränderter Form, aber mit der Maßgabe, das Programm für andere Zielgruppen zu öffnen. Ab da kamen dann junge Leute auf Jobsuche hinzu und junge Erwachsene mit gebrochenen Biographien oder schlechten Teilhabevoraussetzungen, wie fehlendem Schulabschluss.

Arbeitslose, also junge Erwachsene, die von den Jobcentern geschickt werden, sind die zweite große Gruppe Jugendlicher, die mit Ihnen pilgern. Was versprechen sie beziehungsweise ihre Betreuer sich von so einer Pilgerreise?

Sven Enger: Beim Jobcenter geht es um die Aktivierung und die Mitwirkung. Eine Grundpflicht eines jungen Arbeitslosen ist es, dass er mitwirkt bei seiner Vermittlung. Ich bin in der Zusammenarbeit mit den Jobcentern auf verschiedenste Ansichten gestoßen. Es gab Sachbearbeiter, die gesagt haben: „Wenn die nicht mitgehen, dann kürzen wir denen einfach das Hartz IV.“ So etwas machen wir als Sächsische Jugendstiftung natürlich nicht mit. Wir haben da die Perspektive verändert, indem wir gesagt haben: „Leute, die sich Ihnen verweigert haben und jetzt freiwillig bei so einer Pilgerreise mitgehen, die stellen eigentlich unter Beweis, dass sie zulassen, sich zu belasten. Die wollen sich einer Herausforderung stellen. Und wenn sie das durchgehalten haben, dann sollten die vorzeitig wieder in den Genuss der Bezüge kommen.“ Das ist ein Gedanke, der im Jobcenter ganz gut aufgenommen wird. Aus dem Jobcenterbereich kommen aber tatsächlich auch die meisten, die später freiwillig mit uns eine weitere Tour gehen. Dann meist nach dem Motto: Irgendwie bin ich in einer Sackgasse, ich muss mal überlegen, wo ich überhaupt hin will.

Der Ablauf der Woche ist trotzdem für alle Zielgruppen gleich oder gibt es da Abweichungen?

Sven Enger: Das Programm ist nicht das gleiche. Die hohe Konfrontation, die mit den Straffälligen genutzt wird, weil es ja eine gerichtliche Auflage ist, die Stunden abzuleisten, die macht mit Leuten, die freiwillig gehen, wenig Sinn. Es bleibt aber in einem Punkt gleich herausfordernd: Laufen muss jeder selbst.

Jeder Weg hat ein Ziel. Für die Jugendlichen ist es zum Beispiel das Ziel, ihre Sozialstunden abzubauen. Was ist Ihr Ziel?

Sven Enger: Ich fand es immer sinnvoll, dass sich ein junger Mensch mal aus seinem Umfeld herausbegibt und sich gänzlich andere Lebensentwürfe anschaut. Meiner Meinung nach sollte man nicht immer nur sagen: Mach dies anders oder jenes besser. Junge Leute müssen auch mal sehen, wie es anders geht. Und diese ganze Welt der Herbergen und des Pilgerwegs ist tatsächlich ein sehr konträrer Lebensentwurf zu dem, was neunundneunzig Prozent unserer Teilnehmenden kennen. Also, wenn man zum Beispiel in einem Plattenbau in Dresden oder Leipzig aufwächst, ist das etwas ganz anderes als die ländliche Umgebung der Via Regia und die auf Solidarität und Nächstenliebe ausgerichteten Herbergen. Und darüber hinaus fand ich es immer ein erstrebenswertes Ziel, die jungen Leute nicht nur aus ihrem geographischen Umfeld herauszunehmen, sondern tatsächlich auch mal aus ihren Systemen. Denn dann können sie plötzlich eine völlig neue Rolle annehmen. Man kann austesten, wie es wäre, anders zu sein, aber man wird auch automatisch anders behandelt. Also wenn ich in meinem normalen Umfeld jemand bin, der häufig Probleme verursacht, dann kriege ich irgendwann ein entsprechendes Label. Ich kriege so einen Sticker, auf dem steht „Problem“ und werde dann auch so behandelt. Wenn ich daneben auch noch wenig wirtschaftliche Kraft habe und arm bin, dann unterscheide ich mich schon allein durch meine Kleidung von den anderen in meiner Altersgruppe. Aber wenn dann so ein relativ „zerlumpter“, junger Mensch mit einem Rucksack die Via Regia entlangzieht, dann ist das in der Wahrnehmung der Außenwelt ein Pilger, der schon eine Weile unterwegs ist. Wenn der in eine Herberge eincheckt, wird er, egal mit welchem Problem er kommt, behandelt wie jeder andere. Das heißt, während des Pilgerns wird vorübergehend das alte Label abgemacht und durch ein neues ersetzt. Da erhält ein junger Mensch die Chance zu empfinden, wie das ist, ein anderes Label zu tragen, auch wenn die jungen Leute das nicht sofort realisieren. Aber das hat bei manchen Jugendlichen einiges ausgelöst.

Zum Beispiel?

Sven Enger: Einmal war es so heiß, dass man nicht genügend Wasser tragen konnte. Wenn es sehr heiß ist, braucht man schon einige Liter am Tag. Sie waren gezwungen, Leute an der Strecke zu fragen: Können wir mal in Ihrem Garten Wasser auffüllen. Und eine Frau hat gesagt: „Jungs, ihr werdet doch hier nicht Wasser trinken wie meine Kühe. Ich gebe euch Mineralwasser.“ Und sie schenkte ihnen Mineralwasser in Flaschen. Da sagte einer: „Herr Enger, wissen Sie, wenn ich in meinem Plattenbau irgendwo klingele und nach etwas frage, da kriege ich überhaupt nichts.“ Oder ein junger Mensch hat mal schweigend mit mir in einer Kirche gesessen. Die anderen waren dann schon wieder raus, denen war das zu leise. Und der blieb einfach sitzen. Wir liefen dann weiter und so zwei Kilometer später sagte er plötzlich aus dem Schweigen heraus: „Wissen Sie, was ich gerade gemerkt habe? Ruhe tut mir gut.“ Das ist für einen neunzehnjährigen Rabauken wirklich eine große Erkenntnis. Eine andere Situation war in einer Herberge. Die jungen Leute schlafen getrennt von uns in ihrem eigenen Bereich, das ist mir auch wichtig, die müssen ja auch mal über uns schimpfen können. Und zu mir hat mal einer gesagt: „Ich bin total begeistert. Ich dachte, wir werden hier abends eingeschlossen.“ Das lässt erahnen, wie fest der sein Label schon dran hatte.

Sie sagten, die meisten Jugendlichen werden geschickt. Aber für Sie ist auch ein Grundprinzip die Freiwilligkeit. Wie passt das zusammen?

Sven Enger: Sie werden geschickt, aber sie müssen selber durchhalten. Das kann ihnen keiner abnehmen und das ist dann freiwillig. Viele „traditionelle“ Pilger haben auch einen konkreten Grund, warum sie losgehen, eine Umbruchzeit, eine Krankheit, einen Verlust, ein Bedürfnis. Und sie entscheiden sich freiwillig loszugehen und zu suchen. Sie werden also aktiv. Das ist bei unserer Zielgruppe anders. Sie sind bis dahin passiv, denn sie werden ja von einem Amt, einer Behörde geschickt. Aber nach dem Loslaufen sind meiner Meinung nach alle gleich, denn das Durchhalten und Weitergehen ist dann eine eigene Entscheidung, die jeder Pilgernde täglich neu treffen muss. Und auch wenn ein junger Mensch sagt, ich breche die Pilgerreise ab, ist das prinzipiell akzeptabel. Dann hat er eine Entscheidung getroffen. Wenn er das ordentlich macht und sagt: „Das ist hier nichts für mich“, dann ist das beachtenswert. Denn er hat zum Beispiel nicht den Leiter durch einen Regelverstoß gezwungen, ihn zu entlassen. Und zur Freiwilligkeit gehört letztendlich auch, dass die jungen Straffälligen sich zumindest aussuchen können, wo sie ihre gemeinnützigen Arbeitsstunden leisten, ob in einem Krankenhaus, einem Jugendhaus oder bei uns. Es gibt also keine expliziten Verurteilungen zum Pilgern, und das soll auch so bleiben.

Sie sind fünf Tage mit den Jugendlichen unterwegs. Montag bis Freitag. Wie beginnt eine typische Pilgerwoche?

Sven Enger: Ich lerne die Gruppen am Montagfrüh kennen. Bei den Straffälligen sind es eigentlich immer junge Männer. Junge Frauen werden in dieser Altersgruppe seltener straffällig oder befinden sich oft schon in anderen Lebenslagen, sind zum Beispiel bereits Mutter. Die meisten jungen Menschen, die ich geführt habe, kannte ich vorher nicht. Bei Straffälligen generell nicht. Ich weiß nichts von ihrer Vorgeschichte. Das macht es mir viel leichter, erst einmal alle gleich zu behandeln. Denn es gibt Straftaten, die auch mich mehr abschrecken als andere.

Das heißt, meist erzählen Ihnen die Jugendlichen in einem ruhigen Gespräch auf dem Weg, warum sie dabei sind?

Sven Enger: Ja, aber sie müssen es nicht. Es geht in dieser Woche nicht vorrangig um die Taten der Vergangenheit, sondern um eine mögliche Zukunft. Für ihre Fehler sind sie verurteilt worden. Sie haben im Kontext dieser Dinge schon alles erzählt, zum Beispiel bei der Polizei, beim Jugendamt, beim Jugendrichter. Sie haben in der Regel vor den Gerichten und vor den Sachbearbeitern Versprechen abgelegt, dass sie sich bessern wollen. Dafür erfahren sie ja auch Milde. Und meine Aufgabe ist es eher, das gegebene Versprechen zu prüfen und mit ihnen nach Perspektiven zu suchen.

Wie wird auf dem Weg ein Versprechen geprüft?

Sven Enger: Na, vor allem durch die Bewältigung der Strecke. Achtzig Kilometer lassen sich nicht durch Worte verkürzen, sie müssen gegangen werden. Das Ganze ist in gewisser Hinsicht auch ein Symbol dafür, dass sie es mit ihrer Entscheidung ernst meinen.

Der Beginn des Pilgerns markiert also in jeder Hinsicht einen Neustart für die jungen Menschen. Was passiert am Montag?

Sven Enger: Ich übernehme eine Gruppe, fahre mit ihnen, meist mit dem Zug, an den Startpunkt, denn ich laufe mit den Gruppen immer von einem bestimmten Punkt in Richtung ihrer Heimat zurück. Das hat sich bewährt, denn, wenn so ein junger Mensch vor hat abzuhauen, will er in der Regel nach Hause, also kann er eigentlich auch mit der Gruppe weiterlaufen, das motiviert ein bisschen besser. Ein typischer Montagmorgen ist ziemlich wortkarg. Viele der jungen Menschen sind noch deutlich geschwächt vom harten Partywochenende, das doch etwas früher zu Ende ging als üblich. Wir starten um acht, sonst schafft man die erste Tagesstrecke nicht. Am Montag sind ungefähr zwanzig Kilometer dran. Was man auf den ersten Blick sieht, ist der Ausrüstungszustand. Also jeder Teilnehmer bekommt von uns über die Sachbearbeiter eine Information, was sie für die Woche brauchen und was vielleicht eher nicht. Und das Ganze ist vorzugsweise in einem Rucksack zu transportieren, denn sie müssen es ja circa achtzig Kilometer weit tragen. Wer keinen Rucksack hat oder wem etwas fehlt, der kann das über die Sächsische Jugendstiftung kostenfrei ausleihen, sodass niemand ausgeschlossen ist. Ich erlebe aber regelmäßig am Montagmorgen Leute, die mit einer Reisetasche dastehen und sagen: „Ach, das kriege ich schon hin.“ Ich weiß in dem Moment schon, die werden es schwerer haben, weil sich eine Reisetasche einfach nicht so gut trägt wie ein Rucksack.

Was machen Sie dann? Haben Sie einen Notfallrucksack dabei?

Sven Enger: Nein, denn es gilt die Selbstverantwortung. Es gibt ein Vorbereitungsblatt, das erhalten alle über die zuständigen Jugendmitarbeiter. Und sie haben alle ausreichend Zeit sich vorzubereiten. Und an diesem Punkt beginnt auch die Reflexion. Ich bin Sozialarbeiter, ich helfe beim Reflektieren, nicht beim Tragen. Man kann etwa sagen: „Sehen Sie, das haben Sie selbst verursacht. Es geht Ihnen jetzt schlechter als Ihren Gefährten, weil Sie sich nicht vorbereitet haben. Sie hätten sich einen Rucksack ausleihen können.“ Das hört sich zunächst zynisch an, ist es aber nicht, das ist einfach die Realität. Wenn man sich immer so schlecht vorbereitet, wird man es immer schwerer haben. Nicht die Welt macht es mir schwerer, sondern ich mir selbst. Um eben solche Erkenntnisse, die sich auf den Alltag zurück übertragen lassen, geht es in unserem Programm.

Wie starten Sie in die Wanderung?

Sven Enger: Wir starten mit einer Wiederholung der Regeln. Das ist wichtig, denn es gibt schwere Verstöße, die sofort zum Abbruch und auch zu einer Anzeige führen würden, wie etwa Körperverletzung, absichtliche Sachbeschädigung in den Herbergen und natürlich verfassungsfeindliche Handlungen. Und dann gibt es Sachen, die zum Abbruch des Kurses führen, weil sie die Beauflagung stören. Das heißt: keine Drogen (nur Rauchen ist erlaubt), kein Alkohol, kein Besuch, der mir etwas bringt, das ich vergessen habe. Also Dinge, die mir fehlen, fehlen mir tatsächlich. Und eine Besonderheit bei den Straffälligen ist, sie dürfen das Programm nur einmal durchlaufen, man darf nicht zweimal pilgern gehen, um Stunden abzuleisten. Und wer abbricht, der bekommt auch für den bereits gegangenen Weg keine Stunden gutgeschrieben. Wer pilgert und arbeitet, dem werden pro Tag zwölf Stunden anerkannt, weit mehr, als man sonst erhalten kann. Und wer das nach drei Tagen wegwirft, der hat gar keine Stunden. Also in etwa so wie Katharina von Siena gesagt hat: Nicht der Beginn wird belohnt, sondern das Durchhalten. Neben all den Regeln gibt es von unserer Seite noch einige wichtige Zusagen, wie z.B. das Versprechen der Schweigepflicht. Alles, was vertraulich erzählt wird, darf nicht ohne ausdrücklichen Wunsch des Teilnehmenden an irgendwen weitergegeben werden. Wir beschaffen also in dieser Woche keine Informationen für irgendeine Behörde. Und auch die feste Zusage, dass jeder, der durchhalten und weitergehen will, von uns unterstützt wird. Wenn dieser Rahmen noch einmal für alle ganz klar ist, frage ich die jungen Menschen: „Haben Sie persönliche Regeln? Gibt es etwas, das die anderen nicht machen dürfen? Wo fühlen Sie sich besonders unwohl? Das können wir schließlich nicht voneinander wissen. Gehen Sie ein, zwei Kilometer, dann treffen wir uns wieder und dann würde ich gerne von jedem hören, was ihm wichtig ist.“

Gibt es da typische Antworten?

Sven Enger: Es ist zum Beispiel sehr häufig, dass Leute sagen: „Ich will nicht, dass jemand meine Sachen anfasst. Mein Rucksack ist meiner, geklaut wird nicht.“ Viele wünschen sich auch, dass nicht über ihre Familie oder Religiosität gespottet werden soll. Ein respektvoller Umgang auch mit Schwächen wird sehr oft eingefordert.

Der erste Tag ist ein Lauftag. Am Montag werden etwa zwanzig Kilometer bewältigt.

Sven Enger: Ja, es ist ein Lauf-Kennlern-Tag. Mehr als zwanzig Kilometer kann man einem ungeübten Läufer nicht zumuten. Das hat sich so bewährt.

Und die Strecken sind immer dieselben? Immer offizielle Pilgerwege?

Sven Enger: Es sind nicht immer dieselben. Zwei Pilgerwege nutze ich aber häufiger und den Korridor um diese Pilgerwege herum. Das hat sehr praktische Gründe, denn man braucht ja Einrichtungen, die groß genug sind für Gruppen. Bei den Straffälligen sind es maximal acht Teilnehmer. Bei den Leuten aus dem Jobcenterbereich hatten wir auch schon mal eine Gruppe mit fünfzehn Personen. Ich brauche also eine Herberge, die groß genug ist und sich darüber hinaus auf dieses spezielle Klientel einlässt, weil sie sich schon von eher in sich gekehrten, „traditionellen Pilgern“ unterscheiden. Auch wenn sie sich große Mühe geben, sie sind einfach lauter und derber. Und ich brauche natürlich Arbeitsstellen für die jungen Leute. Wir weichen auch von den Pilgerwegen ab, weil wir Städte vermeiden wollen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Touren dann deutlich besser laufen.

Was sind das konkret für Herbergen. Pfarrhäuser?

Sven Enger: