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Leiharbeit, Werkverträge, Minijobs, befristete Arbeitsverhältnisse – fast 40 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten inzwischen in derlei prekären Arbeitsverhältnissen. Für die Betroffenen bedeutet die Prekarität häufig niedrige Löhne, geringe soziale Absicherung und ständige Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. In kurzen und übersichtlichen Kapiteln gibt Stefan Dietl einen Einblick in die aktuelle Arbeitswelt. Im Fokus stehen dabei neue Formen der Prekarität wie die Arbeit auf Abruf, prekäre Beschäftigungsformen im digitalen Zeitalter, Leih- und Zeitarbeit sowie die Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse auf immer mehr/weitere Arbeitsbereiche. Nicht zuletzt richtet Dietl seinen Blick aber auch auf den Widerstand gegen Niedriglöhne und die wachsende soziale Unsicherheit.
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Seitenzahl: 87
Stefan Dietl
Prekäre ArbeitsweltenVon digitalen Tagelöhnernbis zur Generation Praktikum
soziale krise
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Stefan Dietl: Prekäre Arbeitswelten
unrast transparent – soziale krise, Band 5
1. Auflage, August 2018
eBook UNRAST Verlag, Dezember 2023
ISBN 978-3-95405-038-3
© UNRAST Verlag, Münster
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Umschlag: UNRAST Verlag, Münster
Satz: UNRAST Verlag, Münster
Einleitung
1. Modern Times – Neue Formen der Prekarität
Kapovaz – Unsicherheit auf Abruf
Klickarbeiter – Prekär in der Crowd
Gig-Work – Prekäre Selbstständige im digitalen Zeitalter
Mobile Beschäftigung – Die neuen Wanderarbeiter*innen
2. Altes im neuen Gewand
Kreativ beim Lohnraub – Generation Praktikum und der Mindestlohn
Der Befristungswahn – Leben in der Warteschleife
Kleine Jobs ganz groß – Der Boom der Minijobs
Schuften für den Exportweltmeister – Standortvorteil Leiharbeit
3. Mindestlohn – Erfolgsgeschichte oder gescheiterte Hoffnung?
4. It starts with resistance – Ansätze des Widerstands
Fazit
Vor 15 Jahren, am 14. März 2003, verkündete Gerhard Schröder in einer Regierungserklärung die Pläne der rot-grünen Bundesregierungen zur Umstrukturierung des Sozialsystems und des Arbeitsmarktes, die später unter dem Namen Agenda 2010 bekannt werden sollten.
Erste entscheidende Weichen waren da bereits gestellt. Am 23. Dezember 2002, dem letzten Sitzungstag des deutschen Bundestags vor der Weihnachtspause, wurden das Erste Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt und das Zweite Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, bekannt als Hartz I und II, verabschiedet. Mit den Gesetzen wurden unter anderem die Grundlage zum Ausbau der Leiharbeit und der Minijobs gelegt, die sogenannten Ich-AGs, sowie die kommunalen Jobcenter geschaffen. Im Zuge der Agenda-Politik folgte mit Hartz III die Umstrukturierung der Bundesagentur für Arbeit und mit Hartz IV die Abschaffung der Sozial- und Arbeitslosenhilfe und die Einführung des Arbeitslosengeldes II. Zugleich wurde ein rigides Sanktionsregime zur Kontrolle und Gängelung Erwerbsloser errichtet.
Die Folge dieser tiefgreifenden Strukturreform des Arbeitsmarktes, zulasten der Arbeitnehmer*innen, war die Schaffung eines Niedriglohnsektors in bisher nicht gekanntem Ausmaß. So arbeiten hierzulande inzwischen 7,7 Millionen Menschen in Minijobs, mehr als eine Million als Leiharbeitnehmer*innen. Dazu kommen unfreiwillige Teilzeit, unbezahlte Praktika, Befristungen und Scheinselbstständigkeit. Für die Betroffenen heißt das nicht nur niedrige Löhne, sondern auch geringe soziale Absicherung und ständige Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes.
In Abgrenzung zum sogenannten ›Normalarbeitsverhältnis‹, also der Vollzeitbeschäftigung mit einem festen Arbeitsvertrag, spricht man bei diesen unsicheren oder prekären Beschäftigungsformen auch von atypischer Beschäftigung. Fast 40 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten heute in solchen Arbeitsverhältnissen.
Seit die Agenda 2010 die Grundlage für deren anhaltenden Boom legte, stieg nicht nur die Zahl der betroffenen Arbeitnehmer*innen kontinuierlich an, es fand auch eine Ausweitung auf immer mehr Branchen statt und es entstanden zudem immer neue Formen der Prekarität.
Gerade durch die technischen Neuerungen der Internetökonomie ergeben sich für Unternehmen neue Möglichkeiten des Lohndumpings und der Umgehung gesetzlicher und tariflicher Rahmenbedingungen. Das erste Kapitel dieses Einführungsbuches in die prekäre Arbeitswelt von heute widmet sich daher unter anderem prekären Beschäftigungsformen im digitalen Zeitalter wie dem ›crowdworking‹ oder der ›Gig-Work‹. Es nimmt jedoch auch andere bisher wenig beachtete atypische Beschäftigungsverhältnisse, wie die Arbeit auf Abruf oder die Ausbeutung von Wanderarbeiter*innen unter die Lupe.
Das zweite Kapitel gibt einen Einblick in die aktuellsten Entwicklungen der bereits seit Längerem in Deutschland etablierten atypischen Beschäftigungsverhältnisse wie der Leiharbeit, Minijobs, Befristungen und Praktika und beschreibt deren Ausweitung auf immer mehr Branchen.
Als Mittel zur Eingrenzung des kontinuierlich wachsenden Niedriglohnsektors wird häufig der allgemeine gesetzliche Mindestlohn benannt. Auch wenn viele Beschäftigte von der Einführung der Lohnuntergrenze im Januar 2015 profitieren, tat dies dem Boom prekärer Beschäftigungsverhältnisse keinen Abbruch.
Das dritte Kapitel befasst sich daher mit den diversen Möglichkeiten der Unternehmen, den Mindestlohn zum umgehen, und geht der Frage nach, wie wirkungsvoll die Lohnuntergrenze tatsächlich ist.
Allen Widrigkeiten zum Trotz regt sich jedoch auch Protest gegen die neue prekäre Arbeitswelt.
Das Schlusskapitel des Buches beschäftigt sich deshalb mit dem wachsenden Widerstand gegen Niedriglöhne und soziale Unsicherheit und zeigt, wie Betroffene sich organisieren und für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen kämpfen.
In den letzten Jahren wuchs nicht nur die Zahl atypisch Beschäftigter, es entstanden auch neue Formen der Prekarität, wie die mobile Beschäftigung über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg, die Arbeit auf Abruf oder auf Vermittlung durch Internetplattformen. Ganz neu sind diese Formen prekärer Arbeit nicht: Sie basieren auf bereits seit Jahren praktizierten Methoden der Unternehmen, gesetzliche und tarifliche Regelungen zu umgehen oder einseitig zur Gewinnmaximierung zu nutzen. Während sie in der Vergangenheit jedoch nur wenig verbreitet waren, erleben sie – dank der Veränderung gesetzlicher Rahmenbedingungen, der zunehmenden Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen oder den technischen Neuerungen der Internetökonomie – in den letzten Jahren einen regelrechten Boom.
Die von Betriebswirt*innen als kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit (Kapovaz) bezeichnete ›Arbeit auf Abruf‹ ist keine tatsächlich neue Beschäftigungsform, sondern wird in manchen Bereichen bereits seit Jahren praktiziert. Grundlage hierfür ist das Teilzeit- und Befristungsgesetz. Bei der Arbeit auf Abruf haben Beschäftigte keine festen Arbeitszeiten und auch keine arbeitsvertraglich fixierte Anzahl an Wochenstunden, sondern müssen einen Großteil ihrer Arbeitsleistung bei Bedarf erbringen. Wie lange und wann die Betroffenen eingesetzt werden, kann der/die Arbeitgeber*in kurzfristig und nach eigenem Gusto entscheiden. Wann immer im Betrieb wenig zu tun ist, wird die Arbeitsleistung also nicht abgerufen und damit auch nicht bezahlt.
Zwar ist das Arbeitszeitmodell nicht neu, in den vergangenen Jahren ist die Zahl solcher Arbeitsverhältnisse jedoch enorm gestiegen und die Arbeit auf Abruf gehört in immer mehr Branchen zum Alltag. So arbeiten laut einer Untersuchung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) aus dem Jahr 2016 inzwischen etwa 1,9 Millionen Beschäftigte hierzulande auf Abruf – mehr als beispielsweise in der Leih- und Zeitarbeit. Damit sind rund 5 Prozent aller Arbeitnehmer*innen in Deutschland davon betroffen.
Dass Kapovaz keine Randerscheinung mehr ist, zeigt sich auch daran, dass inzwischen 13 Prozent der Betriebe mit mehr als 10 Mitarbeiter*innen darauf zurückgreifen. Insbesondere im Dienstleistungssektor gewinnt die Arbeit auf Abruf in immer mehr Bereichen an Bedeutung. So arbeiten im Einzelhandel zwölf Prozent der Beschäftigten auf Abruf, in der Verkehrswirtschaft und Logistikbranche, der Nachrichtenübermittlung und dem verarbeitenden Gewerbe sind es jeweils elf Prozent, im Gesundheits-, Veterinär- und Sozialwesen neun Prozent und im Baugewerbe acht Prozent. In vielen Bereichen dürfte die Dunkelziffer wohl um einiges höher liegen. So könnte in der Gastronomie nach Schätzungen der zuständigen Gewerkschaft Nahrung-Gaststätten-Genuss (NGG) sogar jeder dritte Beschäftigte betroffen sein. Arbeitnehmer*innen, die auf Abruf arbeiten, sind zumeist in kleinen und mittleren Betrieben tätig.
Vor allem dort haben Unternehmen häufig freie Hand, da Betriebsräte und andere Interessenvertretungen fehlen. Die Entscheidung des Arbeitgebers, ob Teilzeitbeschäftigte zu festen Arbeitszeiten oder auf Abruf beschäftigt werden, unterliegt nämlich dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats. Unternehmen sind also bei der Einführung variabler Arbeitszeiten auf die Zustimmung des Betriebsrats angewiesen.
Allerdings greifen mittlerweile auch große Firmen, insbesondere im Einzelhandel, vermehrt auf Abrufarbeit zurück. So beispielsweise die Bekleidungskette H&M. »Innerhalb von 12 Jahren ist die Anzahl dieser Abrufkräfte enorm gestiegen. 2004 machten diese Beschäftigungsverhältnisse bei H&M 31 Prozent aus. Fast die Hälfte der Beschäftigten war damals noch in Vollzeit mit festgelegten Arbeitszeiten beschäftigt. Heute bietet H&M überwiegend prekäre Arbeitsverhältnisse an, die direkt in die Altersarmut führen«, so Cosimo-Damiano Quinto, der als Bundesfachgruppensekretär der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di für die Betreuung des Einzelhandels zuständig ist. Laut ver.di sind inzwischen rund 52 Prozent der Arbeitnehmer*innen bei H&M auf Abruf beschäftigt und nur noch 26 Prozent in regulärer Vollzeit.
Ein ähnliches Bild bietet sich beim Spielwarenhändler Toys“R“Us. In einigen der 65 deutschen Toys“R“Us-Filialen arbeiten bis zu 90 Prozent der Arbeitnehmer*innen auf Abruf. Der Anteil an den rund 1.700 Beschäftigten, der zusätzlich zu seinem Gehalt aufstockende Leistungen vom Jobcenter aus dem Grundsicherungssystem beziehen muss, ist deshalb laut ver.di signifikant gewachsen.
Für die Betroffenen geht die Arbeit auf Abruf mit niedrigen Löhnen, ständiger sozialer Unsicherheit und fehlender Planbarkeit der Freizeit einher. Verbunden ist die variable Arbeitszeit mit einer ständigen Arbeitsbereitschaft. Ohne – wie beispielsweise beim Bereitschaftsdienst – dafür entlohnt zu werden, müssen die Beschäftigten immer erreichbar und einsatzbereit sein. Diese Form permanenter ›Bereitschaft‹ für den nächsten Abruf aus der Freizeit wirkt sich aus arbeitsmedizinischer Sicht dauerhaft negativ auf den Erhalt der Gesundheit aus und kann zu psychischen Belastungsfolgen führen, vor allem dann, wenn sie mit wenigen Ruhephasen oder permanenter Sorge um die Existenzsicherung einhergeht. Letztere ist aufgrund der stark schwankenden Einkommen mit einer Arbeit auf Abruf nur schwer zu gewährleisten. Es ist nicht nur unklar wann, sondern auch wie viele Stunden in den nächsten Wochen gearbeitet werden und damit auch wie viel Geld am Ende des Monats auf dem Konto landet. Schon die Miete einer Wohnung oder die Ratenzahlung beim Kauf eines Autos stellt die Betroffen aufgrund der stark variierenden Gehaltsabrechnungen häufig vor Schwierigkeiten. Eine gesicherte Zukunfts- oder Familienplanung ist beinahe unmöglich.
Wie bei anderen prekären Beschäftigungsformen werden auch bei der Kapovaz den Beschäftigten grundlegende Arbeitnehmer*innenrechte vorenthalten. So umgehen Betriebe oftmals die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder den bezahlten Urlaub, indem sie die Arbeitskraft an diesem Tag einfach nicht abrufen. Die Beweislast liegt in diesen Fällen bei dem/der Arbeitnehmer*in. Es muss nachgewiesen werden, dass der Abruf alleine aus Gründen der Krankheit oder des Urlaubs nicht stattgefunden hat.
Erschwerend kommt hinzu, dass viele Arbeitnehmer*innen ihre Rechte nicht kennen oder sich nicht trauen, sie durchzusetzen.
Zahlreiche Betriebe verstoßen zudem gegen die ohnehin schon geringen gesetzlichen Vorschriften. So müssen Arbeitgeber*innen die Arbeitsleistung eines Beschäftigten, laut Paragraph 12 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes, eigentlich mindestens drei Stunden am Stück in Anspruch nehmen. Außerdem schreibt es vor, dass der/die Arbeitnehmer*in mindestens vier Tage im Voraus über seinen Einsatz informiert wird. Den Daten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit zufolge erfährt jedoch ein Drittel der Betroffenen erst ein bis drei Tage vorher, wann und ob es zur Arbeit erscheinen kann, ein weiteres Drittel wird gar erst am selben Tag informiert.
Während Kapovaz für die betroffenen Arbeitnehmer*innen vor allem für niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen steht, bedeutet es für die Unternehmen größtmögliche Flexibilität bei geringem Risiko. War es bisher die Aufgabe des Arbeitgebers, die Arbeitskraft seines/r Mitarbeiter*in in einer bestimmten Zeit möglichst gewinnbringend einzusetzen, kann er den/die Arbeitnehmer*in nun einfach nach eigenem Ermessen nach Hause schicken, wenn gerade keine Gäste zu bedienen oder Kund*innen zu betreuen sind. Das unternehmerische Risiko wird so auf den/die Arbeitnehmer*in verschoben.