Platz nehmen - Mickaël Labbé - E-Book

Platz nehmen E-Book

Mickaël Labbé

0,0

Beschreibung

Wer hat ein Recht auf Stadt? Wer soll und wer darf sich im öffentlichen Raum aufhalten? Städtische Verwaltungen und Regierungen sind zunehmend besessen vom »Image« ihrer Stadt und stürzen sich in einen Vermarktungswettbewerb, der auf Tourismus, Investoren und Immobilienmärkte ausgerichtet ist. Die Menschen, die in der Stadt leben, werden dabei zum Ziel architektonischer Verdrängungsmaßnahmen. Überwachungskameras, Bänke mit geneigter Sitzfläche oder trennenden Armlehnen, auf denen man nicht schlafen kann, und andere Instrumente »defensiver Architektur« erschweren insbesondere sozial marginalisierten Menschen wie Obdachlosen das Leben in der Stadt. Massive Tourismusförderung macht die Stadt ihren Bewohnern fremd und unlebbar. Business Improvement Districts heben unter dem Vorwand der Strukturförderung elementare Grundrechte auf. Gegen diese Tendenzen führt Labbé die Notwendigkeit ins Feld, eine Stadt neu zu erfinden, die sich an uns alle richtet. Er zeigt, wie Widerstand gegen diese Architektur der Verachtung gelingt und Orte wieder angeeignet werden können, und fordert eine Architektur, die ihre Aufgabe als soziale begreift und Räume der Anerkennung schafft. Denn eine Stadt, in der wir einander nicht mehr in aller Unterschiedlichkeit begegnen können, ist ein Verlust für uns alle.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 214

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



MICKAËL LABBÉ ist Direktor der Philosophischen Fakultät der Universität Straßburg und hat dort den Lehrstuhl für Ästhetik und Philosophie der Kunst inne. Zuletzt erschien in Frankreich Aux alentours. Regard écologique sur la ville (2021).

FELIX KURZ übersetzt Essays, Sachbücher und wissenschaftliche Literatur aus dem Englischen und Französischen. Für die Edition Nautilus hat er zuletzt Göttin der Anarchie. Leben und Zeit von Lucy Parsons (2023) von Jacqueline Jones ins Deutsche übertragen.

Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien unter dem Titel Reprendre place. Contre une architecture du mépris © 2019, Éditions Payot & Rivages

Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des Institut Français.

Die Arbeit des Übersetzers wurde vom französischen Übersetzerverband ATLAS mit einem Aufenthaltsstipendium im CITL Arles gefördert.

Sofern nicht anders angegeben, sind Zitate aus anderen Werken von Felix Kurz übersetzt.

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus GmbH 2022

Deutsche Erstausgabe September 2023

Umschlaggestaltung: Maja Bechert

www.majabechert.de

Satz: Corinna Theis-Hammad

www.cth-buchdesign.de

Porträt des Autors

auf Seite 6: © Emilie Vialet

1. Auflage

ePub ISBN 978-3-96054-331-2

INHALT

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Vorwort

Einleitung. Drei Wege

Der Raum des »Wir«

Die Stadt gegen ihre Bewohner

Die Revolte der Bewohner

Zurück zum Lokalen

Unsere Städte umgestalten

ERSTER STREIFZUG

Die urbanen Pathologien des Sozialen

Ausgrenzung

Eine Bank in Camden Town

Die Unerwünschten

Soziale Verachtung

Der infizierte Raum

Der unsichtbare Bewohner

Enteignung

Tourismusphobie

Eine Stadt bringt sich um

»Willkommen zuhause!«

Unsere Städte sind »Zones à défendre«

Nachbarschaftliches Zusammenleben

Privatisierung

Business Improvement District

In Jackson Heights

Räume der Kriminalität

Von der Shopping Mall zum Ghetto

ZWEITER STREIFZUG

Der Einsatz der Bewohner

Recht auf Stadt

Von der Stadt zum Urbanen

Das verstümmelte Individuum

»In der Stadt zu leben heißt, sich einen Raum anzueignen«

Eine notwendige Utopie?

Räume, die uns gehören

Die Party ist vorbei

Hütten und Löcher

Platz, ZAD und Viertel

Eine Stadt des Vertrauens

Die Logik der Straße

Gewöhnliche Orte, Orte der Emanzipation

DRITTER STREIFZUG

Architekturen

Aneignungen

Materialisierung des Kampfes

SESC Pompéia – ein genossenschaftliches Stadtquartier

Die Spielplätze von Aldo van Eyck

Für die Architektur

Öffnungen und Großzügigkeit

Architektonische Widerstände

Was Stadtarchitektur leisten kann

Eine Architektur der Achtung

Architektur ist nicht in erster Linie eine Kunst

Schluss. Die Rauchschwaden von Notre-Dame

Epilog

Danksagung

Anmerkungen

Bildnachweise

Für Franck Fischbach

»Großstadtbewohnern wird immer vorgeworfen, dass sie sich nicht genügend an der Lokalpolitik beteiligen. Erstaunlich ist aber vielmehr, dass sie genau das noch immer versuchen.«

JANE JACOBS

VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE

Seitdem dieses Buch im Oktober 2019 auf Französisch veröffentlicht wurde, ist viel geschehen; manche Stimmen behaupten sogar, dass wir in einer neuen Ära leben. Und in der Tat: Ob es um die Corona-Pandemie geht, um die Rückkehr des Krieges auf europäischen Boden oder um den Klimawandel, dessen Dramatik sich Tag für Tag eindringlicher zeigt – die Geschichte hat uns nicht verschont.

Die Fragen, denen das vorliegende Buch nachgeht, sowie die in ihm bekundeten Bedenken und Hoffnungen sind in Frankreich wie in Deutschland und anderswo jedoch weiterhin aktuell. Im todbringenden Zeitalter des Kapitalozäns steht nicht weniger auf dem Spiel als die Bewohnbarkeit der natürlichen und menschengemachten Umwelt. Auf sämtlichen Ebenen erweisen sich Fragen von Raum, Stadt und menschlich besiedelten Gebieten im Allgemeinen sowie die Art ihrer Herstellung als absolut entscheidend, zumal wenn man bedenkt, dass im Jahr 2050 rund 68 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben werden (mit erheblichen Unterschieden und nicht hinnehmbaren Ungleichheiten zwischen den Orten).

Die Frage »Wer hat ein Recht auf Stadt?«, die den roten Faden des Buches bildet, ist Gegenstand eines ständigen Kampfs und in der Praxis immer schon beantwortet. Ausschlaggebend sind dabei aber nicht die Stadtbewohner, sondern andere Akteur:innen, die über die Mittel verfügen, unsere Räume gemäß ihren eigenen Interessen zu gestalten – Interessen, die sich nicht unbedingt mit denen der Mehrheit der Bürger decken, um es vorsichtig zu formulieren. Die kapitalistische Produktion des städtischen Raums und menschlich besiedelter Milieus im weitesten Sinne führt dazu, dass uns Möglichkeiten einer gemeinsamen Aneignung unserer objektiven Lebensbedingungen, eines Kampfes für eine sozial und ökologisch gerechtere, von mehr Gleichheit und Vernunft geprägte Existenz, die der Vielfalt menschlicher wie nicht-menschlicher Arten des Siedelns Raum gibt, massiv entzogen werden.

Welches Gewicht haben wir als gewöhnliche Bürger bei den Entscheidungen, die die von uns tagtäglich durchstreiften und mit Leben gefüllten Räume betreffen, im Vergleich zu Investor:innen, den Wirtschaftsinteressen großer Unternehmen und Plattformen, den kommunalen Behörden, dem Staat? Und welches Gewicht haben bestimmte Gruppen wie Obdachlose, Jugendliche, Prekäre, Menschen aus den ärmeren Vororten, Frauen, Migrant:innen, Alte und Kinder im Rahmen einer Stadtentwicklung, die den heteronormativen Bedürfnissen der weißen und gutsituierten »kreativen Klassen« sowie der Logik eines Systems folgt, das Räume nicht als bewahrenswertes Gemeingut behandelt, sondern als zu verwertende Waren? Wie können wir eine andere Art, die Welt zu bewohnen, gegen die tagtäglich stärker dominierende durchsetzen, wie gegen eine Vision der Welt kämpfen, die auf den Werten hierarchischer Machtbeziehungen und profitorientierter ökonomischer Verhältnisse beruht? Wie können wir für einen anderen Gebrauch der natürlichen und sozialen Welt kämpfen, nach dem nicht nur ein stetig wachsender Teil der Jugendlichen ein Bedürfnis verspürt, sondern zahlreiche gesellschaftliche Gruppen?

Verzichtet man darauf, diese Fragen zu stellen, und unterschreibt stattdessen die Erzählung der Herrschenden, dann verzichtet man auf die Demokratie – auf die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Ansichten, auf den Kampf für eine Vielfalt von Lebensweisen jenseits der Asymmetrien von Vermögen, Klasse, Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit, die unsere Gesellschaften strukturieren. Auf eine andere Art des Daseins als jene, die es einer gesellschaftlichen Minderheit erlaubt, über die Möglichkeiten der Existenz (und sogar des Überlebens) der ungeheuren Mehrheit gewöhnlicher Menschen zu bestimmen.

Aus diesem Grund freut es mich, dass das deutschsprachige Publikum nun Zugang zu den in diesem Buch vorgestellten Reflexionen hat. Es freut mich umso mehr, als mich meine persönliche Geschichte in vielfacher Weise mit Deutschland verbindet, sowohl privat wie theoretisch. Was den letzteren Aspekt betrifft, bleibt Platz nehmen dem Erbe der Sozialphilosophie und kritischen Theorie der Gesellschaft verpflichtet, die eine seiner wichtigsten Inspirationsquellen bildet. Zahlreiche Kämpfe auf dieser Seite des Rheins haben das vorliegende Buch inspiriert und inspirieren auch weiterhin – von den Initiativen für das »Recht auf Stadt«, mit denen sich Menschen vor allem in Hamburg, aber auch andernorts dagegen wehren, ihrer Städte enteignet zu werden, bis hin zum Mut der Aktivist:innen, die versucht haben, das Dörfchen Lützerath gegen die Ausweitung des Kohletagebaus zu verteidigen.

MICKAËL LABBÉ, im März 2023

VORWORT

Als Straßburger habe ich das Glück, in einer Stadt zu leben, die kaum etwas von der Gewaltsamkeit heutiger Mega-Metropolen hat. Um von vornherein ehrlich zu sein: Die großen Losungen der Stadtkritik, die ich in der Theorie alle teile, betreffen mich in meinem Alltag sehr wenig. Wer wie ich eindeutig zu den Privilegierten zählt, kann in Straßburg alles in allem gut leben: Die überall präsente Vergangenheit verzaubert die Stunden der Gegenwart, die kurzen Wege lassen sich zu Fuß zurücklegen, man kann hier die paradoxe Erfahrung eines Abenteuers machen, das auf Vertrautheit beruht – Markenzeichen eines bestimmten Lebens abseits der Metropole.

Wie viele Straßburger bin ich häufig auf der Place d’Austerlitz, einem Platz, dessen kürzlich abgeschlossene Umgestaltung einhellig als Erfolg gefeiert wird. Als ein Ort, der die gezielte Zurückeroberung urbanen Glücks perfekt verkörpert, zieht er immer mehr Menschen an und gibt einem Viertel, dem es früher an Charme und Urbanität mangelte, ein neues Gesicht. Ehemals befand sich hier ein wenig einladender alter Busbahnhof von Eurolines, umgeben von schäbigen Cafés – nachts eine verwaiste, beklemmende Gegend am Rande der Innenstadt, die man nur aufsuchte, um in einen Bus zu steigen, tagsüber ein lauter, hektischer Ort voller Touristen, die wegen unseres prachtvollen Münsters und der elsässischen Spezialitäten anreisten. Heute begegnet uns hier stattdessen ein begrünter, autofreier, von zahllosen angesagten Cafés gesäumter Platz, den wir nach der Arbeit gerne aufsuchen, wo Kinder gefahrlos spielen können, während sich ihre Eltern auf dem Nachhauseweg einen Moment der Entspannung gönnen, wo sich Studierende mit Berufstätigen und ein paar Hausbesetzern mischen, die das bunte Treiben genießen. Aus einem verödeten Platz ist ein lebendiger Ort, ein beliebtes Viertel geworden; viele meiner Freunde sind in die angrenzenden Straßen gezogen. Die Place d’Austerlitz ist heute ein Muss, the place to be für jeden, den es ins Zentrum des urbanen Lebens von Straßburg zieht.

Auch ich bin oft dort. Doch seit einer Weile sind diese Ausflüge von einem gewissen Schuldbewusstsein getrübt, auch wenn ich von ihnen nicht lassen kann. Jedes Mal beschleicht mich Scham, habe ich das Gefühl, inkonsequent, mir selbst untreu, in meiner Identität angegriffen zu sein. Deshalb gehe ich heute seltener dorthin, auch wenn ich noch nicht ganz »entwöhnt« bin. Aber worin genau besteht das Problem? Warum weckt die scheinbar rundum gelungene Neugestaltung des Platzes auch Gefühle von Verlust und Ungerechtigkeit in mir?

Ab einem gewissen Moment – wann genau, könnte ich nicht mehr sagen – begann ich auf dem Platz bestimmte Instrumente der Ausgrenzung und Verachtung wahrzunehmen, die ihn mir immer weniger sympathisch machten. Es ging nur um schlichte Stühle und Bänke; man könnte andere Sorgen haben, schließlich laden die Möbel zu einem ungezwungenen Aufenthalt ein. Doch es sind nicht irgendwelche Möbel, sondern entweder einzelne Sessel oder aber Bänke, die durch Armlehnen so unterteilt sind, dass man nicht auf ihnen schlafen kann. Kurz: obdachlosenfeindliches Mobiliar und somit ein Beispiel für das, was ich als sogenannte »defensive« Architektur kannte, die bestimmte Bevölkerungsgruppen vertreiben soll. In meiner Stadt. Auf diesem Platz, den ich so gerne aufsuche. Auch die Cafés begannen sich zu verändern: Die alte Kneipe mit schratigem Wirt und moderaten Preisen, geöffnet bis spät in die Nacht und bevölkert von armen Teufeln, die sich endlos an ihr letztes Glas klammern; das gute alte »Ville de Bâle«, wo die Stammgäste bei einer Tasse Kaffee stundenlang Zeitung lasen oder sich morgens um acht den ersten Rotwein genehmigten – sie sind samt und sonders verschwunden. Es gibt nur noch schicke Cafés, die ungeachtet ihrer stereotypen urbanen Namen (»Café Berlin«, »Café Bâle [Basel]«) nach 17 Uhr keine warmen Getränke mehr ausschenken.

Durch einen Artikel in der Lokalpresse wurde mir klar, was auf der Place d’Austerlitz passiert. In einem dankenswert offenen Interview erklärte der Inhaber eines der neuen Lokale unzweideutig, die Erneuerung des Platzes sei eine Gelegenheit, »die Kundschaft zu verändern« und die Unerwünschten (also die bisherigen Stammgäste) loszuwerden, indem man die Preise erhöht und ab einer bestimmten Uhrzeit keinen Kaffee mehr serviert. Der von der Platzsanierung ausgelöste Schneeballeffekt ließe sich noch weiter nachzeichnen: steigende Mieten, Verdrängung und so fort.

Allmählich stellten sich mir allgemeinere Fragen. Warum stand solches obdachlosenfeindliches Mobiliar auch auf einem anderen Platz in der Innenstadt, anders als noch zwei Wochen zuvor? Oder hatte ich es bislang nur nicht bemerkt? Wo waren die Bänke hin, auf denen ich noch vor ein paar Jahren, als ich in dem Viertel wohnte, stundenlang in der Sonne gelesen hatte? Ich kann die Erneuerung solcher Plätze, denen es nach allgemeinem Dafürhalten bislang an »Urbanität« gemangelt hat, nicht länger begrüßen. Denn die neue vermeintliche Urbanität hat ihren Preis: die Verdrängung der schwächsten sozialen Gruppen. Welche zwingende Notwendigkeit könnte es rechtfertigen, dass solche Mechanismen von Ausschluss und Verachtung immer mehr um sich greifen? Welche unsichtbare Bedrohung unserer Städte nötigt uns dazu? Wer sind diese von Natur aus zwielichtigen Gestalten, die wir vertreiben müssen? Und vor allem: Wer entscheidet darüber?

Wenn ich diese praktisch überall aufblühenden neuen Viertel sehe, die mit ihren Techno-Clubs und Start-up-Inkubatoren, ihren Orten für Kunst und Kunsthandwerk, kleinen Craftbeer-Brauereien und Biomärkten auf junge Akademiker wie mich zugeschnitten sind, dann üben sie einen Reiz auf mich aus, der sie mir zugleich höchst suspekt macht. Und mir wird schließlich bewusst, wie ich mich mit mehreren Umzügen auf der Suche nach bezahlbaren Mieten immer weiter aus der Innenstadt entfernt habe und wie ein bestimmter Lebensentwurf (mehr Ruhe für das Familienleben, Erwerb von Wohneigentum) aus mir einen Akteur der Gentrifizierung, eine Art inneren Kolonisator macht, mich in einen Prozess hineinzieht, in dem ich ebenso sehr Handelnder wie Leidtragender bin.

Die Place d’Austerlitz ist gleichermaßen Symbol wie Symptom. Für mich verkörpert sie einen Wandel der alltäglich gelebten Beziehung zur städtischen Umwelt, das Gefühl, dass ich mich in dieser Umwelt nicht mehr wiederfinde oder wiedererkenne, ihr nicht mehr so angehöre wie früher; das Gefühl einer Veränderung im Antlitz der von mir geschätzten Stadt, einer Verschiebung, die ungeachtet allen Anscheins von Fortschritt zu mehr Wohn- oder Lebensqualität zugleich eine Art Angriff darstellt und so eine stumme Gewalt, eine unterschwellige Feindseligkeit ausdrückt.

Die geschilderten unmerklichen Veränderungen und das Gefühl von Fremdheit, das sie in mir erzeugen, haben mir vor Augen geführt, dass heute kein Ort mehr sicher ist vor dem Zugriff einer weltweit wirkenden Logik der Produktion von Raum. Keine Stadt und kein Stadtviertel kann sich angesichts eines regelrechten Angriffs auf den gemeinschaftlichen Charakter von Orten noch unversehrt wähnen. Nicht augenfällige Gewalt, sondern winzige Verschiebungen in der Physiognomie der Stadt bringen in Straßburg eine Architektur der Verachtung oder Nichtanerkennung und eine neue Karte urbaner Pathologien hervor, die umso gefährlicher sind, als gerade ihr kaum wahrnehmbarer Charakter sie begünstigt. Eine Stadt aber, die sich der Strategie der Ausgrenzung beugt und in deren Raum (selbst an mir lieb gewordenen Orten!) sich der heimtückische Wille materialisiert, bestimmten Menschen zu verstehen zu geben, dass sie unerwünscht sind; kurzum: eine Stadt, die für manche unwirtlich sein will, ist auch für mich und, wie ich fürchte, für uns alle weniger lebenswert.

EINLEITUNG

Drei Wege

»Solange nicht die Betroffenen selbst das Wort ergreifen und sagen, was sie benötigen, vor allem aber: was sie wollen, was sie sich wünschen; solange sie denen, die sich für Experten halten, nicht ständig berichten, wie sie ihre Wohnsituation erleben – solange wird uns eine wesentliche Information fehlen, um das Problem der Stadtentwicklung zu lösen.«

HENRI LEFEBVRE1

Das Beispiel der Straßburger Place d’Austerlitz steht für eine bestimmte Erfahrung, die heute zur Regel wird. Oftmals kaum wahrnehmbare Veränderungen wirken sich auf die städtische Umwelt aus, in der wir uns nahezu unbewusst bewegen, denn wir bemerken gar nicht mehr, wie sehr sie einen Teil unserer selbst bildet, wie sehr bestimmte Orte uns als Stadtbewohner prägen, weil sich zwischen ihnen das Gewebe unseres Alltags entspinnt: Orte, die wir nutzen oder nur flüchtig streifen, die mit Begegnungen, Austausch und Gewohnheiten verbunden sind, an denen wir einander aus dem Weg gehen oder zusammenleben, uns wohlfühlen oder Beklemmung spüren. Die Häuser und Viertel, in denen wir leben, die Orte, an denen wir mit Freunden ausgehen oder etwas mit unseren Kindern unternehmen, die auf unserem Weg zur Arbeit liegen oder wo wir täglich Halt machen – sie alle können uns plötzlich fremd werden. Solche Verschlechterungen, wie ich sie konkret an jenem Platz in Straßburg erfahren habe, rücken erneut Fragen in den Mittelpunkt, mit denen jede dezi -diert politische Reflexion über Stadtentwicklung beginnen muss: Wer bestimmt über die Stadt? Wem gehört sie? Für wen wird sie gestaltet? Kurz: Wer hat ein Recht auf Stadt?

Selbst wenn wir uns nicht ausdrücklich für eine andere Stadtentwicklung engagieren, mit dem Thema kaum vertraut sind und uns in architektonischen Fragen zumeist für blind halten, betreffen diese Angelegenheiten uns alle, und zwar auf eine ganz existenzielle Weise. Jeder muss irgendwo wohnen, darin besteht ein wesentlicher Teil unserer Identität. Unabhängig von Fachkenntnissen und politischem Bewusstsein gehören wir in Fragen der Stadtentwicklung alle zu den »Betroffenen«, von denen Henri Lefebvre spricht.

Die seit Lefebvre unter der Losung »Recht auf Stadt« artikulierten Bedürfnisse wurden noch nie so systematisch und tagtäglich missachtet wie heute; die Versuche einer Wiederaneignung der Stadt durch ihre Bewohner sind praktisch vollständig gescheitert. Ungeachtet des inflationären Gebrauchs von ideologischen Schlagworten wie »Partizipation« und »Bürgerbeteiligung« zählen die »Betroffenen« und das, was sie wollen und sich wünschen, weniger denn je für die Stadtentwicklung. Selbst das »Recht auf Stadt« dient meist nur als plumper Reklametrick für die Vermarktung von Projekten, in denen sich eine Verachtung der lokalen Bevölkerung ausdrückt. Und diese Verachtung trifft auch die demokratischen Erfordernisse, die mit dem Ideal der Stadt als politischem Raum der kollektiven Willensbildung untrennbar verbunden sind. Was »die Betroffenen« im Sinn haben könnten, interessiert in Wirklichkeit kaum noch jemanden.

Wir sind heute mehr denn je der Möglichkeit beraubt, unser eigenes Leben zu gestalten, indem wir die Orte gestalten, an denen es sich abspielt – ein Hauptanliegen des Gedankens eines »Rechts auf Stadt«. Die Privatisierung urbaner Räume, die Zunahme von Strategien der Ausgrenzung und Kontrolle, die rein kommerzielle Ausbeutung immer größerer Gebiete und die Herstellung einer stereotyp-standardisierten Stadt durch aggressives City Branding sind nur einige der Phänomene, in denen eine pathologische Entwicklung deutlich wird. Diese Strategien führen dazu, dass ein zentrales Element der Existenz demokratischer Gemeinschaften kassiert wird, nämlich die Voraussetzung dafür, unser Zusammenleben zu gestalten, ja überhaupt eine Art »Wir« herzustellen.

Der Raum des »Wir«

Ein wesentlicher, aber selten analysierter Aspekt des Problems besteht darin, dass es ein »Wir« nicht ohne ein »Wo« geben kann, an dem es sich institutionalisiert, verankert, entfaltet, erfindet und vermittelt. Was wir sind oder sein wollen, können wir gar nicht bestimmen, wenn wir auf unser »Wo« keinerlei Einfluss mehr haben. Wie wir soziale und politische Gemeinschaften bilden, hängt von den Orten ab, an denen sie entstehen. Für Politik ist der Ort mitnichten ein bloßer Rahmen oder Behälter, sondern eine wesentliche Bedingung ihrer Möglichkeit (oder Unmöglichkeit); Raum stellt eine grundlegende formelle Dimension für Politik dar: Er nimmt sie nicht einfach als etwas bereits Fertiges in sich auf, sondern prägt sie und hat selbst Anteil an ihrer Herausbildung als einer Form von Zusammenleben. Eine menschliche Gemeinschaft existiert nicht im Nirgendwo oder irgendwo, und man bildet nicht in verschiedenen Räumen dieselbe Gemeinschaft. Politik, mit Hannah Arendt als eine bestimmte Organisation der menschlichen Pluralität verstanden, erfordert Koexistenz, Zusammenleben, Versammlung, Begegnung, Gleichzeitigkeit. Der »politische Raum« ist keine Metapher: Politik gibt es nicht ohne eine materielle und symbolische räumliche Dimension, in der das Zusammenleben stattfindet. So gesehen liegt es auf der Hand, dass die Form der Stadt, wenngleich vielfältig und nicht die einzig mögliche Form von Raum, geschichtlich eine entscheidende Rolle für die Schaffung demokratischer Gemeinschaften gespielt hat. Demokratie ist auch eine bestimmte Art, auf der Grundlage gemeinsamer Werte zusammen oder »unter einem Dach« zu leben, und ihre räumliche Dimension nennen wir Stadt.

Wie kann man noch eine Gemeinschaft bilden, wenn sich die Stadtentwicklung offenbar gegen das Allgemeinwohl und die Anliegen der Bevölkerung richtet? Wenn heutige Gesellschaften häufig nicht mehr wissen, wo sie sich in dieser Hinsicht befinden, dann weil sie nicht mehr wissen, wo überhaupt sie sich befinden. Sie haben nicht länger die Kontrolle über die Herstellung jenes »Wo«, das sie dennoch bestimmt. Wo also befinden wir uns – wir, die Bewohner der heutigen Städte? Die Krise unserer Demokratien, kürzlich illustriert von den Forderungen der Gelbwesten, lässt sich auch als eine Krise der demokratischen Orte lesen. Es gibt eine Suche nach anderen Orten, an denen wir uns neu erfinden und den von der Implosion des Urbanen zermahlenen Sinn eines »Wir« wieder herstellen können. Die Orte, an denen wir leben, sind nicht mehr repräsentativ für das, was wir sind, sie repräsentieren uns nicht mehr. Wir erkennen uns nicht länger in ihnen wieder, und zwar aus dem Grund, dass wir auf ihre Gestaltung keinerlei Einfluss mehr haben. Dieser Verlust von Kontrolle zieht einen Verlust unserer selbst nach sich. Unsere Räume machen es schwierig, die Gegenwart eines »Wir« zu erfahren. Es gibt keine Räume, keine Orte mehr, an denen wir ein solches »Wir« herstellen könnten.

Die Stadt gegen ihre Bewohner

Mit dem begeisterten oder resignierten Einverständnis der Stadtverwaltungen oder durch schlichte Immobilien- und Bodenspekulation drängen die privatwirtschaftlichen Interessen des Bau- und Wohnungssektors aggressiv an die Macht. Begleitet vom lauten Schweigen oder der stummen Ohnmacht einer großen Mehrheit der Architekt:innen und Stadtplaner:innen, die gleichwohl an der Herstellung des urbanen Raums beteiligt sind, wird die Stadt ausgehöhlt, verliert sie ihre ureigenste Substanz: nämlich die Konstruktion einer vielfältigen sozialen Gemeinschaft, die Erfindung einer Lebensform durch die Menschen selbst, geprägt von konfliktreichem Nebeneinander und Begegnung. Die guten Absichten, aufrichtigen Bemühungen und realen Erfolge bei der Erfindung anderer Räume sollen nicht kleingeredet werden, und es geht auch nicht darum, eine ideale Stadt heraufzubeschwören, die es so nie gegeben hat. Doch wir müssen uns der Realität einer Entwicklung stellen, die uns – wie so oft – zu entgleiten, sich dem Einfluss ihrer Urheber zu entziehen scheint. Wir müssen versuchen, uns eine Wirklichkeit wiederanzueignen, die wir selbst hervorbringen oder zumindest zulassen, nämlich eine Stadtentwicklung, die sich gegen die Bewohner richtet und von Ausgrenzung und Verachtung geprägt ist. Wenn eine Stadt bestimmte unerwünschte Gruppen abzuschrecken versucht – Obdachlose, Migranten, Jugendliche, Arme oder Mieter, die sich gegen ihre Verdrängung wehren –, wird sie für uns alle unbewohnbar.

Es betrifft uns alle. Selbst Phänomene wie das obdachlosenfeindliche Mobiliar, die scheinbar gar nicht direkt gegen uns gerichtet sind, prägen zutiefst unser Verhältnis zum städtischen Raum, zu anderen und zu uns selbst. Die Stadt teilt uns ständig etwas mit, aber wir bemerken es nicht. Ihre Sprache richtet sich ausnahmslos an uns alle. Die heutigen urbanen Räume sind so mitteilungsfreudig wie nie, und was sie uns zu sagen haben, ist nicht immer besonders erfreulich. Die Sprache der Stadt besteht aus Worten der Verachtung und Nichtanerkennung, die sich in die Züge des urbanen Raums einprägen. Sie ist umso heimtückischer, je leiser sie auftritt: ohne sichtbare Gewalt, kaschiert als unschuldiger architektonischer Entwurf oder schlichte Verwaltungsangelegenheit. Doch der urbane Raum ist kein toter Gegenstand, in dem sich sozioökonomische Probleme oder die technische Organisation einer Reihe von materiellen Aufgaben bloß niederschlagen, sondern ein politischer, lebendiger und mit Bedeutungen aufgeladener Raum, der uns Bewohnern mit einem ganzen System von sinnlich wahrnehmbaren Zeichen der Anerkennung und der Verachtung begegnet. Von der wirtschaftlichen und politischen Macht in Beschlag genommen, ist die Herstellung des Raums heute der Marktlogik unterworfen. Die Einwohner beziehungsweise Bürger werden eines bedeutenden Teils ihres Lebens enteignet, und das auf eine umso machtvollere Weise, als sich diese Enteignung zumeist verdeckt und stumm vollzieht.

Wenn wir uns nicht selbst um die Gestaltung unserer Städte kümmern, werden es andere an unserer Stelle tun – ohne sich um uns zu kümmern. Und sie tun es bereits. Auf diese Weise werden wir ständig neu erschaffen und wissen dies nicht einmal. Die Stadt ist, in den Worten von Robert Ezra Park, »der stimmigste und alles in allem erfolgreichste Versuch des Menschen, die Welt, in der er lebt, stärker nach seinen eigenen Bedürfnissen umzugestalten. Doch die Stadt ist nicht nur die vom Menschen geschaffene Welt, sondern auch die Welt, in der er von nun an zu leben gezwungen ist. Indem er die Stadt hervorgebracht hat, hat er daher indirekt und ohne ein klares Bewusstsein seines Werks auch sich selbst neu hervorgebracht.«2

Die Revolte der Bewohner

Seit einigen Jahren haben sich Gruppen von Bürgern beziehungsweise Einwohnern die Frage des urbanen Raums wieder angeeignet – auf Plätzen, in Parks, auf der Straße und zuletzt an Verkehrskreiseln. Die soziale Unzufriedenheit und der Wille, Alternativen zu schaffen, kommen an ganz unterschiedlichen Orten zum Ausdruck. Eine dauerhafte Alternative jedoch konnte bislang keiner dieser Versuche formulieren. Wer einen Ausweg aus der Sackgasse der heutigen Stadtentwicklung sucht, die eine grundlegend von Ungleichheit und Gewalt bestimmte Wirtschafts- und Sozialordnung ausdrückt, fördert und stützt, kann auf drei Modelle einer Verknüpfung von »Wo« und »Wir« zurückgreifen, die allesamt Früchte jüngerer sozialer Erfahrungen sind: das Modell der Platzbesetzung, das Modell des Protestcamps (ZAD, Zone à défendre) und das Modell der Neuerfindung des Rechts auf Stadt.

Das Modell der ZAD ist zu begrenzt, da es seinen Schauplatz außerhalb der Städte findet und so ein Wir von Außenseitern hervorbringt. Solche sozialen Gemeinschaften bilden sich auf der Grundlage ihrer Randständigkeit und verfolgen eine Strategie des Exodus, die für die meisten von uns kaum annehmbar oder gar erstrebenswert sein dürfte. Eine Ausweitung dieses Modells auf die gesamte Bevölkerung ist daher unwahrscheinlich. Das Modell der Platzbesetzung wiederum beruht auf einer rein symbolischen Logik. Es benötigt vor allem bekannte Stadtplätze, die sich allenfalls zeitweilig als Lebens- und Wohnorte eignen.

Somit stellt sich die Frage, wie wir »Zentralität« und »Bewohnbarkeit« sinnvoll miteinander verbinden können, obwohl alles dafür spricht, dass diese beiden Dimensionen in der heutigen Stadt unvereinbar sind. Entweder setzt man sich für eine andere Art ein, die (Um-)Welt zu bewohnen, indem man die Stadt verlässt (die Strategie der ZAD); oder man versucht, einen Platz in der Sichtbarkeit des Zentrums zurückzuerobern, gelangt aber nie zu einer wirklichen Besiedlung von Orten (Bewegungen der Besetzung). Deshalb schlage ich vor, das Recht auf Stadt als einen Versuch neu zu denken, die Mittelpunkte unseres Lebens wieder zu bewohnen. Das setzt selbstverständlich voraus, das Verhältnis von Zentrum und Peripherie ebenso neu zu denken wie das Wohnen in seiner alltäglichen Dimension – es geht um das städtische Leben, wie es sich Tag für Tag abspielt, nicht um eine permanente Demonstration.

Als Bürger besetzen wir schon heute einen urbanen Raum. Nicht bloß Orte außerhalb der Stadt, wie die ZAD, sondern unsere eigenen Viertel. Vor dem Hintergrund einer umfassenden Entmachtung der Einwohnerschaft, was ihre Gestaltungsmöglichkeiten des Urbanen betrifft, erleben wir die Zerstörung der Stadt als Lebensmilieu oder künstlich-natürliches Ökosystem. Entgegen einer mitunter romantischen Vorstellung von »Natur« als dem Jenseits der Stadt müssen wir uns bewusst machen, dass die urbanen Umwelten ein konstitutiver Bestandteil unserer Ökosysteme sind. Angesichts der Klimakrise erweist sich der Gegensatz Stadt-Natur als unhaltbar, und wir müssen neu bestimmen, welche Rolle Städte dabei spielen könnten, die Erde anders zu bewohnen. Nicht durch Träumereien von einer Rückkehr zur »Natur«, sondern indem wir das ökologisch verstümmelte Leben in den Städten von innen heraus erneuern, können wir – sofern es noch nicht zu spät ist – eine Form von Existenz schaffen, die sich stärker im Einklang mit unseren Umwelten befindet.

Deshalb kann es auch nicht darum gehen, rein symbolische Orte zu besetzen. Anstatt die Wall Street oder die Place de la République zeitweilig in Beschlag zu nehmen, müssen wir uns die Orte unseres Alltags aneignen. Wir müssen Wohnen und Verkehr, die Gestaltung von öffentlichen Räumen und Parks, kurz: das wirkliche Gewebe der Stadt politisieren. Ein dauerhaftes, im Rhythmus und Leib der gesellschaftlichen Existenz verankertes Wir kann nicht an einem Wo