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Wer heute über eine größere Geschwindigkeit verfügt, besitzt einen politischen und finanziellen Vorteil. Als neues Qualitätsmerkmal ist Geschwindigkeit mehr als nur ein physikalischer Begriff. Sie bildet ein gesellschaftliches Verhältnis, das im ununterbrochenen Wettkampf um Höchstgeschwindigkeit eine neue kinetische Elite wie auch Ausgeschlossene hervorbringt. In der Dromokratie , der Herrschaft des Schnelleren, wird der Geschwindigkeitswettbewerb zum Taktgeber einer Gesellschaft, die niemals stillstehen darf. Der Drang nach Höchstgeschwindigkeit prägt das unternehmerische und persönliche Handeln, während der Staat zum Geschwindigkeitsmanager wird. Er sorgt sich um die Infrastruktur für das maximale Tempo des Waren- und Menschenverkehrs und er bestimmt, welcher Gruppe welche Geschwindigkeit zugesprochen wird. Wer die zentralen Dynamiken des 21. Jahrhunderts verstehen will, muss sich mit der Geschwindigkeit beschäftigen. Und wer sich deren Zwänge entziehen will, muss sie politisieren.
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Seitenzahl: 350
Veröffentlichungsjahr: 2020
Jonas Frick
Gegen die Herrschaft des Schnelleren
mandelbaum verlag
mandelbaum.at • mandelbaum.de
ISBN 978-3-85476-877-7eISBN 978-3-85476-707-7
© mandelbaum verlag, wien • berlin 2020alle Rechte vorbehalten
Lektorat: ERHARD WALDNER
Satz: KEVIN MITREGA
Umschlag: MICHAEL BAICULESCU
Einleitung
Dromologie und Dromokratie
Zur Historisierung der Dromokratie
Zeit und Kapitalismus
Geschwindigkeitsregime
Staat, Stadt und Geschwindigkeit
Arbeit und Zeit
Widerstand
Ideologie und dromokratische Versprechen
Leitende Widersprüche
Die Herrschaft des Schnelleren
Hochfrequenzhandel
Finanzhandel als militarisierter Cyberkrieg
Race to Zero
Eine Welt im Dauercrash
Regulation durch Geschwindigkeitsgrenzen?
Forever Young
Handeln in Echtzeit
Die Erfindung der Zukunft
Kommodifizierte Entschleunigung
Fahrgesellschaft
Die Elektrifizierung des Fußgängers
Über das dromokratische Versprechen der Mikromobilität
Die letzte Meile: Die Beschleunigungsleistung der Logistik
Kommodifizierung mit staatlicher Unterstützung
Nationale und transnationale Projekte
On Time
Die dromokratische Stille
Freiheit durch Kontrolle: Das Imaginäre der Dromokratie
Hindernisse und zweckentfremdete Straßen
Die Gespenster der Dromokratie
Jagdgesellschaft
Synchronisation und Desynchronisation
Kommodifizierung von Geschwindigkeit. (S)lower Class
Zeitarme und zeitreiche Menschen
Migration und staatliche Geschwindigkeitskontrollen
Geschwindigkeitskontrolle als dromokratisches Machtmittel
Dromokratische Geopolitik
Compressing the Kill Chain
Zur Politisierung der Geschwindigkeit
Für eine selbstbestimmte Zeit: Die Wiederaufnahme von Arbeitskämpfen um Arbeitszeiten und das Potenzial der Sabotage
Für plurale Temporalitäten: Die Stärkung temporaler Autonomien als Abkehr vom globalen Synchronisationsdruck
Für einen historischen Wandel: Die Re-Temporalisierung der Echtzeit und der detemporalisierten Gegenwart
Für die Ausweitung der politischen Themenfelder: Die Politisierung der alltäglichen Geschwindigkeitsmaschinerie
Für eine neue Perspektive: Die Wiederaneignung utopischer Vorstellungen
Epilog: Die Pandemie und die Geschwindigkeit. Ein Versuch, einen Überblick zu gewinnen
Bibliographie
»Internet grade so langsam. Ich würde mich am liebsten umbringen.« (@therealmoneyboy am 19. September 2014)
Will man die Geduld einer Person testen, dann konfrontiere man sie mit langsamem Internet. So oder ähnlich lautet ein beliebter Meme-Spruch über die digitalen Alltagssorgen. Wie langsame Computer gehört langsames Internet zu den lästigsten Tech-Problemen unserer Zeit.1 Je nach Studie verlassen zwischen 40 bis 60 Prozent der NutzerInnen eine Website, die nicht innerhalb von drei Sekunden lädt. Google hat vor zehn Jahren berechnet, dass 200 beziehungsweise 400 Millisekunden Verzögerung in der Ladezeit das tägliche Suchverhalten um 0,2 beziehungsweise 0,6 Prozent reduzieren.2 Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2017 steigt die Bounce-Rate – das heißt: der Anteil an UserInnen, die nur eine einzige Seite auf einer Homepage betrachten – bei zwei Sekunden Verzögerung um 103 Prozent.3 Anders gesagt: Je länger eine Website lädt, desto schneller verlieren Menschen ihr Interesse daran.
UserInnen sehnen sich nach der größtmöglichen Datengeschwindigkeit. Dafür werden Milliardenbeträge in Forschung und Infrastruktur investiert, beispielsweise in 5G, das nicht nur eine schnelle Internetverbindung, sondern auch die endgültige Einführung der digitalen Zukunft verspricht. Der laufende Ausbau des Telekommunikationsnetzwerks setzt den neuen Standard für die kommunikative Durchdringung unserer Welt. Möglichst bald schon hat alles mit allem im Kontakt zu stehen – und dies mit höchster Geschwindigkeit. Will künftig der Kühlschrank mit dem Herd, das Mobiltelefon mit dem Haus, das Auto mit der Ampel und die Überwachungskamera mit der polizeilichen Datenbank kommunizieren, dann bedarf es, so die gängige Argumentation, eines Ausbaus der Telekommunikationsinfrastruktur. Der dafür entwickelte Standard 5G setzt sich aus drei Stufen zusammen. Bereits umgesetzt wurde der erste Teil, der ›Release 15‹. Dieser ermöglicht die zielgerichtete Ausstrahlung von Funkwellen und dadurch die Steigerung der Datenrate. Der in den kommenden Jahren geplante ›Release 16‹ soll die Latenzzeiten auf unter eine Millisekunde senken. Das heißt: Die Zeit, die zwischen der Eingabe und der Umsetzung eines Befehls vergeht, soll minimiert werden. ›Release 17‹ schließlich wird die Kapazität des Netzwerkes steigern. Bis zu einer Million Geräte sollen künftig pro Quadratkilometer versorgt werden können. Wieso aber brauchen wir einen neuen Standard? Konnten wir mit 4G und allen anderen technischen Vorgängern nicht genügend miteinander kommunizieren? Und stören uns die wenigen Sekunden Verzögerungen tatsächlich in unserem Alltag? Die technische Antwort auf diese Fragen lautet, dass sich die Anzahl an Interaktionen und sowohl die dabei entstehende Datenmenge als auch die Notwendigkeit komplikationsfreier Verbindungen rasant steigern werden. Wenn Autos automatisch und ohne Unfall fahren sollen und gleichzeitig die Kapazität vorhanden sein muss, um den Kühlschrank mit Informationen zu versorgen, haben wir es mit einer Unmenge an Daten zu tun, die ohne Verzögerung an ihr Ziel gelangen müssen. Alleine ein autonomes Fahrzeug soll gemäß einer Berechnung von Intel vier Terabyte Daten pro Tag generieren.
Noch ist 5G nicht flächendeckend umgesetzt. Doch erste Anwendungen stehen bereits in den Startlöchern, zum Beispiel der in einem österreichischen Informatikunternehmen programmierte ›Bee-O-Meter‹, ein smarter Bienenstock, der mit 5G-Technologie ausfliegende und zurückkehrende Bienen zählt und BienenbesitzerInnen allfällige Missstände tagesaktuell mitteilt.4 Oder das modifizierte Handy, das es einer blinden Skifahrerin dank Reaktionszeiten von unter 10 Millisekunden ermöglicht, den Hang alleine zu meistern, indem sie die Anweisungen ihres Guides per Telefon annimmt. »Noemi ist blind – doch mit 5G Technologie fährt sie den Hang hinunter, als könne sie sehen«5, lässt sich Deutschlands Vodafone-CEO Hannes Ametsreiter begeistert zitieren. Freilich gehören weder BienenzüchterInnen noch sehbehinderte Menschen zu der Zielgruppe von 5G. Beide fungieren vielmehr als werbetechnisch wirkungsvoll eingesetzte Nebenschauplätze einer auf Tempo getrimmten Wirtschaft und Gesellschaft.
Die anvisierte Kundschaft von 5G findet sich in der Großindustrie. Gemäß einer aktuellen Studie des Capgemini Research Institute plant ein Großteil der Unternehmen, die Technologie innerhalb von zwei Jahren nach ihrer Einführung zu implementieren.6 Die meisten erhoffen sich dadurch mehr Effizienz in der Produktion und eine größere Unabhängigkeit. Zu diesem Urteil kommt auch eine Befragung von Bitkom, dem Verband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche, bei der 5G als ›Schlüsseltechnologie‹ für die deutsche Industrie angepriesen wird.7 Die weltweiten Ansprüche und Hoffnungen an die neue Technologie sind enorm. Bei BMW ist die Rede von »enormen Effizienzsteigerungen«8. In Großbritannien erhofft man sich durch 5G eine jährliche Steigerung der Wirtschaftsleistung in der Höhe von 15 Milliarden Pfund.9 Die Schweizer FDP will »dank 5G den Fortschritt ermöglichen«, wie es in einer Facebook-Werbeanzeige heißt. »[S]peed up global growth«10, lautet die Hoffnung auf 5G beim World Economic Forum. Big Data, Blockchain, Augmented Reality oder Virtual Reality heißen die damit verknüpften Hoffnungsträger. Von einer Revolution ist an manchen Stellen gar die Rede. Wie all dies konkret umgesetzt werden soll, bleibt allerdings hinter wirkungsstarken Stichworten verborgen. Diese Diskrepanz ist nicht neu. Menschen neigen dazu, Technologien zu überschätzen, die sie nicht verstehen11 – unter dem treffenden Titel »Digitalisierung als Religion« charakterisiert der deutsche Kulturwissenschaftler Robert Feustel die Zuschreibung von übermenschlichen Fähigkeiten, in der sich 5G-ApologetInnen in nichts von ihren esoterischen GegnerInnen unterscheiden.12 So vermischen sich in der hoffnungsvoll erwarteten Implementierung von 5G Voraussagen über abschätzbare Anwendungsmöglichkeiten, die vor allem die Effizienzsteigerung in der Produktion betreffen, mit einer diffusen Hoffnung auf eine wirtschaftlich sorgenfreie Zukunft durch höhere Datengeschwindigkeit und komplikationsfreie Telekommunikation.
»Umstellungen sind natürlich immer schwierig. Das fängt schon im Kopf an«13, meinte der Vodafone-Chef Ametsreiter, als er bei einem seiner Fabrikbesuche einmal mehr auf sein liebstes Thema 5G zu sprechen kam. Der Kopf, auch Ideologie genannt, implementiert, was die Wirtschaft vorgibt. Zugleich folgt die Wirtschaft dem, was der Kopf als beste Strategie empfiehlt. Die etwas andere Antwort auf die Frage, wieso unsere Gesellschaft dem Ruf nach 5G und anderen Beschleunigungstechnologien erliegt, lautet deswegen, dass wir endgültig das Zeitalter der Geschwindigkeit erreicht haben. Die Prämisse, dass Langsamkeit störend wirkt und alles schneller zu gehen hat, hat sich als fetischisierte Grundlage festgesetzt. Diesem Primat ordnen wir uns unter, ohne zu viele Gedanken über Folgen und Nebenwirkungen zu verschwenden. Wir erleben eine aufkommende Hegemonie der Geschwindigkeit, in der das Rennen um das Höchsttempo zur Grundlage einer staatlichen, wirtschaftlichen wie persönlichen Handlungsmaxime wird. Technologische Erneuerung und Ideologie gehen dabei Hand in Hand. So gehören geschwindigkeitseuphorische Visionen zu den leitenden Versprechen unserer Zeit. Sie bewirken Investitionen, Hoffnungen und Forschungsinteressen zugleich.
Was heute versprochen wird, wird morgen nur selten eingehalten. Doch die kulturpessimistische Betrachtung, dass zwischen Anspruch und Realität eine Lücke klafft, ist nicht neu. Kein Tag vergeht, an dem sich niemand lautstark darüber beklagt, dass es um uns herum viel zu schnell zu- und hergeht und wir diese Entwicklung nicht mehr aufhalten können – es sei denn, wir begeben uns, wie Ferienprospekte immer wieder empfehlen, an kommodifizierte – das heißt: zur Ware gewordene – Orte der Entschleunigung, an denen wir uns von unseren Eilkrankheiten erholen. Auch wissenschaftlich hat man sich in den letzten Jahren dem Zustand der Beschleunigung genähert. Hartmut Rosa als bekanntester deutschsprachiger Beschleunigungsforscher hat in den letzten fünfzehn Jahren drei Bücher sowie zahlreiche kritische Artikel und Interviews veröffentlicht, in denen er systematisch die Prozesse der sozialen Beschleunigung und Entfremdung beschreibt.14 Beschleunigung, so seine leitende These, ist sowohl zentrales Merkmal wie auch leitendes Versprechen der Moderne. Dabei unterscheidet er zwischen einer technischen Beschleunigung, einer Beschleunigung des sozialen Wandels und einer Beschleunigung des Lebenstempos, die sich jedoch allesamt als Strukturen gegenseitig bedingen und verstärken. Neben Rosa entstanden vor allem im englischsprachigen Raum zahlreiche weitere kritische wie auch liberal populärwissenschaftliche Werke über die gesteigerte gesellschaftliche Geschwindigkeit beziehungsweise deren Bedeutung. 2003 beschrieb beispielsweise Teresa Brennan in Globalization and Its Terrors: Daily Life in the West, wie ein sich steigerndes Lebens- und Wirtschaftstempo zu Umweltzerstörung und Gesundheitsproblemen führe. Die Befunde scheinen zutreffend; dass es sich dabei allerdings um eine quasi natürliche ›organische Zeit‹ als anthropologische Konstante handelt, die mehr und mehr angegriffen wird und dadurch Stresssymptome verursacht, wurde später unter anderem von John Tomlinson angezweifelt.15 Dieser veröffentlichte 2007 mit The Culture of Speed selbst ein Werk darüber, wie Geschwindigkeit die kulturelle Imagination unserer Gesellschaften prägt. Dass sowohl Brennan als auch Tomlinson Geschwindigkeit eng mit der Zeit verknüpfen, ist kein Zufall. Geschwindigkeit wird nicht nur in ihrer physikalischen Definition über Zeitphänomene erfahren. Beispielsweise führen Beschleunigungen im Transportbereich zu kürzeren Transportzeiten, die Steigerung des Lebenstempos kann zu Zeitdruck führen, die Beschleunigung der sozialen Medien bringt verkürzte Halbwertszeiten von Beiträgen mit sich, die Arbeitsgeschwindigkeit konfiguriert den Tagesrhythmus usw. Auch andere AutorInnen gehen von solchen Verbindungen aus. 2007 erschien mit 24/7: Time and Temporality in the Network Society beispielsweise ein Sammelband mit Fragestellungen zum Thema Zeit und Beschleunigung. Die leitende These darin lautet: Abseits der Uhrzeit hat sich mit der Digitalisierung und ihrer Datengeschwindigkeit eine Netzwerkzeit entwickelt, die eine ganz eigene Charakteristik besitzt. Ein Jahr später veröffentlichten Howard Rosenberg und Charles S. Feldman mit No Time To Think einen Essay über die Probleme beschleunigter Medienarbeit und den Verlust medialer Zeitsouveränität im sich etablierenden 24/7-Rhythmus. 2014 forderte Sarah Sharma in In the Meantime in kritischer Ergänzung zu bisherigen Analysen dazu auf, in mikropolitischen Prozessen genauer hinzuschauen, da unterschiedliche Temporalitäten unterschiedlichen Geschwindigkeitsvorgaben erliegen. Dies fand nur bedingt Gehör. 2015 erschienen mit Pressed for Time: The Acceleration of Life in Digital Capitalism von Judy Wajcman, das sich mit empirischen Studien zur Digitalisierung auseinandersetzt, und John Robert McNeills The Great Acceleration, das die Beschleunigung von Umweltzerstörung und Naturveränderungen thematisiert, weitere Werke, die mit ihrem jeweils eigenen Befund einer allgemeinen Beschleunigung Aufmerksamkeit erregten. Vor allem im US-amerikanischen Raum gehört es zu den beliebten rhetorischen Stilmitteln, Diagnosen möglichst überspitzt zu formulieren. Ob tatsächlich, wie Ben Agger es in einem Aufsatz tut, von einem »Time Fascism«16 gesprochen werden sollte, verstanden als Erfahrung, vom herrschenden Zeitdruck zerquetscht zu werden, darf angezweifelt werden. Trotz solcher Befunde hat auch Agger Wesentliches zur Erforschung der Geschwindigkeit und zu den damit verbundenen Phänomenen beigetragen. Das Magazin Fast Capitalism, benannt nach einem seiner Werke bzw. Begriffe17, macht es sich beispielsweise seit 2005 zur Aufgabe, das titelgebende Thema regelmäßig zu beleuchten. Dem auch im vorliegenden Essay folgenden Anspruch, dass »Geschwindigkeit soziale Praktiken formt« und »Sozialwissenschaften die Macht der Bewegung als fundamentale Kraft im Alltag« berücksichtigen müssen, da »der Einfluss [von Geschwindigkeit und Beschleunigung] auf Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft bisher noch nicht vollständig erfasst wurde«18, konnte das Magazin allerdings nur im ersten Heft gerecht werden.
Nicht alle Befunde wurden nach der Jahrtausendwende gemacht. Bekanntere Beobachtungen von Beschleunigungsphänomenen finden sich schon in Heidi und Alvin Tofflers Future Shock (1970) als Befund einer Beschleunigung des Lebenstempos und eines damit einhergehenden Zeitdrucks. Der darin vollzogene Zeitbefund wurde von liberalen KritikerInnen in regelmäßigem Abstand erneuert, beispielsweise in Steven Greenhouses The Great American Time Squeeze (1992), worin dieser den zunehmenden Stress aufgrund von Zeitknappheit anprangert, oder in Douglas Rushkoffs Present Shock (2013), worin dieser unsystematisch auf das Problem der Echtzeit eingeht. Auch die Mehrheit der marxistischen oder zumindest materialistischen Analysen über Beschleunigung und Geschwindigkeit greift direkt oder indirekt auf ein Werk zurück, dessen Veröffentlichung mittlerweile drei Jahrzehnte zurückliegt. Bis heute wird immer wieder auf David Harveys 1989 erschienenes Buch The Condition of Postmodernity und seinen Befund einer anhaltenden ›Raum-Zeit-Verdichtung‹ Bezug genommen. Die Geschichte des Kapitalismus gehe, so Harveys leitende These, mit einer räumlichen Expansion und einem Ausbau der Transport- oder Kommunikationsinfrastruktur einher. Das Kapital nimmt sich der Welt an und überwindet (für sich selbst) jede räumliche Grenze. Wo Waren oder Menschen immer schneller hin und hergeschoben werden, verändert sich die Raumwahrnehmung. Anders gesagt: Die Welt schrumpft. Dabei ist Harveys These durchaus dialektisch gedacht: Entlang der schrumpfenden Welt entstehen beispielsweise immer wieder neue Beharrungskräfte, die zur Statik und Immobilität zwingen. Der Blick auf diese Dialektik ist wichtig, weil sie an so manchen Stellen auch heute zu beobachten ist: So hat sich beispielsweise die durchschnittliche Zeit, die wir mit der Zubereitung von Nahrung verbringen, in den letzten Jahrzehnten rasant verkürzt, während wir mehr Zeit im Supermarkt (oder auf Foodblogs) verbringen als je zuvor. Auch das Internet erspart uns mit seiner rasanten Datenverbindung vieles, zugleich verschwenden wir immer mehr Zeit auf YouTube und anderen Webseiten. Beschleunigung und Stillstand beziehungsweise Zeitgewinn und Zeitverlust können nur in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit verstanden werden.19
Neben der Vielzahl an theoretischen Untersuchungen gibt es auch empirische Forschungsansätze, deren Ergebnisse im Gegensatz zu den kulturdiagnostischen Befunden regionale Unterschiede und einen eher zurückhaltenderen Befund über den Zustand der Beschleunigung offenbaren. Oriel Sullivan und Jonathan Gershuny haben 2018 beispielsweise Daten ausgewertet, die in Großbritannien anhand von Zeittagebüchern erfasst wurden.20 Zahlreiche Befragte haben zwischen 2005 und 2015 immer wieder festgehalten, welche Aktivitäten sie ausübten. Weder bezüglich der tatsächlichen Zunahme von Aktivitäten, etwa im Sinne einer zunehmenden Fragmentierung des Alltages, noch bezüglich des gefühlten Zeitstresses lässt sich eine signifikante Zunahme ausmachen. Sullivan und Gershuny nennen einige mögliche Indizien, warum der Befund des persönlichen Zeitdruckes in den letzten Jahren dennoch so oft aufgestellt wurde. Dazu gehört unter anderem der soziale Hintergrund der Befragten wie der Forschenden. Wird beispielsweise die Verfügbarkeit von Zeit rückblickend über das eigene Leben betrachtet, so erscheint sie im Alter unter Umständen geringer als in den jungen Jahren. Plötzlich gilt es, Familie und Arbeit unter einen Hut zu kriegen, oder die Arbeitsbelastung wird höher. Dies entspricht aber vor allem der Lebenserfahrung sozial höhergestellter Personen mit ihrer kontinuierlichen Karriereleiter. Auch andere Annahmen betreffen die sozio-ökonomischen Grundlagen der Betroffenen. Es gibt Befunde aus den 1990er Jahren, die implizieren, dass 50+-Stunden-Wochen in den USA vor allem der Realität höhergestellter Angestellter mit College-Background entsprechen. Hinzu kommt das US-amerikanische Spezifikum, dass Festangestellte in den USA lange Zeit einen schlechteren Arbeitsschutz bezüglich Überstunden besaßen als Menschen mit Stundenlohn. Die Gruppe von Personen, die eine hohe Anzahl an Wochenstunden arbeiten, ist zugleich jene Schicht, die öffentliche Diskurse stärker prägt als andere Schichten.21 Das heißt nicht, dass ProletarierInnen weniger Zeitdruck empfinden oder weniger arbeiten würden – insbesondere dann nicht, wenn die unbezahlte Reproduktionsarbeit mitberücksichtigt wird. Vielleicht werden der proletarische Arbeitsstress und Zeitdruck aber stärker von anderen Problemen überlagert und erscheinen eher als kontinuierlicher Zustand und weniger als plötzliche Entwicklung der letzten Jahre. Es gibt jedoch durchaus auch empirische Studien, die von einer allgemeinen Zunahme des Zeitdruckes infolge einer wahrgenommenen Beschleunigung sprechen. John Robinson und Geoffrey Godbey untersuchten beispielsweise 2005 anhand von Fragebögen das individuelle Gefühl des Gehetztseins und bemerkten, dass sich Menschen im Zeitraum zwischen 1965 und 2001, trotz nicht im gleichen Maße steigender Zeitbelastung, mehr und mehr gestresst und gehetzt fühlten.22
Auf den Umgang mit diesen unterschiedlichen Befunden wird später noch genauer eingegangen; so viel allerdings vorweg: Ob empirisch immer exakt belegbar oder nicht, der Wert kulturdiagnostischer Befunde liegt darin, dass sie sich ein Bild über allgemeinere Tendenzen, Prozesse und Widersprüche machen. Dabei helfen bestehende Konzepte und Begriffe. Wer sich beispielsweise mit neueren marxistischen Theorien auskennt, wird bald schon merken, dass etliche der im Folgenden verwendeten Begriffe durch regulationstheoretische Überlegungen angeregt sind. Regulationstheorien gehen davon aus, dass sich einzelne Epochen des Kapitalismus unterschiedlich beschreiben lassen. Diese besitzen jeweils ein spezifisches Akkumulationsregime – das heißt: eine bestimmte ökonomische Ordnung der Produktionssphäre – sowie einen dazugehörigen Regulationsmodus zur Stabilisierung der sozialen Verhältnisse, also eine bestimmte soziale Ordnung der unterschiedlichen Lebenssphären. ›Regulieren‹ bedeutet diesbezüglich, wie es in einer regulationstheoretischen Untersuchung zu Frankreich zusammengefasst wird, eine »Kombination von Formen der Anpassung von Erwartungen und widersprüchlichen Verhaltensweisen individueller Akteure an die kollektiven Prinzipien des Akkumulationsregimes«23. Es geht im Folgenden nicht darum, die Frage zu eröffnen, ob tatsächlich ein neues Akkumulationsregime eingetreten ist. Hierfür fehlt die tiefere ökonomische Untersuchung. Von Interesse ist auch weniger die Analyse einzelner Phänomene oder Ereignisse der Geschwindigkeit, sondern vielmehr die in die Zukunft gerichtete kulturanalytische Frage, ob es einen Wandel gibt, der staatliches wie individuelles Handeln prägt und in Alltagspraktiken sowie kulturellen Produkten sichtbar wird. Wie allerdings kann etwas sichtbar werden, das heute erst an seinem Anfang steht? Es geht im Folgenden nicht um ein detailgetreues Abbild der Zukunft. Doch bestehende Ideen, Phänomene oder Narrative können entlang einer einfachen Grundannahme zu Ende gedacht und analysiert werden: Wer die Dynamiken des 21. Jahrhunderts verstehen will, muss die Geschwindigkeit verstehen. Wer Geschwindigkeit verstehen will, muss sie als gesellschaftliches Verhältnis lesen. Wer dieses überwinden will, muss die Geschwindigkeit politisieren.
Der bis heute bekannteste Vertreter der Geschwindigkeits- und Beschleunigungsforschung ist der 2018 verstorbene Paul Virilio. Auf ihn geht die Forderung nach dromologischen Untersuchungen zurück. Ausgehend vom griechischen dromos, dem Lauf, will die dromologische Fragestellung die Logik der Bewegung untersuchen, die gemäß ihrer Wortbedeutung gleichzeitig auch Wettlauf und Rennbahn ist.24 In diesem Ansatz ist eine zentrale These enthalten: Macht korreliert mit Geschwindigkeit. Diese nimmt in unterschiedlichen Epochen eine unterschiedlich große Rolle ein. Heute jedoch wirkt sie stärker denn je. Was sich etabliert, ist eine neue Herrschaftsform, die Dromokratie, verstanden als Gesellschaft, in der die Herrschaft des Schnelleren gilt, was für Virilio zugleich auch »Fahrgesellschaft« und »Jagdgesellschaft« bedeutet.25 Als Mittel der Durchsetzung dromokratischer Zustände sieht Virilio die Chronopolitik. Gemeint ist damit eine Fülle an Regulationsinstrumenten, um über »Rhythmus, Dauer, Tempo, Sequenzierung und Synchronisierung von Ereignissen und Aktivitäten«26 zu bestimmen, so die pointierte Zusammenfassung von Hartmut Rosa. Bei diesem wird Chronopolitik vor allem als Teil der Beschleunigungsdynamik, bei Virilio als Teil eines diffusen Machtkonzepts angedacht. Chronopolitik kann jedoch noch von einer anderen Seite hergeleitet werden. Sie entspricht einer Herrschafts- und Machtform des Kapitals, deren totalitäre Ausformung die Dromokratie darstellt.
Die Dromokratie ist die Herrschaft des Schnelleren. Wer über eine größere Geschwindigkeit verfügt, besitzt einen politischen wie finanziellen Vorteil. Entsprechend einig sind sich Industrie und Staat in den führenden Nationen, dass man der technologischen Entwicklung nicht hinterherhinken darf, sondern sie möglichst führend umsetzen muss. Der Staat wird zum Geschwindigkeitsmanager. Als präfigurierender Taktgeber der dromokratischen Geschwindigkeit tritt der Hochfrequenzhandel auf. Während sowohl der computerunterstützte als auch der computergenerierte Börsenhandel die Geschwindigkeit postfordistischer Finanzmärkte bereits rasant beschleunigten, ist seit einem Jahrzehnt eine neue qualitative Steigerung zu beobachten. Der Hochfrequenzhandel nimmt vorweg, worum es bei der Herrschaft des Schnelleren zukünftig gehen wird: Das Rennen um Echtzeit wird zum kostenintensiven Begleiter unternehmerischen als auch persönlichen Handelns. Sichtbar wird dies in der zeitgenössischen Unternehmerphilosophie. Jeff Bezos’ Wunsch, dass Amazon immer am ›Day 1‹ stehen bleibt, spiegelt den Drang nach Echtzeit, vergleichbar mit dem Wunsch verschiedener MillionärInnen, den menschlichen Alterungsprozess aufzuheben, um auch körperlich in der ewigen Gegenwart aufzugehen.
Die Dromokratie definiert unsere Ansprüche und funktioniert als umfassender ideologischer Reproduktionsmechanismus. Niemand geht davon aus, dass ein bei Amazon Prime bestellter und innerhalb eines Tages gelieferter Massenartikel die gleiche Qualität besitzt wie ein sorgfältig ausgewähltes Produkt. Doch Geschwindigkeit selbst wird zum neuen Qualitätsmerkmal, und den Artikel, den ich jetzt haben will, kann ich notfalls morgen in besserer Version erneut kaufen. Die temporale Ordnung der Konsumation und die Just-in-Time Delivery folgen auf die postfordistische Just-in-Time Production. Das leitende Gebrauchswertversprechen ist nunmehr die Gegenwart. Ein Ergebnis hiervon sind noch schnellere Umschlagszeiten, ein anderes ist der Verlust jeglicher Zeitsouveränität.
Die Dromokratie ist eine Fahrgesellschaft, in der sich der Mensch beständig bewegen muss, wie er ebenso beständig in Bewegung versetzt wird. Die Propagierung einer pausenlosen Bewegung, die Hoffnung auf eine kinetische Utopie27, in der Stillstand Regression bedeutet – das heißt: die Propagierung eines »produktivistischen Aktivismus«28 beziehungsweise der geschwindigkeitseuphorische Glaube daran, »ein Mehr und Besseres dadurch zu erreichen, dass man sich und/oder alles andere in Bewegung setzt«29, und dies immer schneller –, ist wesentlicher Bestandteil einer hegemonial werdenden Bewegungsideologie. Sichtbar wird dies im Gebrauchswertversprechen neuer Verkehrsmittel, die einen neuen affektiven Zugang zur Stadt versprechen, indem sie die Bevölkerung in kollektive Bewegung versetzen, in der Re-Romantisierung der Geschwindigkeit, die sich von ihrem fordistischen Adrenalinrausch gelöst hat und nunmehr Freiheit durch Kontrolle verspricht, oder im städteplanerischen Umgang mit Mobilität als integrativem Versprechen.
Die Fahrgesellschaft konkretisiert sich in der Aufhebung selbständiger Bewegung. Jeder Schritt zu Fuß ist einer zu viel. So gehört die Kommodifizierung der letzten Meile zur ersten Aufgabe der Dromokratie. Doch auch in größerem Maßstab werden wieder Verkehrsvisionen ausgegraben. Dazu gehören autonome Fahrzeuge, der anvisierte Warentransport unter der Erde oder rasante Züge auf Hyperloops, dank dem die fast schon vergessene – das heißt: neoliberal vernachlässigte und kaputtgesparte – Bahn plötzlich wieder interessant für staatliche Investitionen wird.
Die Dromokratie ist eine Jagdgesellschaft. Den Wettkampf um die größtmögliche Geschwindigkeit kennen Jäger wie Gejagte. Die treibende Kraft ist dabei ein allgegenwärtiger Synchronisationsdruck, der den Menschen und der Umwelt eine Höchstgeschwindigkeit aufzwingt. Synchronisation ist allerdings bei Weitem nicht immer erfolgreich. Anpassungen führen im besten Falle zu Reibungen und Wartezeiten, in anderen Fällen aber zu umfassenden gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen. Es entstehen Desynchronisationsprozesse, die zugleich Ausschluss bedeuten und produktive, sich vom universalisierten Rhythmus unterscheidende Beschleunigungserfahrungen und internalisierte Temporalitäten hervorrufen.
Als Jagdgesellschaft ist die Dromokratie im Wesentlichen eine Klassengesellschaft. Der Drang zur kinetischen Utopie bringt eine kinetische Elite sowie ausgeschlossene und verlangsamte Menschen hervor. Auf der einen Seite steht jene bourgeoise Gruppe, die in Hochgeschwindigkeit und grenzenlos um die Welt jettet, auf der anderen Seite stehen jene proletarisierten Schichten, die zur Immobilität gezwungen werden, sei es, indem sie die outgesourcte Arbeit in ihren Heimatländern übernehmen, indem sie an der Migration gehindert werden, oder indem sie in Terrordatenbanken erscheinen, die ihnen die problemlose Grenzüberquerung verunmöglichen.
Geschwindigkeit als gesellschaftliches Verhältnis ist immer ein Ergebnis einer staatlichen Infrastruktur, das heißt von Räumen, Grenzen, Überwachung und Kontrollen. Darin verborgen liegt zugleich die immanent militaristische Komponente der Dromokratie. Geschwindigkeit war zwar immer Teil einer militärischen Logik. So berichtete schon der chinesische Militärstratege Sun-Tsu, dass Schnelligkeit »die Essenz des Krieges«30 sei. Heute aber dehnt sich die militärische Dimension von machtvoller Geschwindigkeit aus und wird zum festen Bestandteil des zivilen dromokratischen Alltages.
Eine emanzipatorische Bewegung kämpft für die Politisierung der Geschwindigkeit. Die Dromokratie ist nicht mehr aufzuhalten. Der einzige Weg zur Selbstbestimmung liegt in der Politisierung der Geschwindigkeit und ihrer Zeiterfahrungen – dies bedingt das Wissen um die Historizität kapitalistischer Strukturen und Widersprüche. Diesem Wissen enthalten ist die Überzeugung, dass eine Perspektive jenseits rationalisierender leerer Zeit und chronopolitischer Machtmechanismen möglich ist.
1Vgl. Knight, Rob: Top 20 most annoying tech problems, The Independent, 26. 03. 2019, <https://www.independent.co.uk/life-style/gadgets-and-tech/techgadget-break-anger-top-problems-survey-a8840781.html>, Stand: 27. 09. 2019.
2Brutlag, Jake: Speed Matters for Google Web Search, Google, 22. 06. 2009, <http://services.google.com/fh/files/blogs/google_delayexp.pdf>. Nicht nachweisbar ist hingegen die oft gemachte Behauptung, Amazon habe berechnet, dass 100 Millisekunden Verzögerung zu einem Rückgang von einem Prozent im Verkauf führen.
3Vgl. Akamai: Online Retail Performance Report, 09. 04. 2017, <https://www.akamai.com/uk/en/about/news/press/2017-press/akamai-releases-spring-2017-state-of-online-retail-performance-report.jsp>, Stand: 27. 09. 2019.
4Vgl. Prenner, Thomas: Drei startet mit 5G-Netz in Linz, 20. 06. 2019, <https://futurezone.at/produkte/drei-startet-mit-5g-netz-in-linz/400528045>, Stand: 27. 09. 2019.
5Schamberg, Jörg: Vodafone: Blinde Skifahrerin fährt Steilhang mit Hilfe von 5G herunter, 14. 06. 2019, <https://www.onlinekosten.de/news/vodafoneblinde-skifahrerin-faehrt-steilhang-mit-hilfe-von-5g-herunter_220008.html>, Stand: 18. 09. 2019.
6Vgl. Capgemini: 5G. Expectations and use-cases for industrial companies, 06. 06. 2019, <https://www.capgemini.com/research/5g-in-industrial-operations>, Stand: 28. 09. 2019.
7Vgl. Bitkom: Großteil der deutschen Industrie plant mit 5G, <https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Grossteil-der-deutschen-Industrieplant-mit-5G>, Stand: 18. 09. 2019.
8Bleich, Holger: Deutsche Industrie setzt auf eigene 5G-Campusnetze, heise online, <https://www.heise.de/newsticker/meldung/Deutsche-Industrie-setzt-auf-eigene-5G-Campusnetze-4403687.html>, Stand: 18. 09. 2019.
9Vgl. Barclays: 5G: A transformative technology, 03. 04. 2019, <https://www.barclayscorporate.com/insights/innovation/5g-a-transformative-technology>, Stand: 26. 09. 2019.
10World Economic Forum: How 5G could speed up global growth, World Economic Forum, <https://www.weforum.org/agenda/2018/01/5g-mobile-speed-global-gdp-growth>, Stand: 18. 09. 2019.
11Vgl. Daum, Timo: Die künstliche Intelligenz des Kapitals, Hamburg 2019, S. 29.
12Vgl. Feustel, Robert: »Am Anfang war die Information«: Digitalisierung als Religion, Berlin 2018.
13Lücke, Hayo: Zu Besuch bei e.Go Mobile: So hilft 5G beim Autobau, inside digital, 19. 06. 2019, <https://www.inside-digital.de/news/zu-besuch-bei-e-go-mobile-so-hilft-5g-beim-autobau>, Stand: 18. 09. 2019.
14Vgl. Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005; Rosa, Hartmut: Beschleunigung und Entfremdung, Frankfurt am Main 2013; Rosa, Hartmut: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik, Frankfurt am Main 2012.
15Vgl. Tomlinson, John: The Culture of Speed: The Coming of Immediacy, London 2007, S. 84.
16Agger, Ben: Time Robbers, Time Rebels: Limits to Fast Capital, in: Hassan, Robert; Purser, Ronald (Hg.): 24/7: Time and temporality in the network society, Stanford 2007, S. 230.
17Vgl. Agger, Ben: Fast capitalism. A critical theory of significance, Urbana 1989.
18Vgl. Luke, Timothy: Scanning Fast Capitalism: Quasipolitan Order and New Social Flowmations, in: Fast Capitalism 1, 01. 01. 2005, S. 82.
19Neben Harvey hat auch Henri Lefebvre immer auf diese Dialektik aufmerksam gemacht: »Einige Menschen beschweren sich aufgrund der Beschleunigung der Zeit, andere aufgrund der Stagnation. Sie haben beide Recht.« (Lefebvre, Henri: The Everyday and Everydayness, in: Yale French Studies (73), 1987, S. 10.)
20Vgl. Sullivan, Oriel; Gershuny, Jonathan: Speed-Up Society? Evidence from the UK 2000 and 2015 Time Use Diary Surveys, in: Sociology 52 (1), 01. 02. 2018, S. 20−38.
21Vgl. Schor, Juliet: The Overworked American: The Unexpected Decline Of Leisure, New York 1993; Sullivan; Gershuny: Speed-Up Society?, 2018, S. 24.
22Vgl. Robinson, John P.; Godbey, Geoffrey: Busyness as Usual, in: Social Research: An International Quarterly 72 (2), 2005, S. 407−426.
23»[…] la combinaison des formes d’ajustements des anticipations et des comportements contradictories des agents individuels aux principes collectifs qui houvernent les modes de produire et les modes de vivre« (Courlet, Claude; Pecqueur, Bernard: Les systèmes industriels localisés en France: un nouveau modèle de développement, in: Lipietz, Alain; Benko, Georges B. (Hg.): Les régions qui gagnent: districts et réseaux: les nouveaux paradigmes de la géographie économique, Paris 1992, S. 83).
24Vgl. Virilio, Paul; Lotringer, Sylvère: Der reine Krieg, Berlin 1984, S. 45.
25Virilio, Paul: Fahren, fahren, fahren …, Berlin 1978, S. 86.
26Rosa: Beschleunigung, 2005, S. 36.
27Der Begriff der kinetischen Utopie wird gemeinhin mit Peter Sloterdijk in Verbindung gebracht. Willi Erzgräber verwendete den Begriff allerdings schon früher, um die Werke von H. G. Wells zu charakterisieren. (Vgl. Erzgräber, Willi: Utopie und Anti-Utopie in der englischen Literatur: Morus, Morris, Wells, Huxley, Orwell, München 1980, S. 110f. Den Hinweis hierzu verdanke ich Idler, Martin: Die Modernisierung der Utopie. Vom Wandel des Neuen Menschen in der politischen Utopie der Neuzeit, Berlin 2007, S. 148.)
28Bänziger, Peter-Paul: Fordistische Körper in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Eine Skizze, in: Body politics. Zeitschrift für Körpergeschichte 1 (1), 2013, S. 18.
29Klose, Alexander: Rasende Flaneure. Eine Wahrnehmungsgeschichte des Fahrradfahrens, Münster 2003, S. 54.
30Sun-Tsu: Die Kunst des Krieges, Frankfurt 2019, S. 58.
Als Karl Roßmann, Kafkas Protagonist aus dessen frühfordistischem Roman Der Verschollene, bei seiner Ankunft in New York die Freiheitsstatue erblickt, bleibt er ob der neuen Dimensionen staunend stehen. »›So hoch!‹ sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehen dachte, von der immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihm vorüberzogen, allmählich bis an das Bordgeländer geschoben.«31 Während Karl erstarrt, haben alle anderen in Amerika ankommenden Schiffsreisenden keine Zeit, um sich langsam an die neuen Eindrücke zu gewöhnen. Gleich bei der Ankunft auf dem neuen, modernen Kontinent gilt es, sich in eine ständige Betriebsamkeit zu versetzen. In Amerika herrscht »eine Bewegung ohne Ende, eine Unruhe«32, wie es Kafkas Erzähler mit Blick auf den Hafen New Yorks schildert. Die Synchronisation mit der US-amerikanischen Grundgeschwindigkeit – das heißt an dieser Stelle: die Beschleunigung des eigenen Gangs – ist eine Pflicht der Neuankömmlinge, und wer sich dem verweigert, wird wie Karl kurzerhand durch die Kraft der bewegten Masse ans Geländer gedrängt.
Der zwischen 1911 und 1914 entstandene Roman charakterisiert eine zentrale Eigenschaft kapitalistischer Gesellschaften. Im Drang zur Vernichtung ungenutzter Zeit sowie zur ständigen Bewegung und Beschleunigung werden Langsamkeit und Stillstand zu negativen Eigenschaften. Wer dem Beschleunigungsdruck nicht standhält, gehört zu den VerliererInnen. Karl versucht alles, um erfolgreicher Teilnehmer der temporeichen Welt zu werden. Er besucht die Lagerhallen des Onkels, arbeitet als Liftjunge und landet schließlich in einem auf einer Rennbahn angesiedelten Theater. Fast alles, was Karl erlebt, ist gebrochen durch die Macht der Geschwindigkeit. In den Lagerhallen jagen Menschen ununterbrochen hin und her, als Liftjunge findet Karl Gefallen an der kinetischen Energie und beschleunigt seinen Lift manuell, und der Ausflug auf die Rennbahn endet mit einer Zugfahrt durch Amerika. Trotz dieser Lernphasen vermag sich Karl nie recht anzupassen. Der ständige Druck, die richtige Geschwindigkeit zu finden, verhindert tiefere soziale Beziehungen. Der immer fahrende Verkehr wirkt durchgehend als machtvolle Erscheinung, derer sich der Mensch nicht mehr selbstbestimmt bedienen kann. Und auch das Theater scheint Karl kein gutes Ende zu bescheren – wenn auch der Roman unvollendet abbricht, deutet nichts darauf hin, dass die Rennbahn etwas anderes als die auf Geschwindigkeit getrimmte Gesellschaft zu bieten hat.
1984 verfilmten Jean-Marie Straub und Danièle Huillet Kafkas Roman unter dem Titel Klassenverhältnisse. In Zeiten des politisierten Kinos verstanden die beiden RegisseurInnen Karls Handeln und Notlagen von Beginn weg als Ausdruck gesellschaftlicher (Klassen-)Verhältnisse. Um dies auszustellen, nutzten sie einen Trick. Karls Leid und Anpassungsschwierigkeiten werden sichtbar gemacht, indem sie ihn betont langsam und deutlich sprechen lassen. Auch die Schnitte sind langsam. Karl wirkt dadurch merkwürdig deplatziert. Die Verfremdungseffekte eines filmischen Lehrstücks ermöglichen es, dass die dem Roman enthaltene Auseinandersetzung um das Verhältnis Subjekt und Gesellschaft filmisch umgesetzt werden kann, ohne dass der Film dafür auf rasante Actionszenen zurückgreifen muss. Die Verfolgungsszene, als Karl gegen Ende vor seinen Peinigern flüchtet, besteht beispielsweise aus drei Schnitten. Gehetzt ist die Gesellschaft mit ihrem Repressions- und Leistungsdruck und nicht der Film selbst.
Doch Karls Stocken, die zwar deutlichen, aber doch umständlichen Sätze und die theatralen Szenen wirken 35 Jahre nach dem Erscheinen des Films äußerst unangenehm. In Zeiten rasender Actionfilme sind wir an solche Momente der Langsamkeit nicht gewöhnt. Dadurch werden zwar die Beschleunigungs- und Geschwindigkeitserfahrung der letzten Jahre sichtbar, doch es gibt eine innere Abneigung, den Film länger als fünf Minuten anzuschauen. Heute stören wir uns ab jeder Sekunde, die zu viel vergeht, vor allem dort, wo wir sie medial als nicht angebracht empfinden – das heißt: im Film, am Computer, im Internet oder bei Geräten mit digitalem Interface. Ein Neuankömmling in unserer Welt würde sich wie Karl fühlen, der gerade in Amerika angekommen ist. Gedrängt von der einen umgebenden Geschwindigkeit gibt es nur Anpassung oder Ausschluss. Im Gegensatz zu Kafkas frühfordistischem Roman sind heutige Technologien allerdings ohne eine Mindestgeschwindigkeit gar nicht mehr erlebbar. Ein Kinofilm muss die Bildabfolge in einem bestimmten Tempo abspulen und das Internet benötigt eine angemessene Datengeschwindigkeit, soll eine Webseite in angenehmer Zeit geladen werden. Treten Unterbrechungen oder Verzögerungen ein, verliert die entsprechende Technik ihren Nutzen oder das Produkt wird wie bei Straub und Huillet ungenießbar. Schlimmer noch als im Kino verhält sich die störende Verzögerung in neuesten Technologien, beispielsweise in der virtuellen Realität. Wenn die Verzögerungszeit zwischen Befehl und Ausführung bei einer Virtual-Reality-Brille über 15 Millisekunden liegt, kann eine Übelkeit auftreten, die so genannte ›Virtual Reality Sickness‹. Es gehört zu den zentralen Versprechen neuester Telekommunikationstechnologien, diese Latenz zu minimieren, beispielsweise durch schnellere Datenübertragung oder (so der Zukunftstraum) durch Auslagerung der Hardware, sodass die Rechenleistung nicht mehr auf dem Endgerät, sondern auf großen Servern geschehen kann. Doch was bedeuten diese Veränderungen? Sind es nur einzelne technologische Sprünge, die unser Leben prägen, oder hat sich zwischen Karls Auftritt im bereits beschleunigten New York, Jean-Marie Straubs und Danièle Huillets Verfilmung und der heutigen Zeit, in der selbst Verzögerungen im Millisekundenbereich störend wirken, nicht etwas Grundlegendes verändert, zum Beispiel unsere Zeitwahrnehmung oder gar die Zeit selbst?
»Das wichtigste Ereignis jener Knabenjahre war mein Zusammentreffen mit einer Lokomobile etwa zwölf Kilometer von Detroit, als wir eines Tages zur Stadt fuhren. Ich war damals zwölf Jahre alt.
Das zweitwichtigste Ereignis, das noch in das gleiche Jahr fiel, war das Geschenk einer Uhr.«33
(Henry Ford: Mein Leben und Werk)
Folgt man Henry Fords Worten, dann gibt es seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zwei zentrale, miteinander verknüpfte Entwicklungsmotoren: erstens die Beschleunigung und die damit verbundenen Techniken der Geschwindigkeit, etwa die mit der inneren wie äußeren Landnahme aufs engste verbundene Eisenbahn, und zweitens die mit der Uhr von allen Menschen potenziell messbare Zeit. Dieser zweiten Seite liegt ein komplexes Netz von Ursachen und Wechselwirkungen zugrunde. So finden sich ganz unterschiedliche subjektive, kulturelle und wirtschaftliche Faktoren, die die messbare Zeit zu einem so wichtigen Gesellschaftsfaktor werden ließen. Als materieller Träger der modernen Zeitwahrnehmung – als »Wahrzeichen des gleichgestellten Empfindens«34, wie es in Paul Gurks Roman Berlin heißt, und »als Macht, die hinter uns lauert«35, wie es in Martin Kessels Roman Herrn Brechers Fiasko beschrieben wird – setzte sich die Uhr nicht nur über eine repressive Wirkung durch (etwa durch die mit Arbeitsverträgen oder durch Sanktionen bei Nichteinhaltung von abgemachten Terminen einhergehende Zeitdisziplin), sondern ebenso als kulturelle Norm, die es als Accessoire zu tragen gilt und die an öffentlichen Plätzen wachsam über den Köpfen der Menschen thront.
Der Macht der Uhr zugrunde liegt eine Entwicklung, die eng mit der kapitalistischen Produktionsweise verknüpft ist. Im Kapitalismus nivelliert sich die Zeit, so Georg Lukács in Geschichte und Klassenbewusstsein, auf »das Niveau des Raumes«36. Dabei wird sie, so Axel Schlote, zur zentralen »ökonomischen Größe«37 und zugleich zum Mechanismus der Unterwerfung. Diese auf den ersten Blick schwer verständliche Formulierung enthält einen einfachen Sachverhalt. Zeit ist durch den Zeiger der Uhr mess- und vergleichbar. Sie ist nicht mehr ›qualifiziert‹, indem sie sich an einer menschlichen Tätigkeit orientiert, sondern von dieser abstrahiert und objektiviert. Mit der Uhr gemessen entspricht eine Stunde einer Stunde, auch wenn ich eine Stunde und 15 Minuten für eine Tätigkeit brauche und jemand anderes nur 45 Minuten. Dadurch wird die Zeit ›entqualifiziert‹ – das heißt: sie fällt zurück auf das messbare Niveau des Raumes. Dennoch ist Zeit keine neutrale Instanz. Die auch ›leere Zeit‹ genannte entqualifizierte Zeit ist eine wichtige Grundbedingung der kapitalistischen Produktion. Dazu eine weitere Grundannahme vorweg: Oberstes Ziel des Kapitalismus ist die Kapitalakkumulation durch die Gewinnung von Mehrwert. Dieser entsteht, indem das Kapital die Ware ›Arbeitskraft‹ erwirbt, deren Verausgabung abstrakter Arbeit wertproduzierend wirkt. Dabei fungiert die durchschnittliche Arbeitszeit als wertbestimmende Größe einer Ware.38 Entsprechend ist das Kapital an einer Rationalisierung der Zeit interessiert, da der Konkurrenz ausgesetzt dem/der einzelnen KapitalbesitzerIn jedes Stück Extramehrwert von Vorteil ist, beispielsweise indem eine Ware in der eigenen Fabrik in kürzerer Zeit produziert wird als bei der Konkurrenz. Als Vergleichswert wird die Zeit zu einer mit der Ökonomie untrennbar verflochtenen Kategorie. Zeit wird zur »Ökonomie der Zeit«, worin sich »schließlich alle Ökonomie auf[löst]«39, wie Marx in den Grundrissen schreibt, weil sie immanenter Bestandteil der Wertproduktion ist.
Entsprechend prägend für den Kapitalismus ist die Unterwerfung der Menschen unter die leere Zeit, handelt es sich dabei doch um einen zentralen Vorgang der modernen Subjektkonstituierung. Die temporale Formung des modernen Subjekts läuft entlang unterschiedlicher Institutionen. Um die neue Phase der Zeitlichkeit in einem ersten Schritt zu internalisieren, sind, wie E. P. Thompson in seiner historischen Studie zur »temporalen Neudisponierung«40 aufgezeigt hat, über mehrere Generationen hinweg unterschiedliche disziplinarisierende Mechanismen zur Synchronisierung notwendig.41 Es entsteht die sogenannte Zeitdisziplin, die dem Menschen gesellschaftliche Rhythmen und Pünktlichkeit eintrichtert. Eine besondere Rolle kommt (vor allem in den frühen Epochen des Kapitalismus) der Arbeitswelt und der Repression zu. Als junge/r Lohnabhängige/r wird das Individuum durch die Abstraktionsbewegung des Marktes ein erstes Mal in unterschiedliche Bestandteile aufgeteilt und in vorgegebene Tagesrhythmen gezwängt. Wer sich dem verweigert, wird als LandstreicherIn eingesperrt und zur Lohnarbeit gezwungen. Später wird die temporale Erziehungsfunktion durch Bildungsinstitutionen verstärkt oder gar abgelöst. Die rigide eingehaltene Aufteilung von Schulstunden in 45-Minuten-Abschnitte und die darin eingelegten Lehrinhalte vermitteln jungen Menschen schon früh die Notwendigkeit von zeitlicher Disziplin: Will man in der kapitalistischen Gesellschaft überleben, muss man einen Inhalt möglichst effektiv in der vorgegebenen Zeit abhandeln. Ist man schneller als die anderen, geht es nach oben, für alle anderen führt der Weg nach unten – freilich handelt es sich dabei um ein Versprechen, das durch die Ökonomisierung der Bildung beständig durchbrochen wird: Wer genügend Geld besitzt, kann sich Nachhilfestunden leisten, und wer in der richtigen Familie geboren wird, findet auch andere Wege nach oben.
An den Grundlagen der leeren Zeit als ökonomische Größe hat sich in den letzten zweihundert Jahren nichts geändert. Ihre Konkretisierung und Wahrnehmung hat sich allerdings erweitert. Im aufkommenden 24/7-Rhythmus des Postfordismus droht beispielsweise der einstige starre Normarbeitstag, der den zeitlichen Alltag prägte, zugunsten flexibilisierter Arbeitszeiten zu verschwinden. Null-Stunden-Verträge, Unterverträge und Temporärarbeit lauten die neuen Standards. Eine Studie aus dem Jahr 2000 befragte 21.505 ArbeiterInnen in 15 europäischen Ländern über standardisierte Arbeitszeiten. Nur 24 Prozent antworteten, dass sie regelmäßig Montag bis Freitag zwischen sieben und acht Uhr am Morgen bis sieben und acht Uhr am Abend arbeiteten.42 Zeitliche Unterschiede lösen sich allerdings nicht einfach in einer global synchronisierten Zeit auf. Vielmehr macht sich der Kapitalismus, so der berechtigte Einwand von Shehzad Nadeem, die Arbitrage verschiedener Zeitzonen zunutze – die ›Zeit-Arbitrage‹ als Ausbeutung der Zeitdiskrepanz zwischen geographisch verschiedenen Arbeitsmärkten zugunsten einer Profitmaximierung.43 Unternehmen nutzen einerseits die verschiedenen regionalen Zeitzonen, um einen globalen 24-Stunden-Ryhthmus zu erreichen. Andererseits forciert die zeitliche Arbitrage die Beschleunigung oder Ausdehnung von Arbeitsprozessen, beispielsweise indem outgesourcte Call-Center-ArbeiterInnen in Indien zu Überstunden gedrängt werden, um den verschiedenen Märkten und ihren Zeitzonen in Europa oder den USA gerecht zu werden. Auch abseits des Arbeitsplatzes verflüchtigen sich individuelle Zeitordnungen. Wo früher lange Zeiträume anvisiert wurden, denkt man nun kürzer. Aus EhepartnerInnen und dem Versprechen ›bis der Tod euch scheidet‹ werden LebensabschnittspartnerInnen. Wechselnde Jobs und lebenslanges Lernen ersetzen die starre Karriereleiter mit Grundausbildung bei einer einzelnen Firma. Produziert und gelebt wird 24/7. Die konstanten Verbindungen durch Mobiltelefon und Internet führen in der Zunahme neuer Geräte, Applikationen und Anforderungen zu einer weiteren Fragmentierung der erlebten Temporalitäten, die wiederum stets von Neuem zeitökonomischen Rationalisierungsprozessen unterworfen werden. Es entsteht eine auf den ersten Blick merkwürdige Situation: Mit der Ökonomisierung zahlreicher Lebensbereiche wächst die Bedeutung der leeren Zeit, während zugleich die erlebte Fragmentierung der Zeit zunimmt.
Diese gegenläufige Entwicklung ist Bestandteil einer Vielzahl temporaler Widersprüche, die unsere Gegenwart prägen.44 Erstens gibt es seit jeher einen Widerspruch zwischen den gesellschaftlich gewachsenen Temporalitäten, beispielsweise jener der biologischen oder soziokulturellen Reproduktion, und der leeren Zeit, die in der Kommodifizierung der Arbeitskraft enthalten ist. Dieser Widerspruch nimmt zu, je mehr Bestandteile der Gesellschaft der Marktlogik unterworfen werden. Zweitens existiert ein Widerspruch zwischen den Temporalitäten der sozialen oder kulturellen Reproduktion und der auf eine möglichst rasche und umfangreiche Wertrealisation ausgelegten Zeitlichkeit des Kapitals. Wenn sich dieses seinen Weg bahnt, interessiert es sich für den kurzfristigen Profit und nicht für bestehende zeitliche Rhythmen, beispielsweise regional unterschiedliche Lebensweisen, Kulturen oder – vermutlich als einfachstes Beispiel – für die Zeiten lokaler Landwirtschaften.45 Drittens gibt es unterschiedliche Akkumulationszeiträume, beispielsweise die kurzen Zeitspannen der Börsen und die langfristigen Investitionszyklen der Industrie. Dieser Widerspruch wird zu einem zentralen Krisenmechanismus der dromokratischen Finanzwirtschaft, die Profit immer schneller realisieren will.46 Viertens existiert ein Widerspruch zwischen der beschleunigten Zirkulation des Kapitals, die aus der Verkürzung des Produktionszyklus zwischen Design und Endprodukt resultiert, und den langfristigen Infrastrukturbedingungen, die solche Verkürzungen benötigen. 5G zeigt, wie viel langfristige Investitionen notwendig sind, um die Zeiträume der Produktion kurzfristig zu beschleunigen. Fünftens kennt das Kapital selbst widersprüchliche Temporalitäten, die mitunter in Spannungen zueinander geraten können. Während die Zeit der Produktion linear verläuft, funktionieren seine Transformationen zyklisch. Zur Bedeutung dieses letzten Widerspruchs später mehr.
Die bruchstückartig beschriebenen Widersprüche kapitalistischer Temporalitäten deuten an, wo sich Phänomene und Spannungen in den letzten 200 Jahren verändert und verschärft haben und wo Dinge strukturell gleich geblieben sind. Ein solches Vorgehen wirkt schematisch, allerdings hilft dies bei der Historisierung der Dromokratie. Diese kennt zwar Neuerungen, baut jedoch ebenso auf bereits bestehenden Geschwindigkeitsregimes auf. Diese lassen sich idealtypisch als Abfolge fordistischer, postfordistischer und dromokratischer Systeme charakterisieren, wobei jede Epoche ihre nachfolgende präfiguriert (keine postfordistische Globalisierung ohne die fordistischen Großunternehmen, keine dromokratische Beschleunigung ohne das Internet und seine im Postfordismus etablierten Netzwerke). Gefüllt mit unterschiedlichen Merkmalen liefern die drei Epochenbegriffe ein idealisiertes Bild der Realität, das heuristisch vor allem etwas abzubilden vermag: eine Tendenz, die zahlreiche Unschärfen, globale und regionale Ungleichzeitigkeiten und Überlappungen kennt.
Spätestens seit der zweiten industriellen Revolution bahnt sich die Geschwindigkeit ihren Weg. Mit dem Ersten Weltkrieg und dem Übergang vom Stellungs- in den Bewegungskrieg setzt sie sich endgültig durch. Panzer überwinden Gräben. Flugzeuge fliegen über jede Front hinweg. In den urbanen Zentren setzt sich die tayloristische und später die fordistische Massenproduktion durch. Schnellstraßen und Transportnetze verbinden die aufkommenden Vorstädte, Arbeitsorte und Konsumzentren. »Modernes Geschäft – modernes Leben – kann keinen langsamen Transport dulden«47, lautet eine der vielen Weisheiten von Henry Ford, die zwar oft äußerst platt sind und dennoch ungewollt treffende Zeitdiagnosen erstellen. Das Pendeln wird zum Bestandteil des Arbeitsalltags, die Einkaufsstraße zum zeitaufwendigen, aber beliebten Ausflugsziel, der Mensch zum zirkulierenden Massenpartikel. Zur Bausubstanz geronnenes Beispiel dieser Entwicklung und zugleich Synthese von Verkehr, städtischer Beschleunigung und Massenkonsum ist der 1929 umgebaute Berliner U-Bahnhof Hermannplatz, der erstmalig einen direkten Zugang zum eben eröffneten Karstadt-Warenhaus bietet und die Zirkulationswege von Konsum und Verkehr endgültig im Rahmen seiner verkehrstechnischen Beschleunigung miteinander verschränkt.