Portugiesische Tränen - Luis Sellano - E-Book

Portugiesische Tränen E-Book

Luis Sellano

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Für den ehemaligen deutschen Ermittler Henrik Falkner sind die malerischen Gassen der Lissaboner Altstadt zur neuen Heimat geworden. Von seinem Onkel Martin hat er ein uriges Antiquariat geerbt – und zahlreiche Artefakte, die Teil von bislang ungeklärten Verbrechen sind. Eines Tages findet er im Laden eine kitschige Fahne, auf der ein seltener japanischer Fisch abgebildet ist, ein Koi. Henrik ahnt, dass er einem neuen Rätsel auf der Spur ist. Einem tödlichen Rätsel, denn die Spur führt zu skrupellosen Sammlern des wertvollen Fisches, die vor nichts zurückschrecken. Schon bald steht Henrik zusammen mit der Polizistin Helena vor der ersten Leiche. Es wird nicht die letzte sein …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 395

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Für den ehemaligen deutschen Ermittler Henrik Falkner sind die malerischen Gassen der Lissaboner Altstadt zur neuen Heimat geworden. Von seinem Onkel Martin hat er ein uriges Antiquariat geerbt – und zahlreiche Artefakte, die Teil von bislang ungeklärten Verbrechen sind. Eines Tages findet er im Laden eine kitschige Fahne, auf der ein seltener japanischer Fisch abgebildet ist, ein Koi. Henrik ahnt, dass er einem neuen Rätsel auf der Spur ist. Einem tödlichen Rätsel, denn die Spur führt zu skrupellosen Sammlern des wertvollen Fisches, die vor nichts zurückschrecken. Schon bald steht Henrik zusammen mit der schönen Polizistin Helena vor der ersten Leiche. Es wird nicht die letzte sein …

Der Autor

Luis Sellano ist das Pseudonym eines deutschen Autors. Auch wenn Stockfisch bislang nicht als seine Leibspeise gilt, liebt Luis Sellano Pastéis de Nata und den Vinho Verde umso mehr. Schon sein erster Besuch in Lissabon entfachte seine große Liebe für die Stadt am Tejo. Luis Sellano lebt mit seiner Familie in Süddeutschland. Regelmäßig zieht es ihn auf die geliebte Iberische Halbinsel, um Land und Leute zu genießen und sich kulinarisch verwöhnen zu lassen.

LUIS SELLANO

Portugiesische

Tränen

EIN LISSABON-KRIMI

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2017 by Oliver Kern Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel/punchdesign, unter Verwendung von © Altezza/dreamstime, Pakhnyushchy/shutterstock, Tetiana Chernykova/shutterstock Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering ISBN: 978-3-641-17853-6 V002
www.heyne.de

Für Rose und Walter

»Lissabon, alte Stadt, der weiße Schleier der Sehnsucht bedeckt dein Gesicht.«

Lisboa Antiga, Fado von 1937

1

JETZT

In der Rua da Regueira fraß eine Möwe eine Taube.

Vermutlich war die Taube bereits tot gewesen, bevor sie zur Mahlzeit wurde. Gegen eine Glasscheibe geflogen, einer Krankheit oder dem Alter erlegen und vom Dach gefallen. Die Möwe, ein Raubtier, das wegen der leer gefischten Meere in seinem natürlichen Lebensraum nicht mehr ausreichend Nahrung fand, verdingte sich nun als Aasfresser. Vertilgte ihresgleichen oder zumindest die nähere Verwandtschaft, indem sie ihren leuchtend gelben Schnabel in das zerrupfte Gefieder stieß und mit abgehackten Bewegungen blutiges Fleisch freilegte. Trotz seiner Anspannung lenkte Henrik Falkner diese bizarre Szene für einen Moment ab. Nur für ein, zwei Sekunden, in denen er nicht wegsehen konnte. Lang genug jedenfalls, um die Frau aus den Augen zu verlieren.

Wohin …?

Er sah sich um. Spürte die Panik heranrollen. Immerhin ging es um Leben und Tod, so wie er es Adriana noch vor Kurzem prophezeit hatte. Bei mir geht es immer ums Sterben, hatte er gesagt, ohne zu ahnen, dass sich diese Bemerkung nur allzu schnell als zutreffend erweisen sollte.

Verärgert über sich selbst und seine Nachlässigkeit, eilte er weiter. Das Alfama-Viertel war kein guter Ort für Unaufmerksamkeit, das wusste er schließlich am besten. Oft genug hatte er sich in den vergangenen Monaten durch den verschachtelten, am schwersten zu durchschauenden aller Lissabonner Stadtteile bewegt und sich in der Hälfte der Fälle auf die eine oder andere Art verlaufen – egal, ob er dabei nur einer Laune folgend durch die Gassen gestreift, zu einer Verabredung unterwegs, jemandem hinterhergeschlichen oder gar selbst auf der Flucht war. Das Labyrinth des alten Fischerviertels hatte seine Tücken und besaß zahllose versteckte Ecken. Das konnte ein Vorteil sein. Oder eben auch nicht.

Wie hatte er bloß so unachtsam sein können? Natürlich konnte er es auf den miesen Tag schieben, den er heute durchlebte. Genau genommen war es eine miese Woche gewesen, in der er bereits einige Blessuren davongetragen hatte. Äußerliche und solche, die tief in die Seele geschnitten hatten. Wieder mal. Zudem stand er unter Drogen. Irgendwas Wirkungsvolles, das die Nerven betäubte und alles, was ihm sonst noch wehtat. Leider beeinträchtigten die Medikamente auch den Denkapparat.

Wohin ist sie verschwunden?

Das war momentan die vorrangige Frage. Dicht gefolgt von der Überlegung, was sie hier überhaupt wollte. Sie war vom Hafen gekommen und in das verwinkelte Viertel eingetaucht. Dort, wo die Häuser sich so eng auf- und aneinanderpressten, dass nicht alle Gassen mit Autos befahren werden konnten. Im Alfama ging man ohnehin besser zu Fuß, wollte man schnell vorankommen. Oder jemanden abschütteln.

Davor hatte die Frau die Metro genommen und war am Terreiro do Paço ausgestiegen. Was es bis dorthin einfach für ihn gemacht hatte, sie zu verfolgen. Einfacher jedenfalls, als hätte sie ein Taxi herangewunken. Oder den Bus gewählt. So konnte er auf Abstand bleiben. Auch noch nachdem sie das Alfama verschluckt hatte. Nur war das letztlich zu viel gewesen.

Und jetzt?

Auf dem steilen Terrain, wo über Jahrhunderte auf engsten Raum gebaut worden war, übereinander, ineinander, zusammengepfercht, notgedrungen in die Höhe, jeden Zentimeter Raum nutzend, verlor er schnell die Übersicht. Warum ausgerechnet hierher?

Hatte sie ihn trotz seiner Vorsicht bemerkt und war deswegen gezielt ins Fischerviertel geflüchtet, in dem Versuch, ihn abzuschütteln? Das zumindest war ihr offensichtlich gelungen, gestand er sich widerwillig ein. Vielleicht steckte aber auch eine andere Absicht dahinter, dass sie sich in dieses verworrene Labyrinth begeben hatte, in dem allenfalls kleine Innenhöfe existierten … Unmöglich, dass es hier genug Platz gab …

Stopp! Er durfte nicht durcheinanderkommen. Zu viel Schreckliches war schon geschehen, um sich jetzt mit Spekulationen und Theorien verrückt zu machen. Oder sich von taubenfressenden Möwen ablenken zu lassen.

Wohin …?

Er befand sich ganz in der Nähe der Igreja de Santo Estêvão. Vor nicht einmal einer Minute hatte er die Glocken der in leuchtendem Weiß erstrahlenden Barockkirche läuten hören. Siebenmal. Folglich hockte die Möwe über ihrem Abendessen. Vögel, die Vögel fraßen. Wahrscheinlich nicht einmal so ungewöhnlich. Er gehörte ja selbst einer Spezies an, die ihresgleichen fraß – wenn auch in den seltensten Fällen im wörtlichen Sinne. Er zwang sich dazu, weiterzugehen und die Möwe zu vergessen. Bald kam die Dunkelheit. Und vorher musste er sie finden. Noch heute Nachmittag hatte er wenig Hoffnung gehabt, endlich Licht in diese Geschichte zu bringen. Doch dann diese unerwartete Begegnung. Er hielt an der Überzeugung fest, dass sie ihm sagen konnte, wie das alles hatte passieren können. Wie alles zusammenhing. Und, so hoffte er inständig, wie man es beenden konnte, bevor noch mehr Leute sterben mussten. Dieser Wahnsinn hatte bereits fünf, ja, möglicherweise sogar noch mehr Opfer gefordert. Was wusste er schon? Nicht einmal, ab wann er anfangen musste zu zählen. Objektiv betrachtet also noch viel zu wenig. Doch er war entschlossen, diese Sache zu stoppen. Um jeden Preis. Und dazu brauchte er die Frau.

Wohin also?

Henrik erreichte die Rua do Vigário. Keuchend. Der steile Anstieg brannte nicht nur in den Oberschenkeln, sondern auch in der Brust. Alles war steil hier und kostete Kraft. Und machte ihm seine konditionellen Defizite nur zu bewusst. Wie oft hatte er sich schon zu motivieren versucht, endlich etwas dagegen zu tun. Doch immer wieder schob er sein Sportprogramm vor sich her. Es half nicht, jetzt darüber zu lamentieren. Er wischte sich den Schweiß aus den Augen und sah sich um. Das Salz, das sein Körper ausschied, brannte wie Feuer in der Kopfwunde. Dort, unter dem Haaransatz verborgen, schien die einzige Stelle zu sein, die das Medikament nicht betäuben konnte. Nicht darüber nachdenken! Irgendwie hält mich das Brennen auch wach.

Unverhältnismäßig viele Menschen waren unterwegs. Oder es kam ihm gerade nur so vor. Jedenfalls vibrierte die Stadt in ihrem ewigen Rhythmus. So wie jeden Tag. Stillstand gab es nicht. Nur Wellen. Ein An- und Abschwellen der Massen. Jetzt um diese Zeit waren es viele. Touristen und Einheimische füllten die Häuserschlucht, die sich wie das Bett eines Gebirgsbaches talwärts wandte. Zu viele Leute, zu unübersichtlich. Einige musterten ihn. Er bewegte sich zu schnell, zu angespannt gegen den Strom. Passte nicht ins Bild, nicht auf die Motive, die von den Urlaubern unter künstlerischen Aspekten oder einfach nur aus Sentimentalität festgehalten wurden. Wer diese Stadt besuchte, wollte ihre Eindrücke, ihre Schönheit einfangen. Die Besonderheit der Architektur, das geschichtsträchtige Ambiente, die Einzigartigkeit mit nach Hause nehmen. Das Flair Lissabons, so lange es ging, mit sich herumtragen. Nicht nur im Herzen, wo es hingehörte, sondern auch digital. Es war wie ein Zwang – und würde doch nie gelingen. Das wusste Henrik. Genauso wie er wusste, dass über der Stadt am Tejo nicht nur die Sonne schien. Es gab Schatten, Finsternis unter dunklen Wolken, schwarze Löcher ohne Trost. Er hatte sie kennengelernt. War in ein paar davon hineingeraten und hatte ihnen wieder entfliehen können. Aber es lag auf der Hand, dass noch mehr dieser Löcher existierten, in denen die Gravitation von einer anderen Qualität war. Gnadenlos, tödlich. Auch deshalb war er hier. Weil er wieder eine Tür geöffnet hatte, hindurchgegangen und hinabgestiegen war in die nasskalte, herzlose Finsternis. In das Reich hinter den sonnenbeschienenen Fassaden. Sieben Tage war das nun her. Seitdem zerrte die Dunkelheit an ihm, die Dunkelheit hinter dieser Pforte. Und deshalb suchte er nicht nur nach der Frau, sondern auch den Weg zurück ans Licht. Doch dazu musste er möglicherweise erst noch tiefer in die Abgründe hinabsteigen, die sich ihm in der letzten Woche eröffnet hatten.

Unter den Menschen, die hinauf Richtung São Vicente de Fora und dem Panteão Nacional stiegen oder runter zum Hafen schlenderten, konnte er sie nirgendwo entdecken. Vermutlich war er zu weit gelaufen. Hatte die entscheidende Abzweigung verpasst. Frustriert eilte er die Kopfsteinpflastergasse wieder hinab. Er kam an dem Torbogen vorbei, durch den man in die Beco das Cruzes, die Gasse der Kreuze, gelangte. Und plötzlich wusste er, wohin sie unterwegs war. Die Erkenntnis platzte auf wie eine reife Frucht. Wenn er ehrlich war, hatte er es von Anfang an geahnt. Es war, als hätten die kürzlich erfolgten Ereignisse blinde Flecke auf seiner Netzhaut hinterlassen. Eine emotionale Blindheit, nicht nur hervorgerufen durch seinen desolaten Zustand, sondern auch durch die greifbare Aussicht, eine Erklärung für Martins vorzeitiges Ableben zu finden. Und damit eine Antwort auf eine der großen Ungereimtheiten, die ihn seit seiner Ankunft in Portugal quälten. Ein entscheidender Schritt hin zur Wahrheit und, das konnte man ohne Übertreibung sagen, zu seinem Seelenheil.

Auf der sehr engen, in Teilen aus Steinstufen bestehenden Beco Cruzes, in der sich die Häuser fast zu berühren schienen, waren weniger Leute unterwegs. Der Strom wurde rasch zu einem dünnen Plätschern, und bald war niemand mehr um ihn herum. Er hatte die Unterhaltungen, das Murmeln und Kichern, das Klicken der Auslöser und alle anderen von den Touristen verursachten Geräusche hinter sich gelassen. Er war allein mit dem Echo klackender Absätze. Sie war wieder vor ihm, vermutlich schon hinter der nächsten Biegung. Flink und geschickt bewegte sie sich in ihren hochhackigen Schuhen über das unregelmäßige Kopfsteinpflaster. Aber nicht lautlos.

Er folgte der Gasse und dem Stakkato der High Heels. Unmittelbar nach einem weiteren Torbogen erreichte er den Treppenabsatz, von dem aus er den kleinen Platz überblicken konnte. Die Laterne, die über den Vorplatz des Lavadouro gespannt war, brannte nicht. Doch noch reichte das Dämmerlicht der sich herabsenkenden Nacht aus, um sich zu orientieren. Die Tür zu einem der letzten öffentlichen Waschhäuser im Alfama schlug eben ins Schloss. Glaubte man der Tafel, die neben dem Eingang angebracht war, war es um diese Zeit längst abgeschlossen. Doch schon ein zweites Mal innerhalb von fünf Tagen war dem nicht so. Er sah hinauf zu dem Fenster, an dem er erst kürzlich gestanden hatte, auch wenn eine gefühlte Ewigkeit dazwischenlag. Sein Magen schnürte sich zusammen. Der gleiche Ort. Von den Absperrbändern waren noch einzelne Fetzen übrig, und sie flatterten heftig im Wind, der vom Fluss her die schmale Häuserschlucht heraufwehte. Die Böen strichen über ihn hinweg und verursachten ihm, schweißnass wie er war, eine Gänsehaut. Wenigstens löste das Frösteln seine Starre. Es war nicht zu spät, sagte er sich. Nicht diesmal. So schnell er konnte, hetzte er die Treppe hinab, nahm je drei Stufen auf einmal, ungeachtet des Risikos, sich den Knöchel zu verstauchen. Dann stand er vor dem Waschhaus. Hielt inne. Versuchte die Gedanken zu sortieren, die sein heftig pochendes Herz durch seinen vernebelten Schädel pumpte.

Warum hier?

Das konnte nur eins bedeuten. Streng genommen war es verrückt, was er tat. Leichtsinnig, sogar grob fahrlässig. Niemand wusste, wo er war. Doch noch während er mit sich haderte, legte sich seine Hand auf die Klinke. Er riss die Tür auf und betrat den gekachelten Raum. Es roch intensiv nach Feuchtigkeit und Kernseife. In dem wenigen Licht, das die vergitterten Fenster hereinließen, erkannte er die Frau, der er quer durch die Stadt gefolgt war und die nun an einem der steinernen Waschbecken lehnte. Allerdings nicht etwa, um sich am Wasser zu erfrischen, das aus den alten, angelaufenen Hähnen tropfte. Es gab keine Lampen, denn elektrische Kabel hatten in dem stets feuchten Raum nichts verloren. Doch auch ohne Beleuchtung begriff er. Sie war nicht allein. Natürlich nicht. Er hätte es wissen müssen. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Der Knall verscheuchte schlagartig die Benommenheit, und sie wich einer erschreckenden Klarheit.

Menschen fressen Menschen!

Nicht nur einmal hatte er mit Sorge darüber nachgedacht, ob dieser Irrsinn, den er in den vergangenen Tagen durchlebt hatte, weitere Opfer fordern würde. Noch mehr Tote. Seine dunkle Ahnung hatte er tief in seinem Inneren vor sich selbst verborgen, doch in diesem Moment wurde sie zu eisiger Gewissheit. Er hatte richtiggelegen mit dieser Befürchtung. Mindestens noch ein Leben würde geopfert werden. Nur hatte er bis zu diesem Moment nicht sehen wollen, dass es sich dabei um sein eigenes handelte.

2

EINE WOCHE ZUVOR

»Die Kiste«, gurrte Renato wie ein balzender Täuberich und deutete zum wiederholten Male auf das Regal hinter dem Schreibtisch, das wie alles in diesem Raum mit Büchern, antiquarischen Katalogen, antikem oder vermeintlich antikem Kram und vergilbten Aktenordnern gefüllt war.

Skeptisch betrachtete Henrik die Holzkiste, die zwischen den abgewetzten Dielen des Fußbodens und der Unterseite der Stellage verkeilt war. Es sah danach aus, als übernähme der Kasten eine stützende Funktion, und er hatte keinesfalls vor, noch mehr Chaos in der Kammer des Schreckens zu verursachen. »Wenn ich die rausziehe, begräbt mich das Regal unter sich.«

»Stell dich nicht so an, du stemmst dich dagegen, und ich ersetze sie schnell mit einem Stapel Bücher.«

»Und ich soll deinem Gespür für Statik blind vertrauen?«

»Zum Teufel, ihr alemães braucht wirklich für alles eine amtliche Genehmigung!«

Renato wollte unbedingt an diese schmucklose Kiste, die beim Verschieben und Umschichten einiger Kartons zum Vorschein gekommen war. Nur warum? Dafür, dass ihm sein betagter Mieter half, endlich Ordnung in das ehemalige Büro seines Onkels zu bringen, war er selbstverständlich dankbar. Aber seit sie vor einer Viertelstunde auf diesen mysteriösen Holzkasten gestoßen waren, schien der Alte an nichts anderes mehr denken zu können. Er benahm sich wie ein kleines Kind, das immer wieder um die Süßigkeitenauslage im Supermarkt herumstrich und sich quengelnd bei seiner Mutter beschwerte, dass von den zuckrigen Verführern noch nichts im Einkaufswagen gelandet war.

»Du weißt, was drin ist?«, fragte Henrik erneut.

»Nur so ein Verdacht.«

»Siehst du, und rein auf Verdacht riskiere ich nicht mein Leben.« Was so nicht ganz stimmte. Sein Bauchgefühl hatte ihn schon häufig in höchst brenzlige Situationen gebracht. Nicht nur früher, als er noch Polizist gewesen, sondern auch seit er in Lissabon Händler für antiquarische Bücher und verstaubten Ramsch geworden war. In der Regel ging es dabei natürlich um ganz andere Dinge als um eine banale Kiste, die Onkel Martin offenbar dazu auserwählt hatte, das Regal darüber vor dem Umkippen zu bewahren.

Es bedurfte einiger Monate und nicht zuletzt großer Überwindung, bis er endlich genug Motivation zusammengekratzt hatte, das Büro, das gleichzeitig auch Abstellkammer war, zu entrümpeln. Sorgsam zu entrümpeln, wohlgemerkt, denn nicht immer war auf den ersten Blick ersichtlich, ob vermeintlicher Unrat nicht doch irgendwie relevant war. Auch deshalb war er dankbar für Renatos Hilfe. Der Alte hatte seinen Onkel das halbe Leben lang gekannt und vermutlich das richtige Gespür, um Belangloses von Wichtigem zu unterscheiden. Das hoffte Henrik zumindest, denn leider stand die Person, der er bei dieser diffizilen Aufgabe noch mehr vertraut hätte, nicht mehr zur Verfügung. Wie üblich trübte der Gedanke an Catia seine Laune, und augenblicklich ging ihm Renatos Gebaren noch mehr auf den Geist. Voller Tatendrang hatten die beiden gleich nach dem Frühstück mit dem Ausmisten begonnen. Mittlerweile war es Nachmittag, doch lediglich die Ecke rechts neben der Tür wirkte einigermaßen aufgeräumt. Unglaublich, was in das etwa zwölf Quadratmeter kleine Kabuff alles hineinpasste. Zwar hatte er seit letztem Sommer immer wieder sporadisch die Kartons und Regale durchforstet, aber nie die Muße gefunden, systematisch vorzugehen, geschweige denn, einen Rundumschlag zu veranstalten, um endlich einen Überblick zu gewinnen. Oder, um es auf den Punkt zu bringen, die geheime Ordnung in Martins hinterlassenem Chaos zu finden. Seit er vor einem Dreivierteljahr erfahren hatte, dass ihm sein Onkel dieses Haus samt Antiquariat mitten in Lissabon vererbt hatte, hatten ihn stets andere Dinge in Atem gehalten. Allem voran die Herausforderung, sich dieses Erbes anzunehmen und sich mit Portugal als seiner neuen Heimat anzufreunden. Was weitaus nicht das Schwierigste an dieser Hinterlassenschaft war.

»Lass es uns versuchen!«, drängte Renato und strich sich unbewusst über die Narbe, die sich quer über sein Nasenbein wölbte. Die Wulst war auch nach etlichen Monaten noch deutlich gerötet. Und sie war nicht die einzige Verletzung im Gesicht des älteren Mannes, die langsam abheilte. Er besaß noch so einige Andenken von Schlägern, die auf diesem Weg eine Botschaft an Henrik vermittelt hatten, kurz nach seiner Ankunft in Lissabon. Nein, er war wahrlich nicht mit einem roten Teppich empfangen worden. Doch gerade diese Gewalttat, so hinterhältig und verurteilungswürdig sie auch gewesen war, hatte letztlich die Basis für das freundschaftliche Verhältnis zwischen Renato Fernandes und ihm geschaffen.

Der Mittsechziger, der das Appartement direkt unter dem renovierungsbedürftigen Dach der Immobilie bewohnte, war von Beruf Unterhaltungskünstler: Sänger und Schauspieler – mit dementsprechenden Allüren und exaltiertem Gehabe. Mürrisch, zynisch, aber gleichwohl ein Schelm, wenn es seine Disponiertheit zuließ. Außerdem war Renato schwul oder machte es die Leute zumindest glauben. Henrik hatte von dem Exzentriker bisher schon einiges über seinen Onkel Martin Falkner erfahren, den er selbst nie hatte kennenlernen dürfen. Tatsächlich war dieser Umstand mitentscheidend dafür, dass er Zeit mit Renato verbrachte, wenn es sich einrichten ließ. Selbst wenn das nicht immer gut für sein Nervenkostüm war. Aber der alten Geschichten wegen, die Renato zu erzählen wusste, nahm Henrik auch ab und an dessen Launen in Kauf. Allerdings war nun zu befürchten, dass demnächst einer dieser theatralischen Anfälle drohte, sollte er dem Wunsch seines Mieters nicht nachgeben. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis sie, eingehüllt vom Staub der Jahrhunderte, bis zu besagtem Regal hinter dem Schreibtisch vordrangen. Und offenbar brachte Renato die Geduld bis dahin nicht mehr auf.

»Von mir aus, lass es uns versuchen«, lenkte Henrik also ein und versuchte zu verbergen, dass er sich längst von der Neugier des Alten hatte anstecken lassen.

Was enthielt diese ominöse Kiste?

Eine durchaus berechtigte Frage, wenn man sich einmal die ganze Geschichte betrachtete. Martin hatte ihm zusammen mit dem Antiquariat einige Überraschungen vererbt, und man konnte nicht behaupten, dass die Auswirkungen dieser zufällig entdeckten Vermächtnisse bislang sonderlich erfreulich für Henrik waren. Vielleicht konnte der Inhalt des Holzkastens ihn ja endlich auch einmal versöhnlich stimmen.

Sichtlich entzückt, klatschte Renato in die Hände, stellte unverzüglich einen Stapel Bücher zusammen, der eine vergleichbare Höhe mit der Kiste aufwies, und setzte ihn daneben ab. Erstaunlich gewandt für sein Alter, ging er dabei vor dem Regal in die Knie. »Fertig!«, verkündete er und sah Henrik herausfordernd an.

»Es wäre sinnvoller, das Regal leer zu räumen«, wandte der in einem letzten Versuch ein, das Ganze vernünftig anzupacken.

»Bah!« Mit einer wegwerfenden Geste machte Renato deutlich, dass er nicht gewillt war, noch unnötig Zeit zu vergeuden, und Henrik erwartete einen weiteren Seitenhieb in Sachen deutsche Gründlichkeit. »Eine echte Schatzsuche ist zwangsläufig auch eine waghalsige Angelegenheit«, belehrte ihn Renato stattdessen. Und damit schien alles gesagt.

Mit einem Huster befreite Henrik seine Lungen von Papierstaub und Schimmelpilzsporen, dann stemmte er sich mit seinen neunzig Kilo gegen die Streben der Stellage. Um ihn herum war kaum Platz genug für ein derartiges Manöver. Die Enge der vollgestellten Kammer – mit dem Schreibtisch, den Bücherkartons und allem, was sonst noch im Weg war – verhinderte, dass er einen sicheren Stand einnehmen konnte, geschweige denn einen guten Winkel fand, der die Hebelwirkung unterstützte. Unverzüglich bemerkte er den Widerstand. Das immense Gewicht der überfüllten Regalbretter konnte er allenfalls für Sekunden gegen die dahinterliegende Wand drücken. Erschwerend kam hinzu, dass sich das alte Gemäuer zur Decke hin nach innen in den Raum krümmte und deshalb nur wenige Millimeter Spiel blieben. War Renato nicht schnell genug mit dem Austausch der provisorischen Stützen, würden sie beide verschüttet werden.

»Beeil dich!«, presste Henrik durch die vor Anstrengung zusammengebissenen Zähne. Er konnte nicht sehen, was der Alte unten machte, spürte lediglich die Erschütterungen, die durch die Konstruktion gingen, als an deren Basis gezerrt und gerüttelt wurde. Dazu hörte er ein widerspenstiges Scharren, begleitet von ein paar portugiesischen Flüchen, die er noch nicht kannte und die nicht sonderlich aufmunternd klangen. Er sehnte Renatos Zuruf herbei, das Gewicht wieder absetzen zu können. So lange konnte das doch wohl nicht dauern?

»Ich kann nicht mehr!«, stöhnte er nach einer gefühlten Ewigkeit.

»Du machst das prima«, lobte ihn Renato.

»Das will ich nicht hören«, keuchte er. Die Muskulatur in Oberarmen und Beinen fing zu zittern an. »Beeil dich!«

»Nur die Ruhe!«

Ruhe?!

»Renato!«, presste er hervor. Die Sohlen seiner Sneakers fingen an, über die Bohlen zu rutschen. »Ich setze es jetzt ab …«

»Mach doch!«, empfahl der andere und lachte.

Er lachte?

Bereit, sich mit einem Hechtsprung über den Schreibtisch zu retten, ließ Henrik das Regal los, ehe ihm das mittlerweile schweißnasse Holz durch die Finger rutschen konnte. Seltsamerweise kippte es ihm nicht entgegen, sondern stand sogar stabiler als vor der Operation. Irritiert sah er sich nach Renato um, der nicht mehr zu seinen Füßen kauerte, sondern lässig gegen die Schreibtischkante gelehnt stand. Er hatte sich und die Kiste längst ins Sicherheit gebracht und wiegte das Objekt seiner Begierde wie ein Kleinkind auf dem Unterarm. »Ich wusste es«, ließ er freudig verlauten.

Henrik zwängte sich um den Schreibtisch herum und griff unwirsch nach dem Holzkasten. Renato grinste schelmisch, gab das Ding aber widerstandslos frei.

»Wenn es mit dem Antiquariat mal nicht mehr läuft, kannst du es als Möbelpacker versuchen.«

»Vai-te foder!«

»Na, na, wer bringt dir denn so was bei?«

Es war unnötig, sich weiter über den Kerl zu ärgern. Stattdessen widmete Henrik sich ihrem Fund. Von vornherein war ihm klar gewesen, dass die Kiste massiv sein musste, sonst hätte sie das Regal all die Zeit nicht an Ort und Stelle gehalten. Trotzdem überraschte ihn das Gewicht.

»Vorsicht mit dem guten Stück!«, mahnte Renato, während Henrik sie auf die Tischplatte stellte. Erst jetzt fiel ihm das asiatische Schriftzeichen auf; es war in den Deckel des gebeizten Holzes gebrannt worden, aus dem die Kiste einst gezimmert wurde. Er zögerte, suchte Renatos Blick.

»Nun mach schon, es wird dich schon kein Kastenteufel anspringen!«

Renato faltete andächtig die Hände. Behutsam schob Henrik den Deckel auf.

»Suntory Hibiki«, las er auf dem Etikett der Flasche, die einer geschliffenen Karaffe nachempfunden und bruchsicher in eine mit dunkelblauem Satin überzogene Form eingebettet war.

»Dreißig Jahre alt, o merda, der muss ein Vermögen wert sein«, kommentierte Renato freudestrahlend den Fund. Der bekennende Atheist ließ sich sogar dazu hinreißen, ein Kreuzzeichen zu schlagen.

Ein japanischer Whisky!

Er hatte davon gehört, dass die edlen Brände aus dem fernen Osten bei Prämierungen ohne Weiteres mit den schottischen Single Malts mithalten konnten, sie bisweilen sogar übertrumpften. Das Etikett war schnörkellos und neben einem großen, japanischen Kanji auch mit westlichen Lettern bedruckt. Der Inhalt funkelte bernsteinfarben, in der eher dunklen Farbnuance, die eine lange Reifung des Whiskys im Sherryfass vermuten ließ. Renato schnalzte mit der Zunge. Selbst Henrik verspürte das Verlangen, sofort zu probieren.

»Hat nicht Dan Aykroyd dafür Werbung gemacht?«

»Das war Bill Murray, du Banause, außerdem war das eine Szene aus einem Kinofilm.«

»Stimmt, mit dieser … wie heißt sie noch mal? Merda, ich war schon Jahre nicht mehr im Kino.«

»Ich komm jetzt auch nicht drauf.« Renato drängte sich an Henrik vorbei und strich mit dem Zeigefinger zärtlich über das Etikett der Whiskyflasche.

»Diese Schwedin, wie heißt sie noch gleich?« Henrik war noch immer am Grübeln.

»Nie im Leben kommt die aus Schweden.«

Henrik schwieg für einen Moment. Dann sprach er laut aus, was ihm durch den Kopf ging. »Warum hat er den hier unten versteckt?« Oben in Martins Wohnzimmer – inzwischen das seine – gab es eine kleine, ausgewählte Sammlung feiner Destillate. Zwischen diesen Raritäten hätte sich der Hibiki ganz sicher wohlgefühlt. Stattdessen hatte der besondere Schatz versteckt und zweckentfremdet als Regalstütze gedient. Unter Henriks Zwerchfell bildete sich ein Hohlraum, der sich allmählich mit Kälte füllte, einer Kälte, die sich Wirbel für Wirbel an seinem Rückgrat entlangbrannte. War das hier eine weitere Botschaft seines Onkels?

»Hör auf, hinter allem und jedem eine Verschwörung zu wittern«, ermahnte ihn Renato, der offensichtlich seine Gedanken erriet.

Henrik schnaubte halbherzig. »Das sagst ausgerechnet du, der Martins Herzinfarkt als natürliche Todesursache nach wie vor in Zweifel zieht.«

Die ausgelassene Stimmung des Alten schlug augenblicklich um. »Tust du das etwa nicht?«

Damit fühlte auch Henrik sich angegriffen. »Doch, verdammt!«, knurrte er. »Weshalb ich mich wundern muss, dass du der Art und Weise, wie Martin den Whisky verborgen hat, keinerlei Bedeutung beimisst.«

»Bedeutung, meu deus! Könnte doch einfach sein, dass Martin nichts anderes zur Hand hatte, als er merkte, dass das Regal umzukippen drohte. Letztlich hat er einfach vergessen, mit was für einer Kostbarkeit er das Problem provisorisch gelöst hat.«

Im Improvisieren seid ihr Weltmeister, ich weiß! Für Henrik war das keine befriedigende Erklärung. »Ich nehme an, der Whisky war ein Geschenk, und nachdem du anscheinend davon wusstest, kennst du sicher auch denjenigen, der ihn überreicht hat.«

Renato tat so, als müsste er überlegen, und wischte dabei nicht ohne Theatralik über sein kurz geschorenes, weißes Haar. »Geschenk hin oder her …«

»Ich warte!«

»Ja, ja, kann sein.«

»Rück raus damit, oder der Whisky bleibt verschlossen!«

»Ist ja gut jetzt … Also, da war dieser Japaner. Vom Alter her schwer zu schätzen. Um die fünfzig vielleicht. Trug immer teure Anzüge. Italienische Ware, von Cucinelli oder Canali.« Renatos Gesichtszüge verklärten sich. Henrik hatte keine Ahnung, von was der Mann da sprach.

»Und weiter?«

»Ein Japaner passt allein schon seiner Körpergröße und gedrungenen Statur wegen nicht in solche Anzüge. Ist der Hals zu dick und sind die Extremitäten zu kurz, ist das meiner Ansicht nach eine Verschwendung des feinen Zwirns, auch wenn er offenbar ein paar Änderungen an den Anzügen hat vornehmen …«

»Renato, verdammt, das interessiert mich keinen Deut! Komm auf den Punkt!«

Missmut braute sich über den gezupften Brauen seines Mieters zusammen. »Ich habe ihn nur zwei-, dreimal bewusst registriert, aber ich denke, er war eine Weile Stammkunde im Antiquariat.«

»Also kein Tourist?«

»Nein, dafür war er zu häufig im Laden. Vielleicht ein Geschäftsmann. Martin hat sich gerne mit ihm unterhalten. Ausführlich. Aber frag mich nicht, um was es ging.«

»Hat er was gekauft?«

»Er hat das Antiquariat nie ohne die obligatorische Papiertüte verlassen. Ja, er war offenbar ein leidenschaftlicher Sammler alter Bücher.«

»Und seit Martins … ähm, hast du ihn da noch mal gesehen?«

»Ich müsste mich irren, aber nein, ich denke nicht.«

Das stimmte Henrik noch nachdenklicher. Viele Japaner besuchten die Stadt. Und das Antiquariat war durchaus ein Kuriosum für die Asiaten, auch wenn dessen Entdeckung grundsätzlich dem Zufall geschuldet war. Die meisten, die sich hierher verirrten, begnügten oder, besser, vergnügten sich damit, Fotos zwischen den Regalreihen zu machen. Gerade so, als besuchten sie ein weiteres der zahlreichen Museen der Stadt. Nur eben ein besonders bizarres.

»Bist du sicher, dass es immer derselbe Japaner war?«

»Hältst du mich für senil?«

Henriks Blick wanderte von Renatos empörter Miene zurück zu der Kiste mit der hochprozentigen Rarität. »Ich bin nicht sonderlich vertraut mit der japanischen Schenkkultur, aber falls der Hibiki ein Mitbringsel war, was hat Martin dann getan, um im Gegenzug mit so einem kostspieligen Dankeschön beglückt zu werden?« Er sagte es mehr zu sich selbst.

»Mich interessiert viel mehr, warum er ihn nicht probiert hat.« In Sachen Whisky schien Renato nicht an einer konstruktiven Zusammenarbeit interessiert.

»Vielleicht sollte ich ihn verkaufen, wenn er so viel wert ist.«

Die Augen des Alten wurden groß. »Ich erinnere dich gerne daran, dass Martins Hinterlassenschaft nicht veräußert werden darf! So stand das ja wohl im Testament.«

In der Tat gab es da eine recht streitbare Klausel, und Henrik bereute es im Nachhinein, sie Renato gegenüber jemals erwähnt zu haben. »Ich glaube nicht, dass der Single Malt zur Erbmasse zu zählen ist. Außerdem käme ich gar nicht in die Verlegenheit, aus allem Geld zu machen, wenn du regelmäßig deine Miete bezahlen würdest.« Dieser Seitenhieb musste sein, schon allein deshalb, weil ihn der Alte unnötig lang das Regal hatte halten lassen. Die Disziplin seiner Mitbewohner bezüglich der Wohngeldentrichtung ließ sehr zu wünschen übrig. Sein Onkel hatte sich in dieser Hinsicht eher als Samariter gesehen, sodass sich bei seinen Mietern der Schlendrian eingeschlichen hat – sie zahlten nur dann, wenn sie etwas entbehren konnten. Leider waren weder Renato noch die drei Jazzmusiker oder die indische Familie, die derzeit unter seinem Dach wohnten, in Lohn und Brot. Der Inder Ajit Bikkhu besaß zwar so etwas wie eine Festanstellung als Fensterputzer, doch Henrik konnte sich ausmalen, dass die außertarifliche Entlohnung im Gebäudereinigungsgewerbe nicht eben üppig war. Und Bikkhu musste davon sechs hungrige Mäuler ernähren. Alles in allem eine suboptimale Situation für beide Seiten. Trotz der unzureichenden Mieteinnahmen brachte Henrik es allerdings nicht fertig, Kündigungen auszusprechen. Dazu hatte er ein zu weiches Herz, weshalb er sich auch nicht wirklich zum Geschäftsmann eignete.

Renato grummelte etwas Unverständliches, während er sich wie ein Laborwissenschaftler über die Flasche beugte, als untersuchte er eine brisante Zellkultur, die eine revolutionäre medizinische Errungenschaft versprach. »Den kannst du auch gar nicht mehr verkaufen, der ist schon offen«, verkündete er schließlich mit der siegessicheren Miene eines zukünftigen Nobelpreisträgers.

Henrik nahm die Flasche aus der Kiste und stellte sie auf den Schreibtisch. »Die ist doch randvoll.«

»Aber das Papiersiegel über dem Verschluss ist durchgerissen, folglich hat Martin den Whisky zumindest geöffnet und seinen Rüssel darüber gehalten.«

Jetzt bemerkte auch Henrik den feinen Riss in dem Papierstreifen, der über den Glaspfropfen geklebt war. Sein Onkel – oder jemand anders – hatte das Stück Papier danach wieder sehr sorgfältig zusammengefügt. Nichtsdestotrotz war es durchtrennt worden. Mit spitzen Fingern zupfte er an einem der Enden. Es löste sich mühelos vom Glas.

Er hielt inne. Das Kribbeln in der Magengrube nahm an Intensität zu. Was war hier los?

Da stand etwas auf der Rückseite des Papierstreifens. Er zog die Schreibtischlampe heran, um in dem fensterlosen Raum besser sehen zu können. In Martins unverkennbarer Handschrift war auf dem schmalen Papierstück eine Nummernfolge notiert worden. Sehr klein und sorgfältig. Damit war für Henrik jeder Zweifel beseitigt. Zuerst das skurrile Versteck der Flasche, dann eine noch besser verborgene Notiz. Erneut war er auf eine von Martins kryptischen Botschaften gestoßen. Ein Hinweis aus dem geheimen Archiv der ungeklärten Verbrechen, das sein Onkel über drei Jahrzehnte hinweg angelegt hatte.

Es fängt wieder an!

3

»Kümmere dich lieber darum, Catia zu finden, bevor du dir schon wieder neue Feinde schaffst!«, sagte Renato und prostete ihm mahnend zu. Henrik war zu sehr in Gedanken gewesen, um seinen Mieter daran zu hindern, den japanischen Whisky zu entkorken. Ehe er sich’s versah, hielt er selbst einen der angelaufenen Zinnbecher in der Hand, die noch bis vor wenigen Wochen im unansehnlichen Schaufenster des Antiquariats eine Menge Staub angesetzt hatten. Renato hatte offenbar auf die Schnelle nichts Passenderes gefunden, woraus sie das edle Destillat hätten nippen können. Dass die antiken Gussgefäße dem vielschichtigen Bouquet des Hibiki nicht förderlich waren, schien Renato vollkommen egal zu sein. Und jetzt, nachdem er ihn soeben an Catia erinnert hatte, fand Henrik noch weniger Genuss daran.

Catia. Verdammt!

Catia war seine Angestellte und davor lange Jahre Martins rechte Hand gewesen. Sie hatten keinen guten Start gehabt, als er unverhofft in Lissabon auftauchte. Die Wunde, die der Tod seines Onkels bei ihr hinterlassen hatte, war noch zu frisch gewesen, als dass Catia sich hätte auf einen neuen Chef einlassen können. Obendrein auf einen wie ihn, der weder Martin gekannt noch irgendeine Ahnung vom Geschäft hatte. Henrik hegte nach wie vor die vage Vermutung, dass Catia darauf spekuliert hatte, das Antiquariat einmal selbst zu erben. Was es auch später nicht einfacher machte, mit ihr auszukommen.

Nicht dass jemals Respektlosigkeit zwischen ihnen geherrscht hatte. Henrik war schnell bewusst geworden, dass er sie brauchte. In erster Linie für das Antiquariat – aber auch, um irgendwann die nebulöse Person Martin Falkner zu verstehen. Neben Renato wusste sehr wahrscheinlich nur noch Catia mehr über seinen Onkel. Vor allem darüber, was ihn angetrieben hatte. Ein Wissen, das ihr letztlich zum Verhängnis wurde. Henrik war daran nicht unschuldig und fühlte sich daher doppelt schlecht, wenn das Gespräch auf Catia kam.

Im Oktober des vergangenen Jahres war Catia entführt worden, um ihn unter Druck zu setzen. Noch eine Person, die wie Renato dafür büßen musste, dass er sich seines Erbes annahm. Er war damals auf der Jagd nach einem Buch gewesen, das den einstigen Polizeichef Lissabons, Nelson Pereira, mit einem Mord in Verbindung bringen sollte. Obwohl Pereira längst im Ruhestand war, verfügte er nach wie vor über beste Kontakte bis hinauf in die obersten Machtzentralen, die diese Stadt regierten – was diesen eiskalten Mann zu einem unberechenbaren Gegner machte. Das erfuhr Henrik am eigenen Leib. Obwohl er schlussendlich heil aus der Sache rausgekommen war, führte der erbitterte Kampf, den er sich mit Pereira lieferte, zu keinem Sieg. Allenfalls zu einem Patt, das zu allem Übel auf Catias Kosten ging. Er konnte seine Mitarbeiterin nicht aufspüren. Und er hatte immer noch keine Gewissheit, ob sie wirklich in Freiheit war.

Natürlich gab es da diesen Brief von ihr.

Ein knappes Schreiben, das kurz vor Weihnachten eingetroffen war. Aus heiterem Himmel und nachdem er bereits eineinhalb Monate wie ein Besessener nach ihr gesucht hatte. Es war ihre Handschrift. Das hatte ihm auch Renato bestätigt. Aber der Inhalt war so fragwürdig wie ihr Verhalten. Catia war eine revolutionäre Hippiefrau, ein Relikt der Gegenkultur, die sich in farbenfrohe Tuniken hüllte und nach Patschuli duftete. Keinesfalls jemand, der sich versteckte, selbst wenn sich Schwierigkeiten ankündigten. Und doch teilte sie ihm in diesem rätselhaften Brief mit, dass sie, von Angst geleitet, die Flucht angetreten hat. Obwohl sie nur wenige Stunden in der Gewalt von Pereiras Handlanger war und man sie danach einfach hatte gehen lassen. Dieser Widerspruch in ihrer Mitteilung war zwischen den Zeilen zu lesen. Einerseits war es in den Fängen dieses Unmenschen gar nicht so schlimm gewesen, anderseits ließ sie sich von der Furcht verleiten und floh vor weiteren Konsequenzen. Henrik hielt das Ganze für äußerst zweifelhaft. Zumal sie schrieb, sie sei nach diesem Vorfall zu aufgewühlt gewesen, um sich unverzüglich bei ihm zu melden. In aller Eile habe sie nur das Nötigste zusammengepackt und Lissabon unverzüglich verlassen. Ihr Lissabon, für dessen Freiheit sie stets gekämpft hatte. Seitdem wohnte sie bei einer Freundin in Porta Delgada auf den Azoren. Das war weit genug entfernt, um eine Überprüfung ihrer Behauptungen zu erschweren. Außerdem hatte sie in ihrem Brief mehrfach betont, dass sie keinen Kontakt wünschte. Nicht solange die Lage weiterhin so angespannt war und Martins Feinde sie im Visier hatten. Eine gewisse Paranoia konnte er ihr nach allem, was geschehen war, nicht verübeln, aber dieses Vorgehen passte eben nicht zu der Catia, die er kennengelernt hatte. Verschwörungstheorien hin oder her. Der gleichen Meinung waren auch Renato und die beiden Menschen, die er zusätzlich ins Vertrauen gezogen hatte und die ebenfalls bei ihm im Haus wohnten. Paco Coelho, einer der Jazzmusiker, und die Inderin Jaya Bikkhu. An Letztere hatte er sich gewandt, um eine gewisse Basis zu schaffen. Ihr zu zeigen, dass auch sie auf ihn zählen konnte. Auch wenn diese Konstruktion noch immer äußerst fragil war. Jaya war es, die Martin damals tot in seiner Wohnung gefunden hatte. Bedauerlicherweise war sie auch nach einem Dreivierteljahr noch nicht bereit, mit ihm darüber zu sprechen.

Es war nach wie vor schwierig mit seinen Mietern, und leider hatte Catias Verschwinden seine Position innerhalb der Hausgemeinschaft nicht einfacher gemacht. Ja, wenn er sie heil zurückgebracht hätte, dann hätte er damit natürlich sein Ansehen und auch das Vertrauen in seine Person gestärkt. Hätte, wäre, wenn …

»Vielleicht ist sie tatsächlich auf São Miguel«, erwiderte er schließlich und führte erneut den Becher an die Lippen. Der Alkohol brannte ihm auf der Zunge und im Rachen.

»Das glauben wir doch beide nicht. Catia wäre nie einfach abgehauen. Ich habe dir schon mehrmals gesagt, ich halte es für höchst fragwürdig, dass diese Leute, die sie entführt haben, sie einfach so haben gehen lassen«, erinnerte ihn Renato.

»Es ist ihre Handschrift.«

»Papperlapapp. Das Ganze erinnert mich stark an die dunkle Vergangenheit unter Salazar. Ich kannte damals einige Leute, die von der Geheimpolizei gezwungen worden waren, Briefe dieser Art zu schreiben.«

Er hätte gerne erwidert, dass die Zeiten der Diktatur vorbei waren, aber er war nicht wirklich davon überzeugt. »Sie hatten keine Verwendung mehr für sie, nachdem Pereira aus dem Rennen war.« Das war ein schwaches Argument, das wusste er selbst. Es hatte auch keinen Sinn, diese Diskussion schon wieder zu führen. Nicht jetzt, da es einen neuen Hinweis gab und es ihm schwerfiel, nicht darüber zu grübeln, welche Bedeutung und Absicht hinter den Ziffern auf dem Papierstreifen steckten. Aber das wollte er Renato nicht auf die Nase binden. Dieses Antiquariat war mehr Fluch als Segen, Martins Erbe eine Bürde. Es gab einen roten Faden, der sich längst um Henrik geschlungen hatte und dem zu folgen er gezwungen war.

Irgendwie hängt alles zusammen.

Denn natürlich gab es für all das eine Vorgeschichte. Martin hatte in den späten 1970er-Jahren Aussicht auf eine vielversprechende Karriere bei der deutschen Staatsanwaltschaft. Doch er entschied sich dagegen und folgte seiner Liebe, dem Künstler João de Castro, nach Lissabon. In die wiedererblühte Hauptstadt einer jungen Demokratie, auf die sie ihre Hoffnung setzten. Es war anzunehmen, dass er sich nie zu seiner Homosexualität hätte bekennen können, wäre er in Deutschland geblieben, und offenbar war ihm diese Freiheit mehr wert gewesen als eine gesicherte Position im konservativen Justizapparat der Bundesregierung. So kam es, dass er gemeinsam mit João das Antiquariat erwarb und ein Jahrzehnt lang ein schönes Leben führte.

Bis zu Joãos Ermordung.

Danach erinnerte sich Martin wieder daran, was er studiert hatte, und nahm eine Mission in Angriff, die ihn bis zu seinem eigenen Tod nicht mehr loslassen sollte. Seine verbissene Suche nach der Person, die João auf dem Gewissen hatte, lenkte seine Aufmerksamkeit nach und nach – und zu Beginn sicher unfreiwillig – auf weitere ungeklärte Verbrechen und von den Behörden ignorierte Missstände. Indizien, Hinweise, Spekulationen, Zeugen. Und die Opfer. Diejenigen, die der Korruption und den Machenschaften von hochrangigen Politikern, gewichtigen Wirtschaftsgrößen und einflussreichen Industriellen hilflos gegenüberstanden. Zermahlen zwischen den Mühlrädern der Mächtigen und dadurch einer Ungerechtigkeit unterworfen, die Martin einfach nicht ertragen konnte. Henriks Onkel war ein Verfechter von Recht und Ordnung, und einen ebenso aufrechten Mann musste er in seinem Neffen gesehen haben, da er ihn schließlich mit diesem Erbe betraut hatte.

Ja, irgendwie hing alles zusammen. Keine Spur von Catia seit einem halben Jahr. Kein Ansatz in die Richtung, dass der Tod seines Onkels widernatürlich gewesen war. Was sich auch nicht mehr überprüfen ließ, da Martins Leichnam eingeäschert worden war. Also keinerlei forensische Beweise, weder dafür noch dagegen. Stattdessen unzählige Rätsel, über die er nach und nach im Antiquariat stolperte. Handschriftliche Vermerke, undurchsichtige Symbole, unlogische Anordnungen, die eine Bedeutung haben mochten. Ablenkung oder Absicht? Es gab ja nicht nur die Notizen und Aufzeichnungen in den Büchern. Daneben fanden sich auch Fotos, Ansichtskarten, Plakate, Landkarten, Radierungen, Gemälde. Nicht zu vergessen die Gegenstände und Möbel! Sekretäre und Schränke mit Hunderten Schubladen und wer weiß wie vielen Geheimfächern, die er noch nicht entdeckt hatte. Selbst die Platzierung des Interieurs in dem angeblichen Wirrwarr konnte eine Bedeutung haben und Bestandteil eines Codes sein, den es zu entschlüsseln galt. Dazu kam das Büro. Der Keller. Beides vollgestellt und zusammen mit dem Antiquariat bestens dazu geeignet, Geheimnisse zu hüten, bis einer kam, der sie zu enträtseln vermochte. Henrik machte fast täglich Entdeckungen, aber nur selten passte etwas zueinander. Was er besaß, waren Puzzleteile, und er hätte nicht einmal andeutungsweise sagen können, wie viele Bilder sich daraus ergaben. Wie viele Fälle ungeklärter Verbrechen hier überhaupt archiviert waren. Wie viel davon Wirklichkeit war und wie viel davon Täuschung, um die Wahrheit zu verschleiern. Wenn er etwas gelernt hatte in der Zeit, die er sich nun durch das geheime Archiv wühlte, dann einfach das Offensichtliche zu nehmen in dem Versuch, irgendetwas damit anzufangen, statt systematisch vorzugehen. Und im Moment hatte er eine Zahlenfolge auf einem schmalen Stück Papier, das eine Flasche Whisky versiegelt hatte. Es konnte ein Dechiffrierungscode sein, eine Kontonummer, Koordinaten. Und ebenso gut eine Telefonnummer, wenn man einfach eine Null davorsetzte.

»Lassen wir es gut sein für heute«, schlug er Renato vor und störte ihn offenbar bei seiner Überlegung, ob er sich nochmals nachschenken sollte. »Du kannst den Whisky mit hochnehmen.«

Der Vorschlag ließ Renatos Protest versiegen. »Solltest du auf die Idee kommen, die Entrümplung des Büros morgen fortzusetzen, dann ohne mich. Ich habe am Abend einen Auftritt und muss mich vorbereiten. Dieser Staub ist ohnehin Gift für meine Stimmbänder.«

»Du hast ja jetzt etwas, womit du sie ölen kannst«, erwiderte Henrik und drückte ihm die Flasche in die feingliedrigen Hände. »Wir machen weiter, wenn du wieder Zeit hast.«

Obwohl er seinen Mieter nun schon eine ganze Weile kannte, konnte er nicht mit Gewissheit sagen, wie viel er von Martins Geheimnissen wusste. Ob er tatsächlich ein Eingeweihter war, der einfach nur den Mund hielt und allenfalls das Nötigste ausplauderte. Oder ob Martin seinen guten Freund Renato nur am Rande mit seinen wahren Absichten vertraut gemacht hatte, um ihn nicht unnötigerweise in Gefahr zu bringen. Gewiss hatte es nicht in Martins Absicht gelegen, andere in Gefahr zu bringen, aber wer eine Verbindung zu seinem Onkel pflegte, war ohne Frage einem nicht zu verleugnenden Risiko ausgesetzt, denn seine Obsession war in all den Jahren nicht verborgen geblieben. Selbst wenn seine Vertrauten und Freunde unwissend waren, waren sie also trotzdem irgendwie in Gefahr. Von Beginn an hatte sich Henrik gefragt, ob es überhaupt jemanden gab, den Martin zur Gänze ins Vertrauen gezogen hatte. Bislang stellte es sich für ihn eher so dar, dass Martins Sammelleidenschaft von ungeklärten Verbrechen für seine Freunde nur ein Gerücht war. Ein Gerücht, basierend auf jener Liebesgeschichte, die vor drei Jahrzehnten ein jähes Ende genommen und Martin Falkner dazu herausgefordert hatte, die Suche nach dem Mörder seines Lebensgefährten selbst in die Hand zu nehmen.

Auch wenn er nie in die Offensive gegangen war, hatte sein Onkel sich im Lauf der Zeit damit viele Feinde gemacht. Zu viele. Und vermutlich waren darunter auch äußerst einflussreiche Leute aus der gehobenen Gesellschaft. Machthungrige Despoten, skrupellose Personen mit Verbindungen in die höchsten Ämter, sofern sie diese nicht selbst innehatten. Ab und an wurde einer von ihnen nervös und wollte wissen, ob irgendwo in Martins Archiven belastendes Material gegen ihn vorhanden war. Neben Einschüchterungsmaßnahmen waren die Folgen davon gelegentliche Einbrüche im Antiquariat, durchgeführt von beauftragten Verbrechern, die im beabsichtigten Chaos versuchten, die Stecknadel im Heuhaufen zu finden. Und dabei auch vor Gewalt nicht zurückschreckten. Es war ein Vabanquespiel, und Henrik konnte von Glück reden, dass bisher alles relativ glimpflich abgelaufen war.

Meistens!

»Trügt mich mein Gefühl, oder willst du mich tatsächlich loswerden?«, fragte Renato in seine Gedanken hinein. Henrik erwiderte nichts, sondern wartete einfach mit verschränkten Armen, bis Renato sich mitsamt dem Whisky trollte und zwischen den deckenhohen Regalwänden im Antiquariat verschwand. Er hörte die Tür ins Treppenhaus zuknallen; man musste sie kräftig zuziehen, weil sie schlecht schloss. Das Haus war eine Baustelle, egal wohin man schaute. Ihm graute davor, aber eine Renovierung war bitter nötig. Und bereits geplant, beginnend mit der Fassade. Hier wartete er noch auf letzte Genehmigungen vom Bau- und Denkmalschutzamt. Zum einen wurde seitens der portugiesischen Behörden von ihm verlangt, die klassizistische Vorderseite im Originalzustand zu erhalten, doch andererseits kannten die Ämter keine Eile beim Bearbeiten der Anträge. Wahrscheinlich wäre er nicht einmal so weit gekommen, wenn er nicht einflussreiche Hilfe hätte. Anabela de Castro, die Schwester von João, verfügte über diesen Einfluss. Ebenso wie über das Geld, um das Haus wieder auf Vordermann zu bringen. Natürlich unterstützten ihn die de Castros nicht aus Wohltätigkeit oder Sympathie. Sie hatten Henrik einen klaren Auftrag erteilt, der darin bestand, Martins Mission fortzusetzen und Joãos Mörder zu überführen. Bei einem Verbrechen, das dreißig Jahre zurücklag, eigentlich eine unmögliche Herausforderung. Dennoch hatte er vor, sein Bestes zu geben. Bestärkt von der Hoffnung, dass Martin irgendwo im Antiquariat bereits entscheidende Hinweise zum Mord an seinem Lebensgefährten gesammelt hatte. Hinweise, die Henrik schlichtweg noch nicht ausgegraben hatte, weil sie so gut versteckt waren wie kein anderes der vielen Geheimnisse, die in seinem Erbe verborgen waren.

In kriminalistischer Hinsicht hatte er mit Catia, Martin und João bereits genug Baustellen. So gesehen, war es glatter Irrsinn, hinter etwas Neuem herzujagen. Andererseits führte oft eins zum anderen – und womöglich zuletzt zum großen Ganzen.

Wie gesagt, irgendwie hängt alles zusammen.

Erneut betrachtete er den Papierstreifen, so intensiv, dass ihm nach dreißig Sekunden die Augen wehtaten. Im Laden war es einfach zu dunkel, daher ging er nach draußen. Das Glockenspiel über der Ladentür ertönte und erinnerte ihn daran, dass es heute noch von keinem einzigen Kunden zum Klingen gebracht worden war. Dabei lag das Geschäft nicht unbedingt abseits der Touristenströme, sondern ganz in der Nähe der viel besuchten Plätze Largo do Chiado und Largo de Camões und des Vergnügungsviertels Bairro Alto. Und doch wählten all jene, die in die Rua do Almada abbogen, oben an der Gabelung in der Regel die rechte Gasse, um zum Miradouro de Santa Catarina zu gelangen, von dem aus man einen herrlichen Ausblick über den Fluss hatte, hin zur Brücke des 25. April und hinüber ans andere Flussufer, auf die Cristo-Rei-Statue. Das kurze Stück hinunter zum Antiquariat wählten praktisch nur diejenigen, die den Stadtplan falsch gelesen hatten.

Die Sonne schien warm in die schmale Häuserschlucht. Vom Tejo her wehte eine sanfte Brise die Rua do Almada herauf. Das runde Blechschild mit der Aufschrift Antiquário e Antiguidade an der gusseisernen Stange, die in die Gasse hinausragte, quietschte leise an seinen Scharnieren. Der Frühling hatte nach einer zu vernachlässigenden Phase mit schmuddeligem Regenwetter endlich mit aller Macht Einzug gehalten. Die steigenden Temperaturen machten den sehr kurzen, fast durchweg milden Winter endgültig vergessen. Eigentlich hatte Henrik nur um Weihnachten und Neujahr eine Zentralheizung vermisst. Und selbst da war es tagsüber kaum unter zehn Grad, und in aller Regel blieben die Tage sonnig. Für ihn war der Winter, wie er ihn aus Deutschland kannte, damit quasi nicht existent. Noch weniger hatte er ihn vermisst. Auch nicht das Weihnachtsfest im Kreise der Familie oder die Knallerei an Silvester. Wenn er in Lissabon eins uneingeschränkt genießen konnte, dann war es das Klima, das stand außer Frage.

Er hielt den Papierstreifen gegen den hellen Himmel, aber er blieb, was er war. Da gab es nichts, was im Gegenlicht zum Vorschein kam und zur Lösung beitrug. Also folgte er seinem ersten Impuls. Er nahm sein Handy aus der Hosentasche, setzte eine Null davor und tippte die Zahlen ein. Eine digitale Stimme teilte ihm mit, dass er damit keine Verbindung bekam. Martin, verdammt!