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Helena Gomes steht vor einem Rätsel: Selbst im Herbst läuft Lissabon noch über vor Urlaubern. Ausländische Investoren haben den Tourismus-Trend schon vor Jahren erkannt. Unzählige Häuser in den alten Stadtvierteln wurden von ihnen zu Feriendomizilen umgebaut, während die Einheimischen wegen der steigenden Mieten aus ihren Wohnungen gedrängt werden. Als es zu Todesfällen in der Eléctrico kommt, der berühmten historischen Straßenbahn, glaubt Kommissarin Gomes nicht an einen Zufall. Offenbar ist jemand gewillt, die von vielen verhassten Touristen mit allen Mitteln zu verschrecken. Und als ihr Lebensgefährte Henrik Falkner unwissentlich in diese Fälle verstrickt wird, müssen die beiden alles daran setzen, die Verantwortlichen zu stoppen.
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Seitenzahl: 332
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Buch
Helena Gomes steht vor einem Rätsel: Selbst im Herbst läuft Lissabon noch über vor Urlaubern. Ausländische Investoren haben den Tourismustrend schon vor Jahren erkannt. Unzählige Häuser in den alten Stadtvierteln wurden von ihnen zu Feriendomizilen umgebaut, während die Einheimischen wegen der steigenden Mieten aus ihren Wohnungen gedrängt werden. Als es zu Todesfällen in der Eléctrico kommt, der berühmten historischen Straßenbahn, glaubt Kommissarin Gomes nicht an einen Zufall. Offenbar ist jemand gewillt, die von vielen verhassten Touristen mit allen Mitteln zu verschrecken. Und als ihr Lebensgefährte Henrik Falkner unwissentlich in diese Fälle verstrickt wird, müssen die beiden alles daransetzen, die Verantwortlichen zu stoppen.
Der Autor
Luis Sellano ist das Pseudonym eines deutschen Autors. Auch wenn Stockfisch bislang nicht als seine Leibspeise gilt, liebt Luis Sellano Pastéis de Nata und den Vinho Verde umso mehr. Schon sein erster Besuch in Lissabon entfachte seine große Liebe für die Stadt am Tejo. Luis Sellano lebt mit seiner Familie in Süddeutschland. Regelmäßig zieht es ihn auf die geliebte Iberische Halbinsel, um Land und Leute zu genießen und sich kulinarisch verwöhnen zu lassen.
LUIS SELLANO
Portugiesisches
Schweigen
EIN LISSABON-KRIMI
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Originalausgabe 05/2025
Copyright © 2025 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
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(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR.)
Redaktion: Joscha Faralisch
Umschlaggestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesign, unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com (Tetiana Chernykova, Helissa Grundemann, Maximiliane Wagner)
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-32356-1V001
www.heyne.de
»Die wirklich Leidenden rotten sich nicht zusammen, bilden keine Gemeinschaft. Wer leidet, leidet allein.«
Fernando Pessoa, aus Das Buch der Unruhe
1
Henrik
Fahrplan Linie 28 E, Haltestelle N° 23 Santa Catarina nach Campo Ourique, Abfahrt 19:09 Uhr
Rückblickend musste die Frau bereits tot gewesen sein, als Henrik Falkner an diesem ungewöhnlich heißen Herbsttag in die Linie 28 stieg.
Doch noch wartete er, darauf hoffend, dass ein Großteil der Fahrgäste am Praça Luís de Camões die Bahn verließ. Als die Eléctrico mit dem typisch energischen Kreischen schließlich an der Haltestelle Santa Catarina hielt und die vordere Tür sich öffnete, schaffte er es allerdings nur mit Mühe, sich hineinzudrängen. Er hielt seine Monatskarte gegen den Sensor, ein grünes Leuchten signalisierte ihm, dass er über eine Berechtigung für die Fahrt verfügte. Alle Sitzplätze waren besetzt, und der Rest der Fahrgäste hatte sich breit im Mittelgang postiert. Vorrangig Touristen, wie nicht anders erwartet. Uneinsichtige Leute, deren Ziel die Endhaltestelle am Prazeres-Friedhof war, auch wenn der um diese Uhrzeit längst geschlossen hatte. Es glich einem Trauerspiel. Mittlerweile lebte er lange genug in der Stadt, um sich darüber aufzuregen, dass viele der ausländischen Besucher unvorbereitet und planlos agierten. Nur um sich im Anschluss darüber zu beschweren, wie sehr doch ihre Erwartungen an diese Reise durch solche Widrigkeiten getrübt worden waren. Heutzutage, wo es einem so einfach gemacht wurde, für alles Erdenkliche Sterne zu vergeben. Übellaunig quetschte er sich also durch die Menge, die ihrerseits verständnislos darauf reagierte. Doch er wollte sichergehen, möglichst ungehindert wieder aussteigen zu können, sobald die Straßenbahn den Halt erreichte, zu dem er unterwegs war. Was deutlich vor allen anderen sein würde. Seine Vehemenz, sich bis zur letzten Bankreihe nach hinten zu arbeiten, bescherte ihm zwei Stopps später sogar einen Sitzplatz. Unverhofft stand jemand auf, und dieses Manöver auf engstem Raum zwang ihn förmlich dazu, auf die harte Holzbank auszuweichen, noch ehe einer der anderen Fahrgäste reagieren konnte. Was ihm ein paar weitere abschätzige Blicke bescherte, die ihn jedoch kaltließen. Niemand in seiner unmittelbaren Nähe wirkte derart gebrechlich oder fußkrank, dass er Bedarf gesehen hätte, den Sitz wieder frei zu machen. So fand er sich neben einer älteren Dame wieder, die zusammengesunken am offenen Fenster saß. Ihr Kopf war nach vorne gesackt. Dass sie trotz des beständigen Ratterns und Quietschens des historischen Vehikels und inmitten der laut durcheinanderquasselnden Leute schlafen konnte, war schon bewundernswert. Aufgrund der funktionalen Kleidung, die sie trug, tippte Henrik auch bei ihr auf eine Touristin, die wie die anderen Verirrten vermutlich darauf hoffte, trotz der späten Stunde noch in den berühmtesten Friedhof Lissabons eingelassen zu werden. Aber natürlich konnte sie sich auch auf dem Weg zurück in ihr Hotel befinden. Dem Anschein nach hatte sie ja bereits einen anstrengenden Tag in der Stadt hinter sich gebracht. Einen langen, ereignisreichen Urlaubstag mit unzähligen Eindrücken, allerdings auch bei viel zu hohen Temperaturen, was nun seinen Tribut forderte. Guter Gott, hoffentlich hatte sie ihren Ausstieg nicht verschlafen. Henrik sah sich um, doch augenscheinlich gehörte sie zu niemandem der anderen Fahrgäste, die entweder gebannt aus den Fenstern schauten oder in aufgeregte Plaudereien vertieft waren. Der Frau neben ihm schenkte dagegen keiner Beachtung.
Die Eléctrico ruckelte und knirschte. Zischte metallisch grell auf den in der Straße eingelassenen Schienen. Immer wieder bremste der Fahrer abrupt, wenn die ohnehin schon engen Gassen zusätzlich durch schlecht geparkte Autos oder Lieferwagen blockiert waren. Dann wurde das aufdringliche Klingeln der Bahn mit Hupen kommentiert, bis es endlich weiterging. Wie immer war es ein wilder Ritt, bergauf und bergab durchs Lapa-Viertel. Ein Abenteuer für sich und einer der Gründe, weshalb die Linie 28 so begehrt bei allen Besuchern Lissabons war.
Henriks Sitznachbarin blieb von all dem weiterhin unbeeindruckt. Und weil auch er die Strecke nur zu gut kannte, studierte er auf seinem Handy erneut die Liste der Bücher, die ihm ein Sammler heute Vormittag per E-Mail zum Kauf angeboten hatte. Hielten die antiquarischen Werke tatsächlich, was die Nachricht versprach, warteten ein paar echte Schätze auf ihn. Noch dazu für einen Schnäppchenpreis. Tatsächlich dämpfte die niedrige Kaufsumme seine Euphorie aber eher. Nach nunmehr zwei Jahren als Antiquar verfügte er mittlerweile zwar über eine gewisse Erfahrung, was den Erwerb alter Bücher anging, dennoch konnte er sich nach wie vor nur schwer vorstellen, dass jemand, der beabsichtigte, eine so wertvolle Sammlung aufzulösen, zuallererst an ihn dachte. Es gab einige Antiquariate in der Stadt, darunter ganz gewiss renommiertere Läden als den seinen. Weshalb er davon ausging, nur die zweite oder gar dritte Wahl zu sein, was diesen Ankauf betraf. Und dass die Buchhändler, die vor ihm den Bestand gesichtet hatten, keine Einigung mit dem Verkäufer erzielen konnten, weil die Bücher nicht hielten, was sie versprachen. Aber was soll’s, sagte er sich. Selbst wenn auch er die Druckwerke ablehnte, war ein Ausflug in diese Ecke der Stadt immer eine schöne Abwechslung. Er mochte die Gegend um die Basílica da Estrela, mit dem Park gegenüber der Kirche und dem Englischen Friedhof gleich nebenan, auf dem unter anderem der Romanautor und Aufklärer Henry Fielding begraben lag. Durchaus auch eine Empfehlung, wenn man auf die Besichtigung von letzten Ruhestätten erpicht war, allerdings weniger bekannt als der in jedem Reiseführer vermerkte Cemitério dos Prazeres.
In einem engen Linksknick kippte die Dame neben ihm gegen seine Schulter. Henrik lag bereits eine flapsige Bemerkung auf den Lippen, die er auf ihre Entschuldigung hin erwidern wollte. Doch die Frau machte keinen Anstalten, sich wieder aufzurichten. Sie verharrte in der schiefen Position, schwer gegen seine Seite gelehnt. Henrik geriet in Sorge, dass sie sich womöglich nicht nur bei ihrer Exkursion durch die Stadt übernommen, sondern auch zu viel Portwein oder Ginjinha probiert hatte. Peinlich berührt umfasste er ihren Oberarm und drückte sie zurück in die Senkrechte. Zu heftig, denn ihr Kopf kippte in die andere Richtung und schlug unkontrolliert gegen den hölzernen Fensterholm. Henrik durchfuhr ein Schreck, gefolgt von der bitteren Erkenntnis, dass die Frau nicht einfach nur völlig erschöpft war oder gar einen Rausch ausschlief. Trotz der anhaltenden Hitze dieses Frühherbsts umhüllte ihn schlagartig eisige Kälte, als ihm aufging, dass seine Sitznachbarin nicht mehr am Leben war.
2
Henrik
Fahrplan Linie 28 E, Haltestelle N° 29 Estrela (Basílica), Ankunft 19:20 Uhr
War ihm etwas entgangen? Während sie ihn warten ließen, befiel Henrik dieser leichte Schwindel, der gelegentlich immer noch aufkam, wenn er in brenzlige Situationen geriet. Er hatte gelernt, ihn wegzuatmen, was einigermaßen funktionierte, sofern die Gefahrenlage nicht weiter eskalierte. So wie jetzt. Dennoch hielt das beunruhigende Gefühl an. Länger als sonst, aber wie sollte er durch bewusstes Atmen auch Ruhe finden, wenn gleichzeitig unter der Schädeldecke die Gedanken nicht zu bändigen waren? Immer wieder betete er sich vor, dass es nichts gebracht hätte, wenn er den Tod der Frau früher erkannt hätte. Sehr wahrscheinlich konnte er davon ausgehen, dass sie schon nicht mehr am Leben war, als er in die Bahn gestiegen war. Egal, was er also getan hätte, sie wäre nicht mehr zu retten gewesen. Nicht durch ihn. Und was sich davor abgespielt hatte, darüber konnte er nur spekulieren. Es war allerdings auch widersinnig, anzunehmen, dass die Tote längere Zeit unbemerkt mit der Straßenbahn herumgefahren war. Schlussendlich starb sie vermutlich erst, kurz bevor er sich neben sie setzte. Wo also hatte sie ihre Fahrt begonnen? Und vor allem, warum war der Person, die vor Henrik neben der Frau gesessen und deren Platz er eingenommen hatte, nichts aufgefallen? Jetzt ärgerte er sich, nicht besser darauf geachtet zu haben. Aber es war alles so schnell gegangen in dem Gedränge. Er konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es sich dabei um einen Mann oder ebenfalls um eine Frau gehandelt hatte. Wobei er zu Letzterem tendierte, auch wenn sich nur ein verwaschenes Bild dieser Situation in seiner Erinnerung befand. Diese vermeintliche Passagierin zu beschreiben, die ihm ihren Sitzplatz überlassen hatte, war unmöglich. Er konnte nicht einmal sagen, welche Kleidung sie getragen hatte. Das war keineswegs die Art von Aufmerksamkeit, die von einem ehemaligen Kriminalkommissar zu erwarten war. Doch es half nichts, weiter zu lamentieren. Wieso auch, es lag ja kein Verbrechen vor.
Nachdem ihm klar geworden war, dass neben ihm eine Tote saß, musste er sich zuerst selbst wieder in den Griff bekommen. Und er brauchte einen Plan. Wollte er ein Chaos in der vollen Bahn vermeiden, durfte er nicht lauthals Alarm schlagen. Er konnte aber auch nicht einfach sitzen bleiben und darauf hoffen, dass keinem der anderen Fahrgäste etwas auffiel, bis sie die Endhaltestelle erreichten und alle die Bahn verlassen hatten. Ohne Frage würde sofort jemand seinen Platz einnehmen, sobald er aufstand. Das würde zumindest verhindern, dass die Seniorin in der nächsten Linkskurve vollständig von der Bank kippte. Henrik musterte die Leute, die unmittelbar neben ihm standen, versuchte abzuschätzen, wer nach ihm den begehrten frei werdenden Sitz ergattern würde. Kam mit sich überein, dass er darauf keinen Einfluss nehmen konnte. Er musste dieses Risiko einfach eingehen. Das Schicksal entscheiden lassen. Also war er aufgestanden, bevor er es sich doch anders überlegen konnte. Ungeachtet dessen, was in seinem Rücken passierte, hatte er sich durch die Leute im Mittelgang bis vor zum Fahrer hindurchgequetscht.
Der Mann, der die Tram routiniert durch die Gassen manövrierte, glaubte ihm erst, als aus dem hinteren Teil der Bahn hysterisches Kreischen ertönte. Danach ging alles ganz schnell. Und deshalb saß er nun seit einer halben Stunde im Wartehäuschen gegenüber der Basílica da Estrela, an der gleichnamigen Haltestelle, an der sie letztlich gestrandet waren. Genau dort, wo er ohnehin vorhatte auszusteigen. Nur die Umstände hatten sich drastisch geändert. Seitdem blockierte die dort abgestellte Eléctrico den Schienenverkehr. Genau wie ihm wurde natürlich auch dem nicht minder schockierten Fahrer nach Eintreffen der Polícia Municipal aufgetragen, sich für eine Befragung bereitzuhalten. Zu diesem Zeitpunkt hatten alle anderen Fahrgäste bereits mehr oder weniger panisch die Bahn verlassen und das Weite gesucht. Henrik konnte es niemandem verdenken. Die meisten von ihnen verbrachten hier ein paar Urlaubstage. Da wollte man keine wertvollen Stunden im Warteraum eines Polizeireviers verbringen, um eine Aussage zu Protokoll zu geben, die ohnehin nur daraus bestand, dass man von all dem nichts mitbekommen hatte.
Genaugenommen hatte auch er nichts bemerkt. Er konnte nicht einmal sagen, welche Dame den Entsetzensschrei losgeworden war, der diese Fahrt so harsch beendet hatte.
Trotzdem hockte er hier und harrte aus, um seine Pflicht zu tun. Eine Aussage zu machen. Kurz überlegte er, ob er den Verkäufer der Büchersammlung kontaktieren sollte, doch er scheute sich, den wahren Grund zu nennen, weshalb er den Termin nun doch nicht wahrnehmen konnte. Ebenso wenig wollte er sich etwas ausdenken, eine fadenscheinige Ausrede erfinden. Daher entschied er, es dabei zu belassen, und beobachtete stattdessen von seiner Haltestellenbank aus weiter, wie die Uniformierten von der Ortspolizei den Straßenbahnfahrer befragten, der nervös rauchend von einem Bein aufs andere wippte. Henrik versuchte derweil, seine Kommissarin zu erreichen. Zu seinem Bedauern landete auch der dritte Anruf auf ihrer Mailbox. Sollte er es doch bei ihrer Dienststelle probieren? Vielleicht war sie ja gar auf dem Weg hierher, um sich die Tote anzusehen? Nein, das war unwahrscheinlich. Es sei denn, der zwischenzeitlich eingetroffene Notarzt hätte einen Verdacht hinsichtlich eines Dahinscheidens unter Fremdeinwirkung geäußert. Doch daran glaubte er nicht. Henrik ging von Herzstillstand oder einem Schlaganfall aus und zügelte mit dieser Einschätzung seine eigene Hysterie und seine Tendenz, überall sofort ein Verbrechen zu sehen. Wie alt mochte die Frau gewesen sein? Mindestens an die siebzig, vermutlich noch älter. Nun, das war heutzutage kein Alter mehr, wie man immer hörte. Allerdings hatte dieser extrem heiße Sommer bereits zahlreiche Hitzetote gefordert, nicht nur in der Hauptstadt. Und die Temperaturen waren selbst jetzt, gegen Ende September, kaum merklich zurückgegangen. Auch heute und obwohl sich der Himmel bereits orangerot färbte, fühlte sich die klebrige Luft immer noch nach dreißig Grad und mehr an. War das die Todesursache? Die Hitze in Kombination mit der Aufregung, in einer fremden Stadt unterwegs zu sein … den endlosen Eindrücken ausgesetzt … ohne ausreichend Wasser getrunken zu haben … Es eröffneten sich viele Möglichkeiten. Aber reichten ihm diese Erklärungen? Henrik war nicht nur Antiquar, sondern in erster Linie Privatermittler. Ein ehemaliger Kommissar bei der Kripo, der nach dem Tod seiner Frau seinen Dienst quittiert und Deutschland schließlich den Rücken gekehrt hatte, um hier in Lissabon neu anzufangen. Als Buchhändler. Aber nicht nur. Er schüttelte den Kopf. Versuchte klar zu bleiben. Nicht abzuschweifen. Und vor allem, nicht in Ohnmacht zu fallen. Denn auch dafür war er anfällig nach dem traumatischen Vorkommnis des vergangenen Frühjahrs, als auf ihn geschossen worden war. Es war nach wie vor schwer, die Auswirkungen dieses Ereignisses auf seine Psyche zu beherrschen. Sein Körper hatte sich vollständig davon erholt, keine Frage. Aber der Kopf spielte immer noch nicht so mit, wie er das gerne hätte. Posttraumatisches Stresssyndrom lautete die Diagnose, mit der er seitdem zu kämpfen hatte. Und auch wenn er sich dessen bewusst war, konnte er die Auswirkungen dieser Erkrankung nicht einfach abstellen. Selbst die Medikamente, die er dagegen einnahm, wirkten nicht in allen Fällen. Wenn es herauswollte, dieses Syndrom, das seine Seele verseuchte, dann tat es dies, ohne ihn zu fragen. Und in der Folge schaltete dabei sein Gehirn manchmal ab. Ein Schutzmechanismus, den er nicht als solchen empfand, weil er dadurch keinerlei Kontrolle mehr über sich und sein Handeln besaß. Wogegen er sich nicht immer erfolgreich zu wehren vermochte.
Zwei Mitarbeiter von Carris, dem hiesigen Transportunternehmen, das den Bus- und Straßenbahnverkehr in der Stadt unterhielt, waren aufgetaucht. Sie redeten auf die Polizisten ein. Es war nicht schwer zu erraten, dass sie den Betrieb der Linie 28 so schnell wie möglich wieder aufnehmen wollten. Schließlich kletterte auch der Notarzt aus der Eléctrico und mischte sich in die Runde mit ein. Einer der Uniformierten deutete rüber zu Henrik. Dabei blieb es. Schließlich traf ein Leichenwagen ein. Die Bestatter stellten schnell fest, dass sie mit dem Zinksarg nicht durch den engen Zustieg in die Tram gelangten. Was letztlich dazu führte, dass die Tote in einem Leichensack aus der Bahn getragen wurde. Erst als die Verstorbene abtransportiert war und dem Fahrer gestattet wurde, die Tram wieder in Bewegung zu setzen, gesellten sich die Streifenpolizisten zu Henrik.
»Sie können gehen«, sagte der eine.
»Das war’s also?«, hakte Henrik nach.
»Sieht so aus. Falls wir noch Fragen haben, wir wissen ja, wo wir Sie finden«, antwortete der andere.
»Wer war sie?«, fragte Henrik. Die beiden Polizisten sahen sich an. Der mit dem Vollbart schüttelte den Kopf. »Braucht Sie nicht zu interessieren«, raunte er. Damit ließen sie ihn allein. Ohne einen Dank für sein geduldiges Warten. Er sollte erleichtert sein, dass dieser Zwischenfall sich erledigt hatte. Doch er war es nicht.
3
Helena
»Hast du von der Toten in der Straßenbahn gehört?«, fragte Henrik, kaum dass sie durch die Tür war.
»Hast du deshalb versucht, mich zu erreichen?« Helena ging zur Spüle und ließ kaltes Wasser über ihre Hände und Unterarme laufen, bevor sie sich zu ihm an den Küchentisch setzte. Es war wieder ein langer Tag gewesen. Schwierige Ermittlungen wegen der Ermordung eines schwergewichtigen Immobilieninvestors hielten sie seit mehr als einer Woche auf Trab. Mit dem steigenden Druck von Politik und Medien im Nacken verlangte ihr Vorgesetzter endlich Ergebnisse von der extra dafür eingerichteten Sonderkommission, der sie angehörte. Deren Leitung allerdings ihrem neuen Kollegen Sérgio Damasos übertragen worden war, der in allem den Vorzug von Comandante Ralha erhielt, seit er vor einem halben Jahr aus Porto in die Hauptstadt gekommen war.
Ihr Dezernat war wegen dieses brisanten Falls sogar mit Personal verstärkt worden, doch leider traten sie weiterhin auf der Stelle. Die Stimmung innerhalb der Soko wurde jeden Tag schlechter, und das laugte zusätzlich aus. Sie verspürte Lust auf ein Glas Wein. Und dieses Verlangen wuchs, während Henrik von seinem Erlebnis in der Eléctrico berichtete. Sie bemerkte zwar, wie aufgewühlt er deswegen war, dennoch kostete es sie Mühe, seiner Schilderung zu folgen.
»… für mich rausfinden, wer die Dame war und ob es eine weiterführende Ermittlung geben wird!«
Als hätte sie keine anderen Sorgen. Ihr fehlte die Kraft, deswegen eine Diskussion loszutreten, weshalb sie einfach nickte, auch wenn sie keine Absicht hegte, seiner Bitte nachzugehen. Das war so ein Ding zwischen ihnen, seit sie sich kannten. Immer mal wieder versuchte Henrik durch sie oder vielmehr ihre Position bei der Divisão de Investigação Criminal an Informationen zu laufenden Untersuchungen, verdächtigen Personen oder an alte Fallakten zu gelangen. Heute war ihr Energielevel zu tief im Keller, um sich darüber zu ärgern. »Gibt es noch was zu essen?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln. Er unterbrach seinen Monolog und warf ihr einen enttäuschten Blick zu. »Danke für die Anteilnahme«, brummte er und schüttelte den Kopf. Er strich sich mit beiden Händen über seine unrasierten Wangen und stand auf. »Es gibt Kartoffelauflauf mit Bacalhau«, verkündete er, ging rüber zum Backrohr und drehte am Temperaturregler.
Sie nickte. »Tut mir leid, ich bin einfach nur müde … und hungrig«, ergänzte sie, was ihm ein Grinsen entlockte. Helena wusste sofort, was ihn plötzlich amüsierte. Sie hatte sich zuerst nach dem Essen erkundigt, statt nach ihrer Tochter Sara zu fragen, die um diese Zeit längst im Bett lag. Augenblicklich bekam sie ein schlechtes Gewissen. Ihr Vorhaben, sich mehr Zeit für Sara zu nehmen, jetzt, da sie zur Schule ging, war bisher ein Wunsch geblieben. Seit Schulbeginn kam Helena noch später nach Hause und brach morgens meist so früh ins Büro auf, dass sie ihre Tochter immer nur schlafend zu Gesicht bekam. »Ich schaue schnell nach ihr«, sagte sie und stemmte sich hoch. Was war sie nur für eine Rabenmutter geworden – eine Rabenmutter mit Flügeln aus Blei.
Leise betrat sie das Kinderzimmer, das sie für Sara eingerichtet hatten, nachdem sie im Frühjahr endgültig zu Henrik in die Rua do Almada gezogen waren. Still betrachtete sie ihren schlafenden Engel. Sara hatte die leichte Zudecke um ihre Füße herum und zu einem Knäuel zusammengestrampelt. Helena unterließ es, sie wieder hochzuziehen. Es war warm im Zimmer, auch diese Nacht hatte kaum merkliche Abkühlung gebracht. Als sie noch alleinerziehend war, hatte sie es besser hingekriegt, sich Zeit für Sara freizuschaufeln. Sie musste wieder damit anfangen. Endlich aufhören, alles auf Henrik abzuwälzen, der immer bereitwillig einsprang, wenn sie ihn darum bat. Sie wusste, er liebte Sara, als wäre sie sein eigenes Kind, aber es war dennoch nicht richtig von ihr, diese Zuneigung fortwährend so auszunutzen.
Als sie zurück in die Küche kam, stand das Essen auf dem Tisch. Ihr Magen knurrte. Henrik hatte ihr ein Glas Vinho Verde eingeschenkt. Er nahm ihr gegenüber Platz und sah dabei zu, wie sie den Auflauf in sich hineinschaufelte. Der Stockfisch schmeckte noch ziemlich salzig. Wie immer hatte er ihn vor der Zubereitung zu wenig gewässert. Dennoch aß sie alles auf, fühlte sich danach nicht nur satt, sondern irgendwie auch wieder versöhnt. Henrik war ein guter Partner. Kümmerte sich um ihre Tochter, kochte für sie, hielt ihr auch sonst den Rücken frei, was den Haushalt anging. Fing sie auf. Gab ihr Halt im Rahmen seiner Möglichkeiten. Es bestand kein Grund, an ihrer Beziehung zu zweifeln. Im Gegenteil, sie musste wirklich dankbar sein, ihn gefunden zu haben. Und noch viel mehr, seit er seine Krankheit ganz passabel im Griff hatte. Er nahm brav seine Medikamente und ging zur Therapie. Alles lief wieder besser, sie hatten die Schwierigkeiten, in die sein psychisches Leiden sie in der ersten Jahreshälfte geführt hatte, hinter sich gelassen. Es war an der Zeit, das Glück endlich zuzulassen, das sie durch ihn erfahren hatte. Warum nur tat sie sich damit so schwer? »Haben wir noch mehr?«, fragte sie mit Blick auf das leere Glas. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, nicht nur weniger zu arbeiten, sondern auch den Wein wegzulassen. Für ein paar Tage zumindest. Henrik erhob sich und holte die Flasche aus dem Kühlschrank. Er schenkte ihr nach.
»Trinkst du keinen?«
Er schüttelte den Kopf, woraufhin sie sich sofort wieder schlechter fühlte. Noch hat er es unterlassen, sie auf ihren überhöhten Weinkonsum anzusprechen. Doch sie ahnte, wie er darüber dachte, sah es in seinem tadelnden Blick. Ihr war bewusst, dass sie auch darüber reden sollten. Nur nicht heute. Heute hielt diese verteufelte Erschöpfung sie von allem ab, wofür sie sich rechtfertigen sollte. Die Müdigkeit überflutete ihren Denkapparat. Diese bleierne Schwere, von der sie sich in letzter Zeit nicht mehr befreien konnte. Sie schlief zu wenig. Und wenn sie es endlich ins Bett schaffte, fühlte sie sich oftmals zu müde, um einzuschlafen. Das hörte sich absurd an, aber genauso empfand sie es. Deshalb war sie absolut nicht in der Verfassung, auch nur irgendeine Diskussion auszutragen. Ihr fehlte die Kraft für jegliche Art von Auseinandersetzung. Vielmehr war ihr nach Flucht. Ins Bad, danach unverzüglich ins Bett. Licht aus und darauf warten, dass die Gedanken endlich schwiegen. Wenn das denn überhaupt passierte. Doch im Moment schaffte sie es nicht einmal, vom Tisch aufzustehen. Ich bin ein Wrack. Ich weiß nur nicht, wieso. Was stimmte nicht mit ihr? War es der Job, der sie so zermürbte? Nein, auch darüber wollte sie jetzt nicht weiter nachdenken. Das zog sie nur noch tiefer in das Loch, in dem sie bereits steckte. Da war es einfacher, sich Henriks Geschichte noch einmal anzuhören. »Das mit der Frau in der Straßenbahn tut mir leid. Ich meine, dass du das miterleben musstest.«
Er zuckte mit den Schultern. »Schon okay, ich komme damit klar. Es hat mich nur irgendwie durcheinandergebracht, nicht sofort bemerkt zu haben, dass sie nicht mehr lebt.«
»Und seitdem fragst du dich, was zu ihrem Tod geführt haben könnte?«
Er brauchte darauf nicht zu antworten, sie sah es in seinen Augen. Der Vorfall beschäftigte ihn oder vielmehr den Polizisten in ihm, der er einmal war und den er nicht loswurde. Dieses angelernte Verhalten, gepaart mit seinem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, trieb ihn an. Hielt ihn so lange gefangen, bis er meinte, alle Fakten zu kennen. Und bestenfalls die Antworten auf alle Fragen, die ihm dazu durch den Kopf spukten. Es war die Art von Besessenheit, die sie auch von sich kannte. »Fühlst du dich schuldig?«
»Wieso sollte ich? Letztlich hatte ich sowieso keine Chance, ihr Leben zu retten.«
Helena verstand. Auch dass er Trost von ihr wollte, den sie ihm gerne geben würde. Aber auch sie brauchte Trost – etwas, das ihre Seele streichelte und sie wieder aufrichtete. Mit neuer Energie füllte. Ihr fiel nur nicht ein, was das sein konnte. Statt einfach sitzen zu bleiben und sich weiter dem Selbstmitleid hinzugeben, erhob sie sich, nahm das Glas und kippte den Wein in die Spüle. Henrik verfolgte sie mit seinem Blick. »Ich suche dir morgen den Polizeibericht dazu raus«, versprach sie und verließ die Küche.
4
Henrik
Wenn er sich weiterhin von einer Seite auf die andere wälzte, in der trägen Hoffnung, doch noch einmal einzuschlafen, würde er nur Helena wecken. Und das wollte er nicht, denn scheinbar war es ihr endlich mal wieder gelungen, tief und fest zu schlafen. Eine Erholung von Geist und Seele, die sie bitter nötig hatte. So leise er nur konnte, schlüpfte er aus dem Bett, schlich auf nackten Füßen raus in den Flur und rüber in die Küche. Dort schielte er aus dem Fenster. Der noch junge Tag war nicht mehr als ein blasser Schimmer über den Dächern des Chiado-Viertels.
Henrik verdrängte sein Verlangen nach einem Kaffee, denn die Maschine würde zu laut mahlen und beim Brühen zischen wie ein leckes Dampfrohr, und er wollte partout keinen Lärm verursachen, der Helenas Schlaf stören könnte. Also begnügte er sich mit einem Glas Wasser, das er in einem Zug leer trank. Das Handy hing am Ladekabel. Die Wetter-App versprach strahlenden Sonnenschein und Höchsttemperaturen von dreiunddreißig Grad. Der portugiesische Sommer in diesem Jahr hatte immer noch nicht genug. Er öffnete das Fenster, um das vage Versprechen einer nächtlichen Abkühlung hereinzulassen. Die Luft war weniger erfrischend, als er es sich wünschte. Lissabon war noch nicht erwacht, und dennoch war die Stadt nie wirklich still. Ihr frühmorgendlicher Atem bestand aus einem konstanten Dröhnen, einem die Stille überlagernden Vibrieren im Frequenzbereich von immerwährendem Meeresrauschen, das man überhörte, wenn man sich nicht darauf konzentrierte. Er hatte sich längst daran gewöhnt, und auch wenn es später anschwoll und von zahllosen Geräuschen des Alltags durchsetzt wurde, empfand er daran nichts Störendes mehr. Henrik nahm am Küchentisch Platz, klappte den Laptop auf und öffnete einem Automatismus folgend und ohne jede Erwartung das E-Mail-Programm. Über Nacht trafen dort in der Regel nur unnötige Werbebotschaften und dubiose Spam-Nachrichten ein, die er ungeachtet löschte. Bis er auf eine Mail stieß, die sofort jeglichen Rest von Müdigkeit aus seinem Kopf pustete. Die E-Mail stammte von seiner Mutter. Wie immer hatte sie auf einen Betreff verzichtet, als beabsichtigte sie damit, zu verhindern, ihr Anliegen vorzeitig zu offenbaren. Er stellte fest, dass er sich noch nicht bereit für das fühlte, was sie ihm mitzuteilen gedachte. Also tippte er zuerst eine Nachricht an denjenigen, der ihm gestern die Büchersammlung verkaufen wollte. Er verfügte nicht über die Telefonnummer des Verkäufers, also blieb nur, ihm zu schreiben. Er entschuldigte sich, dass er den Termin verpasst hatte, weil kurzfristig etwas dazwischengekommen war. Eine tote Frau in der Straßenbahn, die sich gegen meine Schulter lehnte …
Henrik beendete die E-Mail damit, dass er um ein neues Treffen bat, sofern die Bücher weiterhin zur Veräußerung standen. Nachdem er die Nachricht abgeschickt hatte, war das Verlangen nach einem Kaffee deutlich angewachsen. Ihm war natürlich klar, dass es dabei nur darum ging, eine Ablenkung zu finden, die ihn davon abhielt, die E-Mail aus Deutschland zu lesen, die ihm Unbehagen bereitete, seit sie ihm ins Auge gefallen war. Allem voran, weil sie von Simone Falkner um 4:37 Uhr versendet worden war. Vor rund zwei Stunden also, wenn er die sechzig Minuten Zeitverschiebung zwischen Stuttgart und Lissabon mit einrechnete. Henrik schob den Cursor auf das elektronische Briefchen und ließ ihn dort verharren. Sein Zeigefinger schwebte über der Taste, die die Nachricht auf den Bildschirm holen würde. Kurz nach halb fünf Uhr morgens, verdammt! Das war selbst für eine Frühaufsteherin wie seine Mutter eine ungewöhnliche Zeit, um eine Korrespondenz in die Welt hinauszuschicken. Er sog scharf die Luft ein und öffnete die Nachricht, die nur aus einem Satz bestand. Keine Anrede, kein Gruß zum Abschluss. Nur diese fünf Worte. Dein Vater ist im Krankenhaus.
Henrik klappte den Laptop zu. Erst im zweiten Anlauf kam er auf wackligen Beinen zum Stehen. Er schnappte sich sein Handy und verließ leise die Wohnung. Die Treppe ins Erdgeschoss knarzte bei den üblichen Stufen. Unten angelangt, entschied er sich dagegen, im Antiquariat zu telefonieren. Obwohl er nur Unterhose und T-Shirt trug, trat er hinaus auf die Gasse. Nun war nicht mehr zu überhören, dass die Stadt um ihn herum sich zu regen begann. Der Kreislauf der Metropole am Tejo nahm an Fahrt auf. Der Wind, der die Rua do Almada heraufwehte, zupfte an seinen Haaren. Er schluckte trocken, bevor er die Nummer seiner Mutter wählte.
»Henrik!«
»Wieso hast du nicht angerufen?«, fragte er aufgebracht. Seine Stimme war kaum mehr als ein Krächzen.
»Mitten in der Nacht?!«
Er räusperte sich. »Ich hätte es trotzdem gehört«, gab er seiner Mutter zu verstehen und unterdrückte den Fluch, den er anhängen wollte. »Was ist passiert?«, fragte er stattdessen.
»Ich musste den Notarzt rufen, jetzt liegt er im Katharinenhospital.«
»Soll ich kommen?«
»Nein, so schlimm ist es nicht«, antwortete seine Mutter auf eine Weise, die nicht typischer für sie sein konnte. Kontrolliert, gefasst. Was musste eigentlich vorfallen, damit ihre Fassade der Unnahbarkeit Risse bekam oder gar aufbrach? So schlimm ist es nicht. Für ihn hörte sich das genau nach dem Gegenteil an. »Was fehlt ihm denn, Himmel noch mal?«
»Beruhige dich!«, verlangte sie, ohne die Stimme zu heben. Ihm wurde klar, dass sie nicht allein war. Womöglich saß sie im Wartebereich des Krankenhauses und hatte Leute um sich herumsitzen. Leute, die allerdings vermutlich andere Sorgen hatten, als ihr Telefonat zu belauschen. Doch das zählte nicht für Simone Falkner. Sie war dazu erzogen worden, Haltung zu bewahren, keine Schwäche erkennen zu lassen, vor allem nicht in der Öffentlichkeit. Das machte Henrik wütend. »Will ich aber nicht. Kannst du zumindest einmal Gefühle zeigen?!«, herrschte er sie an durchs Telefon, was für eine Pause sorgte.
»Die Untersuchung läuft noch. Nur so viel: Seit Wochen klagt er schon über Rückenschmerzen, aber nach einer ersten Einschätzung der Ärzte sind es die Nieren.«
»Verdammt«, entfuhr es Henrik, worauf ihn seine Mutter sofort tadelte, dass derartige Äußerungen nicht hilfreich waren. Er sog scharf die Luft ein, um zu verhindern, nicht noch eine verbale Entgleisung hinterherzuschicken.
»Ich rufe an, sobald ich mehr weiß«, sagte sie.
»Davon gehe ich aus«, gab er mürrisch zurück und war gedanklich bereits dabei, einen Flug nach Stuttgart zu buchen.
»Henrik!«
»Ja?«
»Danke, dass du angerufen hast«, hörte er sie sagen, dann war die Verbindung weg. Schwindelig von der Kakofonie seiner Gedanken, die durch sein Hirn rasten und dabei bisweilen kollidierten, betrachtete er das Display des Handys, bis es schwarz wurde. Dann blickte er auf und sah die Gasse hoch. Oben an der Einmündung in die Rua do Loreto stand ein Mann im Schatten. Henrik war sicher, dass er zu ihm herunterstarrte.
5
Helena
Sérgio Damasos war niemand, der laut wurde. Doch je mehr Druck er von oben bekam, desto schneidender wurde sein Tonfall. Helena empfand es schon immer als bedrückender, mit gesenkter Stimme zurechtgestutzt als angeschrien zu werden. »Wieso müssen Sie immer gleich über die Stränge schlagen?«, verkleidete Damasos seine Kritik an ihr mit einer Frage, kaum dass sie nach einer frühen Besprechung mit dem Comandante wieder hinter ihrem Schreibtisch Platz genommen hatte. Natürlich wusste Helena, was er damit eigentlich sagen wollte. Sie hatte seinem Empfinden nach ihren Mund mal wieder zu weit aufgemacht. Oder die Wahl ihrer Worte nicht überdacht, bevor sie sie losgeworden war. Alles nichts Neues bei Inspetora Gomes …
Dabei hatte der Morgen gut angefangen. Nachdem sie aufgewacht war, hatte sie sich seit Langem nicht mehr so ausgeruht gefühlt. Aus der Küche roch es nach Kaffee. Leise war das aufgeregte Plappern ihrer Tochter zu hören. Merda, ich hätte heute zu Hause bleiben sollen, dachte sie, während Damasos weiter auf sie einredete, ohne dass seine Worte wirklich bei ihr ankamen. Sie hatte ausreichend Urlaubstage angespart. Und der Grund für einen freien Tag wäre angemessen gewesen. Aber Henrik lehnte ihr Angebot mehrfach ab. Als sie nach einer ausgiebigen Dusche in die Küche gekommen war, hatte sie Sara und Henrik dort vorgefunden. Ihre Tochter frühstückte, während er über einen immer noch vollen Becher Kaffee hinweg an die Wand starrte. Im ersten Moment war sie davon ausgegangen, dass ihn ein Depressionsschub heimsuchte. Doch dann hatte Henrik sofort auf sie reagiert, und sie wusste, dass er nicht irgendwohin abgedriftet war. Etwas war passiert, das nicht nur allein aus seinem Inneren heraus für Aufruhr in seinem Kopf sorgte. Sie setzte sich zu ihm, und er klärte sie darüber auf, was in der Nacht mit seinem Vater vorgefallen war. Was dazu führte, dass Sara viele Fragen stellte, die er nur unzureichend beantworten konnte. Kurz hatten sie darüber diskutiert, ob er nach Deutschland fliegen sollte. Er war unschlüssig, versprach ihr aber, Bescheid zu geben, falls er sich heute noch dafür entscheiden sollte. Danach mussten sie sich beeilen, damit Sara nicht zu spät zur Schule kam. Und Henrik hatte erneut darauf bestanden, dass Helena, nachdem sie Sara an der Schule abgesetzt hatte, ins Revier fahren sollte. Hatte ihr versichert, mit der Situation klarzukommen. Vermutlich wäre es trotzdem besser gewesen, ihm beizustehen. Stattdessen hockte sie an ihrem Schreibtisch, während Damasos ihr ihre Verfehlungen der letzten Wochen vorbetete. Und sie spürte mit jedem weiteren Wort, das aus seinem Mund kam, wie die Müdigkeit sich wieder in ihrem Kopf ausbreitete. Dabei hatte sie nach dem Aufstehen noch gedacht, sie zumindest für ein paar Tage losgeworden zu sein.
Zu dem jüngsten Vorfall summierte Damasos unbeirrt einen Vorwurf gegen sie, der schon eine Weile bestand und wegen dem eine interne Untersuchung eingeleitet worden war. Während einer erst kurz zurückliegenden Ermittlung zu einer Mordserie hatte sie aus Sicht der Innenrevision Informationen einbehalten, die womöglich zum Tod eines weiteren Menschen geführt hatten. Die Dienstaufsicht sah sich diese Geschichte gerade näher an, weshalb sie innerhalb der Abteilung im Fokus stand. Noch mehr, als das ohnehin der Fall war. Sie hätte verdammt noch mal noch viel länger Urlaub nehmen sollen, sinnierte sie, ohne darauf zu hören, was Damasos ihr weiterhin meinte mitteilen zu müssen.
Natürlich war es bei der morgendlichen Unterredung mit Comandante Ralha um ihre aktuelle Ermittlung gegangen. Dabei hatte vorrangig Damasos Vorhaltungen von seitens ihres Chefs abbekommen. Als wüssten sie nicht selbst, dass sie hinsichtlich der Ermordung eines schwergewichtigen Immobilieninvestors nicht vorankamen. Während ihr Kollege Ralhas Tiraden wie üblich mit stoischer Miene über sich hatte ergehen lassen, war ihr wieder mal recht schnell die Hutschnur geplatzt. Im Zuge dessen war ihr herausgerutscht, dass es ihnen ja nicht gestattet wurde, endlich in das übermächtige Geschwür der Korruption hineinzustechen, um sich danach aus dem herauslaufenden und abscheulich stinkenden Eiter die wahren Verdächtigen herauszupicken. So in etwa war ihr Wortlaut gewesen, weswegen sie sich jetzt auch noch von Damasos für ihr kontraproduktives Verhalten tadeln lassen musste. Natürlich grämte es ihren Kollegen vor allem, weil er sich vom Comandante hatte anhören müssen, dass Helena auch unter seiner Führung nicht in den Griff zu bekommen war.
Sérgio Damasos wechselte unverhofft die Taktik und schlug einen verständnisvollen Ton an. Auch das kannte sie mittlerweile von ihm. Immer wenn er diese Karte zog, zu einer Vertraulichkeit hin umschwenkte, die ihr vermittelte, dass er im Grunde auf ihrer Seite war, gewann er bei ihr an Sympathie. Weil sie ihm dann tatsächlich abnahm, dass er meinte, was er sagte. Dass er gar nicht so übel war, wie sie sich das gerne zurechtlegte. Dass da durchaus eine Basis bestand, auf der sich eine kollegiale Freundschaft errichten ließe – wenn sie ihn nur einfach besser riechen könnte. Natürlich wusste sie auch, dass das mit dem abstoßenden Geruch, den sie immer in der Nase hatte, kaum dass er in ihre Nähe kam, nur eine Aversion von ihr war. Er stank ja nicht wirklich, denn sie war die Einzige im Revier, die sich an seinen Körperausdünstungen zu stören schien. Ihre übersteigerte olfaktorische Wahrnehmung, was seine Person betraf, musste eine psychologische Ursache haben. Anders ließ sich das nicht erklären.
»… werden einen Weg finden«, sagte Damasos. »Ich weiß doch auch, wie sehr Sie wegen der Untersuchung der Dienstaufsicht gegen Sie unter Druck stehen …«
Helena verlor erneut die Konzentration. Sie dachte daran, dass Henrik sie in letzter Zeit immer mal wieder mit der Idee einer gemeinsamen Privatdetektei zu begeistern versuchte. Womöglich lag darin tatsächlich die Lösung gegen ihr Unwohlsein und den wachsenden Unmut, ihren Aufgaben bei der Kriminalpolizei nachzugehen. Wenn es diesbezüglich nur nicht so viele Unwägbarkeiten gäbe. Und genaugenommen mochte sie ihren Job, auch wenn dieser stets mit den Schrecken menschlicher Abgründe verbunden war. Doch sie hatte gelernt, damit umzugehen. Mit den Leichen, den bedauernswerten Opfern, der verbitterten Trauer, die mit einem Besuch von ihr an der Tür eines betroffenen Angehörigen einherging. Auch mit den kaltherzigen, oftmals brutalen Tätern, die ihr in den Verhörräumen gegenübersaßen und kein Anzeichen von Reue erkennen ließen. Das alles konnte sie wegstecken und kompensieren, als Teil ihrer Arbeit annehmen. Was ihr jedoch schon viel zu lange sauer aufstieß, war der offensichtliche Umgang mit dem Klüngel, der Korruption und den Machenschaften, die eine in ihren Augen effektive Polizeiarbeit immer wieder torpedierten. Und dass von ihr erwartet, ja sogar verlangt wurde, dies zu tolerieren, womit sie sich selbst als Spielball einer machtvollen Elite sah. Einer selbst ernannten Führerschaft, die weder eine politische Ideologie vertrat noch einer Religion anhing. Auch das war alles nur Blendwerk, um zu verschleiern, dass sich diese Leute nur über sich selbst definierten. Und, damit verbunden, ihre Macht rechtfertigten, die sie meinten, auf die Justiz, die Behörden und letztlich auch auf das Volk ausüben zu können. Das war es, was sie nicht ertragen konnte und was für sie zunehmend zur Belastung wurde. Ermittlungen, die wegen Vetternwirtschaft oder Bestechung nicht weitergeführt wurden. Ausreden, die von ihren Vorgesetzten vorgebracht wurden, Befehle, die zu nichts führten und bei denen auf der Hand lag, warum sie erteilt wurden …
»Sie wissen, was zu tun ist«, schloss Damasos seinen Vortrag und holte Helena damit zurück aus ihren Gedanken. Sie nickte mechanisch. »Wir brauchen endlich eine Erfolgsmeldung. Trommeln Sie alle aus der Soko zusammen, Lagebesprechung, sagen wir, in zwei Stunden. Bis dahin soll jeder noch mal alles durchgehen, was wir bisher zusammengetragen haben. Ich bin überzeugt, uns ist etwas entgangen, das wir einfach noch nicht sehen. Und noch etwas! Ich schätze Sie und Ihre Fähigkeiten, Inspetora. Wenn jemandem ein bislang übersehenes Detail ins Auge sticht, dann Ihnen. Und darauf baue ich. Auf Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit und Ihren Spürsinn.«
Nach der Peitsche ein bisschen Zuckerbrot, um sie zu motivieren. Das war eines der Talente von Sérgio Damasos. Helena hätte ihm gerne gesagt, dass sie keine aufmunternden Worte von ihm brauchte, doch sie wusste, es war jetzt klüger zu schweigen. Außerdem wäre sie beim aktuellen Stand der Ermittlungen ohnehin auf gleiche Weise vorgegangen, aber auch das behielt sie für sich. Sie rückte an ihren Bildschirm und öffnete die Akte über die Ermordung des Immobilieninvestors. Darüber verging die Zeit, weshalb sie sich nach einer gefühlt ewig währenden Sitzung der Sonderkommission erst auf ihrem spätabendlichen Heimweg daran erinnerte, was sie Henrik hinsichtlich der in der Straßenbahn verstorbenen Frau versprochen hatte. Sie tröstete sich damit, dass er wegen der Erkrankung seines Vaters jetzt ohnehin anderes im Kopf haben würde, weshalb sie den Informationen über diesen Todesfall keinerlei Relevanz mehr beimaß.
6
Henrik
Fahrplan Linie 28 E, Haltestelle N° 13, Miradouro Sta. Luzia nach Praça Luís de Camões, Ankunft 17:25 Uhr
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