Portugiesische Sünde - Luis Sellano - E-Book

Portugiesische Sünde E-Book

Luis Sellano

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Beschreibung

Sommer, Sonne, Tod am Strand

Der Küstenort Cascais ist nur einen Katzensprung von Lissabon entfernt. Die malerische Steilküste und die zahlreichen Sehenswürdigkeiten locken Urlauber ebenso an wie Einheimische auf der Suche nach einer kleinen Auszeit. Die Polizistin Helena Gomes hat an diesem Tag jedoch keine Augen für die Schönheit des Atlantiks: Eine Frau liegt tot am Strand. Die Gerichtsmedizin schließt Fremdeinwirkung nicht aus. Und auch Helenas Freund, der kriminalistisch begabte Antiquar Henrik Falkner, wittert ein Verbrechen. Gemeinsam kommen die beiden einem dunklen Geheimnis auf die Spur, das seinen Ursprung tief in den Gassen von Lissabons Hauptstadt hat …

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Seitenzahl: 365

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Das Buch

Henrik Falkner ist kein gewöhnlicher Antiquar. Mit Hartnäckigkeit und kriminalistischem Spürsinn macht er den Verbrechern in seiner geliebten Wahlheimatstadt Lissabon das Leben schwer. So manchen finsteren Plan konnte er durchkreuzen. Doch die Betätigung als Detektiv birgt ihre Gefahren. Nach einer schweren Schussverletzung hat Henrik Schwierigkeiten, in den Alltag zurückzufinden. Erst ein neuer Fall vermag seine Lebensgeister zu wecken. Am Strand der einstigen Fischerstadt Cascais wird eine tote Touristin aufgefunden. Ein tragischer Badeunfall – oder doch Mord? Henriks Freundin, die portugiesische Polizistin Helena, bittet ihn um Hilfe. Also nimmt Henrik seinen Mut zusammen und tritt erneut hinaus in die verwinkelten Gassen Lissabons, um ein Verbrechen aufzuklären.

Der Autor

Luis Sellano ist das Pseudonym eines deutschen Autors. Auch wenn Stockfisch bislang nicht als seine Leibspeise gilt, liebt Luis Sellano Pastéis de Nata und den Vinho Verde umso mehr. Schon sein erster Besuch in Lissabon entfachte seine große Liebe für die Stadt am Tejo. Luis Sellano lebt mit seiner Familie in Süddeutschland. Regelmäßig zieht es ihn auf die geliebte Iberische Halbinsel, um Land und Leute zu genießen und sich kulinarisch verwöhnen zu lassen.

Lieferbare Titel

Portugiesisches Erbe

Portugiesische Rache

Portugiesische Tränen

Portugiesisches Blut

Portugiesische Wahrheit

Portugiesisches Schicksal

Portugiesisches Gift

LUIS SELLANO

Portugiesische

Sünde

EIN LISSABON-KRIMI

Wilhelm Heyne Verlag

München

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 04/2023

Copyright © 2023 by Luis Sellano

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesign, München, unter Verwendung der Motive von shutterstock.com (eskystudio, xpixel, Mykola Mazuryk, Tetiana Chernykova)

Karten U2/U3: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von OpenStreetMap.org (Data CC BY-SA)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

Redaktion: Joscha Faralisch

ISBN 978-3-641-30288-7V002

www.heyne.de

Für Liam

1

Henrik

Henrik Falkner wusste nicht, ob das aufdringliche Fiepen Teil des Traums war, in dem er sich immer noch wähnte, oder ob es von außen in seinen benebelten Verstand drang und ihn zu wecken versuchte. Vielleicht beides? Immerhin hatte er vor nicht allzu langer Zeit einige Tage umgeben von diesem Geräusch verbracht. Gefangen zwischen Bewusstsein und Ohnmacht, hatte Krankenhauselektronik seine Körperfunktionen überwacht und Alarm geschlagen, wenn diese besorgniserregende Werte erreichten. Aber er war nicht mehr im Hospital. Glaubte er jedenfalls. Ganz sicher war er sich nicht. Zumindest nicht, solange ihn seine wirren Schlaffantasien festhielten.

Normalerweise endeten seine selten gewordenen Ruhephasen damit, dass er daraus hochschreckte, sobald sie auf ihn schoss. Wobei es nicht der Knall war, der den Schlaf jäh beendete. An den Mündungsknall hatte er ohnehin keine Erinnerung mehr. In seinen schweißtreibenden Träumen konnte er die Flugbahn der Kugel sehen, die auf ihn zusteuerte, und er wurde immer genau in der Millisekunde wach, bevor sie in seinen Brustkorb eindrang. Es war nicht die Wirklichkeit, die sich da im Unterbewusstsein widerspiegelte. Das menschliche Auge war nicht dazu fähig, den Flug eines Projektils aus einer Handfeuerwaffe zu verfolgen. Auch das war ihm klar. Außerdem wusste er nichts mehr von dem, was sich damals abgespielt und ihn dem Tod so nahe gebracht hatte. Der Vorfall war aus seinem Gedächtnis gelöscht. Aus Selbstschutz, um nicht völlig durchzudrehen. Später, nach der Operation, als er wieder bei Sinnen war, berichtete man ihm, was sich zugetragen hatte. Warum er in einem Krankenhausbett lag und eine Bandage um den Brustkorb ihm das Atmen erschwerte. Und seither plagte ihn die Wahnvorstellung des langsam auf ihn zufliegenden Geschosses, dem er dennoch nicht ausweichen konnte, egal wie er sich wand und mühte.

Knapp war es gewesen. Wie nah habe ich an der Schwelle gestanden? Wenige Millimeter, hatte ihm der Chirurg erklärt. Gelegentlich befiel ihn der Gedanke, dass er besser damit zurechtkommen würde, wenn diese wenigen Millimeter nicht gefehlt hätten. Dass es leichter wäre, in einem Sarg zu liegen und nie wieder zu erwachen.

Henrik öffnete die Augen. Draußen war es schon hell, auch wenn sich die Sonne noch nicht über den Horizont geschoben hatte. Doch mittlerweile kannte er alle Nuancen des morgendlichen Lichts, mit dem die Stadt an klaren Tagen nach und nach geflutet wurde. Zum einen, weil er die Vorhänge nie zuzog, bevor er zu Bett ging, und daher den zaghaften Beginn eines jeden neuen Tages miterlebte. Weswegen er auch genau wusste, auf welche Weise das Licht die Schatten im Raum zurückdrängte und wie viel Zeit es benötigte, um das Fußende seines Bettes zu erreichen. Jetzt, im Frühsommer, war dies schon weit vor sechs Uhr der Fall. Das alles wusste er zum anderen aber auch nur, weil er schlecht schlief, seit die Kugel ihn getroffen hatte. Schlecht schlief und in der Folge sehr leicht erwachte. Selbst ohne ein penetrantes Geräusch, das sich in seine Empfindungen hineinmengte.

Letztlich genügte ein weiterer Atemzug, um zu wissen, was er da hörte. Hin und wieder war sein Verstand noch zu gebrauchen, auch wenn sein Körper sich schneller von der Verletzung erholt hatte als seine Seele. Der Klingelton brach abrupt ab. Entweder hatte der Anrufer aufgegeben oder sie hatte das Gespräch doch noch entgegengenommen. Seit er wieder zu Hause war, schlief sie drüben im Gästezimmer. Zusammen mit ihrer Tochter. Sie hatte bislang nicht darüber gesprochen, er akzeptierte dieses Arrangement stillschweigend. Immerhin raubte er ihr damit nicht ständig den Schlaf, wenn er aus seinen quälenden Träumen hochschreckte. Was mehrmals pro Nacht vorkommen konnte.

Henrik hörte sie leise sprechen, während sie rüber ins Bad ging. Lauschte, wie sie eine gefühlte Minute später spülte und dann das Wasser in der Dusche aufdrehte. Er wollte aufstehen, in die Küche gehen und Kaffee machen, denn es lag auf der Hand, warum sie vor der Zeit aufgestanden war. Doch so wie die Schlaflosigkeit seinen Geist davon abhielt, zur Ruhe zu kommen, so war es die Antriebslosigkeit, die ihn bleibeschwert in die Matratze drückte. Wie lange würde sie das noch mitmachen? Seine Nutzlosigkeit erdulden?

Sie trödelte nicht, das konnte er hören. Der Anruf war dringlich gewesen. Vermutlich war sie keine fünf Minuten im Bad, ehe sie die Tür zu seinem Schlafzimmer öffnete. Keinesfalls leise, weil sie davon ausging, dass er ohnehin bereits wach lag. Helena blieb im Türrahmen stehen. Sie war schon angezogen. Im Zwielicht versuchte er ihren Blick zu erkennen. Vielleicht ein zartes Lächeln zu erhaschen.

»Ich muss zu einem Einsatz«, sagte sie. »Kannst du Sara in den Kindergarten bringen?«

2

Helena

Mit der aufgehenden Sonne im Rücken fuhr sie am Fluss entlang. Entgegen dem morgendlichen Verkehrsstrom war sie schneller als erwartet raus aus der Innenstadt. Und das war gut so. Zu viel Zeit im Auto bedeutete zu viel Zeit zum Nachdenken. Nicht, dass sie sich wegen Sara Sorgen machte. Vielmehr war es Henrik, der das Problem darstellte. Sie würde gerne daran glauben, dass es ihm bald besser ging, aber es mangelte ihr immer mehr an der Zuversicht. Nicht nur, was dieses eine, schwerwiegende Problem anging; auch was die einfachen Dinge des Lebens betraf, fragte sie sich immer häufiger, ob er hinbekam, was sie ihm auftrug. Henrik hatte sich eine Seuche eingefangen, die nicht seinen Körper, sondern seinen Geist in Mitleidenschaft zog. Leider akzeptierte er immer noch nicht, dass er diese Krankheit ohne medizinische Hilfe nicht einfach so wieder loswurde. Andererseits, wenn es um Sara ging, war er immer noch am verlässlichsten. Sein Umgang mit ihrer Tochter war so ziemlich das Einzige, was noch normal funktionierte. Außerdem hatte sie die Gewissheit, dass ihre Sara es in der Zwischenzeit durchaus auch allein in den Kindergarten schaffte. Immerhin wurde sie in vier Monaten eingeschult. Henrik damit zu beauftragen, sie zu begleiten, war eher zu einer therapeutischen Maßnahme geworden, um ihn wenigstens für kurze Zeit aus dem Haus zu locken. Helena wünschte sich nichts mehr, als dass sich bei ihm bald eine Besserung abzeichnete … Merda! Genau damit wollte sie sich jetzt nicht befassen. Nicht, wenn sie unterwegs zu einem Tatort war.

Unbekannte Tote am Strand. So lautete die Meldung der Ortspolizei. Hatte sie so einen Fall schon mal? Jedenfalls nicht draußen in Cascais, dem einstigen Fischerort, der schon vor Jahrzehnten zu einem beliebten Ferienziel geworden war. Zudem ausgerechnet der Ort, in dem sich ihre Eltern nach ihrem Ruhestand niedergelassen hatten. Kurz hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihnen Bescheid zu geben, dass sie auf dem Weg nach Cascais war. Doch es war zu früh, um bei ihnen anzurufen. Jetzt konnte sie nur darauf hoffen, dass ihre Eltern nicht plötzlich am Absperrband standen und nach ihr riefen, während sie eine Leiche inspizierte.

Helena war in dem altersschwachen Peugeot unterwegs, den sie schon fuhr, seit sie ihren Führerschein hatte. Natürlich hätte sie auch einen Dienstwagen nehmen und zusammen mit ihrem Kollegen Lui Simões rausfahren können. Aber so war es einfacher und irgendwie entspannter für sie. Auch wenn sie fortwährend Gefahr lief, dass ihr fahrbarer Untersatz hinter der nächsten Kurve den Geist aufgab. Doch sie hing an der verbeulten Kiste mit ihren ausgeschlagenen Lagern und den knirschenden Stoßdämpfern. Und irgendwie brauchte sie wohl auch den Kick, den ihr das ungesunde Scharren im Getriebe und die immer heftiger werdenden Vibrationen der Reifen bescherten. Abgesehen davon, dass das Getöse, das ihr Auto verursachte, immer noch besser war als das Gelaber von Lui. Nachdem ihr Anruf erfolglos blieb, hatte sie ihm eine Nachricht geschickt, bevor sie losgefahren war. Doch auch darauf war bisher keine Antwort eingegangen. Lui war ein seltsamer Kauz, und auch wenn er schon seit fünf Jahren ihr Partner bei sämtlichen Ermittlungen war, waren sie nie sonderlich warm miteinander geworden. Was vorrangig daran lag, dass sie ihm nicht vertraute.

Auch wenn sie über die Autobahn vielleicht zehn Minuten schneller gewesen wäre, blieb sie dennoch auf der Küstenstraße N٦. Auf den Blick hinaus aufs Meer wollte sie nicht verzichten. Er war Balsam für die Seele. Und das konnte nicht schaden, wenn man auf dem Weg war, um sich einen toten Menschen anzusehen. Das frühe Sonnenlicht glitzerte auf den Wellen, und die Luft, die durch das halb geöffnete Fenster strömte, war frisch und belebend. Für die nächsten paar Kilometer schaffte sie es, den Moment einzufangen und einfach nur zu fahren. Der Fahrtwind blies ihre Gedanken fort, was selten genug vorkam. Sie war immer schon ein Kopfmensch gewesen, eine Skeptikerin, die nichts unhinterfragt stehen lassen konnte.

In Cascais angekommen, folgte sie der Straße hinein in den Ortskern, die sie auch nahm, wenn sie ihre Eltern besuchte. Bald sah sie die Blaulichter. Ein Streifenpolizist wies sie an, bis runter zur Bucht zu fahren, die sich östlich des ursprünglichen Dorfs erstreckte. Trotz der frühen Stunden hatten sich schon einige Schaulustige angesammelt, die das Durchkommen bis zum von der Polizei gesicherten Bereich erschwerten.

Helena stieg aus dem Wagen, zeigte dem dort abgestellten Uniformierten ihre Dienstmarke und schlüpfte unter dem gelben Plastikband hindurch. Die Bucht war überschaubar. An der Wasserkante gemessen, erstreckte sie sich knapp über zweihundert Meter, auf beiden Seiten durch schroffe Felsen begrenzt. Helena kannte den Strand nur zu gut. Wenn sie mit Sara bei ihren Eltern war, war es unvermeidlich, mit ihrer Tochter hierherzukommen, egal bei welchem Wetter. Heute waren alle Zugänge zum Praia da Duquesa gesperrt. Im Westen thronte auf den vom Atlantik geformten Klippen das Hotel Albatroz. Daran vorbei verlief die Promenade, die der Küstenlinie folgte und auf der es sich bis nach Estoril flanieren ließ. Entlang des Strandabschnitts reihten sich Eisbuden, Imbissstände und zwischendrin die Verleihshops für Surfbretter und anderweitige Wassersportarten und Strandrestaurants. In der östlichen Ecke das hellen Sandstreifens ragte das Casa Palmela in den morgendlichen Himmel. Vormals befand sich dort die Bastion De Nossa Senhora da Conceição, ein strategisch günstiger Verteidigungsposten, zu einer Zeit, als Portugal noch eine stolze Seemacht war. Im Schatten der alten Wehrmauern hatte die Ortspolizei eine tennisplatzgroße Fläche abgesteckt. Uniformierte Kollegen sicherten den Abschnitt. Schon von der Promenade aus erblickte Helena den leblosen Körper auf einer dort ausgebreiteten Plane. Ein Mediziner in grellrot leuch-tender Rettungsweste kniete neben der Toten. Unverkennbar wegen seiner Größe stand dort auch Lui, der dem Arzt über die Schulter blickte. Er war also tatsächlich vor ihr eingetroffen. Das passte gar nicht zu dem Langschläfer, der sonst immer als Letzter im Büro auftauchte.

Warum hat er mir nicht Bescheid gegeben?

Von jeher missfiel Helena seine anbiedernde Art gegenüber Vorgesetzten, aber hin und wieder setzte er noch einen drauf. Mit was wollte er sich diesmal wieder vor ihr profilieren? Die Meeresbrise zerzauste Luis schwarze Locken und ließ die Hosenbeine seines cremefarbenen Leinenanzugs flattern. Mit einem Mal drehte er sich zu ihr um, als bemerkte er ihren Blick auf seinen gekrümmten Rücken. Sie nickte ihm zu und stieg die Betonstufen runter. Lui ging ihr entgegen, und genau wie sie versank auch er mit jedem Schritt tief im weichen Sand.

»Ertrunken«, sagte er, als er sicher war, nahe genug zu sein, um den Wind zu übertönen. Obwohl der Strandbereich noch immer im Schatten lag, saß auf seiner schiefen Nase eine klobige Sonnenbrille, die es unmöglich machte, ihm in die Augen zu sehen.

Wir kommen also gleich zur Sache. »Deswegen lotsen sie uns hier heraus?«, fragte Helena zurück, kaum dass sie ihn erreicht hatte.

»Die Kollegen der Guarda Nacional, die man nach dem Auffinden der Leiche gerufen hat, waren nicht sicher, ob es ein Unfall war. Vielleicht wollten sie sich auch nur die Schreibarbeit sparen. Jedenfalls haben sie entschieden, die Sache der Kripo aufs Auge zu drücken.«

»Was spricht gegen einen Unfall?«, hakte Helena nach.

Lui sah über seine Schulter runter zum Meer. »In der Bucht war heute Nacht nur mäßiger Wellengang. Schwer, da so einfach zu ertrinken. Und wenn sie weiter als über die Sicherungsleine hinausgeschwommen wäre, hätte sie die Strömung erwischt. Dann wäre sie kaum wieder hier angespült worden«, erklärte er. Offenbar hatte er auch schon mit der Küstenwache gesprochen, so gut wie er informiert war.

»Das setzt voraus, dass sie vom Strand aus ins Wasser gegangen ist. Vielleicht ist sie aber auch von einem Boot gefallen?«

Lui schüttelte den Kopf. »Ein Kreuzfahrtschiff kommt nicht in Frage, denn da wäre kaum mehr so viel von ihr übrig. Außerdem wäre sie auch in diesem Fall so nahe am Delta aufs offene Meer rausgetrieben worden. Abgesehen davon, dass die Küstenwache keine Meldung von einer vermissten Passagierin erhalten hat. Die Guarda geht davon aus, dass sie von diesem Strandabschnitt aus zu ihrem nächtlichen Bad aufgebrochen ist.«

»Weiß man schon, wer sie ist?«

»Sieht nach einer Touristin aus«, mutmaßte er. »Sie hatte keine Papiere in ihrem Badeanzug. Und nein, bevor du fragst, im Bereich das Strandes wurden weder Klamotten noch eine Tasche gefunden, die sie dort abgelegt hat, bevor sie … na ja, du weißt schon …«

»Nimmt dich das mit?«

Lui schüttelte schnell den Kopf. »Nein! Wie kommst du darauf?«

Helena schwieg, weil sie keine Erklärung dafür hatte, was an Lui heute anders war. Sie tippte darauf, dass er mal wieder einen ziemlichen Kater mit sich herumschleppte. Zumindest würde das erklären, warum er seine Augen hinter dunklen Gläsern versteckte.

»Wieso hat der Comandante uns für diese Untersuchung eingeteilt?«

Lui sah aufs Meer hinaus, als stünde dort die Antwort. »Weil unsere vorangegangene Ermittlung abgeschlossen ist«, mutmaßte er, ohne sie anzusehen. Eigentlich hatten sie den Papierkram für die Anklageerhebung zu ihrem letzten Fall noch nicht zusammen. Es waren noch ein paar Aussagen zu prüfen, um für die Staatsanwaltschaft alles hieb- und stichfest zu machen. Andererseits zwang der fortwährende Personalmangel im Polizeikorps sie selbst in der Abteilung für Gewaltverbrechen immer wieder dazu, mehrere Delikte gleichzeitig zu untersuchen.

»Trägt sie einen Ehering?«

»Nimmt man den nicht auch ab, bevor man sich in die Fluten wirft?«, fragte er in herablassendem Unterton, wohl wissend, dass Helena noch nie einen Trauring getragen hatte. Endlich eine bissige Bemerkung. Sie war von Lui kaum etwas anderes gewöhnt, und offenbar taute der Zyniker in ihm so langsam auf. Doch genug von Lui, besann sie sich und sah rüber zu dem Hotel am westlichen Ende des Praia da Duquesa, dessen Gästen ein extra abgetrennter Strandbereich zur Verfügung stand. »Vermissen die jemanden?«

»Hat noch keiner nachgefragt, kannst du aber gerne gleich übernehmen!«

»Ich will sie zuerst sehen!«, sagte Helena bestimmt. »Und mit der Person reden, die sie gefunden hat!«

3

Die Brandung hatte die Leiche gegen einen aus dem Sand ragenden Felsen gespült. Der zerklüftete und von Algen überwachsene Stein hatte den leblosen Körper an Ort und Stelle gehalten, sodass er von der Dünung nicht wieder zurück ins Wasser gezogen werden konnte. Das erklärte ihr fünf Minuten später die zuständige Kriminaltechnikerin, die zusammen mit ihrem Team ebenfalls aus Lissabon angefordert worden war. Mittlerweile hatte man die tote Frau ein Stück weiter von der Wasserkante entfernt, um zu verhindern, dass eventuell noch vorhandene Indizien vom Atlantik fortgewaschen wurden. Auch wenn die Aussicht gering war, überhaupt noch etwas zu finden. Immerhin ging man nach der momentanen Sachlage davon aus, dass sie etwa sieben Stunden im Wasser gelegen hatte, ehe sie entdeckt worden war. Helena sah auf die Uhr und rechnete nach. Die Frau war demnach gegen Mitternacht im Meer gelandet und nicht mehr lebend daraus zurückgekehrt.

Ihre Haut war blass, was nicht allein vom stundenlangen Bad im Salzwasser kam. Wenn sie hier Urlaub gemacht hatte, dann vermutlich erst seit Kurzem. Der Badeanzug, in dem ihr schlanker Körper steckte, war ein schlichtes, sportliches Modell, so wie es in der Regel nur geübte Schwimmerinnen trugen. Das lange Haar war von den Wellen zerzaust, klebte nass an ihrem Kopf und war mit Seegras verwoben. Die Nässe ließ es dunkler erscheinen, als es vermutlich in trockenem Zustand war. Helena vermutete, dass sie es zusammengebunden hatte, bevor sie schwimmen gegangen war, und die stete Brandung, die über sie weggerollt war, das Haargummi irgendwann gelöst hatte. In der ersten Meldung, die vor gut zwei Stunden bei ihnen im Dezernat eingegangen war, hatten die Kollegen von einer jungen Frau gesprochen. Jung, weil ihre feingliederige Statur diesen Anschein erweckte. Doch jetzt, da Helena die Tote genauer in Augenschein nahm, kam sie zu dem Schluss, dass die Frau vermutlich in ihrem Alter sein musste. Um die vierzig also, wenn sie die deutlichen Fältchen um die leblos in den klaren Morgenhimmel starrenden Augen richtig interpretierte.

»Ist sie ertrunken?«, richtete sie ihr Wort an den Mediziner von den örtlichen Rettungskräften. Der Notarzt, der schon nahe am Rentenalter sein musste, betrachtete sie durch seine runden Brillengläser. »Und Sie sind?«

»Inspetora Gomes, Divisão de Investigação Criminal.«

»Dr. Cesar«, stellte er sich seinerseits vor und betrachtete dann wieder die Leiche. »Äußerlich deutet alles darauf hin, aber … Ordnen Sie eine Obduktion an?«, fragte er verhalten, als wollte er sicherstellen, dass man ihn wegen seiner Aussage später nicht belangen konnte.

»Irgendwelche sichtbaren Verletzungen?«, hakte sie nach.

»Es gibt Abschürfungen, die vermutlich entstanden sind, als die Wellen sie gegen den Felsen gespült haben. Da war sie wohl schon nicht mehr am Leben. Aber auch das ist nur eine Mutmaßung, basierend auf meiner Erfahrung als Ersthelfer. Falls es entgegen meiner Einschätzung zu Blutungen kam, nachdem sie zurück an Land geschwemmt wurde, ist jedenfalls alles vom Meer wieder weggewaschen worden«, erklärte er.

»Anzeichen dafür, dass sie gewaltsam unter Wasser getaucht worden war?«

Dr. Cesar schüttelte den Kopf. »Dazu kann ich nun wirklich keine Aussage machen. Wie gesagt, man hat mich hierhergeholt, um den Tod der Senhora festzustellen. Alle weiteren Untersuchungen überlasse ich den Kollegen aus der Pathologie. Und damit wäre ich hier dann auch fertig«, ließ er sie wissen und griff nach seinem Arztkoffer.

»Wie schätzen Sie ihr Alter ein?«, wollte Helena wissen.

Der Mediziner rückte die Brille auf seiner Nase zurecht. »Mitte dreißig bis Mitte vierzig, genauer kann ich auch hier nicht werden, Inspetora.«

Helena nickte, und er trottete davon. Oben auf der Promenade warteten bereits zwei Männer mit einem Zinksarg. Lui trat neben sie. »Wo ist derjenige, der die Leiche gefunden hat?«, fragte Helena. Er deutete hoch zu der schmalen Zufahrtsstraße, die von den Einsatzfahrzeugen blockiert war. Selbst aus der Entfernung konnte Helena sehen, dass der Mann kaum mehr die Geduld aufbrachte, noch länger zu warten.

Es schien zu den unerklärlichen Gesetzbarkeiten zu gehören, dass es oftmals Rentner mit Hunden sein mussten, die auf ihren frühmorgendlichen Gassirunden über Leichen stolperten. Pedro Augusto, wie er sich vorstellte, nachdem sich Helena zu ihm auf die Strandpromenade gesellt hatte, passte exakt in diese Kategorie. Ebenso wie der Hund, ein unterarmlanger Mischling, der unbeirrt an Helenas Knöchel schnüffelte, während sie mit seinem Herrchen sprach. Augusto hatte nichts zu erzählen, was ihr bei der Klärung der Umstände weiterhalf. Er war dem betonierten Weg entlang des Strandabschnitts gefolgt, so wie er es um diese Uhrzeit immer zu tun pflegte, seit er vor elf Jahren aus Malveira hierher nach Cascais gezogen war, wo er sich mittels der Pensionsansprüche aus seiner vierzigjährigen Dienstzeit als Verwaltungsbeamter beim Gesundheitsamt eine kleine Wohnung mit Meerblick leisten konnte. Und bei seiner heutigen Runde war ihm der reglose Frauenkörper in der schäumenden Brandung aufgefallen. Er habe dann sofort die Rettungskräfte und die Polizei informiert, weitere Personen in der Umgebung der Leiche habe er nach seiner Entdeckung nicht ausgemacht, gab er an, wobei er versicherte, dass er trotz seiner zweiundsiebzig Jahre noch immer keine Brille auf die Ferne benötigte.

Helena und Lui entließen Pedro Augusto und dessen Hund Figo sichtlich erleichtert. »Wir haben nicht viel«, stellte Lui fest, wandte sich ab und streckte sein Gesicht der Sonne entgegen. »Wird ein heißer Tag werden«, kündigte er an. Sie kam nicht umhin, erneut festzustellen, dass er sich heute noch eigenwilliger benahm als sonst.

4

Henrik

»Aufwachen!«

Sara! Himmelherrgott! War er noch mal eingeschlafen? Er musste dagegen ankämpfen, nicht wieder zurück in diesen süßen, seltenen und daher so ersehnten Schlaf zu fallen, obwohl Sara an der Zudecke rüttelte. »Ja, ich komme«, nuschelte er, und dann entsann er sich wieder, was Helena ihm vorhin zwischen Tür und Angel aufgetragen hatte. Kannst du Sara in den Kindergarten bringen?!

Kann ich das?

Sein psychisches Problem, das er nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus bis zu einem gewissen Zeitpunkt hatte ignorieren können, schien nun mit jedem Tag gewaltiger zu werden. Es wuchs. In seinem Kopf. Dort hatte es sich eingenistet und war nicht bereit, den Schädel wieder zu verlassen. Aus dem Problem war eine Krankheit geworden. Agoraphobie. Oder was in der Art. Jedenfalls war ihm vollumfänglich bewusst, dass er darunter litt, und dennoch redete er sich nach wie vor ein, dass dem nicht so war. Er fühlte sich durchaus in der Lage, seine vier Wände zu verlassen. Das bewies er doch jeden Tag aufs Neue. Wenn er sich nur genug zusammennahm, gelang es ihm, die Furcht in seinem Kopf zu bezwingen.

Belüg dich nur weiterhin selbst!

Nach seiner Entlassung aus der Klinik hatte man ihm angeraten, umgehend einen Psychologen zu konsultieren, um zu lernen, sich im Bedarfsfall mit dem auftretenden Trauma auseinanderzusetzen. Noch am Krankenbett hatte eine Therapeutin erste Gespräche mit ihm geführt und dabei quasi vorausgesagt, dass er, auch aufgrund seiner Vorgeschichte, genau in dieses Dilemma hineinsteuern würde. Doch er war der Aufforderung, sich auch danach eine psychologische Beratung zu suchen, nie gefolgt. Vermutlich, weil er die Therapie, die er nach dem Unfalltod seiner Frau auf dienstliche Anweisung hin auf sich nehmen musste, als wenig hilfreich empfunden hatte. Es war ihm damals nicht möglich gewesen, sich darauf einzulassen, also ging er wie selbstverständlich davon aus, dass es diesmal nicht anders sein würde. Und dass er es allein hinkriegen würde. Dumme Ausrede!

»Henrik, wir müssen los!«, ermahnte ihn Sara und zog dabei erneut an der Bettdecke. Er blinzelte den trüben Schleier aus seinen Augen. Sie war schon fertig angezogen. Selbst ihr dunkles Haar sah manierlich gekämmt aus. Sofort schämte er sich, von einer Sechsjährigen vorgehalten zu bekommen, nicht bereit zu sein. Dass er sich überwinden musste aufzustehen, lag nicht an dem von der Wundheilung übrig gebliebenen körperlichen Schmerz. Und doch fühlte er ihn in jeder Faser. Der Rücken rebellierte, die Beinmuskulatur verkrampfte. Wenn Sie sich nicht behandeln lassen, müssen Sie mit problematischen Folgeerkrankungen rechnen. Die Worte der Krankenhauspsychologin hallten erneut durch seinen Kopf. »Gib mir fünf Minuten«, sagte er zu Sara, biss die Zähne zusammen und schleppte sich ins Bad.

5

Helena

Helena gab die Leiche zum Abtransport in die Pathologie frei. Die Kriminaltechniker dehnten mit ihrer Suche nach Spuren den Radius um den Fundort aus, hatten aber noch nichts Auffälliges zu melden. Man würde Lui und sie umgehend informieren, falls noch etwas auftauchte, versicherte man ihnen. Was so viel hieß wie, sie brauchten hier nicht unnötig im Weg herumstehen. Also teilten sie sich auf. Helena und zwei Kollegen der Polícia Municipal würden sich die Hotels direkt am Meer vornehmen, während Lui und weitere drei Uniformierte die Beherbergungsbetriebe abklapperten, die nördlich der Avenida Valbom lagen, welche den alten Ortskern von Ost nach West zerteilte. Die Beamten der Guarda waren indessen dazu abgestellt, die Anwohner und Gewerbetreibenden in der unmittelbaren Strandumgebung zu befragen. Cascais war zu dieser Jahreszeit voll mit Touristen. Es war nahezu unmöglich, dass niemand etwas gesehen hatte, auch wenn sich der Unglücksfall spätnachts ereignet hatte.

Helena folgte der Küstenlinie, wich dabei immer mal wieder heranrollenden Wellen aus und stieg schließlich die Treppen hinauf zum Hotel Albatroz. Unter den weißen Sonnenschirmen auf der Hotelterrasse hatten sich trotz der noch frühen Stunde bereits auffällig viele Gäste zum Frühstück niedergelassen. Kurzzeitig erlosch das Klappern von Geschirr und die Gespräche der Urlauber verstummten. Sie bemerkte die Blicke, die ihr auf ihrem Weg zur Rezeption folgten.

Die schmalgesichtige Frau am Empfang wirkte schon aufgeregt, noch bevor Helena ihr den Dienstausweis zeigte. Sie ging davon aus, dass die junge Hotelangestellte bereits wusste, was auf sie zukam. Mittlerweile dürfte sich der Vorfall in Cascais herumgesprochen haben, und was ein Ferienort am wenigsten brauchen konnte, war eine Leiche am Strand. Und in der Folge eine Horde von Polizisten, die ausschwärmten und unangenehme Fragen stellten. Was, wie sich jeder denken konnte, dennoch nicht ausblieb, weshalb Helena gleich zur Sache kam. »Vermissen Sie einen Gast, weiblich, um die vierzig Jahre, schlank, etwa eins siebzig groß. Langes, hellbraunes Haar?«

Die Rezeptionistin sah kurz über ihre Schulter, hin zur Bürotür, die hinterm Empfangstresen in die Holzwand eingelassen war, doch von dort war keine Hilfe zu erwarten. »Ich denke nicht. Jedenfalls ist von den Gästen bisher niemand abgängig. Aber wir sind ausgebucht, ich kann also nicht mit Gewissheit sagen …«

Vorhin hatte Helena sich gescheut, ein Foto von der Toten zu machen, das sie zur Identifizierung hätte herzeigen können. Vor allem, da der Anblick einer Leiche die Leute in der Regel so sehr verschreckte, dass sie ohnehin keine brauchbaren Antworten lieferten. Trotzdem bereute sie jetzt, es nicht getan zu haben. »Bitte drucken Sie mir ihr Gästeverzeichnis aus!«, verlangte Helena.

»Aber …«

»Ja, Sie dürfen das, ohne zuvor bei ihrem Vorgesetzten um Erlaubnis zu fragen. Seien Sie versichert, wir behandeln das vertraulich.«

Die Hotelangestellte, die vermutlich noch in der Ausbildung war, nickte und begann dann nervös auf der Computertastatur herumzutippen. Helena hegte wenig Hoffnung, dass es in allen Hotels so reibungslos ablaufen würde. Der Drucker neben dem Bildschirm warf ein einzelnes Blatt aus, das ihr sogleich über die Empfangstheke gereicht wurde. Im selben Moment vibrierte ihr Handy in der Innentasche ihres Blousons. Die Nachricht kam von Lui und umfasste nur ein Wort: Sucesso!

6

Sie benötigte nicht einmal zwei Minuten bis zu dem exquisiten Boutique Hotel Pequeno Paraíso, das inmitten eines üppigen Gartens zentral in der historischen Innenstadt von Cascais lag. Helena war schon oft daran vorbeigegangen und dabei nicht umhingekommen, das prachtvoll restaurierte Gebäude zu bewundern. Das einstige Herrenhaus verfügte über zwei Stockwerke. Sämtliche Fenster waren mit verschnörkelten Elementen verziert. Über und durch die steinernen Balkonbalustraden rankten sich Glyzinien, Kletterrosen und Jasmin, mit einer Fülle an roten, rosafarbenen und weißen Blüten. Die Morgensonne ließ die nachtblauen, glasierten Dachziegel erstrahlen. Für Helena war es das schönste Hotel im Ort, und hin und wieder bedauerte sie, dass sie niemals dort nächtigen würde. Natürlich war sie auf der Website des Etablissements gewesen, um sich die geschmackvolle Ausstattung der Zimmer anzusehen, ebenso wie die Bilder, die Details des mannigfaltigen Gartens zeigten. Doch all dieser Komfort schlug sich selbstverständlich auf die Preise der feudalen Unterkunft nieder. Preise, die sie niemals bereit wäre zu zahlen. Die Vorstellung, dort unterzukommen, einfach so zum Vergnügen, war ohnehin abwegig. Sofern sie Lust und Laune auf Sonne und Meer verspürte, konnte sie ihre Eltern besuchen.

Lui wartete an der von der Avenida Valbom abzweigenden Zufahrt, die mit einem schweren, schmiedeeisernen Tor gesichert war. Das Pequeno Paraíso war das erste Hotel, bei dem er nachgefragt hatte. Ein derart rascher Ermittlungserfolg stieg ihm für gewöhnlich sogleich zu Kopf, und sie erwartete eine bissige Bemerkung. Doch heute schien ihn irgendetwas davon abzuhalten, sein sonst so überhebliches Gehabe abzuziehen. Er streckte ihr lediglich einen deutschen Reisepass entgegen. »Lag noch an der Rezeption«, kommentierte er.

Helena klappte das Dokument auf und betrachtete das biometrische Bild darin.

»Das ist sie doch?«, hakte Lui ein, und sie stimmte ihm zu. Nadine Weimer, geboren 1984. Was das Alter des Opfers anging, war sie ziemlich gut mit ihrer Schätzung. »Seit wann wohnt sie in dem Hotel?«

»Vor drei Tagen angekommen.«

»Allein?«

»Zumindest, was die Zimmerbelegung angeht. Allerdings scheint sie mit Bekannten hier zu sein, wie der Hotelmanager meint.«

Helena steckte den Reisepass der Toten ein. »Ich will mit ihm sprechen. Und natürlich mit der Reisebegleitung.«

»Natürlich willst du das«, kommentierte Lui und klang beinahe schon wieder gehässig. Helena sah ihn stirnrunzelnd an und ging dann an ihm vorbei in den Hotelgarten. Es war das erste Mal, dass sie die Anlage betrat, und sie kam nicht umhin, das üppige und dennoch ausgewogene Pflanzenarrangement zu bewundern. Sie schüttele den Kopf … Eigentlich war sie doch sonst nicht der Typ, der für ein derart romantisches Ambiente empfänglich war.

Der Mann, der sie am Eingang abfing, trug ein marineblaues Sakko, sandfarbene Hosen und statt einer Krawatte ein farblich abgestimmtes Seidentuch um den Hals. In der Manier eines Türstehers, baute er sich vor ihnen auf, allerdings überragte ihn Lui locker um zwei Köpfe. Und auch sonst fehlte es ihm an eindrucksvoller Körperlichkeit. Er war von schmächtiger Gestalt und hatte ein Mäusegesicht unter seinem akkurat gescheitelten, aschbraunen Haar. Trotz der klobigen Hornbrille auf seiner langen, spitz zulaufenden Nase entging Helena nicht der vor Selbstbewusstsein strotzende Blick aus den schmutzbraunen Augen, der jegliche Unscheinbarkeit hinsichtlich seiner Statur aufwog.

»Meine Kollegin Inspetora Gomes«, stellte Lui sie vor.

»Henrique Rebocho, ich bin der Inhaber. In Rücksichtnahme auf die Gäste werden wir die Unterhaltung hier draußen führen«, sagte er und zeigte auf einen Tisch mit Gartenstühlen, die unter einem Palisanderbaum arrangiert waren, dessen violett leuchtende Blütezeit sich jedoch schon dem Ende zuneigte. Helena widerstand vorerst einer Bemerkung hinsichtlich des Befehlstons, nickte knapp, und dem Hotelier folgend begaben sie sich in den Schatten des Baumes. Die Gartenmöbel waren mit einer leichten Feuchte überzogen, verursacht vom verborgenen Bewässerungssystem des Gartens. Rebocho ignorierte diesen Umstand und setzte sich unerschrocken auf den nassen Stuhl. Offenbar um zu demonstrieren, dass er sie um keinen Preis der Welt im Haus haben wollte. Lui wischte mit dem Ärmel seines Sakkos über die Sitzfläche, ließ sich ebenfalls nieder und verschränkte seine langen Beine. Helena blieb stehen. »Es führt kein Weg daran vorbei. Wir werden uns mit Ihren Gästen unterhalten, Senhor Rebocho. Außerdem müssen wir uns im Zimmer von Nadine Weimer umsehen«, erklärte sie.

Rebocho sah auf die Uhr. »Spätestens in zwei Stunden sind alle mit dem Frühstück fertig und die meisten Urlauber aus dem Haus, um ihre Tagesausflüge zu machen. Ich bitte Sie, sich bis dahin zu gedulden!«, verlangte der Hotelier. Trotz seiner schmalen Brust verfügte er über eine kraftvolle, tiefe Stimme.

Sie legte ihre Hände auf die Stuhllehne vor ihr. »Nur unter der Bedingung, dass Sie mir die Bekannten der Toten herausschicken, die Sie gegenüber meinem Kollegen erwähnten. Ansonsten gibt es keine Kompromisse.«

»Inspetora, ich bitte Sie!«

»Die Spurensicherung steht bereit, wir können sofort anfangen, das Hotelzimmer der Toten zu durchsuchen und auch alles andere auf den Kopf zu stellen, wenn wir es für ermittlungsrelevant halten«, machte Helena deutlich.

Henrique Rebocho erhob sich, um zu unterbinden, dass sie weiter auf ihn hinabblickte. Auch wenn er äußerlich die Fassung wahrte, erkannte sie, wie es innerlich in ihm zu brodeln begann. »Zwingen Sie mich nicht dazu, meinen Kontakt im Wirtschaftsministerium anzurufen!«

Mit so einer Drohung kam er ihr gerade recht. Helena hielt seinem Blick ohne Probleme stand. Wenn sie etwas wirklich gut konnte, dann war es, in solch angespannten Situationen äußerlich keine Gefühlsregung zuzulassen. Auch wenn es in ihr mindestens ebenso sehr zu kochen begann wie in ihrem Gegenüber. »Lui, ruf die Kollegen der Forensik an und sag ihnen, wo wir sie brauchen!«, sagte sie, ohne Rebocho aus den Augen zu lassen. Lui stieß einen Seufzer aus, faltete seine Beine auseinander und erhob sich. Sie war froh, dass er mitspielte. Er kam fünf Schritte weit, dann lenkte der Hotelier ein. »Halt, warten Sie, ich hole Ihnen das Ehepaar aus Deutschland.«

7

Das Pequeno Paraíso verfügte lediglich über neun Zimmer, was ihm einen familiären Charakter verlieh. Es war eine wahre Wohlfühloase, was Ausstattung, Lage, Verpflegung und natürlich auch den Service betraf. Dem Gast sollte alles abgenommen werden, damit er in völliger Unbeschwertheit seinen Urlaub verbringen konnte. Dies schloss selbstredend ein, dass jegliche Form der Störung von ihm ferngehalten wurde. Eine Philosophie, die am heutigen Tag aus den Fugen geriet, sehr zum Unwillen von Henrique Rebocho. Selbst von ihrem Platz unter dem Palisanderbaum konnte sie hören, wie er beim Betreten des Foyers sein Personal anblaffte.

Man ließ sie warten. Nach nahezu zehn Minuten konnte Helena ihre Ungeduld kaum mehr in Zaum halten, während sich Lui, ausgestreckt auf dem Stuhl und mit verschränkten Armen, scheinbar unberührt hinter seiner Sonnenbrille versteckte. Nur das stete Zucken seines rechten Beines verriet, dass er nicht eingeschlafen war. Eigentlich eine Marotte, die Helena nur von ihm kannte, wenn er überreizt war. Wobei sich dieses nervöse Muskelspiel selten während einer Ermittlung beobachten ließ, sondern eher, wenn sie zum Comandante zitiert wurden und darauf warteten, vorgelassen zu werden. Immer dann also, wenn es aus Luis Sicht um etwas für ihn wirklich Wichtiges ging, das seiner Karriere förderlich war.

Das Paar, das schließlich aus dem Hotel trat und sich mit deutlicher Zurückhaltung in ihre Richtung bewegte, versprengte Helenas Gedanken hinsichtlich Luis Benehmen und seiner verschrobenen Ansichten. Die beiden waren deutlich älter als die Ertrunkene, könnten nach ihrer ersten Einschätzung gar ihre Eltern sein. Obwohl sich beide äußerlich sportlich jung präsentierten, ging Helena davon aus, dass sie über sechzig Jahre alt waren. Offenbar gehörten sie in die Kategorie der unerschrockenen Sonnenanbeter, denen der Gedanke an Hautkrebs keine Angst bereitete, denn beide trugen eine kräftige Bräune zur Schau. Die Frau steckte in einem knallgelben Top mit Spaghettiträgern. Ihr kastanienbraun gefärbtes Haar reichte ihr bis kurz unter die Ohren. Ebenso wie ihr knappes Oberteil, war auch der Rock ihrem Alter nicht mehr unbedingt angemessen. Sie war auffällig schlank. Vielleicht steckte sie im Fitnesswahn oder war gefangen in einem Strudel von Dauerdiäten. Außerdem kam die Frau ihr für einen Strandtag übertrieben geschminkt vor. Es sah beinahe aus, als wollte sie sich hinter all dem Make-up verbergen.

Ihr Gatte, der groß und kraftstrotzend neben ihr hermarschierte, trat diesem Sommertag in zartrosafarbenen Bermudashorts entgegen. Das leinenfarbene Hemd, das sich über seinen nicht unerheblichen Bauch spannte, war für Helenas Geschmack zwei Knöpfe zu weit offen. Sein lichtblondes Haar hatte er akkurat nach links gescheitelt. Trotz allem Urlaubsflair, der sie umgab, verriet ihr Mienenspiel Betroffenheit. Rebocho hatte sie demnach darüber informiert, was vorgefallen war.

»Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeit«, sagte Helena, nachdem sie Lui und sich vorgestellt hatte. »Wir werden es kurz machen. Darf ich Sie nach Ihren Namen fragen!«

»Eichberger«, sagte der Mann, »Axel Eichberger. Das ist meine Frau Mona.«

Mona nickte. Auch sie versteckte sich hinter einer Sonnenbrille. »Ist es wahr, was man uns erzählt hat? Ist Nadine …?«

»Wollen Sie sich setzen?«, fragte Lui entgegen seiner Gepflogenheit, Zeugen gegenüber keinerlei Empathie zu zeigen. Beide schüttelten den Kopf. Trotz der Hiobsbotschaft hatten sie nicht vor, sich länger als nötig von der Polizei aufhalten zu lassen, wie es schien.

»Wie standen Sie zu Frau Weimer?«, wollte Helena wissen und beantwortete damit indirekt die Frage von Mona Eichberger. Diese tauschte einen Blick mit ihrem Mann.

»Wir waren befreundet.«

»Nadine hat uns bei ein paar Dingen geholfen, geschäftlich«, führte Axel Eichberger näher aus.

»Was jetzt? War sie eine private oder geschäftliche Bekanntschaft?«, hakte Helena ein.

»Beides!«, sagte Mona. Axel Eichberger legte die Hand auf den Oberarm seiner Gattin. »Ich importiere Möbel. Unter anderem aus Portugal. Und Nadine spricht, ich meine sprach Portugiesisch. Sie hat mich bei Verhandlungen mit hiesigen Herstellern unterstützt, deshalb haben wir sie zu diesem Urlaub eingeladen. Also, wir tragen die Kosten …«

»Und Sie sind gemeinsam angereist?«

Mona suchte den Blick ihres Mannes und überließ es ihm zu antworten. »Nadine und meine Frau kamen im gleichen Flieger. Ich bin schon ein paar Tage länger hier.«

»Wegen Ihrer Geschäfte?«, wollte Helena wissen, was Eichberger bestätigte.

»War Nadine in einer Beziehung? Wissen Sie, wen wir in Deutschland verständigen können?«

»Also, sie war nicht verheiratet, wenn Sie das meinen«, sagte Mona. »Und ihre Eltern? Weißt du da was?«, fragte sie ihren Mann.

»Nicht aus dem Gedächtnis. Sie ist irgendwo in Niedersachsen aufgewachsen, lebte aber schon seit einigen Jahren in München.«

»Sie können mir also niemanden nennen, kennen keine Angehörigen?«

Mona und Axel Eichberger schüttelten synchron die Köpfe. Sie waren nervös, das war ihnen anzusehen. Was Helena allerdings vermisste, war echte Trauer. Es könnte sein, dass den beiden doch noch nicht so recht bewusst war, was sich in der vergangenen Nacht mit ihrer Bekannten ereignet hatte. Verdrängung als Reaktion auf das Überbringen einer Todesnachricht war Helena nicht fremd. Oder aber, die Verstorbene hatte dem Ehepaar nicht sonderlich nahegestanden. »Wann haben Sie Frau Weimer zuletzt gesehen?«

»Gestern Abend, wir haben zusammen gegessen, bei einem Italiener ein Stück die Straße hoch.« Eichberger zeigte Richtung Hafen. »Sie wollte danach noch nicht zurück ins Hotel. Also haben wir uns getrennt.«

»Wie spät war es da?«

Mona zuckte mir den Schultern. »Zehn, vielleicht viertel nach«, sagte ihr Mann.

»Hatte sie Ihnen gesagt, wo sie noch hinwollte?«

»Nicht direkt. Ich nehme an, rüber zum Largo Camões, dort wo die ganzen Bars sind. Kann sein, dass Sie noch mit jemandem verabredet war.«

»Wie sicher wissen Sie das?«

Eichberger verzog den Mund. »Nadine hat es nicht direkt gesagt, aber ich glaube, dass sie tags zuvor jemanden kennengelernt hat. Jedenfalls machte sie gestern beim Frühstück so eine Andeutung.«

»Was genau hat sie gesagt?«, fragte Lui, der sich bislang zurückgehalten hatte. Offensichtlich litt er tatsächlich an den Folgen eines feuchtfröhlichen Abends, so wenig, wie er bei der Sache war. Das deutsche Ehepaar tauschte einen erneuten Blick. »Ich bin mir nicht sicher, aber ich meine, sie sprach von einem Engländer«, verriet Mona Eichberger, was ihr Gatte mit einem knappen Nicken kommentierte. 

»Ein Engländer also«, wiederholte Helena und sah zu Lui, der diese Antwort mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken kommentierte. Cascais war ein beliebtes Urlaubsziel der Briten.

»Nach dem Abendessen – sind Sie da direkt zurück ins Hotel?«, fragte Helena.

»Das sagte ich bereits«, erinnerte sie Axel Eichberger. »Und nein, wir haben Nadine nicht mehr gesehen, auch später nicht.«

»Hatte Nadine eine Handtasche bei sich, als Sie zum Essen gingen?«

»Selbstverständlich«, sagte Mona. Helena bat um eine genauere Beschreibung, was der Frau nicht schwerfiel. Helena sagte die Marke nichts, und es war ihr fast peinlich, dass sie nachfragen musste, ob die Tasche groß genug war, um darin auch ein Badetuch zu verstauen. »Definitiv nicht«, führte Mona auf. »Sie war im Übrigen ein Geschenk von uns«, führte sie schnell noch an, was sich anhörte, als hätten sie die Handtasche gerne zurück, falls sie je wieder auftauchen sollte.

»Lag Nadines Zimmer neben dem Ihren?«

»Schräg über den Gang«, erklärte Mona.

»Auch nichts gehört«, ergänzte ihr Mann. »Wir hatten keine Ahnung, haben Nadine nicht vermisst, wenn Sie das noch wissen möchten. Erst, als wir vorhin beim Frühstück aufgeschnappt haben, dass … Also nicht, dass wir dann sofort an Nadine gedacht hätten. Sie hat ja immer etwas länger geschlafen. Nur, nachdem der Hotelmanager an unseren Tisch kam … schlimm ist das, wirklich …«

8

»Was hältst du von den beiden?«, fragte sie Lui, nachdem sie die Personalien aufgenommen und das Ehepaar Eichberger entlassen hatten. Entlassen mit der Auflage, weiterhin zur Verfügung zu stehen. In fünf Tagen wollten sie abreisen, wie sie betonten. Ansonsten hatten sie keine Ausflüge geplant, abgesehen davon, nach Lissabon hineinzufahren. Zum Shoppen, wie Mona Eichberger zu verstehen gegeben hatte, in einem leicht trotzigen Tonfall, der vermitteln sollte, dass sie sich dieses Vergnügen nicht nehmen lassen würde. Auch nicht von den Ermittlungsbehörden.

»Typische Deutsche«, sagte Lui und grinste schmal. Er wusste von Helenas Beziehung zu Henrik und ließ keine Gelegenheit aus, dagegen zu sticheln.

»Mehr hast du nicht zu sagen?«, fauchte sie.

»Leute, die nichts wissen, nichts gehört und gesehen haben, sind mir immer verdächtig«, gab er zurück und hörte sich dabei wieder leidend an. Ihr lag auf den Lippen zu fragen, was er gestern nach Dienstschluss getrieben hatte, doch sie ahnte, dass sie darauf keine Antwort erhalten würde. Üblicherweise war Lui darum bestrebt, ihren Vorgesetzten ein Ergebnis zu präsentieren, bevor sie dies tat. Er sah in Helena immerzu eine Konkurrentin, die er übertrumpfen wollte. Ein echtes Zusammen gab es nie. Ein Problem, von dem die Dezernatsleitung aber nichts hören wollte. Hätte Helena um einen anderen Kollegen gebeten, wäre dies ausschließlich ihr als Schwäche ausgelegt worden. Man hätte sie als diejenige hingestellt, die nicht teamfähig war. Im Gegensatz zu ihr, wurden Lui Fehler verziehen. Sie hatte schnell erkannt, dass sie lernen musste, mit dieser Ungerechtigkeit klarzukommen, bevor die Situation sie zu brechen drohte. Was ihr irgendwie gelungen war. Dennoch zerrte dieses Missverhältnis fortwährend an ihren Nerven. Es war jetzt aber nicht die Zeit, sich über die Probleme zwischen Lui und ihr aufzuregen. Es wartete eine Menge Arbeit auf sie. Helena würde die letzten Tage der Toten rekonstruieren müssen. Ihre Routinen und Abläufe durchleuchten, wobei diese sich vermutlich deutlich von ihrem Alltag in Deutschland unterschieden. Immerhin hatte Nadine Weimer hier Urlaub gemacht, da verhielt man sich nicht wie zu Hause. Und das würde die Ermittlungen nicht unbedingt einfacher machen. »Sehen wir uns Nadines Zimmer an und reden danach mit den Hotelangestellten«, entschied sie und machte sich auf den Weg zur Rezeption, ohne darauf zu achten, ob Lui ihr folgte. Rebocho kam sofort angelaufen, als er sie durch die Glastür seines Büros hindurch ins Foyer kommen sah. Im Empfangsbereich zierte das klassisch blau-weiße Fliesendekor die Wände bis etwa auf Brusthöhe. Darüber hingen, am weiß getünchten Mauerwerk, Gemälde vergangener Epochen in schweren Holzrahmen. Ein ausladender Lüster schmückte die hohe Decke, die nach hinten mit einer Galerie abschloss, von der die Gänge zu den Gästezimmern abzweigten. Trotz des Prunks, war alles sehr geschmackvoll arrangiert, und sie hätte erneut Zeit damit verbringen können, sich in der Betrachtung der Details zu verlieren. Vermutlich waren es aber nicht nur die visuellen Reize, die sie verleiteten. Es hing auch ein besonderer Duft in der Luft der Lobby. Helena glaubte eine Mischung aus Eukalyptus, Lavendel und Minze zu riechen. Sie hatte von diesen verlockenden Aromen gehört, die man in Hotels einsetzte, um den Gästen auch auf diese Weise zu schmeicheln, wobei deren Wahrnehmung meist nur unterbewusst erfolgte. Was das Pequeno Paraíso anging, funktionierte dieser psychologische Kniff bei ihr. Weshalb sie sich erst recht vergegenwärtigen musste, dass sie sich nicht wegen der offensichtlichen Schönheit und des olfaktorischen Wohlgefühls in dieser Herberge aufhielt. Es war angebracht, sich auf die Ermittlung zu konzentrieren und alles andere ausblenden.

»Hatten wir nicht vereinbart, Sie halten sich bedeckt, bis alle Gäste ihr Frühstück eingenommen haben?«, redete Rebocho auf sie ein und versuchte seine schmale Statur so zu platzieren, dass er damit den Durchblick zum Frühstücksraum versperrte. Eine aussichtslose Bemühung.