Plötzlich Rabenmutter? - Lisa Frieda Cossham - E-Book

Plötzlich Rabenmutter? E-Book

Lisa Frieda Cossham

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Beschreibung

Darf man als Mutter noch mal ganz von vorne anfangen?

Lisa Frieda Cossham schreibt offen über ein Tabu: Sie ist Teilzeitmutter. Sie hat ihre Wünsche über das Familienglück gestellt, ihren Mann verlassen und sieht ihre Töchter seitdem nur jede zweite Woche. Aus einer Familie ist eine gleichberechtigte Elternschaft entstanden, welche die Öffentlichkeit ungleich bewertet: Während der Vater bewundert wird, weil er sich kümmert, gilt die Mutter als Rabenmutter. In ihrem Buch setzt sie sich mit einem veralteten Mutterbild auseinander, das permanente Präsenz voraussetzt, berichtet über die unerwarteten Herausforderungen als »halbe Mutter« und plädiert für ein ebenbürtiges Rollenverständnis.

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Seitenzahl: 249

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Buch

Es gibt unzählige Ratgeber für Eltern und solche, die es werden wollen. Sie erklären uns, wie wir eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung fördern, wie wir sie stärken und festigen können. Sie behandeln besondere Zeiten wie das Trotzalter, die Pubertät und die Leere nach dem Auszug von erwachsenen Kindern, das sogenannte Empty-Nest-Syndrom. Was aber ist mit der Leere von Eltern, die sich getrennt haben und ihre Kinder immer aufs Neue verabschieden müssen?

Gemeinsam mit der Chefredaktion des Süddeutsche Zeitung Magazins beschließt Lisa Frieda Cossham 2015, genau darüber zu berichten, und zwar in Form einer Kolumne, die den prägnanten Titel »Teilzeit-Mutter« trägt. Sie erzählt, wie sie ihre Töchter als nur mehr halbe Mutter wahrnimmt, sie erzählt von der Schuld, die sie empfindet, weil sie Jan für einen anderen Mann verlassen hat, und denkt, dass es einigen Müttern ähnlich gehen wird. Stattdessen stellt sie fest: Viele Leserinnen sehen das ganz anders. Sie schreiben wütende Kommentare und werfen ihr vor, egoistisch gehandelt zu haben. Unbeabsichtigt findet sich unsere Autorin in einer Debatte um die Frage wieder, was eine gute Mutter ausmacht. In diesem Buch erzählt sie, welchen Vorurteilen sie begegnet und warum das Ringen darum, Familie zu bleiben, sich lohnt.

Autorin

Lisa Frieda Cossham, geboren 1979 in Berlin, ist der Familientradition folgend mit 22 Mutter geworden. Sie hat Theaterwissenschaft studiert, ein zweites Kind bekommen und nach ihrem Magisterabschluss die Deutsche Journalistenschule besucht. Nach Praktika bei der Süddeutschen Zeitung und dem SZ-Magazin begann sie, als freie Journalistin zu arbeiten, und schreibt seither für verschiedene Frauenmagazine wie NIDO, Stern u. a.

2013 trennte sie sich von ihrem Mann, mit dem sie sich seitdem die Kinder teilt. Was das bedeutet, erzählt die Autorin in ihrer Kolumne »Teilzeit-Mutter« auf sz-magazin.de und in diesem Buch.

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LISA FRIEDA COSSHAM

Plötzlich RabenMutter?

Wie ich meine Familie verließ und mich fragte, ob ich das darf

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

1. Auflage

Copyright © 2017 by Lisa Frieda Cossham

© 2017 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Nadine Lipp

Umschlaggestaltung: semper smile, München

KW · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-19655-4V001

www.blanvalet.de

Inhalt

Vorwort

1 Studenteneltern

Ich werde Mutter, Jan Vater. Wir ziehen um, studieren, haben oftmals Gäste und kaum Geld. Dafür bald ein zweites Kind und jeder mindestens einen Studienabschluss. Wir heiraten nebenbei. Dann taucht Paul auf, und ich verlasse meine Familie.

2 Ist keine Mutter besser als eine halbe?

Wir leben im Wechselmodell, und ich sehe meine Töchter nur noch jede zweite Woche. Ich vermisse sie. Wir entfremden uns. Ich beginne, an mir zu zweifeln, und versuche herauszufinden, was eine gute Teilzeit-Mutter ausmacht. Jan lernt Anna kennen, auch sie hat zwei Kinder.

3 Terror ums Glück: Muttersein heute

Ich schreibe eine Kolumne im SZ-Magazin, die böse kommentiert wird. Ich begreife: Unglückliche und zweifelnde Mütter sind tabu. Sie werden ähnlich verurteilt wie Frauen, die ihre Mutterschaft bereuen – denn der Mythos der bedingungslosen Mutterliebe gilt bis heute.

4 Fürsorge ist unteilbar

Jan und ich haben unsere Töchter gleichberechtigt erzogen, doch nach der Trennung habe ich ein schlechtes Gewissen: Verletze ich meine mütterliche Fürsorgepflicht? Ich hadere mit dem traditionellen Rollenverständnis, das unsere Gesellschaft pflegt. Ob es anderen Teilzeit-Müttern auch so geht?

5 Multilokales Aufwachsen

Zusammen mit meinen Töchtern ziehe ich in eine eigene Wohnung. Sie haben nun zwei Zuhause. Wir teilen uns die Kinderbetreuung und erkennen, dass wir viel miteinander reden müssen – wenn wir eine Familie bleiben wollen.

6 Großfamilie, ein Versuch

Weil wir nicht wissen, wie das geht, Patchwork im Wechselmodell, veranstalten wir kleine Elternabende, um uns zu besprechen. Meine Töchter passen sich der neuen Situation an und spielen so viele Rollen, wie sie Kinderzimmer haben.

7 Gleichberechtigte Teilzeiteltern sind starke Eltern

Ich entwickle ein neues Selbstverständnis. Als Teilzeit-Mutter habe ich mehr Zeit, Kräfte zu sammeln und zu arbeiten. Dasselbe gilt für Jan. Eine Herausforderung bleibt unsere Lesensform trotzdem, der wir uns stellen, um so viel Familie wie möglich zu erhalten.

Dank

Anmerkungen

Vorwort

Ein Montagmorgen, ich bringe Martha und Louise zur U-Bahnstation Sendlinger Tor. Ich begleite sie zum Gleis. Bleibe stehen und beobachte, wie sie sich in den vollen Waggon zwängen. Ich winke. Ich bin eine Mutter, die ihre Kinder zur Schule schickt und sie erst in acht Tagen wiedersehen wird, wenn die Vaterwoche herum ist. Wir erziehen unsere Töchter getrennt und doch gemeinsam. Ich bleibe stehen, schaue der U-Bahn hinterher, dann laufe ich zur Treppe und denke darüber nach, wie viele Teilzeiteltern in diesem Moment ihre Kinder verabschiedet haben. Vielleicht trinken sie einen Coffee-to-go auf den Abschiedsschmerz, lesen die Zeitung, um sich abzulenken. Vielleicht empfinden sie nichts. Stolpern in den Tag. Wir wissen kaum etwas übereinander. Die Herausforderungen, die das Kinderteilen mit sich bringt, machen wir vor allem mit uns selbst aus. In diesem Moment entscheide ich, dass ich über diesen Alltag schreiben will, in dem die Verhältnisse verrückt sind.

Es gibt unzählige Ratgeber für Eltern und solche, die es werden wollen. Sie erklären uns, wie wir eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung fördern, wie wir sie stärken und festigen können. Sie behandeln besondere Zeiten wie das Trotzalter, die Pubertät und die Leere nach dem Auszug von erwachsenen Kindern, das Empty-Nest-Syndrom. Was aber ist mit der Leere der Teilzeiteltern, die ihre Kinder ständig verabschieden müssen? Zum Thema Wechselmodell sind bisher sechs deutschsprachige Publikationen erschienen. Teilzeiteltern müssen selbst herausfinden, wie sie eine Erziehungspartnerschaft führen, wie sie mit der Nähe umgehen, die sich vor der Trennung entwickelt hat und die sie nun vermissen.

Dieses Buch soll kein Ratgeber sein. Ich gebe keine Tipps, denn jede Familie, auch jede getrennte, ist einmalig. Ich teile meine Beobachtungen in der Hoffnung, dass sie Eltern auffangen und trösten, die vor ähnlichen Herausforderungen stehen wie ich. Sich die Erziehungsarbeit auch nach der Trennung gleichberechtigt zu teilen bedeutet für beide Eltern zunächst einen Verzicht. Auf gemeinsame Zeit mit dem Kind. Auf Nähe. Darauf, jeden Entwicklungsschritt des Kindes begleiten zu können. Weniger Mutter oder Vater sein, wer will das schon? Kinder verabschieden in einem Alter, in dem weder die Kinder noch ihre Eltern dazu bereit sind. Eigentlich. Doch das sich wandelnde Rollenverständnis von Vätern und Müttern und eine Politik, die sich bemüht – wenn auch zaghaft –, gleichberechtigte Erziehungsarbeit zu fördern, beeinflussen nicht nur das Leben der klassischen Familien, sondern auch das der getrennten. Wie viele von ihnen das Wechselmodell leben, sich die Betreuung hälftig teilen, wird nicht erfasst. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die paritätische Erziehungspartnerschaft, wie Wissenschaftler dieses Betreuungsmodell nennen, sowohl in der Forschung als auch in der Praxis an Bedeutung gewinnt.

Ich schreibe aus der Perspektive einer Teilzeit-Mutter. Ich bin davon überzeugt, dass auch Teilzeitväter ihre Kinder vermissen und ähnliche Gefühle haben wie Teilzeit-Mütter. Doch während das Wechselmodell eine Aufwertung für den Vater darstellt, weil er sich die Verantwortung gleichberechtigt mit der Mutter teilt und sich der öffentlichen Wahrnehmung nach mehr kümmert als ein Wochenendvater, bedeutet es für die Mutter eine Abwertung: Von einer guten Mutter, das ist meine Erfahrung, erwartet man, dass sie immer präsent ist und nicht freiwillig auf Zeit mit ihren Kindern verzichtet – ganz gleich aus welchen Gründen.

Aber das ist mir nicht bewusst, als ich mich mit der Chefredaktion des Süddeutsche Zeitung Magazins im Juli 2015 einige, für ihre Online-Ausgabe eine Kolumne zu schreiben. Wir nennen sie Teilzeit-Mutter. Sie erscheint wöchentlich. Es werden 52 Folgen und einige von ihnen finden Eingang in dieses Buch. Ich erzähle, wie ich als nur mehr halbe Mutter meine Töchter Martha und Louise wahrnehme, wie wir uns entfremden, wieder annähern und eine neue Beziehung zueinander entwickeln. Ich erzähle von der Schuld, die ich empfinde, weil ich Jan für einen anderen Mann, Paul, verlassen habe. Ich beschreibe, wie ich jede zweite Woche meine Töchter vermisse und gar nicht weiß, wie ich meine neue Freiheit annehmen kann, ohne mich wie eine Rabenmutter zu fühlen. Ich bewege mich in meiner kinderlosen Freizeit, als hätte ich zu große Schuhe an.

Es wird vielen Müttern so gehen, denke ich, und stelle fest: Viele Mütter sehen das anders. Sie schreiben wütende Kommentare unter die einzelnen Folgen meiner Kolumne. Sie werfen mir vor, egoistisch zu handeln. Sie verstehen meine Beobachtungen als selbstmitleidiges Gejammer und erklären mich zur Rabenmutter. Unbeabsichtigt finde ich mich in einer Debatte wieder, nämlich der, was eine gute Mutter ausmacht. Ich begreife, dass uns auf der Suche nach neuen Familienmodellen, die den gesellschaftlichen Veränderungen gerecht werden, ein veraltetes Mutterideal im Wege steht. Als Teilzeit-Mutter scheint mir die gleichberechtigte Erziehungspartnerschaft, die Jan und ich seit der Geburt unserer Töchter leben, plötzlich infrage gestellt, und ich beginne, mir ihrer bewusst zu werden und um sie zu kämpfen. Vor welche Herausforderungen mich das stellt, welchen Vorurteilen ich begegne und warum das Ringen darum, Familie zu bleiben, sich lohnt, davon handelt dieses Buch.

1 Studenteneltern

Schulbrot mit Schinken, Käse und Marmelade

Als ich Jan zum ersten Mal begegne, trägt er einen Zylinder aus schwarzrotem Samt, darunter lange, apfelgrün gefärbte Haare, um die Schultern ein zu großes Jackett. Vornehm verlottert sieht er aus, das Gesicht wie ein Harlekin, schmale Augen, breiter Mund. Wir sind 14. Wir sind Klassenkameraden und nicht ein bisschen ineinander verliebt. Hätte mir in diesem Sommer jemand erzählt, dass er der Vater meiner Kinder würde, ich wäre sicher wütend geworden. Wir haben kaum etwas miteinander zu tun. Ich bin neu in der Klasse und beobachte, wie er jede Regel hinterfragt und die Lehrer provoziert. Er ist fröhlich dabei, will nicht stören, sondern sich auseinandersetzen mit den Menschen, die ihn umgeben. Ihre Verbindlichkeit fordern. Du kriechst in sie hinein, werfe ich ihm später einmal vor, und Jan lächelt nur, er ist ein atemloser Geschichtensammler und -erzähler. Ein Clown auf dünnem Seil, der selten Hausaufgaben macht, weil so viel geschieht, was ihn davon abhält. Mädchen, die Gedichte schreiben. Angeln im Fluss. Rennradfahren. Bauer Walter. Und irgendwann ich.

Jan bietet mir etwas von seinem Schulbrot an. Sein Vater hat es gebacken. Es ist belegt mit Schinken, Käse und Marmelade, eine unerhörte Mischung, wie ich finde. In den folgenden fünf Jahren teilt Jan sein Schulbrot mit mir, wenn ich ihn darum bitte. Das mache ich jeden Tag. Manchmal besuchen wir uns. Wir kennen unsere Familien und ihre Gewohnheiten, wissen, mit wem der andere gerne zusammen ist, welche Bücher er liest, welche Dielen knarzen. In der 12. Klasse küssen wir uns. Wir haben zusammen Theater gespielt, haben Zeit vertrödelt und Schokolade gegessen, und als ich ihn frage, ob er nicht mit zu mir kommen möchte, sagt Jan Ja. Das habe ich schon oft gefragt, aber dieses Mal ist es anders, als würden wir die Liebe proben. Ich habe keine Idee, wie mein Freund aussehen sollte, aber so wie Jan bestimmt nicht. Und möchte trotzdem in seiner Nähe sein. Er besucht mich in Paris, wo ich nach dem Abitur als Au-pair arbeite. Wir werden ein Paar. Zwei Jahre später bin ich schwanger.

Das ist nicht geplant und doch gewollt. Keinen Moment denken wir über eine Abtreibung nach. Ich erinnere mich an unsere Freude, aber auch das Gefühl der Untiefe. Wir erwarten etwas, für das wir lebenslang Verantwortung übernehmen müssen. Wir sind 21 und rufen unsere Eltern an. Sie freuen sich vorsichtig. Wie, fragen sie, stellen wir uns unsere Zukunft vor, also wie genau?

Fünf Monate habe ich als Au-pair in Paris gearbeitet, sechs Monate in Bristol, England, wo Jan seinen Zivildienst gemacht hat. Jetzt wohnen wir zusammen in Bayreuth. Hier studiere ich Theaterwissenschaft, drittes Semester, in sieben Monaten ist meine Zwischenprüfung. Ich weiß, dass ich sie bestehen muss, dass ich sie nicht nachholen kann, stillend, mit einem Säugling im Arm. Jan jobbt. Er verlegt Pflastersteine, pflanzt Sträucher und wartet auf einen Medizinstudienplatz irgendwo in Deutschland. Wir sind unfertig, denke ich, wir werden uns beweisen müssen.

Ich bekomme ein Baby, das so groß ist wie Jans Fuß, und beantrage Sozialhilfe

Als Studentin kann ich für mich selbst aufkommen, nicht aber zusätzlich für ein Kind. Auch Jan verdient nicht viel. Der Staat wird uns unterstützen, erfahre ich von einer Freundin, die beruflich mit Sozialhilfeempfängern zu tun hat. Offiziell beraten lassen wir uns nicht, weder von einer studentischen Stelle noch von einem Wohlfahrtsverband. Ich erinnere mich nicht, ob es an der Universität ein entsprechendes Angebot gegeben hätte. Keine meiner Kommilitoninnen ist schwanger, in meinem Umfeld ist niemand, an dem ich mich orientieren kann. Meine Freundin rät mir, mich beim Sozialamt zu melden und eine Erstausstattung für das Baby zu beantragen. Sie schickt uns in die Spendenabteilung der Caritas. Wir brauchen einen Kinderwagen, eine Wickelkommode. Aber das, was dort rumsteht, gefällt mir nicht. Ich möchte meiner Vorfreude nachgehen, durch Läden streifen und das Nötige für mein Kind selbst aussuchen – nur können wir uns das nicht leisten.

Am Ende helfen uns unsere Eltern und überweisen Geld. Auch in den folgenden Jahren. Keine großen Summen. Es sind Beträge, die einen Ausflug möglich machen, einen neuen Regenmantel, Schuhe. Vor der Geburt gehe ich regelmäßig zum Arzt, nach der Geburt zum Sozialamt. In den ersten Monaten als Familie leben wir von Hartz IV, das noch Sozialhilfe heißt. Zwischen staatlichen Grünpflanzen rechtfertige ich mich für unsere Situation, lege den Sachbearbeitern Kontoauszüge vor, beweise, dass wir nichts haben. Wir stecken im Armutsraster.

Unsere Not verunsichert und beschämt mich. Ich will sie nicht zeigen, nicht auf dem Amt, nicht vor Freunden oder später den befreundeten Eltern. Unsere junge Familie ist ein finanzielles Desaster, dabei fühlen wir uns reich. Uns fehlt nichts, nichts Grundsätzliches zumindest. Freiheit etwa. Aufregende Jobs, Vormittage im Café, Wochenendtrips oder Monate in Indien. Die Zeit, die wir mit uns selbst verbracht haben, ist überschaubar. Noch sind wir an nichts gewöhnt. Wir haben keinen Beruf, sind nicht an einen Ort gebunden und nicht gezwungen, uns von Lebensträumen zu verabschieden. Wir haben sie noch nicht geträumt.

Im Sommer 2002 bestehe ich die Zwischenprüfung. Unter Tausenden jungen Frauen bin ich die einzige Schwangere, die über den Campus der Bayreuther Universität läuft. Ob keine von ihnen unbeabsichtigt schwanger wird? Oder treiben sie ab? Ist es ein Zeichen mangelnden Ehrgeizes, dass ich das Kind bekomme und mein Studium unterbreche? Eigentlich zweifle ich nicht an meiner Entscheidung. Sie fühlt sich richtig an. Sie macht mich nur einsam. Eine Professorin nimmt mich zur Seite. Sagt, wie schade sie es fände, wenn ich als Mutter zu Hause bliebe und das Studium nicht beende. Ihre Worte überraschen mich. Ihre Sorgen sind nicht meine. Dass ich weiterstudieren werde, scheint mir selbstverständlich. Mache ich mir Illusionen?

Sechs Wochen später wird unsere Tochter Martha geboren. Während das Jahrhunderthochwasser der Elbe Sachsen, Bayern und Brandenburg überschwemmt und Deutschland in den Ausnahmezustand versetzt, versuche ich zu stillen und zu schlafen. Mutter zu sein. Jan und ich teilen uns die Aufgaben. Wir sind gleichberechtigt. Freiheiten müssen nicht ausgehandelt werden, wir sind so frei wie möglich. Das Leben dreht sich nur mehr um unsere neugeborene Tochter. Wir beugen uns über unser Baby, das in den ersten Tagen kaum größer ist als Jans Fuß. Wir staunen und fühlen uns reich. Der Schlafentzug zeichnet die Tage weich. Freunde und Kommilitonen besuchen uns, keiner von ihnen hat Kinder. Wir sind die Ersten und werden bewundert, für mutig befunden, schön, das auch. Ich laufe mit Martha auf dem Arm durch die Straßen, kein Schritt mehr ohne sie. Und trotzdem habe ich nicht das Gefühl, mein Selbstbestimmungsrecht verloren zu haben, weil ich noch gar nicht weiß, wie das geht: mich selbst bestimmen. So wie ich die Pflichtseminare an der Uni besucht habe, kümmere ich mich jetzt um dieses Kind, das uns geschenkt wurde. Ohne es zu merken, übernehme ich Verantwortung für uns drei. Es geht nicht mehr um mich, sondern um uns.

Wir sind gleichberechtigt, aber das ist weder Jan noch mir bewusst. Es scheint mir selbstverständlich, dass wir unser Kind zusammen großziehen. Wir stehen voreinander mit ähnlichen Voraussetzungen, warum also sollten wir unterschiedliche Rechte und Pflichten haben? Unsere Rollen sind kaum festgelegt. Wir arbeiten uns nicht an Stereotypen ab, kämpfen nicht mit Geschlechterklischees, weil wir bisher kaum welchen begegnet sind. Wir müssen nichts gegeneinander verteidigen. Ich kann mich nicht erinnern, um ausreichend Schlaf gestritten zu haben, oder darum, im Alltag unterstützt zu werden.

Dass wir gleichberechtigt sind, begreife ich, als wir uns 14 Jahre später trennen und ich Freundinnen und Freunde beobachte, die kleine Kinder haben. Sie diskutieren. Kämpfen um Freiraum. Ob sie halbtags arbeiten oder bis abends um sieben – jede ihrer Lösungen haben sie miteinander besprochen. Sie haben sich für einen Lebensentwurf entschieden. Etwas, das Jan und ich nie gemacht haben, so als hätte sich unsere Familie einfach ergeben.

Erst nach mehreren Monaten erkenne ich, dass ich als junge Mutter dennoch auf etwas verzichte, auf etwas Unwiderrufliches: Ich werde nie mehr allein sein in dieser Welt. Kein Mädchen mehr sein.

Jan kann endlich studieren, und ich lerne Regina kennen

Wir verlassen Bayreuth und ziehen zur Untermiete nach Berlin. Hier leben viele unserer Freunde, wir wollen in ihrer Nähe sein. Martha ist ein halbes Jahr alt. Jan arbeitet als Fahrradkurier, schließlich als Altenpfleger. Er besucht einsame Menschen in Wohnungen mit zu vielen Räumen, die seit dem zweiten Weltkrieg nicht verändert wurden. Dunkle Vorhänge. Muffige Teppiche. Schwere Möbel. Erlebtes, das nicht erzählt werden darf, dafür reichen fünfzehn Minuten nicht, länger darf Jan nicht bleiben. Müde kehrt er vom Schichtdienst heim, müde bin ich von meinen Mutterschichten zu Hause. In diesen Monaten habe ich das Gefühl, sehr viel sei vorbei. Durchschlafen, lieben, begehren, übermütig sein. Die Tage sind eine Melange aus Mahlzeiten, wickeln, spazieren gehen.

Ich lerne Mütter kennen, mit denen ich durch Ost-Berlin laufe, in Stillcafés sitze, mich über Alltagsdetails austausche, die mich beschäftigen. Sie beschäftigen mich wirklich. Ich vermisse keine Gespräche über Theaterinszenierungen oder Romane – und doch wünsche ich mir auf etwas zurückgreifen zu können. Einen Beruf vielleicht, eine Identität, die nur mir, nicht auch dem Kind gehört. Ich studiere, erkläre ich meinen Spielplatzfreundinnen. Klingt vage, finde ich. Könnte ich nur sagen: Ich bin Ärztin. Oder Musikerin. Wissenschaftlerin. So wüsste ich, dass der Gang zum Sandkasten ein Ausflug wäre, die Gespräche mit den Müttern nicht mehr als eine willkommene Ablenkung. Bald würde ich zurückkehren an meinen Platz und Geld verdienen, so wie alle anderen. In diesen Momenten denke ich an das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Es steht in der Unibibliothek in Bayreuth, ich habe darin geblättert. Ich weiß auch, wo Kindlers Literaturlexikon steht und andere Werke, die mich durch das Grundstudium begleitet haben. Plötzlich ist es bedrückend, nicht nachschlagen zu können, was das Auftauchen einer schwarzen Katze bedeuten könnte. Nicht zu wissen, wie es weitergeht.

Fünf Monate später bekommt Jan im Nachrückverfahren einen Studienplatz. In München. Wir sind erleichtert, dass etwas passiert. Und während Jan Seminare besucht, laufe ich mit Martha auf dem Arm und den Bürgschaften unserer Eltern in der Tasche durch München und besichtige Wohnungen. Die meisten sind zu teuer. Familie haben ist zu teuer, daran habe ich mich gewöhnt. Also ignoriere ich unsere Kalkulation, nenne meinen Freund meinen Mann und weise die Makler darauf hin, dass er Medizin studiert. Wir haben Glück und bekommen den Zuschlag für eine Wohnung in der Maxvorstadt. Drei Zimmer in einem 60er-Jahre-Bau, große Fenster, Parkett. Sieben Jahre werden wir dort wohnen, vielleicht sind es unsere glücklichsten Jahre.

Nach einem Jahr Kinderpause studiere ich wie Jan an der Ludwig-Maximilians-Universität. Wir stimmen unsere Seminare aufeinander ab. Jan hat bald Prüfungen und verschwindet wochenlang im Keller eines Kommilitonen. Wer lernen muss, darf gehen, eine wortlose Vereinbarung. Wer feiern muss auch. Die Absprachen fallen uns leicht, wie sonst sollten wir es schaffen? Unsere Eltern leben achthundert Kilometer entfernt, einen Babysitter können wir nicht bezahlen. Wir sind auf uns gestellt. Freunde sagen: Wir bewundern euch. Ich kann ihre Bewunderung nicht verstehen, stecken wir nicht alle in einem dichten Alltag, haben Pflichten, strengen uns an? Dass wir damals unter existenziellem Druck gestanden haben, begreife ich erst später.

Regina erkennt das sofort. Ich lerne sie an der Uni kennen, eine hochgewachsene Frau, Mutter von vier fast erwachsenen Kindern. Eine Zeit lang kommt sie regelmäßig von Dachau nach München, um Martha zu hüten. Manchmal besuchen wir sie und ihre Familie, um einen Sonntag zu teilen, im Garten zu sitzen oder den Golden Retriever auszuführen. In ihrem Haus dürfen wir einfach sein, was wir sind: eine junge Familie. Müde, genervt oder hungrig. Niemand erwartet etwas von uns. Wir gehen in der Großfamilie auf, und ich fühle mich halb wie ein Kind, halb wie eine Freundin. Wir tauchen ein in ein Kleinstadtleben, das ich aus meiner Kindheit kenne. Sichtschutzgardinen, Marmorkuchen aus Silikonbackformen, Platzdeckchen. Auf dem Glastisch im Wohnzimmer steht immer eine Schale mit Äpfeln vom Markt. Vorm Kamin werden Martha alte Kinderbücher vorgelesen. Manchmal sind wir erschöpft. In Dachau können wir uns erholen.

Campus und Kind

Mit Martha studiere ich anders. Ich tauche nur zu den Seminaren auf, sitze fast nie in der Cafeteria. Ich lerne effizient. Gegenüber Kommilitonen erwähne ich selten, dass ich Mutter bin. Ich möchte als Frieda, nicht als die Studentin mit Kind wahrgenommen werden. Ich komme nicht zu spät und gehe nicht früher, schwänze nie mehr als die erlaubten zwei Termine pro Seminar. Ich nehme den Kindersitz vom Fahrrad bevor ich zur Uni fahre. Studentin sein, das gehört zu dem Teil meines Seins, der nur mir gehört.

Pro Kind stehen mir sechs Urlaubssemester zu, in denen ich an Seminaren und Prüfungen teilnehmen, Scheine machen kann. Die beurlaubten Semester werden nicht als Fachsemester angerechnet. Auf diese Weise kann ich ohne Zeitdruck so viele Veranstaltungen wahrnehmen, wie es mir neben der Familie möglich ist. Während Jan in seinem Medizinstudium auf mehrere Mütter trifft, hat keine meiner Kommilitoninnen ein Kind. Es gibt eine Beratungsstelle für Studierende mit Kind, ich gehe nicht hin. Ich weigere mich, zu einer Sondergruppe zu gehören, die spezieller Unterstützung bedarf. Bekommen wir alles hin, denke ich.

Als ich einem Professor für Musikwissenschaft gegenüber erwähne, dass ich Mutter bin, fragt er, ob ich alleinerziehend sei. Nein, antworte ich stolz und bin froh, seinem Vorurteil nicht zu entsprechen. Wütend macht mich seine Frage erst später. Oft habe ich das Gefühl, mich beweisen zu müssen. Nicht nur in einem akademischen Betrieb, auch mir selbst gegenüber. Als wäre meine frühe Mutterschaft ein moralisches Versagen, das ich mit unbedingtem Fleiß und dem Versprechen, niemals bequem zu werden, aufheben könnte. Es sind nicht die Professoren, die mich unter Druck setzen, ich bin es selbst. Ich will für unsere Familie einstehen und zweifle dabei an mir selbst: Wieso sollte sich ausgerechnet unser Lebensentwurf als praktikabel erweisen zu einer Zeit, in der Frauen immer später Mütter werden, im Durchschnitt mit 29?

Rückblickend erkenne ich, dass es klug war, Kinder während des Studiums zu bekommen. Wer bereits berufstätig ist, kann nicht so viel Zeit mit ihnen verbringen. Kann nicht mit und an den Kindern wachsen und ein so dichtes Verhältnis zu ihnen entwickeln. Zu keiner anderen Lebensphase ist man so kraftvoll, flexibel und neugierig wie zwischen 20 und 30 und kann den disparaten Anforderungen mühelos gerecht werden.

Dennoch: Es gibt nicht den passenden Zeitpunkt um Eltern zu werden, habe ich verstanden, auch wenn das Kinderkriegen ein unberechenbares Unterfangen bleibt, ein Wagnis, dem sich seit einigen Jahren eine wachsende Zahl von Studenten stellt. Nach der jüngsten Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks bekommen 5 bis 6 Prozent der Studierenden eines oder mehrere Kinder im Studium (zum Vergleich: in Schweden sind es 21,7 Prozent, in Norwegen 16,6). Bei den aktuell 2,7 Millionen Studenten sind das 160 000 junge Eltern, die hierzulande mit Kind studieren. Sie sind im Durchschnitt sieben Jahre älter als ihre kinderlosen Kommilitonen, nämlich 31. Vor der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München sind inzwischen Kinderwagenstellplätze eingerichtet, das Beratungsangebot für Studenteneltern wurde erweitert. Sie werden bei Fragen zur Finanzierung, Kinderbetreuung und zum Wohnen unterstützt, auch Auslandssemester und Stipendien sollen ihnen möglich gemacht werden. Und sie werden staatlich gefördert: BAföG-berechtigte Auszubildende haben Anspruch auf einen Kinderbetreuungszuschuss von 130 Euro monatlich für Kinder bis zu zehn Jahren, den sie nicht zurückzahlen müssen und der nicht auf die übrigen Leistungen zum Lebensunterhalt angerechnet wird. Kürzlich wurde die Anhebung der Einkommensfreibeträge sowie die der Freibeträge vom Vermögen beschlossen.

Hochschulen bemühen sich um familienfreundliche Strukturen, sie haben erkannt, dass das klassische lineare Modell von Studium, Karriere und Kind nicht mehr zeitgemäß ist und zu viele Frauen, einmal im Beruf, das Kinderkriegen aufschieben oder sich dagegen entscheiden. Studieren mit Kind muss also attraktiv werden. Die LMU bietet derzeit 500 Betreuungsplätze in 21 verschiedenen Einrichtungen an. Ein Krippenplatz kostet maximal 300, ein Kindergartenplatz 150 Euro pro Monat – sie sind damit kostengünstiger als städtische Einrichtungen. Bundesweit bieten 52 Studentenwerke Familienwohnungen in ihren Wohnheimen an.

Diese Zahlen sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Studierende mit Kindern in einer finanziell schwierigen Situation befinden, womöglich Arbeitslosengeld II für die Kinder beantragen müssen, mit Eltern-, Kinder- und Betreuungsgeld jonglieren und darauf hoffen, dass ihre Eltern den neuen Fahrradanhänger bezahlen.

Sie werden jedoch inzwischen dafür anerkannt. Weil sie zeigen, dass sie sich organisieren und unterschiedlichen Anforderungen gleichzeitig gerecht werden können – eine Fähigkeit, die auch spätere Arbeitgeber positiv bewerten. Die Idee, während des Studiums eine Familie zu gründen, kommt nicht mehr einem Versehen gleich. Sie ist heute ein Lebensentwurf unter vielen, der in einer alternden Gesellschaft nicht verurteilt, sondern diskutiert und gefördert wird.

Als Studentenmutter fehlen mir Vorbilder

Die meisten Mütter in meinem Umfeld sind zehn oder 15 Jahre älter als ich. Sie haben verschiedene Jobs gehabt und Kinder bekommen, mit denen sie nun auf Spielplätzen sitzen, während ihre Männer arbeiten. Manche wohnen schon lange in München, in Schwabinger Altbauten mit großen Küchen, in denen Designerstühle stehen. Am Wochenende fahren diese Familien in die Berge. Sie gehen ins Restaurant oder Museum. Jede bleibt unter sich, das Wochenende ist kostbare Familienzeit. Nicht für uns, wir sehen uns auch unter der Woche tagsüber, je nachdem wann unsere Seminare stattfinden. Besonders am Wochenende würde ich mich gerne mit anderen Familien treffen. Freundschaften schließen. Zusammen essen. Ausflüge machen, ausgehen. Ich bin gesellschaftshungrig – doch die Eltern um mich herum sind mit ihrer Familie beschäftigt. Sie haben sich ausgetobt und befinden sich in einem Lebensabschnitt, in dem sie die Nächte mit ihren Kindern, nicht aber mit den Studenteneltern von gegenüber teilen wollen.

Die meisten von ihnen leben anders als Jan und ich in klassischen Rollenverteilungen: Die Mutter kümmert sich um die Kinder, arbeitet frei oder halbtags, der Vater kehrt abends, spätestens am Wochenende heim. Dieses Familienmodell ist mir von den Spielkameraden meiner Kindheit vertraut. Mit ihm verbinde ich eine sichere, heile Welt, die ich in meiner Kindheit vermisst habe. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich zwei war. Ich bin bei meinem Vater aufgewachsen und erst mit 14 zu meiner Mutter gezogen. Mein Vater und meine Mutter haben sich jeweils öfter getrennt, zweimal habe ich die Schule wechseln müssen. Diese Brüche möchte ich Martha und Louise ersparen. Das ist kein bewusster Gedanke, nur ein unbestimmtes Gefühl, das mich antreibt, unser Alltagsleben so ruhig und sicher wie möglich zu gestalten. Ich melde Martha bei der musikalischen Früherziehung an. Buche einen Schwimmkurs. Einmal in der Woche gehe ich mit ihr zu einem Elternzentrum, zahle ein paar Euro, esse Kekse, trinke Biotee von dm und schaue wuselnden Kleinkindern zu. Martha probiert fremdes Spielzeug aus, ich das Muttersein.

Mir fehlen Mütter in meinem Alter, die nicht so sehr auf ihr Kind fokussiert sind. Die leicht geblieben sind. Eltern, die wie Jan und ich gemeinsam mit den Kindern groß werden. Gleichberechtigt wachsen. Wir sind gleichermaßen wichtig oder unwichtig und haben das Elternsein genommen wie eine geerbte Öljacke, in die wir noch reinwachsen würden. Wir haben alte und irgendwann neue Kinderwägen geschoben, Bordsteine rauf und runter. Kapiert, dass man auf der Rolltreppe rechts stehen sollte und uns im Bus niemand Platz machen wird. Dass man Sandkastenspielzeug beschriften muss, sonst ist am Ende des Sommers nur mehr ein Förmchen übrig. Und Flohmärkte? Sind im Frühjahr und im Herbst und meist so anstrengend wie Tage ohne Mittagsschlaf.

Martha beißt, ich bekomme noch ein Kind und beantrage Hartz IV

Unser Leben ist ein Balanceakt. Vielleicht ist das der Grund, warum uns die Entscheidung für ein zweites Kind leichtfällt: Wir haben uns an diese Herausforderungen gewöhnt und wollen nicht, dass Martha als Einzelkind aufwächst. Zwei Kinder werden sicher nicht viel mehr Arbeit machen als eines, denken wir. Und einen Kinderwagen haben wir bereits, eine Wickelkommode auch. Wir kennen die Spielplätze, wissen, dass wir kurze Nächte gut überstehen. Freunde erklären uns für verrückt. Manche nennen uns Sozialschmarotzer, in ihren Augen darf nur ein Kind bekommen, wer es sich leisten kann. Wir finanzieren euer Familienleben, sagen einige, die bereits arbeiten und Steuern zahlen. Immer noch leben wir von Bafög, und da es nur Jans und meinen, nicht den Bedarf der Kinder deckt, erhalten unsere Töchter Hartz IV. Erst als Martha sieben Jahre alt ist, werden wir uns selbst finanzieren können.

Ich kann die Empörung verstehen, empfinde meine Familie aber nicht als unrechtmäßig, die Entscheidung, ein weiteres Kind zu bekommen nicht als Schmarotzertum. Es fühlt sich nicht so an, als würde ich mich auf Staatskosten ausruhen. Dass Frankreich mit 1,99 Kindern pro Frau die höchste Geburtenrate in Europa hat, liegt unter anderem daran, dass sich der Staat selbstverständlich an der Kinderbetreuung beteiligt und Familien finanziell entlastet. Frauen erhalten 16 Wochen lang ihr volles Gehalt, nach dem dritten Kind 26 Wochen lang. Weiterhin gibt es Leistungen wie Geburtenprämie, Kindergeld, Kinderbeihilfe und andere, die unter entsprechenden Umständen gezahlt werden. Kindergartenplätze sind kostenlos, und nur einkommensstarke Familien zahlen einen geringen Beitrag für die flächendeckende und ganztägige Betreuung der unter Dreijährigen. Später gehen die Kinder auf eine Ganztagsschule, das ist ebenso normal wie die Berufstätigkeit der Eltern. Eine Familie mit zwei und mehr Kindern ist nichts, was den Wohlhabenden oder sozial Schwachen vorbehalten zu sein scheint wie in Deutschland.