Portugiesisches Blut - Luis Sellano - E-Book
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Portugiesisches Blut E-Book

Luis Sellano

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Beschreibung

Der ehemalige Ermittler Henrik Falkner hat sich unter der Sonne Portugals ein neues Leben aufgebaut. In der Altstadt Lissabons betreibt er ein Antiquariat, in dem sein Onkel Martin exotische Exponate angesammelt hat, von denen so manche auf vergangene Verbrechen hinweisen. Als die Brasilianerin Paula Cardenas Henrik einen Brief zeigt, nimmt ein neuer Fall seinen Anfang. Paulas Mutter fiel einst einem Verbrechen zum Opfer, die Spur führt zu dem legendären Schamanen Don Alfredo. Doch dann verschwindet auch Paula spurlos. Mit der temperamentvollen Polizistin Helena begibt Henrik sich auf die Suche und gerät in ein Netzt aus Rache, Korruption und Familienbande ...

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Das Buch

Der ehemalige Ermittler Henrik Falkner hat sich unter der Sonne Portugals ein neues Leben aufgebaut. In der Altstadt Lissabons betreibt er ein Antiquariat, in dem sein Onkel Martin exotische Exponate angesammelt hat, von denen so manche auf vergangene Verbrechen hinweisen. Als die Brasilianerin Paula Cardenas Henrik einen Brief zeigt, nimmt ein neuer Fall seinen Anfang. Paulas Mutter fiel einst einem Verbrechen zum Opfer, die Spur führt zu dem legendären Schamanen Don Alfredo. Doch dann verschwindet auch Paula spurlos. Mit der schönen Polizistin Helena begibt Henrik sich auf die Suche und gerät in ein Netz aus Rache, Korruption und Familienbande …

Der Autor

Luis Sellano ist das Pseudonym eines deutschen Autors. Auch wenn Stockfisch bislang nicht als seine Leibspeise gilt, liebt Luis Sellano Pastéis de Nata und den Vinho Verde umso mehr. Schon sein erster Besuch in Lissabon entfachte seine große Liebe für die Stadt am Tejo. Luis Sellano lebt mit seiner Familie in Süddeutschland. Regelmäßig zieht es ihn auf die geliebte Iberische Halbinsel, um Land und Leute zu genießen und sich kulinarisch verwöhnen zu lassen.

LUIS SELLANO

Portugiesisches

Blut

EIN LISSABON-KRIMI

Wilhelm Heyne Verlag

München

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Vollständige deutsche Erstausgabe 05/2019

Copyright © 2018 by Oliver Kern

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Tamara Rapp

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (Karan Khurana, Tetiana Chernykova)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-22046-4V002

www.heyne.de

Para meus irmãos Carmen e Sebastian

1

Oben bei Coimbra brannten die Wälder.

Es gab keinen Regen, schon seit Monaten. Seco e quente como nunca antes. »So trocken und heiß wie noch nie«, murrten die Alten, im Schatten ihrer Hauseingänge sitzend. Niemand schien sich erinnern zu können, wann oder ob die Hitze jemals so extrem gewesen war. Weder vor 1932 noch während Salazars Herrschaft, in jener Zeit der inneren Feuer, als es besser war, den Blick abzuwenden, wenn die Legião Portuguesa an einem vorbeipatrouillierte. Auch erinnerte sich niemand, ob je so viele Wälder gleichzeitig gebrannt hatten.

Coimbra war weit weg. Gute zweihundert Kilometer. Trotzdem glaubte Henrik Falkner, wenn er vor die Tür trat, den Rauch zu riechen, zumindest in der heißen Luft eine schwache Note des beißenden Qualms erschnuppern zu können. Er bildete sich sogar ein, den Rauch auf der Zunge zu schmecken, als hätte er eben an einem torfigen Whisky genippt. Zwar nur schwach, aber ausreichend, um den Bedenken Nahrung zu geben. Längst hatte er sich anstecken lassen von der kollektiven Angst, die in den nachdenklichen, sorgenvollen Gesichtern der Leute zu lesen war. Noch weit entfernt von Hysterie, aber existent. Es war diese Urangst vor Feuer, die selbst nach zwanzig Millionen Jahren Evolution in dem Überbleibsel des Reptiliengehirns steckte, das ein jeder noch in seinem Schädel hatte. Die bange Frage, ob sich die Feuersbrunst irgendwann gierig hinunter bis in den Süden fraß, war unterschwellig allgegenwärtig.

Und das war ganz neu für Henrik. Eine neue Erfahrung. Die verheerenden Waldbrände erzeugten eine Nervosität bei den sonst unerschütterlichen Lisboetas, die beinahe so spürbar war wie die Sommerhitze selbst. Die in der Regel stoische Gelassenheit seiner Mitmenschen war ins Wanken geraten. Die Gespräche, die er aufschnappte, wenn er sich durch die stickigen Gassen bewegte, klangen gedämpft. Es wurde weniger gelächelt. Sogar weniger gesungen und wenn, dann hörte sich der Fado noch melancholischer an. Alle um ihn herum benahmen sich verhaltener. Zeigten deutlicher ihre Demut vor dem Herrn, indem sie das Kreuzzeichen nicht nur in den Kirchen, sondern auch auf offener Straße schlugen und Gebete laut vor sich hersagten, statt sie still vor sich hin zu murmeln. Zuerst hatte er diese Veränderung lediglich beobachtet, dann sich unmerklich davon anstecken lassen. Nun roch auch er die Feuer, entfernte sich imaginäre Aschepartikel von den schweißverklebten Unterarmen und folgte den bangen Blicken Richtung Norden. Ertappte sich dabei, wie er nach Rauchwolken Ausschau hielt. Nach bedrohlich dichten, im Feuerwind wogenden Türmen aus Ruß und Qualm, wie jene, die fortwährend in den Nachrichten gezeigt wurden. Monströse, angsteinflößende Gebilde, die selbst auf Satellitenbildern aus dem Weltraum zu sehen waren. Sich pausenlos windende, tanzende Riesen. Die zornige Vorhut der Vernichtung.

Auch die Männer auf dem Gerüst unterbrachen ab und an ihre Arbeit. Hielten inne in ihrem Klopfen, Spachteln und Verputzen und reckten ihre wettergegerbten Gesichter hinauf in den stahlblauen Himmel. Dabei raunten sie sich unheilverkündend Worte zu, die er nicht verstand, und wischten sich mit ihren gebräunten, kalkweiß gesprenkelten Handrücken den Schweiß von der Stirn, bevor sie ihre Tätigkeiten wiederaufnahmen. Nun, vielleicht gaben sie auch nur ihrem Wunsch Ausdruck, dass die Sonne nicht zu früh um die Ecke des Hauses gegenüber bog und ihnen den kostbaren Schatten raubte, der während des Vormittags über ihrem staubigen Arbeitsplatz hing wie eine weitere schützende Plane an der Fassade.

Das Baugerüst und die grünen Gewebebahnen aus robustem PVC verdeckten seit gut einem Monat die Front des vierstöckigen Gebäudes Nummer 38 in der Rua do Almada. Die Fenster und beide Eingänge waren verhängt, der in den Hausflur ebenso wie der in den Laden. Henrik hatte ein provisorisches Schild an den vorderen Stützstreben angebracht, das auf das Antiquariat hinwies. Man konnte es von der Abzweigung aus gut sehen, sogar besser als das Schild, das bislang über der Ladentür gehangen und das er abmontiert hatte, bevor der Bautrupp angerückt war. Antiquário e Antiguidade stand jetzt handgeschrieben auf der provisorischen Holztafel. Dennoch kam selten jemand in den Laden, und wenn, dann waren es Stammkunden, die wenigen, die man an einer Hand abzählen konnte und die ohnehin wussten, dass trotz der Renovierungsarbeiten für sie geöffnet war. Alle anderen schreckte die Baustelle ab. Oder die Hitze … oder auch alles zusammen: Die Hitze, der Bauschuttcontainer, die lärmende Betonmischmaschine, der Sandhaufen, in den der Wind, der vom Fluss her blies, immer wieder neue kunstvoll geschwungene, scharfe Kanten formte. Die Paletten mit Ziegeln, die sich stapelnden Balken und Bretter, die entlang des Gebäudes die Straße säumten und nur noch den besonders Waghalsigen eine Durchfahrt erlaubten. Er konnte sich nicht erklären, warum er den Laden überhaupt jeden Tag aufsperrte. Vielleicht weil es zu einer Gewohnheit geworden war. Zu einer Kontinuität in seinem neuen Leben.

Jetzt, da es wegen der Renovierung noch einsamer im Antiquariat geworden war, trat er häufig vor die Tür. Nicht unbedingt, um nach Kundschaft Ausschau zu halten. Eher, um die Bauarbeiten zu überwachen. Um nachzusehen, wie die Männer vorankamen. Jedenfalls redete er sich das ein. Vielleicht wollte er auch nur sichergehen, dass sich die Brände nicht doch schon bis zum Sund und zu der Tejomündung ausgebreitet hatten. Es bestand allerdings auch die Möglichkeit, dass er wegen einer ganz bestimmten Person die Augen offen hielt. Nach dieser einen Person, die sein Herz ähnlich heftig in Flammen gesetzt hatte wie die Feuersbrünste die trockenen Wälder Portugals. Doch ob nun aus Neugier, Sehnsucht oder aus dem Wunsch nach frischer Luft – es gab in den letzten Wochen reichlich Anlässe, der drückenden Stille im Laden für eine Weile zu entfliehen.

Während der Mittagszeit, wenn die Hitze am größten war, stiegen die Männer vom Gerüst, klopften den grauen Staub aus ihren Arbeitshosen und flüchteten aus der Sonne. Dann hockten sie auf der schmalen Treppe, die gegenüber zwischen der Bar und dem Nachbargebäude hinauf zu der Gasse führte, über die man zum Miradouro Santa Catarina gelangte. Dort tranken sie Bier, rauchten, erzählten sich Geschichten und brachten einander zum Lachen, indem sie sich gegenseitig aufzogen. Anfangs hatte er sich manchmal dazugesellt, doch dann waren die Gespräche stets ins Stocken geraten. Er war auf gewisse Weise ihr Auftraggeber, und offenbar fanden sie es trotz aller Derbheit nicht schicklich, im Beisein des Mannes, der sie bezahlte, Witze zu reißen oder auf anstößige Art mit ihren Frauengeschichten zu prahlen. Daher hielt Henrik mittlerweile Abstand und betrachtete stattdessen die Fassade. Inspizierte die Arbeit, die daran erfolgt war, und versuchte, die Veränderungen zu erkennen und abzuschätzen, wie es aussehen würde, wenn die Komposition aus Simsen, Kapitellen und Schnörkeln endlich fertig war. Wie alles zusammen im neuen Anstrich harmonierte. Das war zu einem Ritual geworden, dem er auch heute folgte. Kaum, dass er hörte, wie die Männer vom Gerüst stiegen, legte er die Bücher zur Seite, die er gerade in ein Regal sortierte, und bereitete sich darauf vor hinauszugehen. Im Antiquariat war es auch ohne Klimaanlage verhältnismäßig kühl geblieben. Das verhängte Schaufenster sperrte das Sonnenlicht aus. Zudem sorgten die dicken Steinwände während der heißen Monate für eine nahezu konstante Temperatur. Da die Ladentür selten geöffnet wurde, gab es keinen nennenswerten Luftaustausch. Die Hitze blieb vor der Tür und ließ die Atmosphäre im Inneren weitgehend unverändert. Natürlich war es drinnen auf ganz eigene Art stickig. Wie in einer Gruft. Oder in einem Atombunker. Was die Leute, die sich im Antiquariat einfanden, meist dazu bewog, es auch möglichst rasch wieder zu verlassen. Henrik war deswegen niemandem wirklich böse. Auch wenn er mittlerweile behaupten konnte, sich an den Mief gewöhnt zu haben, ging er selbst nur allzu gern an die frische Luft. Seit einem die extreme Hitze das Fleisch von den Knochen brannte, war dies allerdings Ermessenssache und kostete einiges an Überwindung. Wohin sollte dieses Wetter bloß führen? Der richtige Sommer war ja noch gar nicht angebrochen!

Er vermied es, in den grellen Sonnenstreifen zu treten, der sich in hartem Kontrast auf dem Kopfsteinpflaster abzeichnete. Baustaub rieselte auf ihn herab, als er die Planen vom Gerüst wegdrückte, um besser sehen zu können. Die neuen Fenster waren teilweise noch mit Schutzfolie beklebt. Derzeit waren die Männer damit beschäftigt, die geschwungenen Gipsumrandungen der Fensterreihe im zweiten Stock auszubessern. Streng nach Vorschrift der Denkmalschutzbehörde galt es, all die einstige Pracht wieder hervorzuzaubern, die im Lauf des letzten Jahrhunderts von Abgasen und Taubenkot zerfressen worden und abgebröckelt war. In die Betrachtung der Fassade versunken, konnte er nicht sagen, wie viel Zeit verstrich, bis er bemerkte, dass jemand hinter ihm stand. Als ihm die Anwesenheit der Person bewusst wurde, fuhr er herum, so abrupt wie jemand, der hinterrücks mit einem Angriff rechnet.

Die Frau zuckte zusammen und machte unvermittelt zwei Schritte nach hinten, wobei sie ein paar leise Worte murmelte, die er nicht verstand, die jedoch ohne Zweifel an einen Heiligen oder eine Heilige gerichtet waren. Eine Bitte um Segen, um Schutz und Beistand für sich.

Sie war klein, keine eins sechzig, wobei sie keineswegs fragil wirkte. Nicht Kunstturnen, eher Kampfsport. Der Rucksack, den sie trug, mochte mehr wiegen als sie selbst, dennoch brachte er sie nicht aus dem Gleichgewicht, während sie zurückwich. Dort, wo die breiten Träger auf ihren Schultern auflagen, war das T-Shirt schweißnass und beinahe durchsichtig. Trotz der Hitze steckte sie in langen Hosen und klobigen Wanderstiefeln. Vereinzelt ragten schwarze Haare zerzaust unter der Kappe hervor, die ihre Augen beschirmte. Henrik war sofort klar, dass sie schon eine Weile unterwegs war. Eine Pilgerin, kam ihm in den Sinn, obwohl offensichtliche Signale dafür fehlten. Da war jemand aufgebrochen, hatte sich auf einen beschwerlichen Weg gemacht, ohne eine religiöse oder anderweitige spirituelle Absicht …

Nun, seine Überlegungen waren natürlich rein spekulativ. Augenscheinlich war nur, dass sie schon lange unterwegs war. Und er hatte den Eindruck, dass sie gefunden hatte, wofür sie losgezogen war. Zumindest schien sie ein Etappenziel erreicht zu haben, auch wenn dieses Ziel hinter Bauplanen verborgen lag.

»Wir haben trotz des Umbaus für Sie geöffnet«, erklärte Henrik, als würde er aus einem Werbeprospekt zitieren, und vollführte eine einladende Geste. Sie verzog keine Miene, und er befürchtete schon, dass sie kein Englisch sprach. Auf der einen Seite wirkte sie wie eine Abenteurerin, die durchaus in der Lage war, einen Kompass zu lesen oder eine Machete zu schwingen, um sich einen Pfad durchs Unterholz zu bahnen. Andererseits haftete ihr etwas Verlorenes an, das seinen Helferinstinkt weckte. »Wollen Sie nicht reinkommen? Drinnen ist es kühl. Und ich kann Ihnen Wasser anbieten.«

Nach wie vor musterte sie ihn eindringlich und ohne Regung, die Hände um die Träger des Rucksacks gelegt, bereit, sich umzudrehen und wegzurennen. Von der Treppe her, auf der die Bauarbeiter ihre Pause machten, ertönte Gelächter. Er hoffte, dass die Männer keine anstößigen Bemerkungen machten, die auf die junge Frau abzielten. Doch sie blieb auch in diese Richtung ungerührt. Eine Schweißperle bahnte sich ihren Weg über die hohen Wangenknochen. Indiozüge, kam es Henrik in den Sinn, sie ist um brasileiro. Vielleicht nur ein Klischee, ein Produkt der Hitze, die die Gedanken zum Flirren brachte.

»Você quer me ver?«, fragte er in seinem unsicheren Portugiesisch: Wollen Sie zu mir? Er glaubte, bereits zu wissen, was oder zu wem sie wollte. In seinem Rücken lachten wieder die Arbeiter. Bierflaschen klirrten aneinander. Die Frau zog etwas aus der aufgenähten Tasche ihrer Drillichhose. Ein Brief, erkannte Henrik, noch bevor sie ihm das Kuvert entgegenstreckte. Der Umschlag war einmal gefaltet, zerknittert und an einer Stelle weit eingerissen. Wer immer ihn geöffnet hatte, hatte dies in großer Eile getan. Oder voll Zorn. Während er vorsichtig danach griff, identifizierte er die Handschrift, mit der die Adresse geschrieben worden war. Die ehemals blaue Tinte, mit der der Schreiber den Brief einst nach Brasilien adressiert hatte, war verblasst. Im Poststempel neben der Briefmarke, die sich an den Rändern wölbte und ablöste, war nur noch sehr schwach die Jahreszahl zu lesen.

1999

Ein Dokument aus dem letzten Jahrtausend, das laut Absender aus der Rua do Almada Numero 38 verschickt worden war. Von seinem Onkel Martin Falkner.

2

»Salva Cardenas«, las Henrik den Namen im Adressfeld.

»Mein Vater«, sagte die Frau, die also doch sprechen konnte. Ihre Stimme war rau, als wäre sie schon lange nicht mehr benutzt worden. »Er ist vor drei Monaten gestorben.«

Sie blickte zu Boden, als bereute sie es, das preisgegeben zu haben. Für einen Moment betrachtete sie ihren Schatten, den die hochstehende Sonne auf das Kopfsteinpflaster zeichnete, und der genau genommen überwiegend aus dem Schatten des Rucksacks bestand.

»Kennen Sie den Mann, der diesen Brief geschrieben hat?«

Kennen? Kenne ich Martin Falkner?

Eine gute Frage. Er war sich wirklich nicht sicher. Seit einem Jahr näherte er sich diesem Mann mehr und mehr an, ohne dass er je eine Chance bekommen würde, ihm gegenüberzutreten. Genau wie der Vater dieser Frau war auch Martin nicht mehr unter den Lebenden. »Er war mein Onkel«, erklärte er, und sein Mund war nicht allein der Hitze wegen trocken.

»War?« Sie kräuselte ihre Brauen. Versuchte, mit dieser Information zurechtzukommen und zu verdauen, dass sie ihre Reise allem Anschein nach umsonst angetreten hatte.

»Sie sind ein Jahr zu spät«, fügte Henrik an. »Aber wollen Sie nicht doch kurz mit reinkommen? Vielleicht finden wir eine Antwort darauf, warum mein Onkel Ihrem Vater diesen Brief geschrieben hat.«

Denn um den ging es ja wohl. Um den Inhalt des Schreibens in dem ausgefransten Kuvert, das er immer noch zwischen seinen Fingern hielt, und um die Fragen, die daraus resultierten. Sie presste die vollen Lippen aufeinander. Ihre Finger legten sich wieder um die Träger des Rucksacks. Reglos stand sie da.

Wir müssen in den Schatten, bevor wir hier verglühen, dachte Henrik.

»Darf ich?« Ohne auf ihre Zustimmung zu warten, zog er das Blatt Papier aus dem Umschlag und faltete es auf. Es war eine kurze Nachricht in Martins Handschrift. Ähnlich der, die sein Onkel ihm hinterlassen hatte. Das Dokument eines Verstorbenen, überreicht von einem Notar, damals, als Henrik am Anfang seines neuen Lebens gestanden hatte. Im Vergleich zu jenem Brief, diesem letzten und einzigen Gruß seines Onkels, war die Botschaft an Salva Cardenas auf Portugiesisch verfasst, und auch wenn Martins Schrift bestens zu lesen war, verstand Henrik nur einzelne Worte und Teilsätze. Begriffe wie lamentação und eventos terríveis allerdings waren ihm mittlerweile geläufig und stachen aus dem Geschriebenen hervor, als hätte sie sein Onkel vor zwei Jahrzehnten mit einem Textmarker unterstrichen. Was gab es zu bedauern? Und welche schrecklichen Ereignisse deutete Martin da an?

Mit einer schnellen Bewegung entriss ihm die junge Brasilianerin das Blatt, stopfte es zurück in den Umschlag und beides zusammen wieder in ihre Tasche. Henrik hätte schlichtweg den Mund halten können, und vermutlich wäre sie dann einfach verschwunden. Nur war es nicht so einfach, zu schweigen, wenn etwas auftauchte, das mit Martin Falkner zu tun hatte. »Ich kann Ihnen helfen«, versprach er daher, auch wenn ihm bewusst war, wie weit er sich mit dieser Aussage aus dem Fenster lehnte, vor allem weil er keine blasse Ahnung besaß, worum es überhaupt ging. Tatsächlich war es der Eigennutz, der ihn zu diesem leichtsinnigen Versprechen verleitete. Seit er in der Stadt am Tejo lebte und sich mit Martins Erbe befasste, war er immer wieder auf Geheimnisse gestoßen. Auf Rätsel und Fragen, die bisher größtenteils ohne Antwort geblieben waren. Deshalb stürzte er sich auf jeden erdenklichen Hinweis, prüfte jedes noch so dubiose Indiz und jede noch so unwesentlich scheinende Andeutung, die ihm unter die Finger kam. Und das meiste davon war weit weniger substanziell gewesen als dieser zwanzig Jahre alte handgeschriebene Brief an einen ihm unbekannten Brasilianer. Ein Brief, der eine junge Frau dazu bewogen hatte, nach einem ganz bestimmten Antiquariat in Lissabons Altstadt zu suchen.

»Ich bin Henrik«, stellte er sich verspätet vor und wies unter dem Baugerüst hindurch erneut einladend auf die Ladentür.

Sie ließ sich Zeit und musterte ihn kritisch unter ihrer Baseballkappe hervor, auf die das Logo der Chicago Cubs gestickt war. »Paula«, sagte sie schließlich, was einem trotzigen Einverständnis gleichkam, seiner Einladung zu folgen. Nachdem sie stillschweigend zu einer Einigung gekommen waren, ging er voraus nach drinnen. Die Schellen über der Tür bimmelten ihren gewohnten, etwas blechernen Willkommensgruß, den sie seit Beginn der Renovierung nur noch so selten von sich gaben.

Im Keller des über zweihundert Jahre alten Gemäuers waren vor einigen Wochen provisorische Stützen angebracht worden, die gewährleisteten, dass die Kellerdecke nicht weiter nachgab. Ein Wasserrohrbruch im Frühjahr hatte dem Erdgeschoss stark zugesetzt. Das tragende Gebälk hatte sich vollgesogen wie ein Schwamm. In Deutschland hätten die Behörden vermutlich umgehend eine Grundsanierung verlangt, die eine Räumung des Antiquariats unausweichlich gemacht hätte. Eine Vorstellung, die Henrik nicht nur unmöglich erschien, sondern tatsächlich ängstigte. Ihm war durchaus bekannt, dass auch die portugiesische Verwaltung auf eine vorläufige Schließung gedrängt hatte. Nur hatte jemand seine Beziehungen spielen lassen, und so blieb erst einmal alles, wie Martin es über vier Jahrzehnte hinweg arrangiert hatte.

Henrik versuchte, nicht daran zu denken, welch effektiven Nährboden das heiße Klima für Schimmel und Sporen jeglicher Art schuf. Der Verfall war überall zu riechen. Ein eindringlicher Geruch, kategorisch und endgültig. Allerdings war es nun vielleicht ausgerechnet der trockenen Hitze zu verdanken, dass die Verrottung der organischen Komponenten – Bücher, Holz, Leinwände, Stoff, Leder sowie sämtliche Papiere, Pappen und Pergamente – nicht noch schneller voranschritt.

Auch wenn er Paula im Rücken hatte, konnte er sich ziemlich genau vorstellen, wie das kuriose Sammelsurium auf sie wirken musste. Es war ein überwältigender Eindruck, dem ausnahmslos jeder erlag, der erstmals das Antiquariat betrat. Wobei es in der Regel keine positive Empfindung war. Es handelte sich vielmehr um jenen Nervenkitzel, wie man ihn erfuhr, wenn man den Folterkeller tief unten in einer mittelalterlichen Burg besichtigte oder in eine Tropfsteinhöhle mit pleistozänen Fingermalereien an den Felswänden hinabstieg. Die Welt im Antiquariat war eine ganz andere als die vor der Ladentür, und es musste manchem Besucher so vorkommen, als wäre er, begleitet von Glöckchengebimmel, soeben durch ein Tor mitten in die Vergangenheit getreten.

Ohne sich nach Paula umzudrehen, schlüpfte Henrik durch den Vorhang hinter dem Verkaufstresen und holte aus der Rumpelkammer, die gleichzeitig das Büro war, die versprochene Erfrischung samt Gläsern. Die Eiswürfel im Wasser waren bereits geschmolzen, aber die Karaffe schwitzte noch. Die hineingeschnittenen Limettenscheiben wirbelten durcheinander, während er ihnen einschenkte.

Sie griff nach einem Glas und leerte es in einem Zug. Henrik begnügte sich mit einem Schluck.

»Der sieht schwer aus, wollen Sie ihn nicht absetzen?«, fragte er und deutete auf den Rucksack.

Paula sah sich um, als sondierte sie die Gefährlichkeit dieses Ortes und die Lage der Fluchtwege.

»Sie können auch gern Platz nehmen.«

Der Stuhl mit den verschnörkelten Beinen und dem fadenscheinigen Polsterbezug direkt beim Schaufenster war die einzige Sitzgelegenheit, die er anbieten konnte.

»Ich weiß gar nicht, was ich hier soll«, sagte sie, und zum ersten Mal klang sie nicht abweisend. Die Zweifel an ihrer Mission schienen die Oberhand zu gewinnen.

»Was hat mein Onkel Ihrem Vater geschrieben, worum geht es in dem Brief?«

Sie sah ihn fragend an.

»Mein Portugiesisch weist ein paar Lücken auf«, erläuterte er mit entschuldigender Miene.

»Um meine Mutter.«

»Ihre Mutter?«

Sie nickte.

»Martin kannte Ihre Mutter«, murmelte er, als er begriff.

»Sie war vor zwanzig Jahren hier in Lissabon«, erklärte Paula zögernd. »Danach hat sie niemand mehr gesehen oder je wieder etwas von ihr gehört.«

3

Ans Meer gelangte man am einfachsten und schnellsten mit dem Zug, der vom Cais do Sodré abfuhr. Der Bahnhof befand sich unten am Fluss, und die Schienen verliefen entlang des Ufers und später längs der Küstenlinie, eine schöne Strecke, die man in klimatisierten Waggons zurücklegte. Nichts schien in diesen Tagen besser geeignet, um der Hitze zu entkommen. Erst der Zug, und als Krönung die erfrischende, kraftvolle Dünung des Atlantiks. Und Henrik brauchte dringend eine Abkühlung. In den Sommermonaten waren die Strände voll, gerade in den Abendstunden, wenn sich neben den Touristen auch die Einheimischen nach getaner Arbeit die Brandung über die Zehen rollen ließen oder fröhlich jauchzend gegen die Wellen ansprangen. Von daher war es nicht leicht, Stellen zu finden, an denen die Leute sich nicht drängten und dabei lauter lärmten als die Brandung. Helena hatte ihm schon früh im Jahr zwei, drei hübsche – und vor allem einsame – Plätze gezeigt, die von der Endhaltestelle in Cascais aus zu Fuß zu erreichen waren. In fünfzehn, zwanzig Minuten, wenn man zügig ging und sich in dem ehemaligen Fischerdorf nicht von dem zirzensischen Schauspiel aufhalten ließ, das die Masse der Touristen täglich in diesem einst so beschaulichen Ort veranstaltete. Er hatte sich für den am schwersten zugänglichen Platz entschieden, an den man nur gelangte, wenn man über Felsen kletterte, die teilweise überspült und, von Algen und Muscheln bewachsen, ebenso tückisch wie glitschig waren. Doch der Mutige wurde belohnt, das galt auch heute. Die Ebbe hatte unter den schwarzen, von der unendlichen Energie des Ozeans geformten Felsen eine Minibucht freigelegt, wo sich Henrik auf dem weichen rötlichen Sand trocknen ließ, nachdem das tosende Salzwasser seinen Körper auf ein erträgliches Maß runtergekühlt hatte.

Die Sonne berührte bereits den Horizont. Er hatte noch eine halbe Stunde, bevor das Licht schwinden und den Rückweg über die kantigen Kalkformationen noch riskanter machen würde. Genug Zeit, um über Paula Cardenas nachzudenken, jetzt, da in seinem Gehirn die passende Betriebstemperatur herrschte. Über die Geschichte, die sie ihm heute Nachmittag mit spröder Stimme erzählt hatte. Mit einer Stimme, die nicht weicher geworden war, egal wie viel Wasser sie getrunken hatte. Mit Bedauern hatte sie berichtet, dass sie ihre Mutter Cinthya nie wirklich gekannt hatte. Als diese verschwand, war Paula drei Jahre alt gewesen. Und nun, zwanzig Jahre später, mit dem Abschluss eines Betriebswirtschaftsstudiums in der Tasche, hatte sie sich auf die Suche gemacht. Dabei folgte sie einer Spur, die sich überraschend aufgetan hatte, die jedoch nach so langer Zeit kaum mehr vorhanden war. Die sich im Lauf zweier Jahrzehnte verflüchtigt hatte wie Alkohol in der Luft. Henrik wusste, wovon sie sprach. Nicht nur weil er als ehemaliger Polizist ab und an auch solchen, im völligen Auflösungszustand befindlichen Hinweisen hatte nachgehen müssen, sondern weil es ihm mit Martin ebenso erging. Ihm war zwar klar, wo die Überreste seines Onkels ruhten – nämlich in einem Urnengrab draußen auf dem Prazeres-Friedhof –, aber was ihn so früh dort hingebracht hatte, war noch immer ein Rätsel. Und dann gab es da natürlich auch noch die Sache mit João de Castro, dessen Tod nun bereits dreißig Jahre zurücklag.

Ja, das waren die Geister, denen Henrik nachjagte. Und als hielten ihn diese nicht schon genug auf Trab, hatte ihm die junge Brasilianerin ein weiteres Gespenst mitgebracht.

Er hatte Paula gebeten, den Brief zu übersetzen, den Martin kurz vor der Jahrtausendwende an Paulas Vater geschickt hatte. Jetzt, da der Atlantik an seinen Zehen leckte, schloss er die Augen und besann sich erneut auf dessen Inhalt und das Gespräch, das sich daraus entspann.

»Er bedauert, was mit Cinthya passiert ist, ohne konkret zu werden«, sagte Paula, während ihre dunklen Augen Martins Zeilen folgten.

»Was schreibt er genau?«

»Dass es ihm leidtat. Schrecklich leidtat. Weil er nichts für sie hatte tun können, weil ihm die Hände gebunden waren. Und dann fordert er meinen Vater auf, sich mit den portugiesischen Behörden auseinanderzusetzen. Druck auszuüben, um zu erfahren, warum seine Frau nicht mehr heimgekehrt ist.«

»Nennt er Namen? Irgendwas Handfestes?«

»Não.«

Martin und seine Botschaften. Wieder war alles sehr kryptisch. Stets erwartete er von einem, zwischen den Zeilen zu lesen. Henrik unterdrückte ein frustriertes Stöhnen, er wusste, dass es nicht an der spontanen Übersetzung lag. Sein Onkel hatte es einfach verstanden, Rätsel zu hinterlassen. Das war sein Erbe. Das Antiquariat, das Chaos darin – alles ein großes, nie endendes Rätsel. Jede Antwort brachte nur wieder neue Fragen hervor.

»Schuld an allem ist Don Alfredo«, redete Paula in seine Gedanken hinein. »Darauf beharrte Pai bis zuletzt.« Ihren Widerwillen, sich Henrik zu offenbaren, hatte sie mit einem weiteren Schluck Wasser endgültig hinuntergespült. Sie streifte jetzt sogar ihren Rucksack von den Schultern und setzte sich. »Don Alfredo hat uns ins Unglück getrieben, nicht nur deine Mutter, uns alle. Seine Worte. Immer und immer wieder. Ich konnte es schon nicht mehr hören. Oft habe ich mir gewünscht, dass er endlich schweigt. Gebetet habe ich … und jetzt schäme ich mich, dass Gott meine Bitten erhört und ihm den Krebs geschickt hat. Prostata. Er hat sich nie untersuchen lassen, wie alte Männer nun mal so sind, und dann war es eben zu spät.«

Henrik befiel kurz der Gedanke, dass auch er in Paulas dunklen Augen bereits zu den alten Männern zählte, selbst wenn die Vierzig noch drei Jahre entfernt war.

»Ich hab überhaupt nichts gemerkt«, fuhr sie fort. »Nachdem ich an die Uni gegangen bin, hatten wir nicht mehr viel Kontakt.« Für einen Moment schwieg sie, vielleicht weil sie dabei war, den Faden zu verlieren. »Letztlich war es nicht die Trauer darüber, dass Mamãe nicht mehr zurückgekehrt ist. Es war viel eher der Schmerz darüber, dass sie gegen seinen Willen Don Alfredo nach Europa gefolgt war. Das konnte er nicht verwinden. Darum ist dieses Geschwür in ihm gewachsen …«

Obwohl er sich vorgenommen hatte, sie nicht zu unterbrechen, hob Henrik die Hand, bevor es noch verwirrender wurde. »Entschuldige, wer ist Don Alfredo?«

»Um curandeiro.«

Er war nicht sicher, was sie meinte. »Ein … Heiler?«, fragte er vorsichtig.

»Mehr als das, um xamã, ein Schamane. Weniger für den Körper, eher für die Seele, verstehen Sie?«

»Und deine Mutter hatte ein … ein Verhältnis mit diesem Don Alfredo?«

»Nein! Nein, ich denke nicht. Nicht im herkömmlichen Sinn. Sie war ihm verfallen, auf … Wie soll ich das sagen? Auf spiritueller Ebene. Wissen Sie, sie war Dolmetscherin, sprach Englisch, Französisch, Spanisch, sogar ein wenig Deutsch. Das hat mir meine Tante Rosa erzählt, Mamães Schwester. Nachdem mein Vater aufgehört hatte, über meine Mutter zu schimpfen, hat er mir gegenüber auch sonst nicht mehr über sie geredet. Nicht über die schönen Dinge, nicht von der Zeit, in der sie glücklich waren. Nichts darüber, was sie ausgemacht, wie und warum er sich in sie verliebt und sie geheiratet hat. Er ignorierte meine Fragen zu diesem Thema. Falls er sich dazu herabließ, mit Verwandten und Bekannten über seine Frau zu sprechen, achtete er darauf, dass ich seine stets abfälligen Bemerkungen nicht mitbekam …« Sie schüttelte den Kopf und blickte Henrik an. »Kann ich noch Wasser haben?«

Die Luft im Antiquariat war zwar kühler als draußen, aber dafür gesättigt mit mikroskopischen Teilchen. Ein mit Vergangenheit versetzter Fallout, neuerdings mit Baustaub angereichert; Gips, Mörtel, Ziegel, Holz und alles Mögliche sonst. Manchmal knirschte diese Luft zwischen den Zähnen oder brannte in der Lunge. Henrik schenkte Paula nach. Immer noch trank sie wie eine Verdurstende. Wassertropfen rannen ihr übers Kinn, und sie wischte sie mit dem Handrücken fort, nachdem auch dieses Glas leer war.

»Jedenfalls konnte Don Alfredo meine Mutter und ihre Sprachbegabung gut gebrauchen, als man ihn nach Europa einlud, erzählte Tante Rosa. Von ihr kenne ich die meisten Geschichten, die sich um meine Mutter drehten. Obwohl Pai ihr immer verboten hat, mit mir über Cinthya zu sprechen. Na ja, jedenfalls meinte Tante Rosa, zu dieser Zeit hätten viele Angst vor der Jahrtausendwende gehabt. Sie selbst vermutlich eingeschlossen. Aberglaube ist in unserer Familie weit verbreitet. Nun, in diesem Fall waren die Sorgen nachvollziehbar. Die Leute wollten wissen, wie es weitergeht, wenn die Neunundneunzig zurück auf die Null schnappt. Nicht nur die gewieften Nerds aus der IT-Branche konnten damals eine Menge Geld verdienen. Auch diejenigen, die zu dieser Zeit die Esoterikwelle ritten und subtil die Verunsicherung schürten, bevor sie ihre Hilfe gegen genau diese Ängste für teures Geld verkauften.«

»So wie Don Alfredo.«

»So wie Don Alfredo«, bestätigte sie.

Henrik rieb sich die Stirn. »Gut, darf ich für mich kurz zusammenfassen? 1999 hat deine Mutter diesen Schamanen nach Europa begleitet und dich und deinen Vater alleine zurückgelassen. Woraufhin dieser mit Recht sauer war und fortan nicht mehr über deine Mutter gesprochen hat.« Das erinnerte ihn sehr daran, wie seine Familie mit Martin umgegangen war, nachdem sich dieser in Lissabon niedergelassen hatte. Aus den Augen, aus dem Sinn. »Und nach dem Tod deines Vaters hast du in dessen Sachen den Brief gefunden, in dem ihn mein Onkel auffordert, die Behörden einzuschalten, wenn er erfahren will, was mit …«

»Cinthya!«, half sie.

»… ja, mit Cinthya passiert ist. Aber dein Vater hat nie etwas dergleichen unternommen?«

Paula zuckte frustriert mit den Schultern. »Don Alfredo war ein Vierteljahr später ohne meine Mutter nach Brasilien zurückgekehrt. So viel habe ich immerhin rausgefunden. Vielleicht hat mein Vater mit ihm gesprochen, aber eher nicht. Was auch immer vor zwanzig Jahren geschehen ist, Pai war zu sehr in seiner Ehre gekränkt, um auf den Brief Ihres Onkels zu reagieren. Womöglich sah er in diesem Fremden aus Portugal bloß einen weiteren Liebhaber seiner Frau. Ich denke, er war in dieser Richtung etwas paranoid.«

»Oder einfach nur mit den Nerven runter«, merkte Henrik an. Für Martin konnte er, was sein sexuelles Verhältnis zu Frauen anging, die Hand ins Feuer legen.

»Er hat seinen Frust allerdings niemals an mir ausgelassen«, setzte Paula hinzu. Danach entstand eine lange Pause, in der Henrik versuchte, das Gehörte einzuordnen. Martin hatte diesen Brief nicht umsonst geschrieben. Er hatte etwas vermutet. Nein, überlegte Henrik, sein Onkel wusste, was mit Paulas Mutter passiert war. Und wahrscheinlich hatte das keineswegs etwas mit einem anderen Mann zu tun. Salva Cardenas hatte Martins Brief offenbar nie richtig gelesen oder jedenfalls nicht wirklich verstanden. Eifersucht oder Wut hatten ihn blind gemacht. Auch blind für den Umstand, dass seine Frau zu diesem Zeitpunkt womöglich schon gestorben war – und zwar nicht nur in seinem Herzen. Da sich Henriks Onkel für Cinthyas Verbleib interessierte, war es quasi naheliegend, dass dieser Frau etwas Tragisches zugestoßen sein musste. So weh die Wahrheit tat, Henrik nahm an, dass sie tot war. Diese Überlegung behielt er jedoch vorerst für sich. Er wollte Paula nicht unnötig erschrecken, jetzt da sie gerade dabei war, Vertrauen zu ihm aufzubauen. »Hast du selbst mit dem Schamanen gesprochen?«

»Habe ich versucht. Erst hieß es, er will mich nicht empfangen …«

»Weiß er, wer du bist?«

»Das habe ich ziemlich deutlich gemacht, aber sie weigerten sich, mich zu ihm zu lassen.«

»Sie?«

»Na, die, die für ihn arbeiten. Seine … Anhänger.«

Henrik runzelte die Stirn. »Sprechen wir hier etwa von einer Sekte?«

Wieder ein Schulterzucken. »Jedenfalls haben mir diese Leute Angst gemacht. Zwar hat mich niemand bedroht oder ist ausfällig geworden. Es war eher die Art, wie sie mit mir geredet haben. Wie sie mich davon überzeugen wollten, ihrem Weg zu folgen, der der einzig richtige ist, wenn du dich selbst finden oder dich reinigen willst – was natürlich unbedingt nötig ist … Egal, danach habe ich jedenfalls sehr schnell rausgekriegt, dass Don Alfredo gar nicht in seinem Refugium war.«

»Sondern?«

Sie senkte ihre Stimme, als teilte sie ihm ein Geheimnis mit. »Er ist wieder auf Europatournee, um betuchte Frauen mittleren Alters um ihren Verstand und vor allem um ihr Geld zu bringen.« Sie sah ihn an und wirkte auf einmal müde. »Ich muss jetzt erst mal schlafen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.«

Der abrupte Themenwechsel irritierte ihn, doch ihre Erschöpfung war offensichtlich. »Hast du schon eine Unterkunft?«

»Ein Hostel«, antwortete sie, ohne mehr zu verraten. Sie stand auf, und er half ihr mit dem Rucksack. Dann wandte sie sich ihm nochmals zu. »Halten Sie mich bitte nicht für bescheuert, weil ich meine Mutter nach so vielen Jahren ausfindig machen will!«

»Keine Sorge, im Gegenteil, ich kann das sehr gut nachvollziehen.« Wieder verstrichen einige Sekunden, in denen nur die Männer auf dem Gerüst zu hören waren. Das Scharren und Klopfen, untermalt vom Herabrieseln des Bauschutts.

»Ich habe ein Bild von Mamãe«, fiel ihr plötzlich ein. Erneut kramte sie in der aufgenähten Tasche der Hose und zog ein kleines Notizbuch hervor. Darin lag ein Foto.

Die Frau auf der ausgeblichenen Aufnahme glich Paula, auch wenn das Gesicht von Cinthya schmaler war. Und ohne Freude. Es handelte sich nicht um einen Schnappschuss. Sie wusste, dass eine Kamera sie erfasste, und trotzdem war sie nicht darum bemüht, freundlich auszusehen. Eine Spur von Sehnsucht lag in den dunklen Augen, vielleicht auch Hoffnung. Innerlich nickte Henrik bereits, noch bevor Paula ihre Frage stellte.

»Wollen Sie mir wirklich helfen?«

4

Der Weg vom Bahnhof hinauf über die Rua das Chagas war heute steiler als sonst. Dabei war er konditionell eigentlich besser in Form, denn er schwamm mindestens zweimal die Woche im Meer, seit die Temperaturen es zuließen. Er hatte auch abgenommen, was jedoch nicht allein am Sport, sondern vor allem an den Seelenschmerzen lag, die ihn plagten und ihm den Appetit raubten. Liebeskummer war bei ihm von jeher eine empfehlenswerte Diät gewesen. So war es auch jetzt, und zwar schon seit jenem Vorfall im Frühjahr, der zum Bruch mit Helena geführt hatte. Inzwischen wirkte er zwar körperlich fitter, fühlte sich innerlich jedoch nach wie vor ausgezehrt. Zu diesen Kümmernissen kam die Last seiner Aufgaben, wenn man es so bezeichnen wollte. Ein ordentliches Pfund, nein, mehr ein Zentner, wenn nicht gar ein Doppelzentner schien auf seinen Schultern zu lasten. Wie einer der Zementsäcke, die sich vor seinem Haus stapelten. Mit Beginn seines neuen Lebens in Portugal hatten sich zu schnell zu viele Probleme angehäuft. Und nicht nur jene, die Staub und Lärm produzierten. Aus der Sicht des Kriminalkommissars betrachtet, der er einmal gewesen war, steckte er in zu vielen relevanten Ermittlungen fest. Auf dem nur in seiner Vorstellung existierenden Ermittlerschreibtisch stapelte sich ein ganzer Haufen nicht abgeschlossener Fälle. Fälle, die er beackerte. Freiwillig! Na ja, mehr oder weniger freiwillig, korrigierte er sich. Jedenfalls bezahlte ihn niemand dafür, dass er sich mit ungelösten Verbrechen beschäftigte. Wobei auch das nicht ganz richtig war. Die Recherche an einem bestimmten Mord sorgte nämlich durchaus dafür, dass das Gebäude in der Rua do Almada renoviert wurde und er sich in Lissabon über Wasser halten konnte. Finanziert von einem Fonds, den das Opfer einst selbst initiiert hatte. Doch ein anderer Teil der Ermittlungen war tatsächlich hausgemacht. Unter anderem die Sache mit seiner ehemaligen Angestellten. Catia war entführt worden, um ihn unter Druck zu setzen, und seitdem verschwunden. Noch eine abhandengekommene Frau, wenn man so wollte. Wobei er seit einer seltsamen Begegnung im Frühjahr eher davon ausging, dass ihre Entführer sie hatten laufen lassen. Irgendwann, nachdem dieser leidige Vorfall erledigt war. Seitdem versteckte sie sich vor ihm, ohne dass er eine Ahnung hatte, warum. Darüber hinaus war da die ungeklärte Angelegenheit mit Jaya, der Inderin, die mit ihrer Familie bei ihm im Haus wohnte. Gegen sie hegte er seit Neuestem einen Verdacht, der ihm besonders schwer im Magen lag. Und dann waren da noch die Azulejos. Wenn er auf seine Intuition hörte, dann war das die heißeste Spur und gleichzeitig das größte Rätsel, seit er sich Martins Erbe angenommen hatte. Hinter dem Geheimnis der Azulejos konnte die Auflösung zu allem stecken. Und falls das zu hoch gegriffen war, konnte seine Klärung zumindest den Grund an den Tag bringen, warum Martin und João hatten sterben müssen. Vielleicht war diese vermeintliche Fährte aber auch ein kompletter Irrweg, dem er folgte, weil er zu voreingenommen, zu befangen war.

Wie auch immer, die Frage war: Sollte er sich bei all den Vorfällen und mutmaßlichen Verbrechen, die ihn zurzeit so intensiv beschäftigten, tatsächlich noch eine weitere Ermittlung ans Bein binden? Den Vermisstenfall Cinthya Cardenas?

Er musste das nicht tun. Das sagte er sich immer wieder. Eigentlich musste er sich um überhaupt nichts von all dem kümmern. Niemand würde es ihm ankreiden, wenn er die Dinge ließ, wie sie waren. Wenn er sich zuallererst einmal um sich und sein eigenes Seelenheil bemühte. Seine Sehnsüchte stillte. Um Vergebung bat und versuchte, sie umzustimmen. Helena …

Im honigfarbenen Licht der Straßenlaternen lag die Rua do Almada friedlich da. Friedlich und still, jetzt, da der Baulärm verhallt war, der tagsüber die Gasse füllte. Trügerisch still, dachte er – weil er einfach nicht anders konnte. Er seufzte. Wahrscheinlich war er schlichtweg unfähig, sich zu entspannen und dem Frieden zu trauen. Oder auch nur zu vorsichtig, weil er wusste, dass so etwas wie Frieden nicht existierte. Das sagte ihm jedenfalls sein Realitätssinn. Er war lediglich ein Spielball, der wie alle anderen darum kämpfte, sein Schicksal selbst bestimmen zu können.

Renato hockte auf dem Stapel Zementsäcke vor dem Haus, einen Vinho Verde in der Hand. Wortlos ließ Henrik sich neben dem älteren Mann nieder, griff nach dem eisgekühlten Wein und kippte ihn sich in seinen ausgetrockneten Rachen.

Renato protestierte nicht, er grinste nur. Das schwarze Hemd hatte Henriks Mieter bis oben zugeknöpft. Die Temperaturen schienen ihm nichts auszumachen. Kein einziger Schweißtropfen stand auf seiner Stirn oder rann über die Krähenfüße, die seine dunklen Augen einrahmten. Die kurz rasierten Haare stachen auffällig weiß durch die gebräunte Kopfhaut, ebenso wie der Dreitagebart. Wer ihm auf der Straße begegnete, hielt ihn vermutlich für einen interessanten Charakter – und tatsächlich konnte er sich durchaus sehr charmant geben. Ein Grandseigneur der alten Schule. Doch Henrik kannte nur zu gut auch seine andere Seite. Die Verbitterung und den Zynismus, der ihm anhaftete. Er vermutete, Renatos Launenhaftigkeit ließ sich vor allem darauf zurückführen, dass er seine Homosexualität den Großteil seines Lebens hatte verbergen müssen, bis er es endlich wagen konnte, sie offen auszuleben. Dem verzweifelten Warten darauf, seine gleichgeschlechtliche Zuneigung so zeigen zu dürfen, wie es Körper und Geist für richtig hielten, verdankte er wahrscheinlich jene hartnäckige Hornhaut aus bitterer Ironie, hinter der er sich nur zu gerne verschanzte. Während Henrik ihn betrachtete, streifte ihn nicht zum ersten Mal der Gedanke, ob er für Martin nach Joãos Tod wohl mehr gewesen war als nur ein guter Freund und Mitstreiter gegen die Ungerechtigkeit.

Auch wenn ihm ein paar Kilo mehr auf den Rippen gutgetan hätten, konnte man ihn mit seinen 65 Jahren als stattliche Erscheinung bezeichnen. Daran änderten auch die Narben oberhalb des Auges und über dem Nasenbein nichts. Selbst nach über einem Jahr konnte Henrik nur schwer darüber hinwegsehen, zumal er an ihnen nicht ganz unschuldig war. Andererseits hatte die üble Erfahrung sie damals zu so etwas wie Freunden gemacht. Renato war ein Verbündeter, dem Henrik von allen Leuten, die bei ihm im Haus wohnten, das meiste Vertrauen entgegenbrachte, auch wenn der schlanke Sänger und Mime ihm mit seinen Allüren bisweilen auf die Nerven ging. Henrik wusste, wie sehr Martins Tod ihn getroffen hatte, und deshalb war es zwischen ihnen zu Beginn recht schwierig gewesen. Seit Renato erkannt hatte, dass Henrik das Vermächtnis seines Onkels aufarbeitete, war sein Misstrauen geschwunden, und nun stand er ihm zur Seite, so gut es ihm mit seinem schwierigen Charakter möglich war.

»Wie geht’s den Stimmbändern?«

Die Antworte war lediglich ein Brummen. Ein grollender Hinweis darauf, dass der Sänger sie nach wie vor schonen musste. Seit mehreren Monaten war Renato nicht mehr aufgetreten, und das zehrte an ihm – nicht nur finanziell. Henrik hatte es seither unterlassen, ihn nach der Miete zu fragen. Er beschäftigte ihn sogar ab und an im Laden, obschon ihn das mehr kostete, als es ihm einbrachte. Doch das Antiquariat lohnte sich ohnehin nicht, hatte sich vermutlich noch nie gelohnt. Auch hier griff dieser äußerst zweckmäßige Fonds, den Martins Lebensgefährte João eingerichtet hatte und der nun auch Henrik bei seinen Aktivitäten unterstützte. Ein Entgegenkommen von Joãos Familie, so lange, bis Henrik seinen Teil der Abmachung erfüllt hatte.

»Der Padre war hier«, sagte Renato.

Sofort war Henrik hellwach. »Hat er was gefunden?«

Renato sah ihn von der Seite her an. »Erzählt er mir doch nicht. Ich frage mich ohnehin, was ihr da ständig zu bequatschen habt.«

Pater Bruno vom Kloster São Vicente de Fora war in mancher Hinsicht noch paranoider als Henrik selbst. Vor allem, was ihr Projekt anging. Eine ziemlich heikle Sache, weshalb Henrik den Kreis der involvierten Personen so klein wie möglich hielt. Bruno und er versuchten nämlich, den Azulejo-Code zu knacken. Ein Vorhaben, das sich zu einem regelrechten Fieber ausgewachsen hatte und ihm auf der Seele brannte, ähnlich den heftigen Feuern, die sich durch die Wälder im Norden fraßen. Das Rätsel der Azulejos zu lösen, war wie eine Schatzsuche, jedoch ohne die Hoffnung, am Ende mit Gold und Edelsteinen belohnt zu werden.

Eine Windböe blähte die Planen über dem Baugerüst, begleitet von metallischem Klicken, wie man es sonst unten am Jachthafen hörte, wenn die Befestigungsleinen und Metallösen in den Leinwänden gegen die Masten schlugen. Der Priester wäre nicht gekommen, wenn er nicht etwas Wichtiges herausgefunden hätte. Henrik musste sich dringend mit ihm treffen.

»Dir ist doch klar, dass diese Geschichte mit den Azulejos über kurz oder lang nur wieder Ärger bedeutet.«

»Deine Warnung ist zur Kenntnis genommen«, erklärte Henrik.

Renato schenkte ihm einen mürrischen Blick. »Ich will nur nicht, dass du dich in irgendwas verrennst.«

Für Sekunden herrschte Schweigen. Einerseits musste er Renato recht geben. Selbst wenn es ihnen gelang, die Wandbilder zu finden, von denen die Fliesen stammten, würden die Bilder und deren Symbolik dahinter nicht unbedingt Antworten, sondern vermutlich erst einmal nur ein Übermaß an Interpretationsspielräumen liefern, vor allem wenn die konkreten Verbindungen und Bezüge fehlten. Genau wie immer, wenn er Hinweise im Antiquariat fand oder – wie in diesem Fall – eines der zahlreichen Wandbilder, die sich auf die ganze Stadt verteilten. Solange er keine Verknüpfung zu seinen Ermittlungen herstellen konnte, würde er auf der Stelle treten.

»Wer war eigentlich die Kleine mit dem Rucksack?«, wollte Renato plötzlich wissen und lenkte damit seine Gedanken wieder auf die jüngste Angelegenheit, für die Henrik seine Unterstützung versprochen hatte.

»Ist noch was von dem Wein im Kühlschrank?«

»Na, das wird wohl eine längere Geschichte«, sagte Renato und deutete mit einem Kopfnicken an, dass er Henrik tatsächlich etwas übrig gelassen hatte. Renato war es gestattet, sich aus dem Kühlschrank zu bedienen, nachdem er geholfen hatte, das erst kürzlich besorgte Gerät ins Büro zu hieven. Auffällig war, dass sich ausschließlich die Weinbestände daraus relativ schnell verringerten. Mit einem Seufzer stemmte Henrik sich hoch, schlurfte ins Antiquariat und kam mit der angebrochenen Weinflasche und dem Foto zurück, das Paula ihm überlassen hatte. Er schenkte sich das Glas voll, während Renato die rotstichige Aufnahme betrachtete. Es dauerte einen Moment, aber dann leuchtete Erkenntnis aus den Augen des Künstlers.

»Du kennst sie also«, vermutete Henrik.

»Das ist lange her«, murmelte Renato gedankenverloren, nahm ihm das Weinglas aus der Hand und leerte es in einem Zug. »Sie hat hier gewohnt.«

»Gewohnt …?« Henrik rutschte beinahe die gekühlte Flasche aus der Hand.

»Ein paar Wochen lang, vielleicht auch nur Tage. Ich erinnere mich nicht wirklich. Ich weiß nur noch von der Aufregung, als sie plötzlich unangekündigt verschwunden ist. Martin hat daraufhin einen ziemlichen Wirbel veranstaltet.«

»Du musst doch noch mehr wissen!« Henrik war so perplex, dass er den nächsten Schluck direkt aus der Flasche nahm. »Bei wem hat sie gewohnt?«

»Da, wo heute unser Jazztrio haust. Im zweiten Stock gab es schon früher eine WG. Damals hatten sich dort vier Frauen eingemietet. Verrückte Esoterikhühner, die mit ihrem Gackern und überzogenen Gehabe die Hausgemeinschaft aufmischten. Selbst im Treppenhaus roch es fortwährend nach Cannabis und Räucherstäbchen. Auch Catia hat dort eine Weile gelebt, aber das kann auch später gewesen sein, also nachdem die Brasilianerin wieder weg war.«

Cinthya hatte hier in der Rua do Almada Nummer 38 gewohnt. Und selbst wenn es nur ein paar Tage gewesen waren, gewann ihr Verschwinden damit doch wesentlich an Gewicht. Rührte Martins Brief an Salva Cardenas etwa auch von seinem schlechten Gewissen her, weil er dessen Ehefrau nicht hatte beschützen können? Henrik setzte sich.

»Was weißt du von Cinthya? Und über Martins Bemühungen, nachdem sie verschwunden war?«

Renato hob abwehrend die Hände. »Ich war damals sehr mit mir selbst beschäftigt. Du kannst froh sein, dass ich sie überhaupt wiedererkannt habe. Mehr ist von dieser Zeit wirklich nicht hängen geblieben …« Er hielt kurz inne. »Soweit ich mich entsinne, war ihr Aufbruch ziemlich überstürzt, sie hat sogar ihren Koffer vergessen … oder zurückgelassen, wenn du so willst.«

»Kam dir das nicht seltsam vor?«

»Wie gesagt, ich war zu der Zeit mit meinem Kopf woanders. Aber Martin war natürlich sehr alarmiert. Wobei es dazu ohnehin nie viel brauchte. Er hatte damals auch …«

»Was?«

Renato wedelte mit seinen schlanken Händen und bedeutete ihm, still zu sein. Dann stand er abrupt auf, schlüpfte durch die Bauplanen und stakste ins Antiquariat. Das Gedankenkarussell drehte sich, sodass Henrik kaum merkte, wie die Zeit verging. Cinthyas Koffer? Vielleicht lag der ja noch irgendwo im Keller … Als er den nächsten Schluck nehmen wollte, stellte er fest, dass er den Vinho Verde geleert hatte. Er betrachtete die leere Flasche und verspürte den Drang, Renato hinterherzugehen, um die nächste aufzumachen. Und bei der Gelegenheit gleich zu schauen, was Renato so lange im Laden trieb, wonach er suchte. Doch kurz bevor er die Geduld verlor, gesellte sich sein Mieter wieder zu ihm. Er presste sich ein in Leder gebundenes Buch an die Brust, so groß und schwer, dass es ihn leicht ins Schwanken brachte, als er sich neben Henrik niederließ. Er klatschte den Wälzer auf Henriks Oberschenkel. Eine Staubwolke, einem pyroklastischen Sturm gleich, eruptierte aus der Kladde. Winzige Flöckchen aus zersetztem Papier, getrocknetem Leim und Pilzsporen hüllten ihn ein, und er wedelte sie hektisch weg, ehe sie einen Hustenreiz auslösen konnten. Flora Americae Meridionalis war in verschnörkelten Lettern in den brüchigen Einband geprägt.

»Südamerikanische Botanik?«

»Hat etwas gedauert, bis mir einfiel, wo ich suchen muss. Wenn man sich den Saustall in deinem Laden so anschaut, gilt offenbar nach wie vor Martins Hausordnung.«

»Alles hat seinen Platz«, verteidigte sich Henrik.

»Alles bleibt an seinem Platz«, korrigierte ihn Renato.

Ja, so lautete tatsächlich diese erste aller Regeln, die ihm Catia gleich zu Anfang eingebläut hatte, als sie ihn mit dem Inventar des Antiquariats vertraut machte. Von jeher galt Martins unwiderrufliche Anweisung, im Antiquariat möglichst nichts zu verändern. Noch hatte Henrik sich weitgehend daran halten können. Doch die drohende Grundsanierung des Hauses würde dem zweifellos ein Ende setzen. Er wusste, er würde den Laden räumen müssen, es war nur eine Frage der Zeit. Wie viel von der Hinterlassenschaft seines Onkels, wie viel von den Geheimnissen, den Codes und versteckten Botschaften konnte er danach wohl noch rekonstruieren? Das Ziehen im Magen, das Henrik plötzlich verspürte, kam nicht von der Säure des Weins. Er atmete einmal tief ein, dann wandte er sich dem antiquierten Lexikon zu und schlug es bedächtig auf. Der schwere Einband stöhnte leise, aber vernehmlich auf, als missfiele ihm, dass er nach so vielen Jahren des Tiefschlafs wieder aufgeklappt wurde. In der oberen Ecke der ersten, bereits recht vergilbten Buchseite, hatte Martin vor langer Zeit mit Bleistift eine Zahl notiert.

20.000,–

Vermutlich der ehemalige Preis in Escudos. Das Licht der Straßenlaterne war viel zu schwach für eine ordentliche forensische Untersuchung, trotzdem blätterte Henrik vorsichtig weiter. Sollte ihm etwas Ungewöhnliches auffallen, konnte er damit immer noch ins Büro gehen und es unter die grelle Tageslichtlampe legen, die er vor einiger Zeit angeschafft hatte. Der Druck war aufwendig, jede der Seiten mit viel Liebe gestaltet. Die Abbildungen der einzelnen Pflanzen bestanden aus kunstvollen Radierungen, waren fein mit Tusche illustriert und danach aufwendig koloriert worden. Das Lexikon war handwerklich und künstlerisch eine beeindruckende Arbeit. Aber das war natürlich nicht der Grund, warum Renato sich die Mühe gemacht hatte, es herauszusuchen und ins Freie zu schleppen. Es dauerte eine Weile, bis er auf eine Seite stieß, die von Martin dezent markiert worden war. Für den flüchtigen Blick war es kaum zu bemerken, doch Henrik hatte längst ein Gespür dafür entwickelt, diese Symbole zu entdecken.

Psychotria viridis lautete die Betitelung der Seite, auf der eine Pflanze abgebildet war, deren saftig grüne Blätter denen der in Europa heimischen Buche nicht unähnlich waren.

»Was steht da?«, fragte er Renato, der nun wieder ein volles Weinglas in der Hand hielt. Offenbar war er selbst zu konzentriert gewesen und hatte nicht mitbekommen, dass sein Freund schon wieder Nachschub geholt hatte. Längst war es Nacht geworden. Schwärme von Motten umtanzten die Straßenlaterne über ihnen. Drüben von der Barterrasse schallten die üblichen ausgelassenen Geräusche zu ihnen herüber.

Renato zog eine Lesebrille aus der Brusttasche seines Hemds, klemmte sie sich auf die krumme Nase und beugte sich zu ihm. »… bis zu vier Meter hoher Baum, glatte Borke, aus dem Tieflandregenwald Süd- und Mittelamerikas«, fasste er zusammen. »Oh … Das muss dieses Kraut sein, ein Kaffeestrauchgewächs, aus dem sie das Teufelszeug gebraut hat«, murmelte er.

»Teufelszeug?«

»Ayahuasca … oder Cipó, wie sie es nannte. Ein halluzinogener Zaubertrank, den sie aus den Blättern und der Rinde dieser Pflanze gekocht hat.«

»Wer?«

»Cinthya natürlich«, erklärte Renato und schnalzte mit der Zunge. Dann warf er Henrik einen bedeutsamen Blick zu. »Auch wenn ich zu dieser Zeit so einiges probiert habe, habe ich mich nicht dazu überwinden können, von dieser Brühe zu trinken. Nach allem, was ich so gehört habe, kann dich das Zeug in Trance versetzen. Die Einnahme wird regelrecht zelebriert und basiert auf religiösen Riten, wie sie von Eingeborenenstämmen am Amazonas vollzogen werden. Meines Wissens geht es dabei um die Reinigung des Geistes und wie bei allen Drogen dieser Art natürlich um die Bewusstseinserweiterung. In Brasilien soll es regelrechte Ayahuasca-Religionen geben. Aber wenn du mich fragst, kotzt du dir lediglich die Eingeweide aus dem Leib, was natürlich auch eine Art der Reinigung ist.«

»Hat Martin davon probiert?«

»Hätte zu ihm gepasst, aber ich bin mir sicher, er war ebenso skeptisch wie ich, was die Wirkung angeht.«

»Und Don Alfredo hat diese Droge aus dem Dschungel nach Portugal gebracht?«, fragte Henrik und griff nach dem Weinglas. Diesmal ließ Renato es nur widerwillig los.

»Cinthya hatte das Zeug bei sich, wie mir Martin erzählte, von daher nehme ich an, sie war der Kurier. Dein Onkel meinte auch, dass sie mit diesem … wie nannte er sich … diesem Heiler …«

»Schamanen«, berichtigte ihn Henrik.

»Scharlatan, richtig! Also, sie ist mit diesem Scharlatan durch ganz Europa getingelt. Lissabon sollte ihre letzte Station sein, bevor es zurück nach Brasilien ging. Sie waren länger bei uns in der Stadt als anderswo, das weiß ich noch. Die New-Age-Welle war gerade aus den USA zu uns herübergeschwappt, und offenbar bestand in Lissabon besonders großes Interesse an fachkundiger Anleitung zur Selbstfindung. Leider kann ich dir nicht sagen, wie oder unter welchen Umständen sich Cinthya und Martin begegnet sind … ich kann nur vermuten, durch Catias Zutun. Zu schade, dass wir sie nicht fragen können. Aber ja …« Er bekam einen wehmütigen Blick. »Unsere Catia war anfällig für diesen Esoterikkram. Na, wem erzähle ich das. Sie fand sie jedenfalls gut, die widernatürlichen Künste dieses …«

»Don Alfredo«, soufflierte Henrik.