Postaktivismus - Phillip Maiwald - E-Book

Postaktivismus E-Book

Phillip Maiwald

0,0

Beschreibung

Wir sind aufgebracht. Wir sind rasend und lärmend im brausenden Außen der Krise. Wir benötigen einen Schritt ins innere, stille Zentrum dieses Orkans, um sie besser zu verstehen. Dazu brauchen wir Mut – zum Experiment, zum Neubeginn und zum Chaos. Um unsere eher technische Sicht auf die Klimakrise zu überwinden, braucht es einen erweiterten Blick auf die Natur und auf uns selbst. Nur so können wir die Krise als das betrachten, was sie tatsächlich ist: Eine Einladung an uns selbst, unsere Kultur sehr grundsätzlich zu verändern. Wir könnten damit beginnen, unser Denken zu kompostieren.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 168

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



PHILLIP MAIWALD

POSTAKTIVISMUS

Die Stille im Inneren der Krise

Für Nadin, Loïs & Liseli

ISBN (Print) 978-3-96317-345-5

ISBN (ePDF) 978-3-96317-902-0

ISBN (eBook) 978-3-96317-926-6

Copyright © 2023 Büchner-Verlag eG, Marburg

Bildnachweis Cover: Jakob Piest

Bildnachweis Buchklappe: Harlekin, Masques et bouffons, Maurice Sand, um 1860

(https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:SAND_Maurice_Masques_et_bouffons_01.jpg)

Autorenfoto: Nadin Tettschlag

Satz und Umschlaggestaltung: DeinSatz Marburg | jg

Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt.

Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

www.buechner-verlag.de

Inhalt

Einführung

Erster Teil: Was ist Postaktivismus?

Postaktivismus und Kompost

Báyò Akómoláfé und Donna Haraway

Eine neue Zeit hat begonnen

Mein Postaktivismus

Die Überwindung des bürgerlichen Aktivismus

Zweiter Teil: Lineares Verstehen und intuitives Begreifen

Der wissenschaftliche Blick

Deep Adaptation

Die spirituelle Sicht auf den Klimawandel

Geschichten erzählen

Dritter Teil: Einige Fragen des Postaktivismus

Ziviler Ungehorsam

Dogmatischer, moralischer und strategischer Pazifismus

Demokratie und Gewalt

Cancel Culture und Kulturelle Aneignung

Preppen – Von der Sorge zur Vorsorge

Vierter Teil: Angst, Tod und Kunst

Angst und Tod

Postaktivismus und Soziale Plastik

Fünfter Teil: Einige Beispiele praktischer Anwendbarkeit von Postaktivismus

Postaktivismus im Privaten

Postaktivismus in der Öffentlichkeit

Sechster Teil: Eine revolutionäre Bewegung

Endnoten

Literaturverzeichnis

Einführung

Im Keller meines Elternhauses steht, solange ich denken kann, ein kleiner, roter Werkzeugkasten. Es ist der Werkzeugkasten meiner Mutter, den sie als junge Frau im berühmten Jahre 1968 während ihrer Ausbildung von einer anderen Auszubildenden übernommen hatte. Rund um den roten Kasten steht in großen, schwarzen, etwas verblichenen, aber noch klar lesbaren Buchstaben mit Serifen der gute alte Spruch »Nobody is perfect«. Dieser Spruch hat mich in Zusammenhang mit dem Werkzeugkasten schon immer auf angenehme Weise irritiert. Oben auf dem Kasten sind noch einige stilisierte Blumen aufgemalt. Bezogen auf den Aktivismus unserer Tage, denke ich, dass uns dieser alte Werkzeugkasten samt philosophischem Motto als Inspiration für Veränderung erst einmal ausreichen könnte. Uns einzugestehen, dass wir mit unseren herkömmlichen Werkzeugen und unserem gewohnten Denken einer komplexen Krise epochalen Ausmaßes nicht beikommen können, ist dabei eine wichtige Einsicht und ein erster, grundlegender Schritt. Was den Inhalt des Kastens angeht, denke ich, dass wir heute viel subtilere Werkzeuge brauchen als in der Vergangenheit, um persönlich, aber auch kollektiv eine Perspektive entwickeln zu können, die uns im Angesicht der Klimakrise tatsächlich durchatmen lässt. Eine Idee davon zu entwickeln, welche Werkzeuge wir zukünftig brauchen könnten, um die nötige Resilienz zu entwickeln, um überhaupt handlungsfähig zu werden, ist Postaktivismus. In diesem Text versuche ich, einige erste Werkzeuge zu beschreiben, die mir selbst gute Dienste geleistet haben und die ich heute nicht mehr missen möchte.

Das Hauptproblem unseres Umgangs mit dem Themenkomplex Klimawandel ist – wie sollte es anders sein – unser Denken. Das Problem ist die Geschichte, in der wir im globalen Norden leben und innerhalb derer wir uns immer wieder dieselben Dinge erzählen und erzählen lassen. Uns wird immer weiter das alte Märchen vom ewigen Wachstum, vom Wohlstand für alle und vom technischen Fortschritt erzählt – und wir erzählen diese Geschichte weiter. Wir leben in dieser Geschichte. Dabei war dies noch nie eine tolle Geschichte; sie hat hauptsächlich dazu geführt, dass einige wenige Menschen und Länder sehr reich wurden, während andere Länder und Lebewesen rücksichtslos geplündert und umgebracht wurden. Es ist die Geschichte der Separation, der Kolonisation und des Kapitalismus – das wollen wir doch eigentlich alles loswerden. Es ist auch eher die Geschichte des Mannes als die der Frau, wenn man das Thema aus einer gendergerechten Perspektive betrachten möchte. Das Problem, etwas gegen die ökologische Krise zu unternehmen, besteht unter anderem darin, dass wir mit unserem Denken stets innerhalb dieser bestehenden Logik von Wachstum und Fortschritt im materiellen, rationalen Sinne verharren. Deshalb erscheint uns das Problem, die Klimakrise anzugehen, auch so unendlich kompliziert. Es ist ohne Frage kompliziert, diese Krise innerhalb des bestehenden Systems zu verändern, welches in seiner Komplexität selbst kaum überschaubar ist. Wir können nicht all unsere Annehmlichkeiten, unsere Wirtschaftsweise und unseren Lebensstandard beibehalten und gleichzeitig die Welt retten. Wenn wir uns aber auf einen ganz grundlegenden Wandel unserer Kultur einlassen, wenn wir uns einen völlig anderen Blick auf unsere Kultur erlauben, wenn wir beginnen, uns andere Geschichten zu erzählen, werden die Veränderungen, derer es bedarf, sehr viel klarer. Wir werden die ökologischen Probleme niemals innerhalb unseres bestehenden Systems lösen. Wenn wir uns aber auf unseren gesunden Menschenverstand verlassen und die Dinge des Zusammenlebens auf unserem Planeten grundlegend anders denken, können wir einen holprigen Neustart hinbekommen. Und dabei glaube ich nicht, dass wir die Grundsätze unserer freien Gesellschaft oder die Rechtsstaatlichkeit unserer Demokratie verlassen müssen. Vielleicht müssen wir den Verfassungen der Länder lediglich ambitionierte grundlegende Rechte für kommende Generationen, für die Tier- und Pflanzenwelt, für Umwelt und Natur einfügen. Ein wirklicher Neustart wird dabei nicht reibungslos und ohne Verluste vonstatten gehen; er allein stellt uns aber die realistische Chance in Aussicht, unseren Planeten für viele nach uns kommende Generationen als einen bewohnbaren Ort zu erhalten. Genau darum geht es und das fällt vielen Menschen so schwer: Sich eine ganz andere Gesellschaft und einen Weg zu dieser anderen Welt vorzustellen. Einer Welt, in der wir die Natur und alle in ihr beheimateten Lebewesen und Nichtlebewesen achten und als heilig anerkennen. Wir müssen also im doppelten Sinne aufwachen: erstens aus der Geschichte der bestehenden Logik, in die wir uns immer wieder verstrickt finden, und zweitens aus der Geschichte, dass bereits alles zu spät sei, um neu zu beginnen. Denn es steht schlicht und einfach nicht zur Debatte, daran zu zweifeln, dass wir die Erde retten. Wir müssen mit aller Begeisterung und aller Liebe für die Welt, mit aller kindlichen Hoffnung und Naivität, mit größtem wissenschaftlichen Optimismus daran festhalten, dass es möglich ist, alles zu verändern. Denn wenn wir stets daran zweifeln, schaffen wir es niemals. Die unbedingte Überzeugung, dass ein sehr grundsätzlicher Wandel gelingen kann, ist Postaktivismus. Und Postaktivismus speist sich noch aus einer weiteren, tieferen Quelle: aus der Überzeugung, dass es nicht wichtig ist, ob wir dieses Ziel nach unseren rationalen Maßstäben erreichen. Allein der Versuch ist von Wert, wir können nicht scheitern, selbst wenn wir scheitern. Denn was bedeutet es schon, zu scheitern; wir können es empfinden und beweisen: das Scheitern ist wie auch das Sterben ganz eng mit dem Mensch-Sein verknüpft. Es macht uns als denkende, handelnde und empfindende Wesen erst aus.

Eines steht fest: Wir Menschen werden unseren schönen, blauen Planeten weiterhin gnadenlos ruinieren. Wir werden es solange so kunterbunt weitertreiben bis es nicht mehr weiter geht. Wir werden weiterhin Raketen in Richtung Mond, Mars und womöglich Saturn schießen, um ferne Planeten zu erkunden, anstatt uns unserem eigenen Planeten mit heilenden Maßnahmen zu widmen. Die wenigsten von uns werden freiwillig etwas von ihrem Wohlstand abgeben oder sich in Verzicht üben und in ihm etwas Wertvolles entdecken. Wir werden unseren hartnäckigen Konsumgewohnheiten so lange es geht die Treue halten, weil sie in ihren funkelnden Oberflächen einfach zu verführerisch sind, um sie ziehen zu lassen; sie haben die Besten von uns in ihren hypnotischen Bann gezogen. Wir werden immer höher hinaus wollen und zwar immer schneller und weiter – ganz einfach deshalb, weil wir Menschen sind. Der Punkt, an dem wir heute stehen, ist ganz einfach in uns als Menschheit angelegt, wir hätten ihn nicht vermeiden können; wir sollten ihn deshalb als eine Aufforderung und Chance begreifen. Wir sind furchtbare Wesen, ich bin es und Sie sind es auch. Wir sind auch viel weniger empathisch, als wir es oft vorgeben zu sein. Wir sind zum Teil böse und hinterlistig, wir bestehen zumindest auf das Recht, unvernünftig sein zu dürfen. Wir nörgeln gern vorsorglich auf hohem Niveau, wir sind vielschichtige und widersprüchliche Wesen. Wir werden uns samt Allem, was uns lieb und teuer ist, ins Chaos stürzen und es wird vermutlich okay sein. Wir werden trauern, leiden und tausend kleine und große Tode sterben. Und wenn wir kopfüber in den Tiefen des Chaos landen und dort beginnen werden, erste Wurzeln zu treiben, wenn sich unter unserer Haut die ersten schlafenden Knospen regen, spätestens dann, wenn wir beginnen, eine ganz neue Welt zu bauen, brauchen wir Postaktivismus. Die Dinge ändern sich aber bereits. Ein neues Denken steht vor unseren Toren; es drängt das bisherige Verstehen und die Versprechen der Moderne zur Seite und öffnet uns neue Räume. Es bedient sich unterschiedlicher Begrifflichkeiten, aber es geht immer darum, die patriarchalen, binären, von Kolonialismus und Industrialisierung geprägten Begriffe und Sichtweisen, das lineare Denken zu Gunsten einer offeneren Sichtweise zu überwinden. Es geht darum, allen Menschen und Tieren, aber auch Pflanzen und sogar Dingen Handlungsmacht zuzugestehen. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, in die unseren Körpern eingeschriebenen Mustern von Logik und unumstößlichem Wissen immer mehr widersprüchliche Informationen einsickern zu lassen. Wie und ob kommende Generationen die von uns in nur wenigen Jahrzehnten bis kurz vor die Wand gefahrene Welt bewahren werden, wissen wir heute noch nicht. Ich möchte mit diesem Buch aber eine realisierbare und verständliche Utopie skizzieren, die uns darauf hoffen lassen kann. Jeder mittelmäßige Krimi eröffnet uns zum Ende der Geschichte hin überraschende Wendungen, die zur Ergreifung des Mörders führen; weshalb sollten ausgerechnet in Bezug auf den Ausgang der ökologischen und eigentlich kulturellen Krise unerwartete Möglichkeiten und Wege ausgeschlossen sein? Es gibt unfassbar viele kulturelle, soziale und ökologische Variablen im Spiel, was die Zukunft des Planeten angeht, und es muss immer mit dem Unwahrscheinlichsten gerechnet werden. In diesem Text möchte ich eine erweiterte Sichtweise auf die Krise mit dem Begriff des Postaktivismus beschreiben und diesen in seinen unbändigen, schönen und schaurigen Tiefen skizzieren. Ich möchte diese Idee und die Notwendigkeit eines umfassenderen und zeitgemäßeren Aktivismus dabei nicht systematisch und mit dem Anspruch auf Vollständigkeit darstellen, sondern ihn eher andeuten, intuitiv umkreisen und mich ihm so immer wieder von verschiedenen Seiten her annähern. Das Konzept des Postaktivismus ist dabei kein ausschließlich theoretisches, philosophisches oder poetisches Konstrukt, es hat auch eine überaus handfeste Seite. Viele gesellschaftliche Ansätze arbeiten seit langem an konstruktiven Gegenentwürfen zum Bestehenden; Postaktivismus ist in diesem Sinne also nicht neu. Er ist im Grunde genommen so alt wie die Menschheit. Es gibt aber auch einige Aspekte an diesem ganzheitlicheren Aktivismus, die es in den gegenwärtigen Konstellationen so bisher noch nicht gegeben hat. Postaktivismus ist also in diesem Sinne uralt und gleichzeitig ganz neu.

Was mir immer wieder auffällt, wenn ich die vielen klugen Gespräche rund um die Themen Klimagerechtigkeit, Gender-Studies, Rassismus und Postkolonialismus oder sämtlicher anderer Fragen des zivilisatorischen Fortschritts, der Gerechtigkeit und der Kapitalismuskritik verfolge, ist das Problem, dass wir uns dumm und dämlich diskutieren können, ohne dass sich dabei offenbar je etwas grundsätzlich ändert. Wir wollen im Grunde genommen auch gar nicht, dass sich etwas ändert. Dass sich die Dinge ganz grundlegend verändern, ist aber notwendig, denn wenn wir die Dinge nicht ändern, werden sie sich unvermeidlich von selbst recht bald verändern; es wird vermutlich kein Stein auf dem anderen bleiben, denn wir leben seit den 1950er Jahren in einer Zeit der großen Beschleunigungen, der Great Acceleration, und steuern auf eine Welt zu, in der unser Wachstum auf allen erdenklichen Ebenen nicht mehr tragbar für den Planeten sein wird. Es ist dabei ein mehr oder weniger verdecktes Problem, dass wir von der Ebene des Diskutierens über all diese Kipppunkte und Peaks nicht in dem nötigen Umfang auf eine Ebene des umfassenderen Handelns kommen. Man könnte sagen, unsere Lust daran, kleinteilig zu allen möglichen Menschheitsfragen zu diskutieren und zu spekulieren, beschäftigt uns so sehr, dass wir uns mit unserem, uns selbst stimulierenden Diskurs davon abhalten, etwas gegen die auf uns zurasenden Krisen zu tun. Wir müssen lernen, wieder viel einfacher und grundsätzlicher miteinander zu sprechen, denn bei zu vielen Worten, läuft man irgendwann Gefahr, geschwätzig zu werden. Wir müssen zu gemeinsamen Entscheidungen darüber kommen, was es braucht, um einen geschundenen und fiebernden Planeten zu heilen, ohne uns dabei gegenseitig als zu naiv, zu unwissenschaftlich, zu links, zu rechts oder als irgendwie unseriös zu diskreditieren. Wir müssen aufhören, uns ständig voneinander abzugrenzen. Wenn wir weiterhin über die vielen Details dessen streiten, was nötig und vielleicht sogar machbar, wünschenswert oder zumindest denkbar ist, was die Veränderung unserer gegenwärtigen Situation angeht, kommen wir niemals vorwärts. Ich sage dabei nicht, dass Prozesse der Bewusstseinsbildung nicht wichtig sind. Ich sage aber, dass unser Bewusstsein nur zum Teil das Problem ist. Wir wissen eigentlich sehr genau, was zu tun ist, auch wenn wir nur ungern etwas an unserem Lebensstil ändern möchten. Es ist anstrengend und beängstigend, das alte, lieb gewonnene Leben zu verabschieden und etwas völlig Neues zu wagen. Die Antwort auf Fragen ökologischer Kipppunkte oder Fragen, wie »Was passiert, wenn wir ein Bedingungsloses Grundeinkommen oder Elemente der Direkten Demokratie einführen?«, werden wir im Detail niemals beantworten können, wenn wir diese Konzepte nicht praktisch umsetzen. Wir brauchen dringend diesen Mut zum Machen, und damit meine ich auch den Mut zum Experiment und zum Chaos. Denn die Antwort auf all diese spannenden Fragen lautet doch eigentlich: Wir wissen nicht genau, was passiert, wenn wir Neues wagen. Das ist ja gerade das Schöne daran. Wir befinden uns in einem komplexen Netz aus im Detail nicht überschaubaren Zusammenhängen, wenn wir grundsätzlicher etwas an der Kultur unseres Denkens, Zusammenlebens, Wirtschaftens, Arbeitens oder Konsumierens verändern. Wir können nicht immer alles im Leben planen, kontrollieren und verstehen; das wäre auch langweilig. Wir können aber ein selbst gewähltes und bewusst dosiertes gesellschaftliches Chaos wagen, denn in einem solchen ist es möglich, aktiv Fragen des Zusammenlebens und der gerechten Verteilung von Wohlstand zu gestalten. Die Alternative dazu wäre ein Chaos, in das wir eventuell sehr schnell und unvorbereitet hineingeworfen werden. Diese Befürchtung ist für kollapsbewusste Menschen heute nicht einmal unwahrscheinlich; als naiv und sogar apokalyptisch muss heute lediglich klar und deutlich ein stures »Weiter so« erkannt werden.

Erinnern Sie sich daran, wie es war, als Kind vor dem Fernseher zu sitzen und sich unterhalten zu lassen? Wie Sie wie parallelisiert dasaßen? Wie schwierig es war, als die Eltern versucht haben, Sie vom Fernsehen wegzubekommen oder wenn die Eltern ihn ohne Vorwarnung ganz einfach abgeschaltet haben? Es war wie ein Stich ins Herz! Wir Menschen sind heute in einer ganz ähnlichen Situation wie ein Kind, das mit halb geöffnetem Mund wie gebannt eine blödsinnige und schädliche Sendung guckt. Wir wissen, dass uns die Sendung nicht guttut, aber wir wollen unbedingt weitergucken. Die Krise ist ein Programm, das uns schnell in einen ähnlichen Zustand wie bei einem spannenden Film versetzen kann, wenn wir sie nicht genauer untersuchen. Wir starren fassungslos auf den Klimawandel wie ein gelähmtes Kaninchen auf die totbringende Schlange. Oder wir verdrängen das Thema und machen einfach so weiter wie gewohnt. Wie kommen wir aus diesem Modus heraus? Wo finden wir in uns selbst den Erwachsenen, der den Fernseher abschaltet, in die Hände klatscht und uns zurück in die »Wirklichkeit« holt? Solange wir unser gesellschaftliches Zusammenleben und unser Verhältnis zur Natur nicht radikal umstrukturieren, werden sich die sozialen und ökologischen Krisen weiter zuspitzen. Es gehört dabei für mich unzweifelhaft zu den Grundsätzen des Postaktivismus, sich der Gefahren einer sich zuspitzenden und multiplen Krise bewusst zu sein und ihr dabei bei aller Betroffenheit auch mit einer gewissen Durchlässigkeit und Gelassenheit entgegenzusehen. Es geht bei den notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen darum, gemeinsam in einen Prozess zu kommen, in dem wir unseren Fokus darauf richten, was im Zeitalter des Klimawandels eigentlich unsere Prioritäten sind und wie wir dazu kommen, das Neue zu wagen und das Alte sehr konkret zu verabschieden. Dabei gilt es auch, tabuisierte Diskurse wie den gegenüber militanten aktivistischen Ansätzen kritisch zu prüfen. Wir können uns in Bezug auf die Krise keine Versteckspiele hinter ideologischen Tabus und Konventionen erlauben; alles muss in Erwägung gezogen werden, kein noch so unpopulärer Gedanke sollte ausgeschlossen werden. Das ist die Herausforderung und das ist das vor uns liegende Experiment, von dem wir nicht genau wissen, wohin es uns führen wird. Dieser Ausblick ist aber nicht nur anstrengend und beängstigend, sondern auch aufregend und schön, denn etwas Neues zu wagen, geht immer auch mit neuen Erfahrungen und der Dynamisierung unserer Kräfte einher. Es belebt unsere Gesellschaft und unsere Innovationskräfte, auch wenn es bei solchen gesellschaftlichen Umbrüchen viele Menschen geben wird, die auf Veränderungen mit Widerstand reagieren werden; entweder weil sie (zurecht) um den Verlust ihrer Privilegien fürchten oder weil ihnen ganz einfach die Phantasie fehlt, sich eine schönere Welt vorzustellen. Wir dürfen aber mit unserer verständnisvollen, achtsamen und wertschätzenden Art denjenigen Menschen gegenüber, die Angst vor Veränderungen haben, in diesen entscheidenden Fragen nicht klein beigeben. Wir brauchen eine kleine, aber feine revolutionäre Bewegung, die ihre Forderungen freundlich, aber bestimmt umsetzt.

Erster Teil

Was ist Postaktivismus?

Mit Schorschi geschah etwas Seltsames. Als erstes merkte er, dass er nicht mehr zu dem Bord in seinem Wandschrank hinauflangen konnte, was er früher immer gekonnt hatte, weil er da seine Lutschstangen und Knallkaugummis aufbewahrte.

»Schorschi schrumpft« von F. P. Heide & Edward Gorey

Postaktivismus und Kompost

Man kann sich das Konzept des Postaktivismus als das poetische Bild eines geheimnisvollen Raumes vorstellen, dunkel und vielstimmig wie ein raunender Komposthaufen. Wir wissen bis heute nicht viel über das Zusammenwirken all der fremden und seltsamen Lebewesen an diesem Ort. Es handelt sich um einen Ort, der alle Bereiche des Lebendigen einbezieht, ein Ort des Gestankes, der Zersetzung und des Todes aber auch einer des erdigen Wohlgeruches und des überaus Lebendigen. Es handelt sich um ein zwielichtiges Gelände, das wir nicht rational verstehen können und das dazu verführt, Geschichten jenseits der Begrenzungen von Raum und Zeit zu erzählen. Um ein Gebiet der Zuversicht und der Zuflucht, an dem eine lebensspendende Wärme herrscht. Ein Raum, der uns augenscheinlich näher ist, als wir es begreifen, denn im Grunde genommen sind wir über unser Verdauungssystem selbst so eine Art Komposthaufen. In dem schönen Wort »begreifen« steckt bekanntlich die Idee, die Dinge wirklich zu berühren, denn viele Dinge begreift man erst dann wirklich, wenn man sie praktisch erfahrbar macht. Im Zusammenhang mit der Idee eines Postaktivismus ist es daher sinnvoll, sich dem Thema experimentell zu nähern. Es ist dabei gar nicht notwendig, sich in das Innere eines Erdhaufens zu begeben, es reicht vollkommen aus, sich mit einer Hand so tief in einen aktiven Komposthaufen hinein zu wühlen, dass der Arm bis zur Schulter im Kompost steckt. Im Frühling erwacht das Leben der Erde und man kann die Wärme spüren, die im Inneren eines solchen Haufens durch die Zersetzungsprozesse der Mikroorganismen entsteht. Begibt man sich gedanklich in die Vorstellung all dessen, was an solch einem unwirklichen und geheimnisvollen Ort an Leben spürbar wird, bekommt man eine erste Ahnung davon, was Postaktivismus sein kann.

Báyò Akómoláfé und Donna Haraway

Tatsächlich formulierte der Philosoph, Autor und Poet Báyò Akómoláfé das Konzept eines Postaktivismus inspiriert durch seine Lektüre von Donna Haraways1 Beschreibungen eines Komposthaufens erstmals zwischen 2015 und 2016. Haraway zeichnet in ihrem Aufsatz »Unruhig bleiben: Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän«2 lapidar das humorvolle Bild der Kompostierung unserer zerstörerischen Welt samt all ihrer unheilvollen, menschlichen Protagonisten. Sie skizziert dieses Bild der Kompostierung unserer Kultur zu fruchtbarem Humus als Möglichkeit der Überwindung des Anthropozäns/Kapitalozäns und als Übergang in das von ihr beschriebene Chthuluzän3. Es geht ihr dabei um ein Bild transformierender Hitze im Inneren eines solchen Komposts, welche dazu imstande ist, den heutigen Menschen zu erneuern, um so einen Ort zu schaffen, an dem das Zusammenleben in einer sogenannten Mehr-als-menschlichen Welt4 möglich ist. Akómoláfé schließt mit seinem Begriff des Postaktivismus an diesen Vorstellungen Haraways an. Der vollständige Begriff eines Postaktivismus, wie Akómoláfé ihn entwickelt hat, war vorerst der eines »com-post-activism«, später wurde diese Terminologie dann von ihm zu dem Begriff des »postactivism« überarbeitet, ohne dabei die Vorstellung eines Komposthaufens als einen mystischen Ort aufzugeben. Akómoláfé publiziert und spricht bis heute regelmäßig zu diesem Thema. Verschiedene Bereiche naturwissenschaftlichen Denkens bilden dabei oftmals den Ausgangspunkt für seine Betrachtungen. Er beginnt zunächst mit Beschreibungen aus dem Bereich der Quantenphysik, der Virologie, den Weiten der Holobiont- oder Mikrobiom-Forschung, um von dort zu philosophischen, poetischen oder mythologischen Sichtweisen oder Gleichnissen zu wechseln. Dabei spielt in Akómoláfés Denken unter anderem das Konzept des kritischen Posthumanismus5