Portugiesisches Gift - Luis Sellano - E-Book
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Portugiesisches Gift E-Book

Luis Sellano

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Beschreibung

Ein Sommertag in Lissabon. Die Menschen flanieren durch die Altstadt, das Wasser des Tejo glitzert in der Sonne. Kriminalkommissarin Helena Gomes ist in düsterer Stimmung. Sie ermittelt im Fall eines Jungen, der an einem allergischen Schock gestorben ist. Auf den ersten Blick sieht alles nach einem Unfall aus - doch die Eltern des Jungen beschuldigen sich gegenseitig. Welches dunkle Geheimnis verbirgt die Familie? Gemeinsam mit ihrem Freund, dem detektivisch begabten Antiquar Henrik Falkner, begibt sich Helen auf die Suche nach Antworten.

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Seitenzahl: 353

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Das Buch

Als ein unerwartetes Erbe ihn nach Lissabon führte, hatte Henrik Falkner eigentlich nicht vorgehabt, lange zu bleiben. Doch die Stadt am Tejo mit ihren verwunschenen Gassen und malerischen Winkeln wuchs ihm schneller ans Herz, als er es für möglich gehalten hätte. Inzwischen kann Henrik sich keinen schöneren Ort mehr vorstellen. Und das, obwohl er auch um die finsteren Seiten der Stadt weiß.

Zusammen mit einem Antiquariat in der Altstadt erbte Henrik nämlich auch zahllose Hinweise auf ungelöste Verbrechen, die sein Onkel über Jahre hinweg gesammelt hat. Und denen geht er mit großer Entschlossenheit nach. Unterstützung erhält er dabei immer wieder von der portugiesischen Polizistin Helena Gomes. Doch jetzt kommt die Gelegenheit, sich zu revanchieren.

Denn Helena hat es aktuell mit einem besonders kniffligen Fall zu tun, der sie zudem dazu zwingt, sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Henrik ist entschlossen, ihr zu helfen. Weil er ihr das schuldig ist. Und weil die beiden längst viel mehr verbindet als nur kriminalistisches Interesse …

Der Autor

Luis Sellano ist das Pseudonym eines deutschen Autors. Auch wenn Stockfisch bislang nicht als seine Leibspeise gilt, liebt Luis Sellano Pastéis de Nata und den Vinho verde umso mehr. Schon sein erster Besuch in Lissabon entfachte seine große Liebe für die Stadt am Tejo. Luis Sellano lebt mit seiner Familie in Süddeutschland. Regelmäßig zieht es ihn auf die geliebte Iberische Halbinsel, um Land und Leute zu genießen und sich kulinarisch verwöhnen zu lassen.

Lieferbare Titel

Portugiesisches Erbe

Portugiesische Rache

Portugiesische Tränen

Portugiesisches Blut

Portugiesische Wahrheit

Portugiesisches Schicksal

Portugiesisches Gift

LUIS SELLANO

Portugiesisches

Gift

EIN LISSABON-KRIMI

Wilhelm Heyne Verlag

München

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Originalausgabe 04/2022

Copyright © 2022 by Luis Sellano

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Schlück GmbH, 30161 Hannover

Redaktion: Tamara Rapp

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München,

unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com (Stepova Oksana, Tetiana Chernykova)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-26460-4V001

www.heyne.de

1Helena

Er konnte es nicht lassen. Tiago flirtete mit ihr, wie er es immer tat, unaufdringlich und galant. Sie kannte ihn schon eine ganze Weile, bestimmt fünf Jahre, dennoch vermochte sie nach wie vor nicht abzuschätzen, wie ernst er es damit meinte. Ob es für ihn vielleicht einfach dazugehörte, um von dem abzulenken, was sie jedes Mal erwartete, wenn sie beide aufeinandertrafen.

Die Umstände, unter denen sie sich begegneten, waren stets unerfreulich und schufen allein dadurch schon schlechte Voraussetzungen für Zwischenmenschliches. Die kühle und sterile Umgebung, die weißen Kacheln, das grelle Neonlicht, das sich in den blanken Edelstahlflächen spiegelte, das alles zusammengenommen bot nun wirklich keine Atmosphäre für Romantik. Doch Tiago ließ sich nicht davon abbringen, ihr tief in die Augen zu sehen und dabei so zu lächeln, dass seine Grübchen perfekt zur Geltung kamen.

»Helena! Was für eine Freude!«, begrüßte er sie. Wegen seiner fast eins neunzig musste er sich weit zu ihr hinabbeugen, um sie auf die Wangen zu küssen. Tiago war ein Bild von einem Mann, mit breiten Schultern und einem auffällig geraden Rücken. In seiner Freizeit nahm er an Triathlons teil. Angeblich hatte er sogar schon einmal beim Ironman auf Hawaii mitgemacht, was allerdings schon einige Jahre zurücklag. Doch selbst jetzt mit Ende vierzig schien er noch immer in Bestform zu sein, das bemerkte man trotz des grünen Kittels, in dem er bei der Arbeit immer steckte. Auch war ungeachtet des blaustichigen Lichts der Deckenbeleuchtung eine stete, sommerliche Bräune zu erahnen. Das dunkle, von einzelnen grauen Strähnen durchzogene Haar trug er zu einem Zopf gebunden. Hätte er behauptet, Lifeguard draußen am Strand von Estoril zu sein, hätte jemand, der nicht wusste, welchen Beruf er tatsächlich ausübte, nicht daran gezweifelt.

»Ist eigentlich nie ein freudiger Anlass, wenn ich zu dir komme«, berichtigte sie ihn. »Aber es ist trotzdem schön, dich zu sehen.«

Tiago streifte die Einweghandschuhe von seinen schlanken Fingern und warf sie in den dafür vorgesehenen Abfallbehälter. »Also dann … Wieso bist du hier? Soweit ich weiß, wurden seit gestern Abend keine Opfer von Gewaltverbrechen eingeliefert. Lediglich zwei Verkehrstote, bei denen noch geklärt werden muss, ob Alkohol oder Drogen im Spiel waren. Alles in allem lässt das auf eine ruhige Nacht schließen.«

»Ich komme wegen des Jungen«, sagte Inspetora Helena Gomes.

Tiago wurde ernst. »Frederico Pedrosa?«, fragte er, und ihr war, als huschte ein Schatten von Trauer und Bedauern über seine Augen. Eine unerwartet emotionale Reaktion von jemandem, der dem Tod so nahestand wie sonst nur wenige Menschen und dem nahezu alle Facetten des Ablebens vertraut waren.

»Frederico Pedrosa«, bestätigte sie.

»Ich hab mich schon gewundert, wieso ich den Leichnam noch nicht freigeben darf«, murmelte Tiago.

Obwohl die Aggregate zur Luftumwälzung in der rechtsmedizinischen Abteilung der Universitätsklinik den Geräuschen nach auf Hochtouren liefen, fiel Helena das Atmen im Untergeschoss des Centro Hospitalar Universitário de Lisboa Central immer schwer. Womöglich lag es alleine am sonnigen Gemüt des Chefpathologen Dr. Tiago Falcato, dass sie es hier, zwei Stockwerke unter der Erde, überhaupt so lange aushalten konnte. Es waren nicht nur die Ausdünstungen der Leichen und der damit verbundenen chemischen Komponenten, die eingesetzt wurden, um den Verwesungsgeruch einzudämmen. Es war vor allem die bedrückende Atmosphäre an sich, die ihr zu schaffen machte und an die sie sich in den zehn Jahren, die sie schon im Dezernat für Kapitaldelikte arbeitete, nie gewöhnt hatte – und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nie gewöhnen würde.

»Staatsanwältin Lobato hat darauf bestanden, dass ich mir den Fall noch mal ansehen soll«, sagte sie.

Tiago hakte nicht weiter nach. Er war es gewohnt, dass er von ihr keine ausschweifenden Erklärungen erhielt. Sie war kein redseliger Mensch, nicht im Dienst und auch nicht im Privaten. Damit stellte sie für eine Portugiesin vermutlich eine große Ausnahme dar, doch das störte sie nicht im Geringsten. Sie war nun einmal schweigsam und obendrein keine, die sich verstellte, nur um anderen zu gefallen. Beides Eigenschaften, die nicht immer hilfreich für sie waren, wie sie über die Jahre und manchmal auf schmerzhafte Weise hatte lernen müssen.

Tiago ging voraus, hinüber zu den Kühlfächern. Drei mal vier Kammern, in die Wand eingelassen. Er fand auf Anhieb die richtige Lade, ohne vorher ein Verzeichnis zu konsultieren. Die Edelstahlschublade glitt ihnen mit einem leisen, metallischen Schleifen entgegen. Zusammen mit dem toten Körper von Frederico Pedrosa, der mit einem weißen Laken bedeckt war, strömte ein Schwall eiskalter Luft aus dem Leichenschrank.

»Du kennst den Bericht?«, fragte der Pathologe.

Helena nickte. Sie hatte die über die Sektion verfassten Seiten gelesen, gleich nachdem die Staatsanwältin ihr diese übermittelt hatte. Auf direktem Weg, was ungewöhnlich war. Das übliche Protokoll sah nämlich vor, dass sie ihre Einsatzbefehle von einem ihrer Vorgesetzten zugewiesen bekam. Sie konnte sich die ungewohnte Vorgehensweise nur dadurch erklären, dass der Fall Frederico Pedrosa eigentlich gar keiner war. Zumindest keiner, der ins Ressort der Divisão de Investigação Criminal gehörte. Das war auch der Grund, weshalb sie immer noch nicht recht wusste, was sie hier überhaupt sollte.

Tiago griff nach dem Leichentuch und wirkte dabei seltsam zögerlich, so als widerstrebte es ihm aufzudecken, was darunter verborgen lag. »Die Todesursache ist eindeutig. Wieso interessiert sich die Kriminalpolizei dafür?« Das war dieselbe Frage, die auch sie beschäftigte. Dann schlug er, ohne ihre Antwort abzuwarten, eine Ecke des Lakens um.

Obwohl sie sich vorbereitet geglaubt hatte, verspürte Helena beim Anblick des Jungen einen Stich in der Brust, so unerwartet heftig, dass ihr die Knie weich wurden. Auch sie war bis jetzt der Meinung gewesen, schon so ziemlich alles gesehen zu haben, was der Tod aus Menschen machte. Und natürlich kannte sie die Fotos, die dem Sektionsbericht beilagen, wusste von dem Engelsgesicht des Jungen, von seinem zarten Körperbau … Doch ihn so unmittelbar vor sich zu sehen, raubte ihr vor Entsetzen buchstäblich den Atem.

Frederico Pedrosa war nur sechs Jahre alt geworden.

So wie er dalag, erinnerte er an eine Porzellanpuppe. Mit den geschlossenen Lidern sah er aus, als schliefe er. Äußerlich unversehrte Tote waren Helena nicht fremd, doch nie war der Eindruck stärker gewesen, dass da noch Leben in diesem kleinen Körper steckte. Natürlich widersprachen dieser Vorstellung die bläuliche, nahezu durchscheinende Haut und die absolute Reglosigkeit, das Fehlen jeder Atembewegung. Trotzdem haftete der Gedanke an ein schlafendes Kind wie mit einem Saugnapf von innen an ihrer Schädeldecke und war nicht abzuschütteln. Der Eindruck war so intensiv, dass sie sich gezwungen fühlte, die nackte Schulter des Kindes zu berühren.

Die milchweiße Haut war eiskalt. Und er war erschreckend dünn. Die Schlüsselbeine traten weit hervor, die Arme waren nur mit Haut überzogene Knochen, und man konnte jede einzelne Rippe erkennen. Was sie sah und empfand, hielt sie mehrere Sekunden gefangen. Erst ein verhaltenes Räuspern von Tiago machte ihr dessen Anwesenheit wieder bewusst.

Sie räusperte sich. »War er deiner Meinung nach unterernährt?«

Tiago wiegte leicht den Kopf hin und her. »Auf der Gewichtsskala für seine Altersgruppe befand er sich im unteren Bereich … aber nicht so gravierend, dass es besorgniserregend gewesen wäre. Allerdings tippe ich auf eine gewisse Mangelernährung. Oder lass es mich so ausdrücken: Es sieht mir nicht danach aus, als hätte man das Kind besonders gesund verpflegt.«

Helena neigte sich über das Kind, suchte nach Details, die sein Ableben erklärten, obwohl sie aufgrund des Berichts bereits wusste, dass es nichts zu finden gab.

»Ich dachte, man würde etwas … erkennen«, bemerkte sie leise.

»Die Schwellungen der Atemwege sind nur innerlich. Und natürlich gibt es Einblutungen in den Augäpfeln. Soll ich seine Lider öffnen?«

»Nicht nötig, ich weiß, wie so was aussieht«, erwiderte sie schnell.

»Es war im Übrigen die Zunge, die aufgrund des allergischen Schocks so angeschwollen ist, dass er keine Luft mehr bekommen hat. Natürlich verbunden mit der Tragik, dass niemand in seiner Nähe war, der ihm hätte helfen können.« Tiago schüttelte den Kopf. »Die Allergie gegen Hasel- und Walnüsse war vom Kinderarzt diagnostiziert. Dass er trotzdem Zugang zu Lebensmitteln mit diesen Inhaltsstoffen hatte, ist aus meiner Sicht eindeutig das Verschulden der Eltern. Und ich rede hier nicht davon, dass er was gegessen hat, das bloß geringfügige Mengen der Allergene enthielt. In seinem Magen befanden sich mehr als nur Spuren von Nüssen. Dennoch handelt es sich aus meiner Sicht um einen Unglücksfall.« Er sah sie an. »Warum also gibt es jetzt weitere Ermittlungen?«

Helena fiel es schwer, den Blick von dem Jungen zu nehmen. Natürlich hätte sie nicht unbedingt herkommen und sich mit dem Leichnam des Jungen konfrontieren müssen. Sie wusste schließlich, wie schwierig so etwas werden konnte. Tote Kinder trafen sie immer und ausnahmslos am härtesten. Aber Staatsanwältin Lobato hatte so besonders eindringlich darum gebeten, den Tod des Jungen zu durchleuchten. Und zwar mit derselben Herangehensweise, die Helena auch sonst bei ihr zugewiesenen Gewaltdelikten an den Tag legte.

Machen Sie alles wie immer! Genau das waren Lobatos Worte gewesen. Machen Sie alles wie immer!

Alles wie immer. Und dazu gehörte für sie nun einmal, nicht nur Tiagos Aufzeichnungen zu lesen, sondern auch sich dessen fachliche Meinung persönlich anzuhören. Außerdem ging es hier nicht nur um die Folgen eines anaphylaktischen Schocks nach dem Verzehr von nusshaltiger Schokolade.

»Wie beurteilst du die Frakturen, die im Bericht aufgelistet sind?«

Tiago hob die rechte Braue. »Natürlich könnte man argumentieren, dass Frederico ein aufgeweckter, sehr lebhafter Junge war. Einer, der es nicht lassen konnte, auf Bäume oder dergleichen zu klettern, und der demzufolge häufig auch leicht mal irgendwo herunterfiel. Ich meine, die Brüche, Risse und Schnittwunden wurden zum größten Teil ärztlich versorgt. Eigentlich deutet nichts darauf hin, dass die Verletzungen, die sich das Kind in den sechs Jahren, die ihm vergönnt waren, zugezogen hatte, vertuscht werden sollten. Aber du hast sicher recht, dass es sich um auffällig viele Frakturen und Teilfrakturen handelt.«

»Die unter Umständen auch anders zu erklären sind als nur durch Abstürze aus Bäumen?«, hakte Helena nach, wohl wissend, dass sie keine wissenschaftlich fundierte Antwort darauf erwarten durfte.

»Erwarte keine Mutmaßungen von mir«, sagte Tiago prompt. »Das herauszufinden ist deine Aufgabe.«

2

Die Staatsanwaltschaft war im Palácio da Justiçia de Lisboa untergebracht, einem funktionalen Betonklotz aus den 1970er-Jahren. Unansehnlich, aber in so exponierter Lage oberhalb des Parque Eduardo VII errichtet, dass er von fast überall zu sehen war. Von dem sechsstöckigen Verwaltungsgebäude konnte man auf das angrenzende Gefängnis blicken, das lange Zeit vor dem Justizpalast dort auf jenem Hügel entstanden war. Ebenso weithin sichtbar, galt es als eines der abschreckendsten Mahnmale für die Grausamkeiten, die einem Menschen während der einstigen Diktatur hatten widerfahren können.

Im vormittäglichen Verkehr benötige Helena für die nur knapp vier Kilometer von der Universitätsklinik bis hoch auf die Anhöhe eine gute Viertelstunde. Immer noch fuhr sie ihren uralten 205er Peugeot, der nun schon seit mehreren Jahren auseinanderzufallen drohte. Die größte Sorge bereitete ihr aktuell die Kupplung, die wohl demnächst den Geist aufgeben würde. Es wäre einfacher und vor allem sicherer gewesen, eines der Dienstfahrzeuge zu nehmen, aber vermutlich brauchte sie den Nervenkitzel, den ihr der miserable Zustand ihres fahrbaren Untersatzes bescherte. Auf gewisse Art spiegelte die Fahrt mit dem klapprigen Vehikel ihre gesamte Lebensweise wider. Ohne bewusste Absicht wählte sie seit jeher meist den komplizierteren Weg für sich, der sie dann prompt vor größere Herausforderungen stellte, als nötig gewesen wären. Dieses fast schon zum Selbstzerstörerischen neigende Vorgehen spiegelte sich jüngst auch in der Beziehung wider, die sie gerade führte.

Helena schüttelte den Kopf. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, um über ihre Gefühle für Henrik Falkner zu grübeln, die sie bisweilen ähnlich nachdenklich stimmten wie die schleifende Kupplung und das Knirschen im Getriebe ihres Peugeot. Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück zu Frederico Pedrosa. Der Erstickungstod des Jungen hatte sich vergangenen Freitag zugetragen, also bereits vor fünf Tagen. Der Notruf der Mutter, Andreia Pedrosa, war laut Polizeibericht kurz nach halb neun Uhr abends eingegangen. Viel zu spät, wie sich nach Eintreffen des Notarztes herausstellte. Das Kind war nicht mehr zu retten gewesen, die vor Ort durchgeführten Wiederbelebungsmaßnahmen waren in jeder Hinsicht nicht mehr rechtzeitig eingeleitet worden. Nach einer ersten Befragung durch die Einsatzkräfte wurde schnell bekannt, dass der Sechsjährige allein und unbeaufsichtigt zu Hause gewesen war, als er sich an diesem Freitagabend über die Schokolade hermachte, die eine für ihn tödliche Menge an Nüssen enthielt. Wie hatte es dazu kommen können? Wo waren die Eltern gewesen? Fragen, die bislang nicht ausreichend beantwortet worden waren, wenn es nach Staatsanwältin Ana Lúcia Lobato ging.

Um dem Ehepaar Pedrosa eine Verletzung der Aufsichtspflicht nachzuweisen, bedurfte es eigentlich nicht der Mordkommission. Doch diesen Einwand hatte Lobato bei ihrem gestrigen Anruf, der Helena kurz vor Feierabend erreicht hatte, nicht hören wollen. Sie verlangte, dass die Kripo sich mit der Untersuchung befasste. Wobei mit die Kripo Inspetora Helena Gomes gemeint war – was ihr allerdings erst nach dem Gespräch bewusst geworden war. Lobato wollte in der Tat ausschließlich sie für diese Aufgabe haben.

Ansonsten war es ein kurzes Telefonat gewesen, in dem ihr knappe, präzise Anweisungen erteilt wurden. Sehen Sie sich die Akte an, lesen Sie den Autopsiebericht. Und bis dahin: kein Wort zu niemandem! Alles Weitere klären wir morgen in meinem Büro!

Dorthin war sie genau jetzt unterwegs.

Helena betrat das Amtszimmer, das ihr genannt worden war, und ihr Blick fiel auf einen leeren Schreibtisch, was sie für eine Sekunde denken ließ, dass sie sich in der Tür geirrt hatte. Doch dann sah sie eine Frau im Gegenlicht an der nach Osten gerichteten Fensterfront stehen, die ihr den Rücken zukehrte und auch keine Anstalten machte, sich zu ihr umzudrehen. Entweder war sie in Gedanken vertieft, oder der Ausblick über die Stadt hielt sie gefangen. Dieser Ausblick fiel heute vermutlich versöhnlicher aus als in den vergangenen Wochen. Die Frühlingssonne ließ die tiefer und näher beim Tejo gelegenen Viertel erstrahlen und gleichwohl in einem Dunst versinken, der den bebauten Hügeln ringsum weiche, seltsam unwirkliche Konturen verlieh. Es war ein herrlich warmer, nahezu wolkenloser Tag vorhergesagt worden, und das Wetter hielt, was die Meteorologen versprochen hatten. Der März war temperaturmäßig bislang nicht in die Gänge gekommen und hatte die Kälte aus den Wintermonaten nach Helenas Empfinden viel zu lange bewahrt. Jetzt, Ende des Monats, sehnte sich Lissabon nach Sonne, und endlich wurden diese Sehnsüchte erfüllt.

»Inspetora Gomes, setzen Sie sich«, sagte die Frau am Fenster, immer noch in die Betrachtung der Stadt versunken. Vermutlich reichte die schwache Spiegelung im Fenster aus, um der Staatsanwältin, um die es sich zweifellos handelte, zu zeigen, wer ihr Büro betreten hatte. Außerdem war Helena natürlich angemeldet, auch wenn keine genaue Uhrzeit vereinbart worden war. Sie hatte einfach vorab nicht einschätzen wollen, wie lang sie sich in Tiagos Katakomben aufhalten würde.

Endlich drehte Lobato sich um. »Kommen Sie direkt von der Gerichtsmedizin?«, fragte sie ohne weitere Begrüßung.

Helena nickte. Noch immer stand sie wie festgewurzelt mitten im Zimmer.

»Und teilen Sie meine Ansicht?«

»Es ist tragisch …«, begann Helena und wusste dann nicht weiter.

Lobato löste sich vom Fenster und ging hinüber zu der Sitzecke, die neben dem Schreibtisch das einzige Möbel in dem quadratischen Raum war. Das Büro entsprach keineswegs den antiquierten, abgenutzten Arbeitszimmern, die Helena bisher in diesem Verwaltungsgebäude zu Gesicht bekommen hatte. Vermutlich hatte Lobato auf einem neuen Anstrich bestanden, nachdem sie vor einigen Monaten in dieses Amt berufen worden war. Jegliche Holzvertäfelung an den Wänden war verschwunden, und den abgetretenen Teppichboden, der vor einem halben Jahrhundert im ganzen Gebäude verlegt worden war, hatte man hier durch ein wunderbar gemasertes Parkett ersetzt. Zudem fiel auf, dass sich nirgendwo Papierakten stapelten, die sich sonst für gewöhnlich in den Arbeitsräumen der Staatsanwälte türmten. Lobato war dafür bekannt, alles digital zu sichten und zu bearbeiten, was für viele ihrer Kollegen – vor allem für die älteren – ein echtes Problem darstellte. Ihre moderne Arbeitsweise war aber vermutlich nicht das Einzige, woran die sonst ausschließlich männlichen Staatsbediensteten ihres Ranges Anstoß nahmen.

Ana Lúcia Lobato war eine aparte Erscheinung. Überaus attraktiv. Groß gewachsen und gertenschlank. Dunkelhaarig. Helena kannte die Frau bisher nur von Fotos und hatte sie auch nie mit offenen Haaren gesehen, aber sie war sicher, dass sie ihr bis hinunter zur Hüfte reichten, sobald sie den strengen Knoten löste, zu dem sie das Haar hochgesteckt hatte. Wie immer trug Lobato einen Anzug, der ihre langen Beine betonte, heute einen in hellem, beinahe türkisfarbenem Blau. Die eng geschnittenen Hosen waren mittlerweile eine Art Markenzeichen von ihr geworden.

Ana Lúcia Lobato war Ende dreißig, wirkte aber jetzt im strahlenden Morgenlicht älter, was sie zum einen ihrer kräftezehrenden Arbeit, zum anderen aber auch den Widerständen innerhalb ihrer Behörde zu verdanken hatte. Es war allgemein bekannt, dass sie die Absicht verfolgte, bald zur Oberstaatsanwältin ernannt zu werden. Und nach allem, was Helena bisher über Lobato gehört hatte, hegte sie keine Zweifel, dass ihr dies auch gelingen würde. Zumal sie mit Rückendeckung vom Justizministerium rechnen konnte, wie gemunkelt wurde. Die Regierung wollte frischen Wind in den höchsten Besoldungsstufen und eine bessere Frauenquote – womit die Weichen so gut wie gestellt waren.

Lobato nahm auf einem der Lederhocker Platz, die um einen runden Glastisch drapiert waren. Alles ohne Lehne, damit nicht der Eindruck entstand, man könne es sich hier zu gemütlich machen. Ungeduldig deutete die Staatsanwältin an, dass auch Helena sich endlich setzen sollte. Grundsätzlich war Helena jemand, der im Gespräch mit Vorgesetzten gerne stehen blieb, doch diesmal kam sie der Aufforderung nach. Die Staatsanwältin nickte wohlwollend und griff dann nach dem Tablet-PC, der vor ihr auf dem Tisch lag. Mit schnellen Fingern tippte sie darauf herum, bis sie die Akte von Frederico Pedrosa angezeigt bekam. Für Sekunden herrschte Schweigen. Helena rutschte auf dem Hocker herum, konnte aber keine gute Position für sich finden. Erst als Lobato von dem Bildschirm in ihrem Schoß aufblickte, hielt sie inne.

»Ich schätze Sie, Inspetora. Das wissen Sie doch?«

Helena sagte nichts. Sie hatte bis zum gestrigen Telefonat noch nie persönlich Kontakt zu der Staatsanwältin gehabt. Lobato kannte allenfalls Berichte von ihr, die sie für Anklageerhebungen verfasst hatte. Und was in den polizeiinternen Akten über sie vermerkt war, war mit großer Wahrscheinlichkeit nicht durchgängig positiv. Sie wusste also keineswegs, dass – oder wieso – Ana Lúcia Lobato ihr solche Wertschätzung entgegenbrachte.

»Sie haben keinen leichten Stand in Ihrer Abteilung, auch das ist mir bekannt«, fuhr die Staatsanwältin fort. »Was das angeht, kämpfen wir an ähnlichen Fronten. Sie und ich, wir sind für Veränderung und Transparenz, und damit haben viele unserer Kollegen immer noch ein Problem. Nun, wie dem auch sei, ich betraue Sie mit diesem Fall, weil Sie meiner Ansicht nach die Richtige dafür sind.«

Helena nickte knapp. »Ich bin mir nur nicht sicher, ob es wirklich ein Fall fürs Morddezernat ist. Ich meine, die Fakten sprechen nicht einmal für Totschlag.«

»Das weiß ich.« Lobato seufzte. »Zum jetzigen Stand der Ermittlungen haben wir nichts als einen Unfall, dem allenfalls eine Anklage wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht gegen die Eltern folgen kann. Aber das reicht mir nicht, Inspetora«, fügte sie eindringlich hinzu. »Diese Schokolade war das Einzige, was der Junge an diesem Tag zum Essen finden konnte. Ich war vor Ort, Inspetora. Im Kühlschrank befand sich nichts, zumindest nichts, was Frederico ohne irgendeine Form der Zubereitung hätte essen können. Seine letzte Mahlzeit hatte er mittags in der Schule erhalten. Danach war er den Rest des Tages allein zu Hause und bekam logischerweise irgendwann Hunger. Er hat siebenmal bei seiner Mutter auf dem Handy angerufen und dreimal beim Vater. Andere Nummern waren in dem Hausanschluss nicht einprogrammiert. Es gab also sonst niemanden, an den er sich hätte wenden können. Was hätte er tun sollen, mit seinen sechs Jahren und der Ungewissheit darüber, wann seine Eltern endlich nach Hause kommen?«

Helena lag die Frage auf der Zunge, aus welchem Grund die Telefondaten der Eltern überprüft worden waren. Vor allem, wie Lobato diese Befugnis nach der aktuellen Sachlage überhaupt hatte erteilen können. »Zu den Nachbarn gehen vielleicht?«, schlug sie stattdessen vor, ohne zu wissen, ob diese Option bestand. In der dünnen Akte hatte sie nichts dazu gefunden.

»Sehen Sie sich die häusliche Situation an und urteilen Sie selbst«, erwiderte Lobato. Ihre Miene wurde hart. »Nehmen Sie sich die Eltern vor, und seien Sie dabei bloß nicht zimperlich! Ich will mehr als das, was uns im Moment als Aussagen vorliegt. Ist das klar?«

3Henrik

Nach und nach beschlich ihn der Verdacht, dass er diesmal danebenlag. Danebenlag, weil er es selbst heraufbeschworen hatte. Was natürlich in erster Linie mit dem Keller zu tun hatte. Nach dem Wasserschaden, der im vergangenen Jahr das Untergeschoss – und damit verbunden die Bausubstanz des Gebäudes an sich – arg in Mitleidenschaft gezogen hatte, stand nun eine umfangreiche Sanierung des Fundaments an. Was voraussetzte, dass der Keller endlich vollständig leer geräumt werden musste.

Hätte es sich dabei um einen normalen Keller gehandelt, wäre das eine zwar unliebsame, aber durchaus überschaubare Angelegenheit gewesen. Doch das Untergeschoss des Hauses Nummer 38 in der Rua do Almada war von seinem Onkel überwiegend als Inventarlager genutzt worden und beherbergte einen immensen Bestand an antiquarischen Büchern und dazu eine Vielzahl von Antiquitäten. Kurz gesagt alles, was sich in über vierzig Jahren angesammelt und nie oder nur zeitweilig einen Platz im darüberliegenden Laden gefunden hatte. Tonnen von Druckwerken, wurmstichiges Mobiliar und allerlei unkatalogisiertes Zeug, das über die Jahrzehnte zusammengekauft worden war.

Bisweilen fragte sich Henrik, ob es nicht vielleicht allein an dem manchmal bis unter die Kellerdecke gestapelten Nachlass seines Onkels lag, dass das Haus noch nicht eingestürzt war. Was eigentlich ein ausreichendes Argument gewesen wäre, den jetzigen Zustand zu belassen, oder? Nun, er wusste, dass dies auch nur eine Ausrede war, sich vor der staubigen Arbeit des Entrümpelns zu drücken.

Allerdings musste er tatsächlich ständig befürchten, etwas zu entsorgen, das Martin Falkner wohlweislich verwahrt hatte. Sprich, es aus einem anderen Grund aufgehoben hatte als dem, es irgendwann einmal an einen Sammler zu veräußern. Das bedeutete, dass mit dem Leerräumen des Kellers Dinge verloren gehen mochten, die sein Onkel dort ganz bewusst verborgen hatte, so wie dies auch im Antiquariat selbst der Fall war. Denn dieses Haus barg Geheimnisse der besonderen Art: versteckte Hinweise auf ungeklärte Verbrechen, die in Lissabon im Laufe der letzten vier Jahrzehnte – oder sogar noch früher – begangen worden waren. Martin hatte sich dieser Verbrechen angenommen und seine Recherchen dazu im Antiquariat archiviert. Auslöser für seine privaten Ermittlungen war ein schwerer Schicksalsschlag gewesen, der ihn vor dreißig Jahren getroffen hatte. Damals hatte Martin begriffen, dass nicht immer auf die Behörden Verlass war, sondern dass Korruption und Vetternwirtschaft Polizei und Staatsanwaltschaft gelegentlich davon abhielten, Verbrechen aufzuklären und Schuldige zu verurteilen.

Onkel Martins Absichten waren anerkennenswert, sein Vorgehen jedoch mehr als unkonventionell. In seinem offenkundig chaotischen Warenbestand hatte er verschlüsselte Botschaften hinterlassen, die auf diese ungeklärten Verbrechen verwiesen. Und nun war es an Henrik, der mit dem Haus seines Onkels auch dessen Antiquariat und die darin vergrabenen Geheimnisse geerbt hatte, das ganze Geflecht zu entwirren. Als ehemaligem Kriminalkommissar war es ihm längst zum Anliegen geworden, diese ungesühnten Vergehen aufzuklären. Einerseits weil sein Gespür für Unrecht auch ohne Dienstmarke immer noch bestens funktionierte. Andererseits weil ihn jedes Mal, wenn er hier etwas auf der Spur war, eine Art Fieber überkam, das sich nur dadurch auskurieren ließ, dass er die Wahrheit ans Licht brachte. Und das, obwohl sein selbstloses Engagement nicht unbedingt dafür sorgte, dass die Täter auch juristisch zur Verantwortung gezogen wurden. Doch darum ging es ihm gar nicht. Viel wichtiger war es Henrik, den Hinterbliebenen der Opfer das Gefühl zu geben, dass es jemand gab, der sein Möglichstes daransetzte, irgendwie für Gerechtigkeit zu sorgen.

So gesehen hatte er neben der Verantwortung, die Martin ihm mit seinen archivierten Verbrechen auferlegt hatte, noch einen weiteren Grund, den Inhalt des Kellers mit größtem Bedacht zu durchstöbern, bevor alles unwiederbringlich in Müllcontainern landete. Leider rückte der Termin immer näher, an dem die Baufirma mit der Arbeit beginnen wollte.

Daher kam es ihm gerade recht, dass ihm neulich erst etwas unter die Finger gekommen war, weswegen er seinen Tag heute nicht im Untergeschoss seines Hauses verbrachte. Diese jüngste Entdeckung hatte er verborgen in einem Nachschlagewerk über Lissabons Architektur gefunden, einem wertvoll wirkenden Folianten mit aufwendigen Radierungen und uralten Schwarz-Weiß-Fotografien. Zwischen diesen Seiten steckten Notizen seines Onkels – in gewohnter Manier verschlüsselt.

Wie immer galt es, zuerst die Zeichen und Hinweise von Martin richtig zu interpretieren. Nie waren diese auf den ersten Blick verständlich und zumeist auch nicht alle an ein und demselben Ort verborgen. Eher galt es, einer Art Köderspur zu folgen, wollte man alle Teile des Rätsels finden und zusammenfügen. Detektivarbeit eben. Knifflig und bisweilen gefährlich, sobald man sich dem näherte, was es aufzudecken galt. Und derjenige in Sicht kam, der Martins Meinung nach zur Rechenschaft gezogen werden sollte.

Leider waren die Hinweise diesmal recht dürftig; sämtliche Spuren, denen er gefolgt war, hatten in Sackgassen geendet. Auch heute sah es nicht danach aus, als ob der Ermittlungsfaden, der ihn hier heraufgeführt hatte, neue Erkenntnisse brächte. Immerhin stand jetzt fest, dass das Aqueduto das Águas Livres der Ort war, an dem diese Verbrechen einst verübt worden waren.

4

Zum Glück glich der herrliche Tag den Frust über den zähen Fortgang der Ermittlung in vollem Maße aus. Endlich roch es nach Frühling. Er hätte nicht einmal eine Jacke gebraucht. Zumindest nicht, solange er hier oben in der Sonne stand. Von der Anhöhe des Largo da Igreja im Stadtteil Campolide aus verfügte er über einen weiten Ausblick, unter anderem hinüber zum Parque Eduardo VII, wo die Botanik ihre Auferstehung aus der Winterstarre bereits in zahllosen Grüntönen feierte. Nach Westen hin ragte das erstaunliche Aquädukt auf, das überhaupt erst für die Gründung diese Viertels verantwortlich gewesen war. Als man im 18. Jahrhundert mit dem Bau der Wasserleitung für Lissabon begann, brauchte man Unterkünfte für die zahlreichen Arbeiter, weshalb man sie dort ansiedelte, wo die bis gut fünfundsechzig Meter hohen Bögen über das Alcântaratal führten. Dieser Abschnitt des Aquädukts war zwar nur ein kleines Teilstück der damals errichteten, knapp sechzig Kilometer langen Gesamtstrecke der städtischen Wasserversorgung, dafür aber ohne Frage der auffälligste, mit seinen imposanten fünfunddreißig Bögen, die sich über den Flusslauf erstreckten und es dabei auf knapp tausend Meter Länge brachten.

Nach seiner Fertigstellung war das Aquädukt allen zugänglich, doch trug eine Vielzahl von Selbstmorden und vorsätzlichen Tötungen – an jenen, die nicht freiwillig springen wollten – dazu bei, dass man der Öffentlichkeit das Betreten des Bauwerks wieder verwehrte. Was freilich nicht bedeutete, dass man nicht dennoch Menschen von dort oben in die Tiefe stoßen konnte. In Martins Archiv waren ein paar dieser Fälle dokumentiert, die bis zum heutigen Tag ungeklärt geblieben waren.

Natürlich war das Nationaldenkmal längst nicht mehr in Betrieb, sondern bereits vor nahezu einem halben Jahrhundert stillgelegt worden. Mitte der 1980er-Jahre hatte man es dann wieder für Besucher und Touristen geöffnet, was sich in der Tat als findiger Schachzug erwies. Seitdem organisierte das Wassermuseum, zu dem das Aquädukt gehörte, Führungen, bei denen man auch ins Innere des Bauwerks gelangte. Unter anderem auch in das Wasserreservoir Mãe d’Água das Amoreiras, was alles in allem sehr beeindruckend war. Beeindruckend und auch erschreckend in Bezug auf die mysteriösen Geschehnisse rund um das Aqueduto das Águas Livres, die sich damals dort ereignet hatten. Jene Fälle, die Martin archiviert hatte, reichten weit zurück. Täter und Umstände waren nie ermittelt worden, soweit Henrik das mit Helenas Unterstützung in Erfahrung hatte bringen können. Laut den Polizeiakten handelte es sich um Suizide, was Henrik allerdings nicht so stehen lassen wollte. Denn Martin schien davon überzeugt gewesen zu sein, dass die angeblichen Selbstmorde von drei jungen Männern keine waren. Laut Ansicht seines Onkels waren sie nicht freiwillig von dem Bauwerk gesprungen.

Seit Henrik im Antiquariat auf Hinweise dazu gestoßen war, versuchte er mehr darüber herauszufinden. Vorrangig im Antiquariat, da wie immer nicht auszuschließen war, dass Martin weitere Informationen über die Vorfälle am Aquädukt in irgendeiner Form in der Rua do Almada 38 verwahrt hatte. Aber natürlich recherchierte Henrik auch am Tatort. Daher betrachtete er an diesem lauen Frühlingstag nun zum wiederholten Mal die gigantische Konstruktion, über die Lissabon einst mit Wasser versorgt worden war. Leider wollten sich auch heute weder neue Eingebungen noch Erkenntnisse einstellen. Stattdessen mehrten sich bei ihm die Zweifel.

Schon am Montag hatte er zusammen mit einer Touristengruppe aus den Niederlanden an der Führung teilgenommen. Zwar hatte er die Architektur und die ausgeklügelte Technik bewundert, aber keinerlei Idee bekommen, wie der Täter oder auch die vermeintlichen Selbstmörder es nachts geschafft haben sollten, die Schranken und verschlossenen Türen zu überwinden, um dorthin zu gelangen, von wo sie in die Tiefe gestürzt waren. Das war es nämlich, was diese Suizide von denen anderer Menschen im angegebenen Zeitraum unterschied. Alle drei waren laut dem Untersuchungsbericht unabhängig voneinander an derselben Stelle ums Leben gekommen.

Selbstverständlich waren die Zugänge vor drei Jahrzehnten deutlich weniger gesichert gewesen. Die Drehkreuze mit Strichcode-Scanner hatte es damals noch nicht gegeben. Und auch keine Security, wie sie heute in solchen Einrichtungen nicht mehr wegzudenken war. Dennoch war genau das der Knackpunkt, ein Detail, das er nicht außer Acht lassen durfte. Leider war das aber auch schon alles, was er in den letzten Tagen zusammengetragen hatte. Das – und die logische Folgerung, dass man sich auch einfacher hätte umbringen können, als sich vom Aqueduto das Águas Livres zu stürzen. Mit einer einfachen und entsprechend hohen Straßenbrücke hätte man letztlich denselben Effekt erzielen können. Aber reichte das, um daraus auf Morde zu schließen? Nun, Martin schien davon überzeugt gewesen zu sein, sonst wären die drei Männer und die Umstände ihres Ablebens nicht als Vermächtnis im Antiquariat gelandet.

Warum also das Aquädukt? Wenn man in diese Richtung weiterdachte, war man schnell bei Dingen wie Ritualmorden oder kultischen Opferungen. Ein symbolischer Akt, den nur der Mörder erklären konnte, sofern er überhaupt noch am Leben war. Hatte die mächtige Anlage womöglich eine besondere Bedeutung für den Täter gehabt? Oder für die Ermordeten? Lauter vage Hypothesen ohne Belege und Beweise.

In seiner Tasche vibrierte das Handy und riss ihn aus seinen Grübeleien. Helenas Name leuchtete auf dem Display. Ungewöhnlich für diese Uhrzeit. Statt sich zu freuen, spürte er ein ungutes Gefühl aufkeimen. Grundsätzlich vermied sie es nämlich, sich bei ihm zu melden, während sie im Dienst war. Nach wie vor hatte sie ein Problem damit, ihre Beziehung gegenüber ihren Kollegen und Vorgesetzten öffentlich zu machen. Was unter anderem daran lag, dass Henrik ein gewisser Ruf anhaftete. Manchmal scherzte er darüber, dass in ihrer Dienststelle auch ein Bild von ihm an der Wand mit den gesuchten Terroristen und den flüchtigen Schwerverbrechern hing. Ein Scherz, über den Helena nicht wirklich lachen konnte. Seit er in Lissabon lebte, hatte er schon öfter Zeit in einer Gefängniszelle verbracht, auch wenn es dabei meist nur darum ging, ihn für eine Weile aus dem Verkehr zu ziehen. Bislang war es nie zu einer Anklage gekommen. Und trotzdem, er war so etwas wie ein rotes Tuch für einige Leute in der PSP.

Rief Helena also mitten am Tag bei ihm an, konnte das eigentlich nur bedeuten, dass etwas passiert war. Dementsprechend gedämpft nahm er das Gespräch entgegen.

»Wo bist du?«, fragte sie sofort, ganz wie es ihre Art war. In der Regel verzichtete sie auf Begrüßungsfloskeln oder Small Talk und kam lieber gleich zum Wesentlichen.

»Campolide.«

»Schon wieder?«

»Du kennst mich doch. Wenn ich mich in was verbeiße, lass ich so schnell nicht wieder los.«

Sie ging nicht darauf ein, sondern kam gleich zum Thema. »Ich bin in der Nähe, können wir uns treffen?«

5Helena

Sie verabredeten ein Treffen im Jardim Amália Rodrigues, einer terrassenförmigen Anlage, die den Parque Eduardo VII nach Nordwesten hin verlängerte und ihn damit zur größten innerstädtischen Grünfläche von Lissabon machte. Um dort hinzugelangen, erbat Henrik sich eine halbe Stunde, weil er zu Fuß gehen wollte. Helena hingegen war schon vor Ort, weil die Parkanlage nur durch die Rua Marquês de Fronteira vom Justizpalast getrennt wurde. Also schlenderte sie in einer für sie ungewöhnlichen Gemächlichkeit über die Straße und setzte sich auf eine der Steinstufen, um die Aussicht zu genießen. Der Parque Eduardo VII ersteckte sich in einer Flucht mit der Avenida da Liberdade über zwei Kilometer vom Praça Marquês de Pombal bis runter zum Praça dos Restauradores. Die Laubdächer der mächtigen Platanen, welche die Allee bildeten, waren in den letzten Tagen bereits erstaunlich dicht geworden, obschon bis dahin quasi noch Winter in der Stadt geherrscht hatte. Jenseits des Baixa-Viertels hing noch ein milchiger Morgendunst über dem Tejo, und auch dieser Anblick barg einen ungeahnten Zauber. Vor ihr breitete sich die Stadt aus, in der sie aufgewachsen war. Ihr geliebtes Lissabon. So betriebsam und gleichzeitig so wunderbar anzuschauen. Sie hatte noch nie das Bedürfnis empfunden, woanders zu leben. Und das, obwohl sie auch die Schattenseiten der Metropole bereits zur Genüge kennengelernt hatte. Aber sie hatte von Anfang an gewusst, was sie als Polizistin jeden Tag aufs Neue erwarten durfte und welchen Dämonen sie sich zu stellen hatte. Und sie hatte sich nicht davon abschrecken lassen. Im Gegenteil, sie strebte stets dorthin, wo die Abgründe am tiefsten waren.

Nachdem sie erfolgreich die Polizeiakademie abgeschlossen hatte, bewarb sie sich bei der Kriminalpolizei und wurde zu ihrer Überraschung sofort angenommen. So war sie dort gelandet, wo sie ihrem Empfinden nach am meisten für die Stadt und die Menschen tun konnte. Ihr ging es schlicht darum, das Verbrechen zu bekämpfen und die Wahrheit ans Licht zu bringen, auch wenn das ziemlich pathetisch klang. Besonders wenn man bedachte, was sie heute wusste. Nach all der Ernüchterung, die sie während ihrer Jahre bei der Divisão de Investigação Criminal erfahren hatte.

Natürlich hing die Entscheidung für ihren Beruf auch mit ihrem Bruder Tomás zusammen. Tomás war sieben gewesen, als er 1986 spurlos verschwand.

Lange davor war bei ihm eine Autismusstörung diagnostiziert worden, die das Familienleben schwierig gemacht hatte. Ihr Bruder hatte stets im Mittelpunkt von allem gestanden, auch wenn er das älteste der drei Geschwister war. Zwischen Tomás und ihr war da noch Clara. Clara und Helena, die kleinen Schwestern, die immer vernünftig und folgsam sein mussten, während Tomás alles erlaubt war.

Doch nachdem Tomás weg war, war alles noch viel schrecklicher geworden …

Sie hatte die Jacke ausgezogen, so sehr wärmte die Sonne zur Mittagszeit. Ohne jeden Schatten um sie herum war es hier nur deshalb auszuhalten, weil vom Fluss her ein kühlender Wind heraufstrich. Eine Atlantikbrise, frisch und wohltuend. Der salzige Atem des nahen Meers, hatte sie früher immer gedacht, obwohl es sich eher um die Gerüche der am Flussufer gelegenen Viertel handelte. Doch das machte ihr nichts aus, solange der Wind damit ihren Kopf durchlüftete. Häufig genug hielt ihre Vergangenheit sie gefangen, jedenfalls öfter, als sie es gebrauchen konnte. Und dazu war nicht einmal ein Fall nötig, bei dem ein Kind betroffen war.

Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, ob die Staatsanwältin sie deshalb ausgewählt hatte, um die Umstände von Frederico Pedrosas Tod noch einmal zu hinterleuchten. Weil sie familiär vorbelastet war.

Sie vernahm ein Geräusch neben sich und blickte auf. Er trug eine Sonnenbrille und lächelte sein für ihn so typisches Lächeln, dem irgendwie immer eine Spur Verlegenheit anhaftete. »Du bist pünktlich«, lobte sie ihn scherzhaft. Pünktlichkeit war definitiv eine seiner deutschen Eigenschaften, mit denen sie ihn gerne aufzog. Abgesehen davon, dass er wahrlich noch ein paar andere hatte. Doch so nach und nach kam sie auch damit zurecht.

Auf den zweiten Blick wirkte Henrik etwas abgekämpft. Auch das gehörte zu ihm. Stieß er auf eines jener ungeklärten Verbrechen, die sein Onkel ihm hinterlassen hatte, verfiel er leicht in diesen angeschlagenen Zustand, der ihn ständig müde wirken ließ. Zudem glitt er in dieser Phase gelegentlich in einen Tunnel, der keine Sicht nach rechts und links mehr ermöglichte. Allerdings stand sie ihm dabei in nichts nach. Bekam sie einen Fall zugewiesen, der sie packte, musste sie aufpassen, nicht ebenfalls die Welt um sich herum auszugrenzen.

»Ich hab mich beeilt«, sagte er und setzte sich leicht außer Atem zu ihr auf den steinernen Absatz. Dabei war er in den letzten Monaten immer besser in Form gekommen. Als sie ihm das erste Mal begegnet war, hatte er locker zehn Kilo mehr auf den Rippen gehabt. Sie küssten sich, eher auf die freundschaftliche Art und weniger wie zwei Liebende. Ein Verhalten, das sie sich angewöhnt hatten, als sie noch in der Phase das Abwägens feststeckten. Eine Zeit, in der es mit ihnen ständig auf und ab ging, wo auf Täler der Aussichtslosigkeit Gipfel mit klarem Blick auf eine gemeinsame Zukunft folgten. Während Helena sich immerzu dem Konflikt ausgesetzt fühlte, dass sie wegen ihres Arbeitgebers eigentlich keine Beziehung zu dem alemão haben sollte.

»Was für ein Wetter«, stellte er fest und blickte nun seinerseits über den Park hinweg auf die Avenida da Liberdade.

»Wie kommst du voran?« Er hatte ihr von den Toten am Aquädukt erzählt, kaum dass er im Antiquariat auf die entsprechenden Hinweise gestoßen war. Auch was das anging, hatte er sich deutlich gebessert und die Geheimniskrämerei irgendwann sein lassen, als er merkte, dass er sie damit bloß immer weiter von sich wegstieß. Soweit sie das beurteilen konnte, verschwieg er ihr nichts mehr von dem, was er aus den Tiefen des Antiquariats zutage förderte. Zu Beginn ihrer Bekanntschaft hatte dieses stete Misstrauen für große Probleme zwischen ihnen gesorgt. Und seine oft illegalen Alleingänge, die er während seiner Ermittlungen unternahm, hatten nicht nur ihn, sondern auch sie immer wieder in Schwierigkeiten gebracht. Doch nun schien es, dass sie das im Griff hatten. Dass er sich im Griff hatte.

»Gar nicht«, antwortete er, ohne den Blick von der Aussicht zu wenden. »Ich verfüge über zu wenig Informationen. Das Spiel ist im Grunde immer das Gleiche. Martin hat seine Brotkrumen gestreut, ohne dass ein System dahinter zu erkennen ist.«

Wie üblich, wenn Henrik glaubte, ein ungelöstes Verbrechen entdeckt zu haben, hatte er Helena darum gebeten, für ihn die Polizeiakten einzusehen. Zu überprüfen, ob dort ein Vorfall hinterlegt war, der den Fund im Antiquariat bestätigte und die Sache vom Verdachtsfall zu einem echten Vergehen werden ließ. Ihm war dabei durchaus bewusst, was er von ihr verlangte. Schließlich war selbst Polizist gewesen und kannte die Konsequenzen. Trotzdem hatte er auch hier eine Erwartungshaltung an den Tag gelegt, mit der sie anfangs nur schwer hatte umgehen können. Gelegentlich konnte er sie auf seine Seite ziehen, weil er an ihr Gewissen appellierte und sie daran erinnerte, dass sie es selbst nicht gutheißen konnte, was ihre Kollegen über all die Jahre vertuscht hatten. Irgendwie hatten sie schließlich auch hier zueinandergefunden. Sie unterstützte ihn bei seinen privaten Ermittlungen im Rahmen ihrer Möglichkeiten – allerdings nur, wenn sie von der Relevanz und Glaubwürdigkeit der Hinweise überzeugt war. Sagte sie Nein, akzeptierte er das. Denn egal, wie ehrenhaft seine Absichten auch waren, er wusste, dass letztendlich sie es war, die sich durch die Weitergabe von Polizeiinterna strafbar machte.

Nun, sie waren auf einem guten Weg.

Die Aktenlage bei den so lange zurückliegenden Selbstmorden am Aqueduto das Águas Livres war natürlich äußerst dünn. Das war für mutmaßliche Suizide nichts Ungewöhnliches. Andererseits hatte sie mittlerweile verstanden, dass die Fälle, derer sich Martin Falkner angenommen hatte, oft auffällig nachlässig von den ermittelnden Beamten behandelt worden waren. Zumeist roch es tatsächlich nach Korruption und Vertuschung. Das hatte Helena zwar schon seit Längerem geahnt, aber Martins Archiv hatte ihr erst so richtig vor Augen geführt, dass eine ganze Reihe von Gewalttaten verübt worden waren, bei denen die Behörden unverständlich träge agiert oder schlicht und einfach weggesehen hatten. Und wenn es etwas gab, was Helena auf keinen Fall konnte, dann den Blick von offensichtlichem Unrecht abzuwenden. Dennoch war sie bei dem, was Henrik die Aquädukt-Morde nannte, bisher zurückhaltend geblieben und noch immer ziemlich skeptisch.

»Bist du an was Neuem dran?«, fragte er in ihre Gedanken hinein. Normalerweise vermied sie es, mit ihm über ihre Fälle zu reden. Und sie hatte auch diesmal nicht die Absicht gehabt. Sich mit Henrik hier zu treffen, sollte vielmehr dazu dienen, für eine Stunde nicht über Frederico Pedrosa nachdenken zu müssen. Andererseits war diese Ermittlung etwas anders gelagert – und sie hatte insgeheim sogar damit gerechnet, dass er sie danach fragte. Als ehemaliger Polizist erlag man diesen antrainierten Mechanismen, selbst wenn man wie er diesen Beruf seit ein paar Jahren nicht mehr ausübte. Sie wandte sich ihm zu, und er schob nach zwei Sekunden die Sonnenbrille ins kurz geschnittene Haar, damit auch sie ihm in die Augen sehen konnte.

»Wie kommst du darauf?«