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Lucas von Ramin

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Beschreibung

Unsicherheit und Kontingenz sind zu paradigmatischen Kategorien für die Interpretation des sozialen und politischen Raumes geworden. Sie wecken Hoffnung auf Veränderung, werden aber auch für gegenwärtige Herausforderungen wie die sogenannte Postfaktizität und den Populismus verantwortlich gemacht. Lucas von Ramin legt den Kern einer postmodernen Sozialphilosophie frei und rekonstruiert damit, wie aus der Kontingenz der Welt doch Zuversicht geschöpft werden kann. Er zeigt auf, dass der normative Anspruch einer solchen Philosophie nicht hoch genug geschätzt werden kann, ihre Grenzen jedoch an der Gegenwart gemessen werden müssen.

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Seitenzahl: 751

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Lucas von Ramin (Dr. phil.), geb. 1989, ist wissenschaftlicher Koordinator des Potenzialbereichs »Gesellschaftlicher Wandel« an der Technischen Universität Dresden. Er studierte Politikwissenschaft und Philosophie in Dresden und New York und forscht zu radikalen Demokratietheorien, der Kritischen Theorie sowie zur philosophischen Ästhetik.

Lucas von Ramin

Politik der Ungewissheit

Grenzen postmoderner Sozialphilosophie in Anschluss an Richard Rorty, Zygmunt Bauman und Oliver Marchart

Die vorliegende Publikation ist im Rahmen der Tätigkeit des Autors an der Technischen Universität Dresden, »Potenzialbereich Gesellschaftlicher Wandel«, erstellt worden und wurde von der Technischen Universität Dresden unterstützt. Die Produktionskosten für diese Publikation wurden vom Open Access Publikationsfonds der Sächsischen Landesbibliothek, Staats- und Universitätsbibliothek gefördert.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.d-nb.de

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BY-SA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird. (Lizenztext: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de) Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2022 im transcript Verlag, Bielefeld © Lucas von Ramin

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Lektorat: Eltje Böttcher

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-6193-4

PDF-ISBN 978-3-8394-6193-8

EPUB-ISBN 978-3-7328-6193-4

https://doi.org/10.14361/9783839461938

Buchreihen-ISSN: 2702-900X

Buchreihen-eISSN: 2702-9018

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Danksagung

I. Negativität, Kontingenzbewusstsein und Sozialphilosophie

Einleitung

1.Suche nach Gründen und deren Endlosigkeit

1.1Suche nach Gründen

1.2Leben in Negativität

1.3Zeitdiagnose: Zwischen Moderne und Postmoderne

2.Zeitalter der Kontingenz

2.1 Kontingenzbewältigung

2.2Kontingenzeinsicht

2.3Das Problem: Die Kontingenz der Kontingenzeinsicht

II. Politisierung der Negativität

Kontingenzeinsicht als Kern postmoderner Sozialphilosophie

3.Spielformen der Theoriebildung von Kontingenzeinsicht

3.1Richard Rorty: Kontingenz und Solidarität

3.1.1Kritik der Wahrheit

3.1.2Einsicht in Kontingenz

3.1.3Schaffung von Solidarität

3.1.4Politische Philosophie als Therapie

3.2Zygmunt Bauman: Ambivalenz und Solidarität

3.2.1Kritik der Moderne

3.2.2Einsicht in Ambivalenz

3.2.3Verwirklichung von Solidarität

3.2.4Politische Philosophie als Geschick

3.3Oliver Marchart: Differenz und Solidarität

3.3.1Kritik am Fundamentalismus

3.3.2Einsicht in Differenz

3.3.3Solidarität im Medium praktischer Klugheit

3.3.4Politische Philosophie als Radikaldemokratie

4.Das Paradigma postmoderner Sozialphilosophie

4.1Macht der Einsicht – Kontingenzbewusstsein

4.1.1Objekt der Kritik

4.1.2Antinomische Motive und Dekonstruktion

4.1.3Kontingenz, Ambivalenz und Differenz

4.1.4Erkenntniskritik als Gesellschaftstheorie

4.2Lob der Entzweiung – Solidarität und Politisierung

4.2.1Weg zur Solidarität

4.2.2Weg zur Politisierung

4.3Politische Philosophie als Kulturpolitik – Therapie und Plausibilisierung

4.3.1Zwischen Freiheit und Gleichheit

4.3.2Kultur der Kontingenz und »therapeutisches Motiv«

4.3.3Spur des Misstrauens

III. Depolitisierung der Negativität

Aporien von Kontingenzeinsicht

5.Der unmögliche Sprung von Erkenntniskritik zur Gesellschaftstheorie

5.1Alles ist künstlich?

5.2Alles ist Macht?

5.3Alles ist Bewegung?

6.Entzweiung als bloße Verfügbarkeit

7.Die gescheiterte Therapie

7.1Faszination des Politischen

7.1.1Praktische Urteilskraft und Moralität

7.1.2Phronesis als strategisches Kalkül

7.1.3Aufleben eines schlechten Machiavellismus

7.1.4Selbstzweck der Macht

7.2Ästhetisierung des Politischen

7.2.1Ästhetische Erfahrung und Moralität

7.2.2Erlebniswelten und Konsumismus

7.2.3Die Wiederverzauberung der Welt

7.2.4Selbstzweck des Ästhetischen

7.3Aktivierung des Politischen

7.3.1Emanzipation und Formalisierung

7.3.2Die Leere des leeren Signifikanten

7.3.3Politisierung als Anti-Politik

7.3.4Selbstzweck des Politischen

8.Affirmation der Kontingenz als fehlgeleitete Kulturpolitik

IV. Politik der Ungewissheit

Schluss

9.Ideologie der Verfügbarkeit

9.1Der Neue Realismus

9.2Politik – Therapie – Ethik

9.3Zwischen Demut und Selbstüberschätzung

10.Gedanken zu einer kritischen Sozialphilosophie

10.1Die kritische Erkenntnistheorie

10.2Politik vs. Moraltheorie

10.3Zwischen sittlichem Motiv und sozialer Praxis

Literatur

Danksagung

Die vorliegende Publikation ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation Politik der Ungewissheit. Grenzen postmoderner Sozialphilosophie bei Richard Rorty, Zygmunt Bauman und Oliver Marchart, die ich im Fach Philosophie an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden im Jahr 2021 eingereicht habe.

Die Wahl des eigenen Forschungsthemas ist immer Folge persönlicher Interessen. Sich mit Kontingenz zu beschäftigen, heißt nicht nur, von Ungewissheit und Unsicherheit fasziniert zu sein, sondern auch, ein Umfeld zu besitzen, welches für diese Faszination eine vertrauensvolle und anerkennende Umgebung bietet. Ich möchte mich deshalb an dieser Stelle bei jenen Menschen bedanken, die mich bei der Erstellung der Arbeit unterstützt haben.

Mein Dank gilt meinen Betreuer:innen Prof. Dr. Thomas Rentsch, Prof. Dr. Mirjam Schaub sowie Prof. Dr. Mark Arenhövel. Besonders Mark Arenhövel begleitet mich seit Beginn meiner akademischen Laufbahn und hat mit seiner Euphorie für die politische Philosophie und insbesondere für die Arbeiten Richard Rortys meinen philosophischen Ansatz geprägt. Selbiges gilt für Thomas Rentsch, dessen Arbeiten zur Negativität und Moralphilosophie und dessen umfangreiches Wissen über die Philosophiegeschichte den Grundstein meines Philosophieverständnisses legten. Sein früher Tod im Frühjahr 2022 beendete unerwartet die gemeinsamen Gespräche. Es war die Kombination beider Denktraditionen, die den spezifischen Zugang meiner Arbeit allererst ermöglichte.

Dank gilt auch denjenigen in meinem Freundeskreis, die mich nicht nur in den richtigen Momenten von der Arbeit am Text abgelenkt haben, sondern auch gelehrt haben, das Bewusstein für die Lücke zwischen akademischer Philosophie und dem alltäglichen Leben wach zu halten. Bei der konkreten Entwicklung einzelner Abschnitte und Argumente standen mir immer wieder Gesprächspartner:innen beratend und kritisch zur Seite. Danken möchte ich diesbezüglich Sebastian Böhm, Franz Heilgendorff, Constanze Demuth, Christoph Meißelbach, Ana Lena Werner, Karsten Schubert, Frieder Vogelmann, Reinhard Hiltscher, Oliver Hidalgo und allen aktiven Seminarteilnehmer:innen während meiner Lehre an der TU Dresden.

Für die finanzielle Unterstützung bedanke ich mich bei der Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, derTechnischen Universität Dresden und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften. Des Weiteren danke ich Dagmar von Ramin für die mühsame Durchsicht des Manuskriptes. Bei Eltje Böttcher bedanke ich mich für das hervorragende Lektorat der Arbeit.

Danken möchte ich auch meiner Familie, ohne deren Unterstützung und Sicherheit die prekäre Laufbahn Wissenschaft vielleicht schon an der einen oder anderen Stelle beendet gewesen wäre. Besonderer Dank gilt dabei meiner Mutter, die mich trotz aller persönlicher Herausforderungen ermutigt hat, meinen eigenen Weg zu gehen. Meinen Kindern Frida und Paula sowie meiner Frau Claudia danke ich für das Verständnis für die zeitintensive Arbeit sowie die Unterstützung während der letzten Jahre.

I.Negativität, Kontingenzbewusstsein und Sozialphilosophie

Einleitung

Die gegenwärtigen westlichen Gesellschaften sehen sich mit einem Dilemma konfrontiert, das besonders den Kern ihres demokratischen Selbstverständnisses berührt. Zwar wird das momentane Erstarken des Rechtspopulismus als Gefahr für die Demokratie erkannt, gleichzeitig lassen sich Protest und aktive Bürgerbeteiligung auch demokratietheoretisch als Zugewinn verstehen.

Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Im Jahr 2018 stellte Dr. Alexander Wolf, Mitglied der AfD, eine kleine schriftliche Anfrage an den Hamburger Senat. Er wollte wissen, ob dieser über die indoktrinierende Wirkung von Informationsbroschüren über Rechtspopulismus für Schulen der Bundeszentrale für Politische Bildung informiert gewesen sei. Wolf sah in der gesamten Darstellung der Broschüre eine

Delegitimierung und Abwertung des sogenannten (Rechts-)Populismus und der von den Autoren in diesem Zusammenhang als ›rechtspopulistisch‹ bezeichneten Akteure und Parteien, gleichwohl es sich, bei den benannten Parteien, um verfassungskonforme, demokratisch gewählte Regierungs- oder führende Oppositionsparteien aus diversen europäischen Ländern handelt [sic!]. (Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg 21. Wahlperiode: 1)

Mit Verweis auf aktuelle Untersuchungen zum Populismus, konkret bei Oliver Marchart (2017b), Dirk Jörke und Veith Selk (2017), argumentierte Wolf, dass Populismus als legitime Strategie zu begreifen sei (vgl. Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg 21. Wahlperiode: 2-3). Für ihn ist Populismus aus demokratietheoretischer Perspektive der berechtigte Ausdruck gesellschaftlicher Problemlagen und der Versuch der Rückgewinnung demokratischen Einflusses. Liberale Ausgrenzungsversuche und moralische Zurückweisungen seien deshalb zu kritisieren.

Wolf fühlt sich somit berechtigt, mit demokratischen Argumenten gegen demokratischen Ausschluss vorzugehen. Dem liegt ein Politikverständnis zugrunde, welches Protest und Provokation als legitimierte und notwendige Maßnahmen gegen eine Verkalkung des Gemeinwesens beschreibt. Eine solche Position ist aus Kreisen der AfD und Neurechten in den letzten Jahren immer wieder zu vernehmen. Im Kontext des Eklats um die Thüringer Ministerpräsidentenwahl 2020, bei der es die AfD durch Stimmenthaltung schaffte, den Kandidaten der FDP, gemeinsam mit den Stimmen der CDU, für kurze Zeit zum Ministerpräsidenten zu machen, verwies der neurechte Apologet Götz Kubitschek auf ein von ihm gepriesenes politisches Vorgehen. Im Kern wird Politisierung als ein destruktives Moment der Störung verstanden, um den Konsensdiskurs der gegenwärtigen Politik aufzubrechen:

Unser Ziel ist nicht die Beteiligung am Diskurs, sondern sein Ende als Konsensform, nicht ein Mitreden, sondern eine andere Sprache, nicht der Stehplatz im Salon, sondern die Beendigung der Party. Provokation ist das Hinweisschild an unerwarteter Stelle, ist ein Zündeln am Holzstoß, der Holzstoß bleiben oder Signalfeuer werden kann, ist die Heimsuchung derer, die nicht gestört werden wollen. Und diese Furcht vor Störung, Unruhe, kennzeichnet die heraufziehende Krise. (Kubitschek 2006: 24)

Das Herbeirufen von Krisen wird als strategisches Moment begriffen, welches weniger auf inhaltliche denn auf aufmerksamkeitsgenerierende Überzeugungsleistung abzielt. Aus dieser Perspektive wirkt die immer wieder diskutierte Frage nach Bürgerlichkeit und Wertkonservatismus der AfD wie ein Scheingefecht, weil innerhalb der Strategie des Tabubruchs und der Aufmerksamkeitsgenerierung Wertbindungen gerade keine Rolle spielen.

Wird das eben Beschriebene als der grobe Umriss eines Politikverständnisses aufgefasst, ist dieses Verständnis in den letzten 30 Jahren im deutschsprachigen Raum nicht vonseiten der AfD oder Neurechten, sondern vonseiten linker politischer Philosophie geprägt worden. Ohne bereits in detaillierte Analysen überzugehen, galt es, gegen die Diagnose der Postdemokratie auf alternative Formen von Partizipation und Kritik aufmerksam zu machen. Das dem zugrunde liegende epistemische Modell – oder einfacher: Weltbild – erinnert daran, »dass sich bestehende Ordnungsmuster im Rahmen politischer Handlungen aufbrechen lassen« (Comtesse et al. 2019b: 11). In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf das Recht der Selbstbestimmung und Volkssouveränität verwiesen. Dahinter liegt, wie das Handbuch Radikale Demokratietheorie (ebd.) verdeutlicht, ein »postessentialistischer Gesellschaftsbegriff, also die Überlegung, dass menschliche Gesellschaften keine festgelegten, natürlichen Konturen oder Eigenschaften besitzen, sondern eine variable Gestalt aufweisen, die auf menschliche Entscheidungen und menschliches Handeln zurückgeht« (ebd.: 13). Weil der Gedankengang immer von der Darstellung des Unmöglichen das Mögliche ableitet, haben sich Konzepte wie Kontingenz, Negativität oder Grundlosigkeit als Kernbegriffe einer solchen Philosophie etabliert. Die Unmöglichkeit einer absoluten und letzten Bestimmung tritt als universales Phänomen auf und begründet den Raum des Politischen. Kennzeichen von Demokratie sei, »daß sie die Grundlagen aller Gewißheit auflöst.« (Claude Lefort zitiert nach Comtesse et al. 2019b: 14).Dieses spezifische Politikverständnis wird als Demokratisierung beschrieben und erfahren.

Wenn der Rechtspopulismus in dieser Form demokratietheoretisch verteidigt werden könnte, wie steht es dann um das eben beschriebene Politikverständnis und dessen normative Implikationen? Ist die aufgeworfene Parallelisierung von Rechtspopulismus und Demokratie eine Fehlinterpretation, oder um es philosophisch grundlegender zu formulieren: Was passiert, wenn Kontingenz zum Ursprung von Normativität oder selbst normativ aufgewertet wird?

Die Arbeit hat zum Ziel, diesen Fragen nachzugehen, indem sie den Zusammenhang von Kontingenzerfahrungen, also der Erfahrung der immer vorhandenen Möglichkeit, dass es auch anders sein kann, und der Sozialphilosophie analysiert. Weshalb etablierte sich Kontingenz als Kernkonzept und welche ideengeschichtlichen Weichenstellungen ließen es zum Fundament der Hoffnung einer demokratischeren Gesellschaft werden? Mit welchen moralphilosophischen und politiktheoretischen Auswirkungen wird bei einschlägigen Autor:innen Einsicht in Kontingenz verknüpft? Um das Potential tatsächlich beurteilen zu können, müssen ebenso Grenzen bestimmt werden. Welche Argumentationslücken ergeben sich bei der Rekonstruktion? Lassen sich aktuelle, offensichtlich von demokratischen Abwehrbewegungen betroffene Entwicklungen wie (Rechts-)Populismus oder Postfaktizität auch als Folge von Kontingenzeinsicht lesen?

Um sich diesen Problemen zu nähern, ist in zwei Arbeitsschritten vorzugehen. In Teil I und II gilt es, grundlegend zu rekonstruieren, wie Auffassungen von Negativität und Kontingenz mit Sozialphilosophie in Verbindung stehen. Einerseits ist auf systematischer Ebene der Zusammenhang der Notwendigkeit von Begründungen und Negativitätserfahrungen offenzulegen. Andererseits ist der Qualität des Zusammenhanges ein ideengeschichtlicher Hintergrund zu geben, denn nicht zu jeder Zeit wurde die Welt in gleicher Weise als kontingent, als auch-anders-möglich, wahrgenommen. Kapitel I widmet sich deshalb der in vielen Bereichen der Philosophie, Soziologie oder politischen Theorie geführten Debatte um das Verhältnis von Moderne und Postmoderne. Mit der Aufklärung, so die Annahme, setzte eine Bewegung der Öffnung und Säkularisierung ein, an deren Ende die postmoderne Erfahrungen der Ungewissheit zum letzten Grund erhob. Ein solches »Zeitalter der Kontingenz« (Joas 2012) kann im Groben auf zwei Bewertungsstrategien von Kontingenz reduziert werden. Auf der einen Seite wird alles Ungewisse als Gefahr und Bedrohung wahrgenommen und gerade dem Bereich des Sozialen und Politischen kommt die Aufgabe zu, vor diesem Ungewissen zu schützen. Auf der anderen Seite wird Kontingenz als Chance begriffen. Erst in dieser Differenz lässt sich herausarbeiten, wie sich Kontingenz – in meiner Begriffsverwendung: Kontingenzeinsicht – als normativer Grundbegriff etablieren konnte. Oder um es mit Flügel-Martinsen zu formulieren: »Dass es sich dabei um eine geradezu radikal aufklärerische und kritische Strömung handelt, die die emanzipatorischen Motive der Aufklärung vehement fortführt, statt sie über Bord zu werfen, ist schon früh missverstanden worden.« (Flügel-Martinsen 2017: 4)

Weil aber sowohl von theoretischer Seite, beispielsweise Boghossians Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus (vgl. Boghossian 2015), als auch von praktischer Seite, beispielsweise in der Debatte um Postfaktizität, der Zusammenhang von Kontingenz und normativer Qualität keine Selbstverständlichkeit darstellt, gilt es, diesen Zusammenhang zunächst grundlegend zu rekonstruieren. Die Kritik an dem Wert von Kontingenzeinsicht fußt auf einem ernst zu nehmenden Problem, denn wie soll sich unter Kontingenz, also dem Fehlen absoluter Begründung, etwas normativ begründen lassen? Die These der Arbeit ist, dass dieses sich wiederholende Argument besonders auf den reflexiven Gehalt von Fehlbarkeitserfahrungen beruht. Kontingenz kann nur dann als normativer Gewinn gedacht werden, wenn mit der Einsicht in diese Grundsituation eine besondere Form von Urteilskraft angesprochen wird, welche wiederum Auswirkung auf menschliches Handeln und Verhalten hat.

Zur besseren Darstellung der beschriebenen These folgt in Teil II eine Rekonstruktion der eben vorgestellten These in den Arbeiten Richard Rortys (Kontingenz, Ironie und Solidarität), Zygmunt Baumans (Moderne und Ambivalenz) und Oliver Marcharts (Die Politische Differenz). Die Zusammenstellung der Autoren ist auf den ersten Blick ungewöhnlich, jedoch Ergebnis bestimmter epistemischer Konstellationen (Kontingenz/Ambivalenz/Differenz) und der Frage von Solidarität als dem Konzept der Fassung von Kontingenz als eines normativen Grundbegriffs. Es wird einerseits die Logik der Theorie dargestellt, andererseits der normative Anspruch. Vor diesem Hintergrund wird gezeigt, dass das gemeinsame Argument der Autoren im ParadigmapostmodernerSozialphilosophie liegt. Im Mittelpunkt stehen subjektphilosophische Konstitutionsbedingungen von Kontingenzeinsicht, weshalb im Anschluss an Rorty von einem »therapeutischen Motiv« und »Kulturpolitik« gesprochen wird. Hierbei wird vorgeschlagen, die politische Philosophie der Autoren als Aufklärungsschriften zu verstehen.

Weil aber die eingangs vorgelegten Beispiele zumindest Zweifel an dem aufklärerischen Impetus entstehen lassen, wird im Teil III der Studie das extrahierte Paradigma kritisiert, zwar nicht im Niveau und der Art, aber doch im Modus der Dialektik der Aufklärung.1 Die Kritik folgt dabei einer Intuition, die auf früheren Arbeiten des Autors gründet. In Politik der Gewissheit (2017) ließ sich anhand einer ideengeschichtlichen Untersuchung des Verhältnisses von Angst, den Orten der Angst und deren Einfluss auf Ontologien des Politischen zeigen, wie mit Zunahme der als unsicher und kontingent begriffenen Bereiche sich auch die Auffassungen des Politischen radikalisierten. Je fundamentloser die Lebenswelt des Menschen empfunden wurde, umso grundloser wurden die zu den Empfindungen korrespondierenden Herrschaftskonzeptionen, an deren Ende die Theorie des Dezisionismus die letzte Rettung in einer kontingenten Welt darstellt (ebd.: 149-156). Diese Lesart schärfte den Blick für Politiken der Grundlosigkeit abseits ihrer radikaldemokratischen Auslegung.

Der zweite Arbeitsschritt beschäftigt sich deshalb mit der Frage, ob die auf Kontingenzeinsicht fußende Form politischer Urteilskraft auch als normativer Gegenpart des aufklärerischen und kritischen Gehalts radikaldemokratischer oder postfundamentalistischer Theorien interpretiert werden kann. Nach meiner Lesart ist das Problem kein absolutes Fehlen von Normativität im Sinne von Unentscheidbarkeit im Kontext allgemeiner Wahrheitskritik (vgl. Flügel-Martinsen 2017: 4), sondern lediglich eine Verschiebung der Wahrheit. Indem Kontingenz zur letzten Universalie (Schubert 2017) wird, wird jener Aspekt der fehlenden Letztbegründung mit der normativen Qualität von Letztbegründungen ausgestattet.

Zur Darstellung dieser Interpretation wird in Teil III mit zwei Strategien vorgegangen. Zuerst gilt es das systematische Argument aus dem ersten Teil auf seine Stichhaltigkeit und Konsequenzen zu überprüfen. Hier geht es maßgeblich darum, zu zeigen, welche Folgen das Setzen von fehlender Letztbegründung als Letztbegründung hat. Die These ist, dass der Relativismusvorwurf nur die Hälfte des Problems anspricht. Wird das Politische oder die Praxis des Politischen zum Ersatz für Letztbegründungen, bemächtigt es sich auch deren normativen Gehalts. Kritisiert wird, dass auf formaler Ebene die für den Ersatz gewählten Begriffe und Konzepte (das Politische, aber auch Solidarität oder Demokratie) nur als bloße Verfügbarkeit gedacht werden. Sie gelingen nur, wenn sie inhaltlich nicht ausgefüllt werden.

Neben dieser formalen Analyse werden die unter dem Paradigma postmoderner Sozialphilosophie extrahierten Dimensionen von Kontingenzeinsicht einer kritischen Prüfung unterzogen. An drei essayistisch aufgearbeiteten Beispieldiskursen – der Konzeption politischer Urteilskraft, der Ästhetisierung des Politischen sowie der Aktivierung des Politischen – wird der beschriebene Wandel als Hypostasierung von Kontingenz und des Politischen beschrieben. Somit wird die Frage gestellt, ob sich die heute gern als Rückkehr zum Fundamentalismus bezeichneten Phänomene nicht vielmehr als andere Seite des Postfundamentalismus verstehen lassen statt als ihr Gegenteil. Die einzelnen Abschnitte sind immer analog aufgebaut: Nach einer breiteren Rekonstruktion der Beispieldiskurse, auch abseits von Rorty, Bauman und Marchart, werden exemplarisch Kritiken an diesen Thesen vorgestellt. Es geht explizit nicht darum, nach einer korrekten Rekonstruktion der drei Autoren zu fragen, sondern nach der Plausibilität der durch die Autoren extrahierten Kontingenzeinsicht als Form der Urteilskraft. Zu der Darstellung der Dimensionen gehört deshalb der Bezug dieser Kritiken auf die Gegenwart, denn darin zeigt sich, dass die inhaltliche Ausfüllung der Verfügbarkeit mit Beispielen aus heutigen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen auf Grenzen des von mir rekonstruierten Paradigmas postmoderner Sozialphilosophie verweist. Die sowohl in der systematischen Kritik als auch in der Kritik der Praxis sich artikulierende Bewegung werde ich als Affirmation von Kontingenz bezeichnen.

Die so dargestellte Kritik ist nicht völlig neu. Alle drei von mir untersuchten Autoren machen an unterschiedlichen Stellen darauf aufmerksam, dass die mit Kontingenzeinsicht verbundene Haltung ihr kritisches Potential auch verlieren kann und dann in Gleichgültigkeit, Verdrossenheit oder auch in Konflikt als Allheilmittel mündet.2 Auch deren Vordenker:innen wie Lefort, Rancière, Laclau und Mouffe warnen immer wieder, dass die auf Kontingenz gründende demokratische Gestaltungsoffenheit keine Selbstverständlichkeit darstelle.3 Der These, dass aus der Einsicht in die Kontingenz menschlichen Zusammenlebens noch längst keine solidarische, pluralistische Gesellschaft folgen muss, würden sicher die meisten von mir erwähnten Autor:innen zustimmen. Allerdings werden, wie im Handbuch für radikale Demokratietheorie beschrieben, Probleme immer als »Gegenbewegung« (Comtesse et al. 2019a: 473) begriffen, denen es mit der Aufgabe entgegenzutreten gelte, »die Kontingenz der Ordnung wahrnehmbar zu machen« (ebd.: 474). Kontingenzeinsicht ist somit immer Teil der Lösung, aber nicht Teil des Problems.4 Diese Einsicht will die Arbeit hinterfragen. Um die Beispiele vom Anfang wieder aufzugreifen: Kann der von Kubitschek beschriebene Politikstil als Teil jener kontingenzsensiblen Praxis beschrieben werden? Sind Politisierung, Krise und Konflikt, unabhängig der politischen Ausrichtung, in einem kontingenztheoretischen Verständnis des Politischen gegründet?

Auch wenn diese Fragen akzeptiert werden, wird die von mir vorgeschlagene Kritik nicht nur auf Befürwortung stoßen. Entweder kann ihr vorgeworfen werden, dass sie nicht dem Selbstverständnis der Autoren entspricht; diese geben ja gerade keine »richtige« Form des gemeinschaftlichen Lebens, keine moralischen Kategorien an. Oder aber ihr kann vorgeworfen werden, den aufklärerischen Impetus zu verkennen, indem in dieser Studie die doch bereits erkannten und bearbeiteten Probleme postmoderner Philosophie erneut hervorgeholt werden. Weil beide Vorwürfe miteinander verbunden sind, liegt der Mehrwert der vorliegenden Studie in der problematisierenden Rekonstruktion dieses Zusammenhangs.

Vielleicht schießt die Arbeit dadurch an manchen Stellen über den gängigen und internen Diskurs hinaus, sowohl den theoretischen als auch den der Gegenwartsinterpretation. Zur Rechtfertigung dieses Vorgehens als auch zur methodischen Begründung mag ein Auszug aus Adornos Aufsatz Theorie der Halbbildung dienen:

Ohne jenes Sich-zu-weit-Vorwagen der Spekulation jedoch, ohne das unvermeidliche Moment von Unwahrheit in der Theorie wäre diese überhaupt nicht möglich: sie beschiede sich zur bloßen Abbreviatur der Tatschen, die sie damit unbegriffen, im eigentlichen Sinn vorwissenschaftlich ließe. (Adorno 1975: 74)

Adorno hebt zum einen hervor, dass Kritik, genauso wie Bildung, nicht zum Selbstzweck werden darf. Es gilt, ihre Genese und damit auch ihre gesellschaftliche Einbettung mitzureflektieren. Eben weil sich die gesellschaftlichen Umstände verändert haben, ist es notwendig, dem dominanten Verhältnis von Kontingenz und Sozialphilosophie eine weitere Lesart hinzuzufügen. Zum anderen hat jene über manche Gegebenheiten hinausgehende normative Lesart von Kontingenzeinsicht den Vorteil, die in dieser Arbeit diskutierte Sozialphilosophie mit ihrem eigenen Anspruch zu konfrontieren. Der normativen Kritik im Schlussteil IV geht es also nicht um die Negation dessen, was ich postmoderne Sozialphilosophie nennen werde, sondern darum, durch Kritik nach deren Verwirklichung zu fragen. Oder um es etwas polemischer zu formulieren: Wie lassen sich die mit Kontingenzbewusstsein verbundenen normativen Ansprüche verwirklichen, ohne deren Verwirklichung einfach der unsichtbaren Hand des Politischen zu überlassen?

1Einer der wenigen Autoren, bei dem sich ein ähnliches Vorgehen entdecken lässt, ist Slavoy Žižek. Žižek kritisiert zwar den postmodernen Zeitgeist, jedoch mit den methodischen Mitteln der Postmoderne. Zudem ist für ihn Theorie explizit mit Praxis verklammert und untersucht die Auswirkungen von Überzeugungen auf die Konstitution gesellschaftlicher Subjekte. (vgl. Heil 2010: 12-19)

2Vgl. hier Kapitel 4.3.3. Ich spreche von der Spur des Misstrauens.

3Intensiv ausformulierte Kritik findet sich nur marginal oder hat im Diskurs wenig Beachtung gefunden. In Kapitel 2.3 findet sich eine Zusammenfassung der gängigen Kritiken. Besonders hervorzuheben ist die hier maßgebliche Untersuchung von Rüdiger aus dem Jahr 1996.

4Kritisiert werden kann, dass in der Arbeit »Kontingenzeinsicht« als eine Form der Kontingenzbewältigung begriffen wird, soll heißen, als eine Form, die Kontingenz erneut zu bearbeiten und zu vermeiden sucht. Nun kann dem Autor vorgeworfen werden, die Wahrnehmung von Kontingenz nicht angemessen rekonstruiert zu haben. Dem ist zu entgegnen, dass ein solcher Vorwurf nur dann zutrifft, wenn Bewältigung als allgemeiner Begriff für jegliche Form des Umgangs mit Kontingenz verstanden wird. In der vorliegenden Arbeit wird deshalb unterschieden zwischen einem Umgang, der aufgrund vermuteter Risiken auf Schließung von Kontingenz ausgelegt ist, und einem, der aufgrund der vermuteten Chancen auf Öffnung ausgelegt ist.

1.Suche nach Gründen und deren Endlosigkeit

Wenn von philosophischen Problemen die Rede ist, besteht zuerst die Frage, was unter solchen Problemen verstanden wird und was sie von anderen Problemen unterscheidet. Dabei wird es nicht darum gehen, zu der Vielzahl an Bestimmungen der Disziplin Philosophie eine weitere hinzuzufügen oder sie unter einen Oberbegriff zu zwingen. Vielmehr steht im Mittelpunkt, auf eine Tendenz hinzuweisen. Die Eigentümlichkeit des Philosophischen liegt in ihrer Präzision und gleichzeitig ihrem Mangel. Auf der einen Seite ist sie interessiert an »Grundfragen«, die über alltägliche Erfahrungen hinausgehen oder zumindest als solche verdeckt und unbewusst bleiben. Fragen nach dem Urgrund, dem Sinn von Sein oder der Bedeutung von Bedeutung gehen über die Ebene des Was hinaus zu dem Warum. Hier will Philosophie die präziseste und gründlichste aller Wissenschaften sein. Auf der anderen Seite tauchen philosophische Probleme dort auf, wo andere Disziplinen an Grenzen geraten, weil es an Bestimmtheit mangelt. Der schwammige Charakter rührt nicht zuletzt daher, dass Philosophie sich abmüht, Beschreibungen für Phänomene, Eindrücke und Situationen zu finden, die sich der sprachlichen Beschreibung entziehen, wie beispielsweise die Bedeutung der Endlichkeit des menschlichen Lebens, der unvermeidbare Mangel an Wissen oder die Darstellung dessen, was Normativität heißt. Bereits die philosophischen Grundbegriffe und Termini sind oft bedeutungsüberladen und schwer verständlich. Philosophie ist daran interessiert, wie Rentsch schreibt, »die Abstraktheit und Gestörtheit wegzuarbeiten« (Rentsch 2000: 83), und gleichzeitig legt sie diese durch die Behandlung erst frei. Dieses »Grund«-Verständnis als Ausgangspunkt für die vorliegende Studie deutlich zu machen, ist aus mehreren Gründen sinnvoll.

Erstens ist die Arbeit als ein genau solches Vorgehen zu verstehen. Sie ist der Versuch einer Präzisierung und des Verständlich-Machens dessen, was »Kontingenzeinsicht« genannt werden soll. Einem solchem Vorgehen sind notwendig Grenzen gesetzt, die sich sowohl in der Analyse als auch sprachlich niederschlagen.

Zweitens weist die Situation aus Bestimmtheit und Unbestimmtheit auf eine Verklammerung hin, die auch für die vorliegende Arbeit und die analysierten Autoren zutreffend ist. Angenommen wird ein Zusammenhang zwischen einer theoretischen Erschließung und Deutung der Welt sowie der Art und Weise unseres Handelns und unseres Agierens in dieser.

Drittens kann die Allgemeinheit der Situation mit der besonderen Wahrnehmung dieser Situation in einem historischen Abschnitt und den daraus entstandenen Philosophien in Verbindung gebracht werden. Es sind immer andere Gegenstandsbereiche, auf die sich die obige Allgemeinsituation bezieht und aus denen sich etwas über die Gegenwart lernen lässt. Konkret gilt es darauf hinzuleiten, wie besonders der Aspekt des »Mangels« in den Vordergrund rückte und zum Kern gegenwärtiger Sozialphilosophie wurde.

Es gilt deshalb einleitend daran zu erinnern, weshalb die Philosophie sich lange Zeit als Suche nach Gründen (1.1) verstand und wie sich diese Suche verändert hat. Deutlich soll werden, dass die Veränderung den Fokus auf die Darstellung und Beschreibung der Grenzen der Suche richtete und wie die Erkenntnis der Grenzen, Unmöglichkeiten und damit von Negativität dennoch mit einem Erkenntnisgewinn verbunden ist (1.2). Ausgehend von dieser Bewegung lässt sich dann ein ideengeschichtliches Bild des Verhältnisses von Moderne und Postmoderne entwerfen (1.3).

1.1Suche nach Gründen

Der Stellenwert von Gründen in der Philosophie ist bis heute nicht zu unterschätzen. Nicht nur, weil Philosophie ihrem Erklärungsanspruch gerecht werden will, sondern auch, weil es mutmaßlich ein Bedürfnis nach solchen Gründen gibt, ist dieser Anspruch aktuell geblieben. Der Ausdruck »Grund« wird jedoch vieldeutig verwendet und ist schwer von anderen Begriffen wie Ursprung Ursache, Begründung etc. abzugrenzen. Gegenwärtig wird deshalb betont, dass somit trotz der »Allgegenwärtigkeit der Gründe […] notorisch unklar« (Nida-Rümelin/Özmen 2012: XVIII)1 ist, was Gründe eigentlich sind. Dies lässt sich mit einem Rückblick auf die Arbeiten Aristoteles’ verdeutlichen, gilt er doch als einer der ersten Autoren, welcher auf dem »philosophischen« Weg die Suche nach dem Grund2 spezifizierte.

In seiner Metaphysik unterscheidet Aristoteles zwischen Arché und Aitía, zwischen Ursprung und Ursache (Aristoteles 2017a: 981b–983b). Arché bezieht sich auf ein Anfangs- oder Ursprungsprinzip und hat als Begriff weitreichende philosophische Konsequenzen, betrachtet man die Disziplin selbst als ursprüngliche Begründungsinstanz. Die damit einhergehenden Fragen reichen von der Suche nach dem Wesen, dem ontologischen Kern einer Sache oder eines Dings bis hin zur Rückführung der Dinge auf einen Urstoff. Aitía dagegen bezieht sich auf die Ursache eines Vorkommnisses und kann auch als seine Erklärung verstanden werden. Es bedeutet, Wissen über eine Sache zu besitzen. Gegenüber solchen Erklärungen sind die Fragen der Arché in ihrem Begründungszusammenhang auf die Frage nach Letztbegründungen bezogen, soll heißen, auf die Idee einer Behauptung, die ohne weitere Begründung auskommen kann. Sie sind damit als Fundament Wahrheit und Gewissheit. Aristoteles gilt nicht nur als Begründer der Unterscheidung zwischen Ursprung und Ursache, seine metaphysischen Ausführungen, verstanden als »erste Philosophie«, erhoben für die Disziplin den Anspruch, eine vorrangige Wissenschaft vor allen anderen zu sein.3

Dabei war die Verwendung des Begriffs »Ursprung« in der Antike nicht auf den theoretischen Raum beschränkt. Die Suche nach dem Grund wurde nicht nur als theoretische Explikation, sondern auch als sozialphilosophische bzw. politische Dimension verstanden. Arché hieß »in der Politik ursprünglich erster Platz und daraus abgeleitet: Herrschaft, Herrschaftsbereich, auch Amt, Behörde; im antiken Griechenland Bezeichnung für politische Funktionen, in denen Macht und Herrschaft ausgeübt wurden« (Kirchner/Hoffmeister/Regenbogen 2013: 63). Ursprung der Dinge und Welt und auch Ursprung von Herrschaft waren in ihrem Verständnis verbunden. Die bekannteste Verknüpfung findet sich in Platons Ideenlehre und deren politischen Implikationen im Philosophenkönigtum; einem Modell, das sich in groben Zügen auf die politische und philosophische Diskussion des Mittelalters übertragen lässt, wenn Gott als letzter Grund zur Quelle von Herrschaft wurde. Schon bei Aristoteles, der trotz zahlreicher Kritik hier Platon treu bleibt, hatte der Ursprung als ewig und unveränderlich Seiendes eine theologische Dimension. Ohne in Details überzugehen, lässt sich behaupten, dass sich solche metaphysischen Ansprüche auf die menschlichen Vorstellungen einer Möglichkeit von Gründen abseits der empirischen Vielfalt zurückführen lassen. Aristoteles als Ausgangspunkt einer Beschäftigung mit Gründen zu nehmen, ist deshalb sinnvoll, weil bei ihm, trotz der begrifflichen Differenz, alle Dimensionen gemeinsam vorliegen. Grund ist hier Frage der Ontologie, der Epistemologie, der Logik als auch der Ethik und Sozialphilosophie.

(i) Jedoch, die heutige, in gewissem Sinn erneute Feststellung der Mehrdimensionalität ist selbst Konsequenz aus geschichtlichen Einengungen. Die Ausdifferenzierung der einzelnen Dimensionen von Gründen trug, insbesondere ab der Aufklärung, zu einem Fokus auf erkenntnistheoretische Fragen bei. In den Metaphern des Kapitels gesprochen, verschob sich die Debatte von der Suche nach dem letzten Grund (Ontologie) auf die Festlegung der Verfahren der Suche (Epistemologie). Theoretische Gründe wurden explizit von handlungsanleitenden Gründen bzw. praktischen Gründen unterschieden, gleichwohl sie dafür in Anspruch zu nehmen waren. Kants Unterteilung der einzelnen Kritiken der Vernunft steht bis heute paradigmatisch dafür. Theoretische Gründe können abstrakt als Gründe verstanden werden, etwas Bestimmtes zu glauben oder für wahr zu halten.

Eine genauere Betrachtung der Beschreibung »etwas für wahr halten« macht bereits auf die zentrale Problemstellung aufmerksam. Etwas für wahr oder glaubhaft zu halten, ist etwas anderes, als zu wissen, dass es so ist. Eine Kernfrage der Erkenntnistheorie ist deshalb, ob es etwas wie absolut gesichertes Wissen geben kann und was die Bedingungen für ein solches Wissen sind. Habermas schreibt in Erkenntnis und Interesse ganz richtig: »Wollte man die philosophische Diskussion der Neuzeit in Form einer Gerichtsverhandlung rekonstruieren, wäre diese zur Entscheidung der einzigen Frage einberufen worden: wie zuverlässige Erkenntnis möglich sei.« (Habermas 2001a: 11) Mit dem Siegeszug der Wissenschaften hatte sich die Überzeugung durchgesetzt, dass empirische Belege die Sicherheit von Aussagen garantieren können. Bis heute exemplarisch und weitgehend verbreitet ist Poppers Position des Falsifikationismus, die zum einen auf die formale Logik der Inhalte als auch auf die Beweisbarkeit dieser verweist. Die philosophische Auseinandersetzung ist als Debatte über den Grad der Objektivierung zu verstehen, in der sich die jeweiligen Vertreter auf unterschiedliche Stellungen beziehen.4

Vorgeworfen wird dieser Entwicklung, dass das szientistische Selbstverständnis der Wissenschaften auf einem auf Rationalität eingeschränkten Vernunftbegriff basiert, kombiniert mit einem naiven Empirismus. Ein solches Vorgehen hat nicht nur die Philosophie als »erste Philosophie« ihres Status enthoben und diesen auf die (Natur-)Wissenschaften verlegt, sondern ein neues Ideal von Gründen aufgebaut. Gegenüber der platonischen Metaphysik stand nun der Positivismus als Philosophie, die sich mit dem Gegebenen und Tatsächlichen begnügt. Er war im Prinzip die andere Seite der Metaphysik, weil er diese zwar ablehnte, aber auch hier Gründe rein aus formalen Prinzipien abgeleitet wurden. Die Einengung auf den Positivismus als auch auf den Rationalitätsbegriff verweisen auf die Reduktion der Vernunftansprüche und auf die dominanten Methoden des Wissenschaftsbetriebes. (vgl. Schnädelbach 1984: 8)

(ii) Die hier kurz umrissene erkenntnistheoretische Reduktion der aristotelischen Mehrdimensionalität von Gründen führte in der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu einer Vielzahl von Gegenreaktion und Kritiken. Habermas versuchte beispielsweise, Erkenntniskritik als Gesellschaftstheorie zu denken, die sowohl eine objektivistische, subjektivistische als auch gesellschaftliche Komponente enthält. Ebenso als Teil dieser Entwicklung und als Konsequenz auf den »linguistic turn« sowie den »Pragmatismus« wurde die Frage nach Gründen entweder auf ihre sprachliche Konstruktion oder ihren Anwendungswert5 reduziert. Die heute bekannte Rationalitätskritik reicht von Nietzsche, Heidegger, den Autoren der Kritischen Theorie bis Foucault und den Vertreter:innen der sogenannten Postmoderne.

Der Blick auf Foucault lässt einen wichtigen Brückenschlag zu. Seine Kritik richtet sich maßgeblich gegen ein zu idealistisches Wahrheitskonzept, welches den Aspekt von Wahrheit als Macht ignoriert. Die Debatte um Wahrheit war zumeist eng mit der Frage um Erkenntnis und Gründe verbunden. Das hat plausible Ursachen. Zum einen sind die Bedingungen von Wahrheit an die Darlegung von Gründen gebunden. Die mittlerweile weitreichenden Versuche, Wahrheit zu definieren, haben zu sehr unterschiedlichen Kriterien geführt.6 Immer wird der Anspruch erhoben, »die Frage nach der Bedeutung von ›Wahrheit‹ im Rekurs auf epistemische, als das Erkennen, Begründen und rationale Überzeugt-Sein betreffende Konzepte […] beantworten zu können« (Rähme 2010: 9). Wahrheit als logischer Grundbegriff bezieht sich auf die Bedingungen, unter denen etwas als wahr gelten kann.7 Auffällig ist, dass die Verbindung von Wahrheit und Gründen dort stärker wird, wo explizit auf die normativen Komponenten des Wahrheitsbegriffes Bezug genommen wird. Seide bezeichnet dies auch als »epistemische Verantwortlichkeit«. Jemand, der eine wahre Meinung hat, muss »epistemischen Pflichten nachkommen« (Seide 2011: 19). Der Geltungsanspruch von Wahrheit wird auf den Überzeugungsgehalt anderen gegenüber reduziert. Die Debatte in dem Dreigespann – Rorty, Davidson, Habermas (vgl. Davidson/Rorty 2005) –, ob nun der eine an Wahrheit festhalten will oder der andere sie völlig verwirft, fällt letztlich auf die Frage der Rechtfertigung zurück. Was bleibt, ist die Position des Fallibilismus, unter der Irrtümer nie auszuschließen sind und nur der Versuch bleibt, durch Kritik und Überprüfung diese zu vermeiden. Davidson schreibt: »Wir können nichts Besseres tun als prüfen, experimentieren, vergleichen und unbefangen bleiben. Aber einerlei, wie lange und wie vortrefflich wir und die kommenden Generationen daran arbeiten, wir und sie werden nichts anderes in der Hand behalten als fehlbare Überzeugungen [Hervorh. Ramin].« (Ebd.: 298)

Durch diese Tendenz zur Frage nach Überzeugungen kann neben der eben beschriebenen Bewegung als Gegenreaktion auf die Einengung von Gründen auf ihre epistemische und theoretische Seite auch eine Einengung auf ihre soziale Funktion festgestellt werden. Weder das Ergebnis der Suche noch das Verfahren der Suche, sondern nur die Suche selbst blieb als »modus operandi« übrig. Gründe und Wahrheit sind nichts anderes als Rechtfertigungen oder soziale Macht und, auf den Einzelnen bezogen, als innere Überzeugungen zu sehen. Gerade in der Debatte um das Postfaktische äußert sich ein Zweifel an der Überzeugungskraft einer Konzeption von Gründen in Verbindung mit Wahrheit. Hier sind es gehäuft emotionale, aber auch mediale Bezüge, die als Begründungsleistung verstanden werden können. Es gibt durchaus »nichtsprachliche Gründe« (vgl. Abel 2012), die den Rationalitätsbegriff erweitern können. Zu diesen zählen »relevante Verständigungs- und Handlungszusammenhänge« sowie die »Kohärenzbeziehungen« (Quante 2016: 153) der jeweiligen Lebensform. Insofern steht das Dargestellte paradigmatisch für die eingangs erwähnte Struktur philosophischer Probleme. Je tiefer die Suche reichte, umso unbestimmter wurde sie.

Drei Schlussfolgerungen lassen sich ziehen: Erstens und ausgehend von der aristotelischen Gesamtstruktur hat die Ausdifferenzierung von Gründen Radikalisierung und Verkürzungen zur Folge. Auf der einen Seite besteht die Verkürzung im Fokus auf Epistemologie, der Frage nach Wissen und Wahrheit (Verfahren der Suche). Auf der anderen Seite besteht die Reduktion im Fokus auf Praxis und deren praktischen Status, sei es in Form von subjektiven Wünschen oder gesellschaftlicher Macht (Suche für sich).

Zweitens ist in der Gesamtschau eine Tendenz zu Letztem wahrnehmbar, welche auch als Folge eines weiteren und tieferen Fragens und der Einsicht in die dortigen Grenzen zu sehen ist.

Drittens hat die scheinbare Unmöglichkeit oder, leichter ausgedrückt, Schwierigkeit einer Aufstellung absoluter Gründe den erkenntnistheoretischen Umgang mit Gründen zwar seines Anspruchs beraubt, seine Fragen jedoch zum allgegenwärtigen Prüfstein erhoben. So schreibt Gabriel in Bezug auf die Relativierung der Ansprüche: »Unsere endlichen Gründe ermöglichen uns somit zwar eine Transzendenz über unsere endlichen Gründe, ohne daß wir das Gelingen der Transzendenz aber jemals durch einen wahrheitsgarantierenden Grund völlig sicherstellen können.« (Gabriel 2016: 101) Kurzgefasst: Die historisch nachweislich angestiegene Skepsis rückt die »Arbeit am Grund« in den Mittelpunkt.

1.2Leben in Negativität

Die Situation, die sich in der Suche nach Gründen ausdrückt, lässt sich aber nicht nur mit der Frage nach deren Qualität und Status bearbeiten. Verändert sich die Blickrichtung, wird deutlich, dass die Frage nach Gründen erst dann zu einer relevanten Frage wird, wenn solche nicht einfach vorliegen. Erst ein Mangel an diesen weckt überhaupt das Bedürfnis, nach ihnen zu fragen.

In der philosophischen Auseinandersetzung wird für dieses Fehlen von Gründen oft der Terminus der Negativität verwendet. Negativität meint im aussagenlogischen Sinn nichts weiter als die Verneinung eines Tatbestandes oder dessen Widerspruch. Bereits in der Antike wurde das Privative, griechisch Stérēsis, verstanden als fehlende positive Bestimmtheit. Erneut ist es Aristoteles, der, wie im Fall fehlender Sehkraft, beschreibt, wie etwas, das eigentlich vorhanden sein könnte, abgezogen wird und somit ein Mangel entsteht (vgl. Aristoteles 2017a: 1022b22-1023a7). Privation meint dann die Abwesenheit einer bestimmten Eigenschaft. Negativität kommt ontologisch der Status des Nichts oder des Nichtvorhandenseins zu. Der substantialistische Gegenbegriff zum vorherigen Abschnitt wäre der Begriff der Grundlosigkeit, welcher den Mangel an Gründen als letzten Punkt vor die Suche nach Gründen stellt. Heute wird jener Begriff maßgeblich in einer auf Heidegger aufbauenden politischen Ontologie verwendet, die aufgrund ihres Fehlens auf die Notwendigkeit von Politik verweist. Genau wie bei Heidegger findet eine Umkehr ontologischer Fragestellung von ihrer Substanz und ihrer Bestimmung zu ihrem Sinn und der Notwendigkeit des Fragens überhaupt statt.8 Dieser Zugang wird mit seinem Hauptprotagonisten im deutschsprachigen Raum, Oliver Marchart, in dieser Studie noch ausführlicher im Mittelpunkt stehen.

(i) Die Abkehr von der logisch-ontologischen Diskussion zeigt sich in den letzten Jahren besonders in der Interpretation von Negativität als Kernmerkmal praktisch-philosophischer Einsichten. Ob im Kontext von Ethik (vgl. beispielhaft Rentsch 2000), Kunst (vgl. beispielhaft Seel 1996; Adorno/Adorno 2010; Menke 2014) oder Politik (vgl. beispielhaft Celikates 2018; Saar 2018) galt es menschliche Erfahrungen in den Mittelpunk zu stellen, die, wie ein kürzlich erschienener Sammelband zu Negativität deutlich macht,

von Fehler und Irrtum bis zum Verstoß und Verletzung, von Verneinung und Entfremdung bis zu Verdrängung und Verwerfung, von Transformation und Konflikt bis zur Revolution und Kollision, von Epoche und Ellipse bis zu Annihilation und Auflösung, von Differenz und Andersheit bis zu Tragik und Widerwille [reichen]. (Khurana et al. 2018: 16)

Rentsch schlägt deshalb vor, drei Verständnisebenen von Negativität zu unterscheiden. Auf der ersten Ebene faktischer Negativität muss auf Erfahrungen Bezug genommen werden, denen eine menschliche Existenz grundsätzlich ausgeliefert ist. Dazu gehört die Notwendigkeit des Todes, das Erleben von Leid und Schmerz als auch die Angewiesenheit auf andere. Bereits die bloße Feststellung zeugt von dem Verlangen nach Gründen für jene Asymmetrien. Die Notwendigkeit solcher ist in der zweiten Ebene, in der Beurteilung des Negativen, als negativ verankert. Die Erfahrungen begegnen dem Menschen nicht neutral, sondern in ihnen ist bereits eine Ablehnung, ein Ausdruck von Mangel impliziert. Drittens nennt Rentsch die alltägliche, aber auch philosophische Reflexion von Negativität (vgl. Rentsch 2000: 11). Es ist nicht zu weit gegriffen, die Bearbeitung des Negativen als eine Hauptbeschäftigung dessen zu bezeichnen, was Leben genannt wird. Sie schlägt sich in der Konflikthaftigkeit gemeinschaftlicher Praxis, in Kunst und Literatur bis zum Stammtisch nieder. Negativitätsanalysen wollen solche Erfahrungen als ausgezeichnete Erschließungsphänomene menschlichen Weltverhältnisses darstellen. Verstehen findet nicht nur darüber statt, zu den Gründen zurückzukehren, sondern kann auch mit dem Verweis auf die Notwendigkeit von Gründen vollzogen werden. Gerade für die Philosophie gründet sich hierin ihre Relevanz, weil trotz der Naturwissenschaften und Ausdifferenzierung der Geisteswissenschaften keine Disziplin diese Form des Denkens derart in den Mittelpunkt stellt. Wissen kann nicht gleich Sinn- und Bedeutungsaspekte ausfüllen. Zur weiteren Darstellung soll auf zwei Perspektiven von Negativitätsanalysen weiter Bezug genommen werden.

(ii) In einer ersten Perspektive bezieht sich die zur »Arbeit am Negativen« reformierte »Arbeit am Grund« auf eine anthropologische Notwendigkeit und damit individuell betrachtet auf die Möglichkeit eines sinnvollen Lebens. Besonders hervorgehoben finden sich solche Gedanken in der Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften, sei es Biologie, Ethnologie als auch Psychologie, sowie die Krisenhaftigkeit der politischen und moralischen Lebenswelt forderten zu einer Neuvermessung menschlichen Selbstverständnisses auf.

Um nur eine Manifestierung dieser Erfahrungen aufzugreifen, kann auf die philosophische Anthropologie Bezug genommen werden. So leitet Scheler, gedanklicher Begründer jener Disziplin, sein Untersuchungsfeld und die Notwendigkeit einer neuen Forschungsdisziplin damit ein, die Leitbilder des Menschen einer radikalen Dekonstruktion zu unterziehen: »Wie soll man seines Erachtens auch sonst beginnen in einem ›Zeitalter‹, in dem sich der Mensch völlig und restlos ›problematisch‹ geworden ist; in dem er nicht mehr weiß, was er ist, zugleich aber auch weiß, daß er es nicht weiß« (Hartung 2004: 107). Gilt, dass der Mensch nach Scheler keine natürliche Einheit von sich kennt, ist er im Gegensatz zum Tier nicht »umweltgebunden«, sondern »weltoffen«, so gehört zum Prinzip der Menschwerdung eine ständige Rekonstruktion der eigenen Seinsweise. Ziel ist es deshalb, das Problem der Bestimmung des Menschen vor den naturwissenschaftlichen Zugriffen als philosophische Aufgabe zu bewahren. Für Scheler bedeutet dies allerdings, den Fokus auf die Geistesfunktionen zu legen und damit ein metaphysisches Programm als Loslösung und Befreiungsakt von der Natur zu etablieren. Dies hat zur Folge, dass die Überbetonung der Ungebundenheit auf geistiger Ebene den Menschen theologisiert, ihn gottgleich macht und in den Mittelpunkt stellt. Die Einsicht in die Notwendigkeit und dem Verlangen nach Gründen wird nicht als Nachteil, sondern als Prozess der Ermächtigung aufgefasst. Einen ähnlichen Weg, vielleicht nicht ganz so euphorisch, schlug folgend auch Gehlen ein. Auch hier stand die Unbestimmtheit des Menschen im Zentrum, wenn Gehlen sich auf den Menschen als »Mängelwesen« und auf das »unfertige, un-festgestellte« (Hartung 2004: 176) Wesen bezieht. Gerade Gehlen will zeigen, dass das Fehlen automatischer Reaktionsmuster nach einer Schaffung von Orientierungs- und Sinnstrukturen und damit nach einer Deutung seiner Existenz verlangt. Hier ist dies jedoch kein Schritt zur Vergeistigung, sondern existenzielle Notwendigkeit. Dem »Mängelwesen« ist es auferlegt, das Fehlen der Instinkte zu kompensieren. Geistige und damit von der natürlichen Notwendigkeit losgelöste Bewältigungsstrategien dienen als Mittel jener Kompensation. Für Gehlen ist es sowohl Aufgabe als auch Möglichkeit der Kultur, die Mängel auszugleichen.9

Allgemein gilt heute das Betreiben philosophischer Anthropologie, zumindest in ihrem klassischen Sinn als Wesensschau, als problematisch. Jene Versuche sind im Kontext vielfacher Kritik berechtigterweise zurückgestellt worden. Dieses Zurückstellen darf aber nicht mit einem Ende des Fragens verwechselt werden. Die Versuche einer Konstitution von Sinn und Bedeutung sind stetig relevant, nur sind die Antworten vorsichtiger geworden. Die von der Philosophie betonte Offenheit schlägt sich im 20. Jahrhundert in weiteren Disziplinen nieder, deren Entwicklung und Anwendung mittlerweile zum Standardrepertoire westlicher Gesellschaften gehört. Psychoanalyse sowie Psychologie beschäftigen sich mit den Strukturen menschlicher Bedürfnisse sowie deren Einfluss auf den menschlichen Geist. Auch wenn der Fokus dort auf Triebstrukturen und biochemische Prozesse fällt, ist der Fokus auch hier die Ermöglichung praktischen Lebens. Es wundert deshalb nicht, dass die Verarbeitung von Leiderfahrung, Traumata, Enttäuschungen oder Depressionen zum Aufgabenfeld beider Disziplinen gehören.

(iii) Nun besitzen diese Formen von Negativitätsanalysen bis heute Relevanz, sind aber spätestens seit Mitte der 50er Jahre noch in eine andere Richtung erweitert worden. Das Problem war, wie Rentsch es anhand von Heidegger rekonstruiert, eine zu starke Fokussierung auf das Individuum und dessen individuelle Sinnsuche. Dabei sind die »als Negativität beschriebenen Grundmuster […] nicht allein auf einzelne Subjekte zu beziehen, sondern wurzeln im gemeinsamen Leben der Menschen, in der kommunikativen Interexistenz« (Rentsch 2000: 89). Genealogisch betrachtet führen viele dieser Ansätze zurück zu Hegel. Dieser hatte in der Phänomenologie des Geistes (Hegel 2017) darauf hingewiesen, dass das Denken bei seiner Bestimmung des Gegenstandes diesen durch die Abkehr von der bloßen Erscheinung zuallererst negieren muss. Durch den Prozess des individuellen, gedanklichen Urteils setzt sich das Individuum der Möglichkeit der Revision und damit auch der Selbstverneinung aus. Erst dadurch kann das Selbst sich setzen, indem es in der vielfach interpretierten »Negation der Negation« vermitteln muss. Die Möglichkeit, abseits reiner Naturhaftigkeit denken zu können, ist auch Möglichkeit zum Verfallen in selbst gemachte Vorstellungen. Hegels Subjektanalysen warnen daher vor dem reinen Selbst und zielen auf die Analyse der kommunikativen Lebensformen ab. Der Einfluss dieser Denkform zieht sich von Nietzsche, Marx bis hin zu Heidegger und den Autoren der Kritischen Theorie. Der Fokus galt dem Denken einer Praxisphilosophie.

Dieser Grundannahme folgend, sind in der zweiten Perspektive Negativitätsanalysen mit sozialphilosophischen Fragen verbunden. In gesellschaftlicher Praxis und der geteilten Lebenswelt tauchen oft erst die Felder des Mangels auf, sei es in zwischenmenschlichen Beziehungen wie Liebe und Freundschaft, aber auch in größerem Rahmen wie in Politik, Tradition und Moral, welche als negative Erfahrungen auf das Subjekt zurückwirken. Individuelles Sinnverstehen wird nur im Kontext kultureller als auch gesellschaftlicher Praktiken konstituiert.

Das zeigt sich insbesondere im Rahmen gesellschaftlicher Ordnungen. Die Notwendigkeit von Gründen kann in erster Linie auf fehlende natürliche und selbstverständliche Organisation gesellschaftlicher Ordnung zurückgeführt werden. Zwar besteht die berechtigte Annahme, dass Menschen bereits immer in eine vorgegebene Ordnung geboren werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie als notwendig und naturgegeben hingenommen wird. In der politischen Ideengeschichte rückt dieses Bewusstsein einer Rechtfertigungspflicht fortlaufend in den Mittelpunkt und begründet das Vorhandensein der Disziplin. Auch wenn gerade durch religiöse Begründungsanstrengung der Versuch unternommen wurde, gesellschaftliche Ordnungen als gott- und naturgegeben darzustellen, so ist die Darstellung, ob in Ritualen, Geschichten oder Literatur, selbst Zeichen des Begründens. Wissenschaftlich aufgearbeitet sind die von den großen Autoren der politischen Ideengeschichte vorgelegten politischen Schriften oder Argumentationen heute unter dem Begriff der Ordnungsbegründungen, welchen laut Greiffenhagen eine Orientierungs- und Ordnungsfunktion zukommt (vgl. Greiffenhagen 1997: 39-41). Ordnungsbegründungen sind Argumentationsversuche, die Installierung und Aufrechterhaltung einer spezifischen politischen Ordnung überzeugend zu vermitteln. Überzeugung muss deshalb geleistet werden, weil politische Ordnungen Einschränkungen auf individueller Ebene und damit Erfahrungen von Negativität implizieren. Sie erzeugen Verbindlichkeiten, rechtfertigen Zwangsgewalt und etablieren Verpflichtungen. Damit sichern sie zuallererst die Einheit des sozialen, gesellschaftlichen und politischen Gefüges. Die »Natur des Sozialen Bandes« (Lyotard 2015b: 53ff.) ist keine gegebene Natur. Lässt sich in der Literatur der letzten Jahre eine Verbindung zwischen der Erosion jenes Bandes und der Erosion von Gründen und Wahrheit ausmachen, zeigt sich der weitläufige Zusammenhang theoretischen und praktischen Denkens einer Suche nach dem Grund. Marcharts Untersuchung zum Begriff der »Gesellschaft« als das unmögliche Objekt (Marchart 2013a)erläutert ausführlich die Tragweite dieses Diskurses.

Werden diese allgemeinen Aussagen über gesellschaftliches Zusammenleben mit dem veränderten Status von Gründen und mit der gesteigerten Bedeutung von Negativität zusammen gedacht, zeichnet sich eine spezifische Tendenz ab. Spätestens seit der Aufklärung wird der Mangel an absoluten Gründen mit Verweis auf gemeinschaftliche Praxis kompensiert. Diese hat zu übernehmen, was Letztbegründungen nicht mehr leisten konnten. Die Demokratisierungsbewegungen der Moderne sind Ausdruck des, wie Habermas es nennt, »prozeduralen Legitimationstypus« (Habermas 1976: 45), bei dem das Verfahren als Garant für die Akzeptanz gemeinschaftlicher Ordnung gilt und nicht substantielle Gründe wie Gott oder Natur. Auch hier sind die Modelle vielfältig und reichen von Rousseaus Idee der »volonte generale« bis zu Habermas’ »deliberativen Demokratietheorie«.10 Auffallend ist, dass besonders gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine Radikalisierung stattfindet, die sich auch gegen die noch so kleinen übriggebliebenen Bestimmungen der Modelle richtet. Unter dem Eindruck grundlegender Negativität wird diese selbst zur Rechtfertigung. In der Einleitung zum Sammelband Negativität heißt es, die Modi verlegen sich mehr auf das Zerbrechen denn auf das Begründen: »In Kunst, Recht und Politik erweist sich Negativität so nicht als bloßes Mittel der Erhaltung einer normativen Ordnung, sondern als Weg der Suspension, der Begrenzung und Transformation des Zwangs normativer Ordnungen« (Khurana et al. 2018: 15). So kann von einer Annäherung zwischen Gründen und deren Mangel und Instabilität gesprochen werden, radikaler sogar von einem Ineinander-Fallen. Negativität wurde zum Grund und kann nur als gemeinschaftliche Praxis verstanden und angegangen werden.

Die Folge ist etwas, das sich als Primat praktischer Vernunft bezeichnen lässt. Der Aspekt des Normativen ist nur möglich, weil alles Bestimmte immer schon fundamental unsicher ist. Für Politik als auch Moral sind »vorgängig konstitutiv […] demnach insbesondere negative praktische Einsichten in die Grenzen unseres Erkennens und Handelns, in das, was wir, recht verstanden, nicht können« (Rentsch 2000: 13). Dieser Mangel kann auch als Freiheit begriffen werden. In dem Bewusstsein über die Unbestimmtheit der menschlichen Welt liegt der Ausgang menschlicher Gestaltungsräume.

Damit ist erstens ist davon auszugehen, dass sich die Suche nach Gründen und das Leben in Negativität einander bedingen. Gründe sind die Antwort auf eine Situation des Mangels, für die Erfahrungen des Negativen als negativ und für den Wunsch der Bewältigung oder zumindest Bewältigung durch Erklärung. Auf der anderen Seite kann ein Kurzüberblick der Ideengeschichte der Gründe zeigen, wie die Ausdifferenzierung und Vertiefung nicht zu einer festeren Grundlegung führte, sondern umso mehr Unwissenheit und Negativität hervorbrachte. Man ist sozusagen, und das ist wichtig, nicht unwissender geworden; vielmehr hat der Gang in die Tiefe die Reflexionsleistung erschwert.

Zweitens: Trifft dies zu, kommt den konkreten Gründen eine übergreifende Bedeutung zu, die sich nach Rentsch sowohl auf die »Faktizität des bloßen Menschseins als auch auf die sinnentwerfende Praxis des Menschen bezieht« (Rentsch 2000: 82). Er schlägt deshalb vor, solche Begriffe als »›dianoietische‹ Termini, von gr. ›dianoia‹, Einsicht« (ebd.) zu bezeichnen. Genau jene Struktur wird in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen. Zu zeigen ist, wie eine bestimmte Form der Philosophie, die ich vorläufig als postmoderne Sozialphilosophie bezeichnen will, nur verständlich wird durch jenen Doppelcharakter. Damit ist auch eine Entscheidung zur methodischen Positionierung gefallen. Im Sinne sozialkonstruktivistischer Annahmen geht die Arbeit von einem Zusammenhang zwischen Weltbild und Praxis in der Welt aus.

Drittens deuten die beiden Kapitel nicht nur auf die allgemeine Form der Erkenntnis hin, sondern spiegeln auch eine spezifische Entwicklung. Bei der Suche nach Gründen konnte eine Aufweichung von Gründen festgestellt werden, die sich auf deren prekär gewordenen Status von sicherem Wissen, sicherer Erkenntnis und sicherer Wahrheit bezieht. Andersherum steigerte sich das Verständnis von Negativität und Mangel zu einer durchgehenden Konstante. Die Ausführungen zeigten eine Umkehr des Denkens von dem Ziel der Bestimmung hin zur Erschließung von Unbestimmtheit.

Viertens ließ sich aus dieser Tendenz zum Negativen auch eine Veränderung vernehmen. Die Zunahme des Bewusstseins der Rolle des Negativen machte Gründe sogar immer wichtiger. Je mehr Selbstverständlichkeiten abhandenkommen, desto größer wird die Notwendigkeit, das Bestimmte zu kritisieren und durchzuarbeiten. Praxisphilosophie11 rückt an die Stelle von Letztbegründungen.

1.3Zeitdiagnose: Zwischen Moderne und Postmoderne

Dieses in den letzten beiden Abschnitten allgemein dargelegte Geflecht philosophischen Arbeitens bildet die Grundlage einer ideengeschichtlichen Einordnung und damit auch einer möglichen Zeitdiagnose. Dabei herrscht eine gewisse Vorsicht gegenüber solchen Versuchen, denn die eigene Zeit in Gedanken zu fassen und verstehen zu wollen, muss aufgrund der Komplexität und Perspektivität notwendig mit Kurzschlüssen verbunden sein. Allein die schiere Menge an Kategorien und Daten, die es zu berücksichtigen gilt, würden aus einer solchen Diagnose reine Spekulation machen.

Nach Joas lassen sich zwei Grundtypen von Zeitdiagnose unterscheiden. Den ersten Typ nennt er »monothematische Diagnosen« (Joas 2012: 29). Diese stellen eine bestimmte Veränderung oder ein bestimmtes Merkmal in den Mittelpunkt und leiten von diesem das Zeitgeschehen ab. Die prominenteste Analyse sieht Joas in Becks Konzept der »Risikogesellschaft« (vgl. Beck 2016). Reflexiv gewordene »Risiken« und deren Management bilden den Kern modernen Lebens. Mittlerweile hat sich zu dieser Diagnose eine Vielzahl von Alternativen gesellt, die von Wissensgesellschaft, Kommunikationsgesellschaft, Multioptionsgesellschaft, Verantwortungsgesellschaft bis Netzwerkgesellschaft reichen (vgl. Joas 2012: 26). Insoweit jeder dieser Diagnosen Berechtigung zukommt, besteht die Frage, ob eine Wahl zu treffen notwendig ist. Es bedarf eines integrativen Momentes, um diese Entwicklungen zusammendenken zu können. Der zweite Typ an Diagnosen wird dagegen als »Erklärungen eines Epochenbruchs« (ebd.: 25) aufgefasst. Wie der Name suggeriert, wird davon ausgegangen, dass eine bestimmte Periode und deren prägende Merkmale an ihr Ende geraten sind. Oft erkenntlich an dem Präfix »post«, hat sich aber auch hier eine Vielzahl an Überwindungskulturen etabliert.

Die Debatte mit der größten Wirkkraft war die um den konstatierten Bruch zwischen Moderne und Postmoderne. Auch wenn bis heute notorisch unklar bleibt, was mit den einzelnen Abschnitten genau gemeint ist, lassen sich aus dem Diskurs einige Merkmale hervorheben.

(i) Im Kontext der bisherigen Aufteilung und binär gedacht, war die Moderne das »Zeitalter der Gründe«. Ausgehend von einem zur Zeit der Aufklärung sich artikulierenden Bruch mit dem christlich-mittelalterlichen Weltbild wird der Beginn der Moderne, oder oft synonym verwendet: der Neuzeit, gern auf das 17. bis 18. Jahrhundert datiert (vgl. Giddens 2013). Die in unterschiedlicher Form mit dem Bruch verbundenen Motive sind Säkularisierung als Abkehr religiöser Setzung und Zunahme von Eigenverantwortung, der damit verbundene Prozess der Rationalisierung, welcher sich in den analytischen Versuchen der Philosophie sowie später in der Struktur des Staates (Bürokratisierung) niederschlägt, die Grundlegung des Wirtschaftsliberalismus und die einsetzende Industrialisierung sowie die durch Wissenschaft und Technik vorangetriebene Naturbeherrschung. In Diskurs der Moderne sieht Habermas die Entwicklungen explizit als Erbe der Aufklärung (vgl. Habermas 2011b). Engelmann spricht dem folgend von dem Paradigma der Subjekt-Objekt-Relation, in dem der Ersetzung Gottes durch das erkennende Subjekt eine zu erkennende Welt gegenübergesetzt wurde, welche in ihrer Strukturlogik Heterogenität und Differenz minimieren und ausschließen sollte (vgl. Engelmann 2015: 14).

Als Zentrum dieses Erbes lässt sich demnach ein befreiender Charakter identifizieren. Die eben beschriebenen Motive haben sowohl die menschlichen Gedankenräume als auch dessen Handlungsoptionen in enormem Maße erweitert. Der Kern der europäischen Modernisierung ist für Engelmann deshalb die Freisetzung des Individuums: »In der modernen europäischen Gesellschaft wird das freie Individuum zum Ausgangspunkt der sich verändernden ökonomischen, sozialen und ideologischen Strukturen« (Engelmann 2015: 8). Die Folge war gleichzeitig ein gesteigerter Bedarf nach Integration und Begründung. Gesellschaftliche Werte oder die Struktur des Staates existierten nicht mehr natürlich oder gottgewollt, sondern mussten erst hergestellt werden. Die Befreiung brachte immer Entfremdungserfahrungen mit sich. Zum einen, weil mit den Errungenschaften auch Probleme einhergingen, wie die Erosion traditioneller Gemeinschaft, die Notwendigkeiten des sozialen Zusammenhalts und auch die in der Industrialisierung entstehende Klassengesellschaft. Zum anderen, weil die Ausdifferenzierung der Wissenschaften und die Zunahme an Wissen allgemein nicht nur eine stärkere Naturbeherrschung, sondern damit auch neue Formen menschlicher Steuerung hervorbrachten. Damit klingt bereits ein Doppelspiel an, welches für die Autoren der Kritischen Theorie den Dreh- und Angelpunkt ihrer Analysen bildete. Die Befreiung bedeutete in ihren Auswirkungen auch Verpflichtung und Disziplinierung. Dieser Hinweis ist wichtig, weil zur Moderne auch ein Reflexivwerden ihrer selbst gehört. Zima schlägt deshalb vor, den Begriff Modernismus von Moderne abzugrenzen (vgl. Zima 2016: 29ff.). Autoren wie Nietzsche oder später Kafka erkennen die Grenzen der Gedanken der Aufklärung und versuchten die Kritik zu erweitern. In Literatur und Kunst, von der Avantgarde bis Dadaismus und Surrealismus sind solche Gegenbewegungen zu erkennen.

Wenn von einem Zeitalter der Gründe gesprochen wird, dann aus zwei Motiven. Zum einen besteht die Feststellung neuer Erkenntnisse und tiefer reichender Begründungen. Zum anderen konnte eine gesteigerte Rechtfertigungspflicht diagnostiziert werden. Wenn die Dinge nicht einfach so existierten, bedurften sie der Rechtfertigung durch gute Gründe. Die Moderne wird deshalb mit einem »rationalistischen Verständnis« assoziiert oder, wie es im ersten Kapitel hieß, mit dem Fokus auf Erkenntnistheorie. Das heißt natürlich nicht, dass es für alles rationale Gründe oder Letztbegründungen gab, aber es bestand zumindest der Glaube oder die Hoffnung, diese entdecken zu können und damit auch die Entfremdungserfahrungen aufzuheben. Die Moderne basierte, so Lyotard, auf »großen Erzählungen«, auf Konstrukten, die alle Teile des Lebens und der Gesellschaft und die menschliche Geschichte in einen Entwicklungszusammenhang stellen konnten und damit potentiell auch für alles Erklärungen bereithielten.

(ii) Der Verweis auf Lyotard bildet den Ausgangspunkt, um zur Postmoderne12 überzuleiten. Lyotard hatte sich 1979 in einer Auftragsarbeit für die Regierung von Quebec mit dem Titel Das postmoderne Wissen die Frage gestellt, welche gesellschaftlichen Folgen die neuen wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen haben. Aufbauend auf Wittgensteins Theorie der Sprachspiele zeigt er, dass es unmöglich geworden ist, die Vielfalt der Diskurse unter einen interpretativen Nenner zu bringen. Die »großen Erzählungen«, bei ihm verbunden mit der Aufklärung und dem deutschen Idealismus, müssen als gescheitert angesehen werden. Übrig bleiben Erfahrungen der Zerstreuung und Unsicherheit, die Betonung des Dissenses und die Inkommensurabilität kleiner Erzählungen. Diese Grunddiagnose bildete anschließend den Startpunkt einer Menge von Erzählungen über das Scheitern von Erzählungen, das erstarkte Bewusstsein der Krise der Moderne. Besonders der französische Sprachraum (Loytard, Foucault, Derrida, Barthes, Lacan etc.) wurde zum Stichwortgeber der neuen Postismen. So schreibt Engelmann provokant: »[D]er Weltgeist hat das Rheinufer gewechselt und kommt nun von der linken Seite als Zeitgeist zu uns zurück.« (Engelmann 2015: 6) Ob in der Soziologie, wie in den Arbeiten von Beck sowie Touraine (1969) und Bell (1996) oder Bauman (2016c), in der Wissenschaftsphilosophie wie bei Feyerabend (2013) oder der politischen Philosophie wie in den Werken von Deleuze und Guattari (2016), immer kumuliert die Diagnose in der bereits bei Loytard angelegten Zerstreuungserfahrung und Auflösungserscheinungen. Weil die Beschreibungsebenen für Mehrdeutigkeit und dessen Darstellung von Literatur über Kunst und deren Vermengung mit Wissenschaft und Philosophie reichen, lag die Intuition nahe, von einer Gesamtentwicklung zu sprechen. Zima versteht philosophische Begriffe der Unsicherheit wie Ambiguität, Ambivalenz und Indifferenz deshalb als »zentrale Problemstellungen« (Zima 2016: 41), auf die sich das Verhältnis von Moderne und Postmoderne beziehen lässt. Gemeinsam ist jenen Termini, dass sie eine gesteigerte Wahrnehmung für Phänomene der Mehrdeutigkeit hervorheben, mit der Menschen fortwährend konfrontiert werden; Phänomene, die gleichzeitig Auswirkungen auf das Selbstverständnis und Handeln der Individuen haben, weil Identitätskonstrukte, normative Handlungsgründe sowie Überzeugungen immer wieder erschüttert werden und an Stabilität verlieren. Der Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman erkennt beispielsweise in der Figur des Fremden den Prototyp der Postmoderne (vgl. Bauman 2016c: 147f.). Ein Fremder zu sein bedeutet, fähig zu sein, ständige Ambivalenz zu leben, ein Ersatzleben der Verstellung. Ambivalenz ist folglich Einsicht in den zweideutigen Charakter der modernen Welt. Die kulturphilosophischen Einlassungen haben meist tieferliegende Referenzen, denn sie erteilen sowohl Realismus als auch naivem Glauben an Wissenschaft eine Absage. Nach Zima hat sich folgend »mit dem Begriff der Indifferenz das bisher beschriebene Bewusstsein für Mehrdeutigkeiten und Unversöhnbarkeiten radikalisiert« (Zima 2016: 43). Wenn sich zeigen lässt, dass es die Gegensätze nur scheinbar gibt, »dann bricht die Zeit der Indifferenz, der Austauschbarkeit aller Werte an: Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, Liebe und Haß sind kaum noch zu unterscheiden« (ebd.).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die nie ganz deutlich verwendeten Begriffe Kontingenz, Ambiguität, Ambivalenz und Indifferenz sich zwar in Nuancen unterscheiden, jedoch ein Paradigma beschreiben, welches an der Eindeutigkeit der Annahmen eines Zeitalters der Gründe zweifelt. Dualistisch dargestellt steht der Suche nach und dem Glauben an Fundamente als Überwindung und Ziel in der Moderne das nicht änderbare Leben mit Unsicherheiten der Postmoderne gegenüber. Nach Habermas muss deshalb von einem »nachmetaphysischen Denken« (Habermas 2001b) gesprochen werden, in dem die theoretische Lebensform, der Glaube an Identität und Einheit, ob individuell oder politisch, sich aufgelöst hat. Besonders in der französischen Sozialphilosophie mündete diese Diagnose in der in dem Abschnitt zur Negativität beschriebenen Praxisphilosophie. Übrig bleibt allein gemeinsame, menschliche Tätigkeit, die letzter Garant von Wissen und Ordnung sein kann. In Gegenüberstellung zur Moderne als »Zeitalter der Gründe« kann dann von einem »Zeitalter der Negativität« gesprochen werden.

Allerdings kann eine Rückkehr zu Lyotard helfen, den Blick auf diese Diagnose zu schärfen. Lyotard hatte nicht die Absicht, als Stichwortgeber einer mit Beliebigkeit, Relativismus und Werteverfall verbundenen Zeit zu gelten. Vielmehr wird die radikalisierte Ungewissheit »zum Zeichen für Veränderung, zur Hoffnung auf einen Bruch« (Engelmann 2015: 12). Das Frei-Machen von den alten Festlegungen ist die Bedingung der Möglichkeit neuer Interpretationen, die vielleicht in der Lage sind, das Scheitern der Aufklärung an ihren eigenen Ansprüchen doch noch zu bewältigen. Lyotard umschreibt am Ende von Das Postmoderne Wissen eine Form der Vernunft, die aus dem theoretischen Mangel praktische Schlüsse ziehen kann, die sowohl den Wert des Unbekannten als auch den Wert des Indifferenten schätzt: »Es zeichnet sich eine Politik ab, in der der Wunsch nach Gerechtigkeit und der nach dem Unbekannten gleichermaßen respektiert werden« (Lyotard 2015b: 155). Die so vollzogene Aufwertung prägt meines Erachtens die Grundausrichtung eines postmodernen Paradigmas, welches sich über den Poststrukturalismus, den Theorien der Radikaldemokratie und des Postfundamentalismus bis zur Gegenwart zieht. Dann, so muss mit Engelmann gesagt werden, bedeutet Postmoderne, entgegen einem weitverbreiteten Missverständnis,

nicht Inhaltslosigkeit oder Beliebigkeit, wie ihre Gegner gern behaupten. Postmoderne, so könnte die paradoxe Formulierung lauten, bedeutet inhaltlich die Wiederaufnahme der Grundideen der Moderne. Postmoderne wäre dann ein erneuter Anlauf zur Durchsetzung und Weiterführung des politischen-gesellschaftlichen Kerngedankens der Moderne, des Prinzips der Freiheit des Individuums und das Bemühen um eine gesellschaftliche Ordnung auf dieser Basis (Engelmann 2015: 12).

Sowohl aus diesem Grund als auch aus den Erläuterungen der ersten beiden Unterkapitel ist festzustellen, dass die binäre Codierung zwischen »Zeitalter der Gründe« und »Zeitalter der Negativität« zu kurz greift.

(iii) Es ist deshalb ratsam, sich einer anderen und auch treffenderen Bestimmung zuzuwenden, die neben der eben beschriebenen normativen Ausrichtung eine weitere Grundlage der vorliegenden Arbeit liefern wird. Joas schlägt den Begriff »Zeitalter der Kontingenz« vor, weil Kontingenz ausdrückt, dass sowohl für die Moderne als auch die Postmoderne die Komplexität nur unter Betrachtung vieler unabhängig voneinander wirkender Prozesse verstanden werden kann (vgl. Joas 2012: 28). Zum einen wird dadurch deutlich, dass auch in der Moderne nicht alles durchdekliniert und begründet ist. Der Aufwand an Begründungen ist erst Folge eines gesteigerten Bewusstseins für Kontingenz. Die Moderne ist strikt verbunden mit Auflösungserscheinungen und Befreiungstendenzen, die den menschlichen Zugriff auf die Welt möglich machten. Joas spricht deshalb von »Zunahme individueller Handlungsoptionen« und dem »Bewusstsein historischer Kontingenz« (ebd.: 29). Das heißt natürlich nicht, dass alle gleichermaßen Freiräume hatten oder haben, aber dass sich diese in der Gesamttendenz ausweiteten und bewusst wurden. Zum anderen hilft die Bezeichnung, einen Unterschied zu markieren. In der mit der Erosion verbundenen Zunahme an Chancen und Optionen ist auch die Bedeutung dieser mitreflektiert. Gesteigerte Selbstbestimmung kann auch in Gefahr und Überforderung münden, welche zur »Sehnsucht nach Optionsreduzierung, ja zu aggressiver Optionsvernichtung führen« (ebd.: 33). Hinzukommt der mit der Zerstreuung einhergehende Orientierungsverlust und die gesteigerten externen Zugriffsmöglichkeiten auf das private als auch öffentliche Leben (ebd.: 29).In Anbetracht der eben beschriebenen normativen Aufwertung von Negativität besteht der zentrale Unterschied zwischen beiden beschriebenen Paradigmen, Moderne und Postmoderne, demnach weniger in dem Bewusstsein einer Situation der Unsicherheit und Unwissenheit als in der Frage nach dem Umgang mit dieser. Während die Moderne auf eine Bändigung der Unordnung ausgerichtet ist, macht die Postmoderne die Unordnung zu ihrem eigenen Prinzip (vgl. Toens/Willems 2012: 22). Sie hofft, oder besser: sie glaubt, dass wenn die unvermeidbare Kontingenz nicht mehr als Gefahr, sondern als Gewinn begriffen wird, sich auch die Aporien ihrer Bewältigung beseitigen lassen. Die »Gründe