Pretty Little Liars - Mörderisch - Sara Shepard - E-Book

Pretty Little Liars - Mörderisch E-Book

Sara Shepard

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Beschreibung

Ian ist tot – und damit Alis Mörder! Wenn jetzt nur A. Ruhe geben würde. Schließlich hat Hanna genug damit zu tun, ihre Stiefschwester auszustechen. Spencer stochert in alten Familiengeheimnissen herum. Emily ist mit ihrem neuen Freund beschäftigt. Und Aria bandelt mit ihrer alten Flamme an: Jason DiLaurentis: Alis Bruder. Doch A. sieht alles – und lockt die Freundinnen in eine tödliche Falle …

Ein fesselnde Pagteturner mit Kultstatus - bei den "Pretty Little Liars" ist Suchtgefahr garantiert! Diese Reihe bietet eine unwiderstehliche Mischung für Fans von jeder Menge Glamour und tödlichen Intrigen.

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Seitenzahl: 428

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DIE AUTORIN

Sara Shepard hat an der New York University studiert und am Brooklyn College ihren Magisterabschluss im Fach Kreatives Schreiben gemacht. Sie wuchs in einem Vorort von Philadelphia auf, wo sie auch heute lebt. Ihre Zeit dort hat die »Pretty Little Liars«-Serie inspiriert, die in 22 Länder verkauft wurde. Inzwischen wird die Bestsellerserie mit großem Erfolg als TV-Serie bei ABC ausgestrahlt. Die Bücher haben sich in den USA inzwischen über 3 Millionen Mal verkauft.

Sara Shepard

Mörderisch

Pretty Little Liars

Aus dem Amerikanischenvon Violeta Topalova

cbt

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Killer – A Pretty Little Liars Novel« bei Harper Teen, an imprint of Harper Collins Publishers, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2009 by Alloy Entertainment and Sara Shepard

Published by arrangement with Rights People, London

© 2012 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Violeta Topalova

Lektorat: Annett Stütze

Covergestaltung: Schüler

Covermotiv: Shutterstock.com (ViChizh, Irina Bg, Pavlo Baliukh, Ysbrand Cosijn)

he · Herstellung: AnG

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-06714-4 V003

www.penguinrandomhouse.de

Für Riley

Lügner sollten ein gutes Gedächtnis haben.

Algeron Sydney

Inhalt
Wenn mich die Erinnerung nicht trügt …
Kapitel 1 - Das Mädchen, das »Leiche« schrie
Kapitel 2 - Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus
Kapitel 3 - Raub mir die Sinne
Kapitel 4 - Finger weg – Der Typ gehört mir
Kapitel 5 - Versuch’s doch mal mit mir
Kapitel 6 - Fremde, die sich nicht im Zug treffen
Kapitel 7 - Kate gegen Hanna 1:1
Kapitel 8 - Wenn Puppen reden könnten …
Kapitel 9 - Überraschung! Es gibt ihn noch …
Kapitel 10 - Da ist wirklich etwas faul
Kapitel 11 - Ein wirklich gut ausgestattetes Baby
Kapitel 12 - Runter mit ihrem Kopf!
Kapitel 13 - Wie die Tochter, so die Mutter
Kapitel 14 - In einem Zug nach Westen …
Kapitel 15 - En Garde, Kate
Kapitel 16 - Spencer Hastings, zukünftige Kassiererin
Kapitel 17 - Ganz wie in alten Zeiten …
Kapitel 18 - Es ist was faul im Städtchen Rosewood
Kapitel 19 - Spencer spielt Glücksrad
Kapitel 20 - Arias freier Fall
Kapitel 21 - Nichts als die Wahrheit
Kapitel 22 - Ein Ultimatum? Der perfekte Start ins Wochenende!
Kapitel 23 - Jahrbucherinnerungen, die für den Rest des Lebens reichen
Kapitel 24 - Spencer Hastings, zukünftige New Yorkerin
Kapitel 25 - And the winner is …
Kapitel 26 - Da hat jemand ein Geheimnis
Kapitel 27 - Déjà-vu …
Kapitel 28 - Unheimlicher und unheimlicher
Kapitel 29 - Sie hatten alle so unrecht …
Kapitel 30 - Die Hölle auf Erden
Kapitel 31 - Wie Phönix aus der Asche
Was als nächstes passiert …
Danksagung

Wenn mich die Erinnerung nicht trügt …

Stell dir mal vor, du könntest dich an jede einzelne Sekunde deines bisherigen Lebens erinnern. Nicht nur an die wichtigen Ereignisse, die jeder noch im Kopf hat, sondern auch an allerkleinste Details. Daran, dass du dich mit deiner besten Freundin im Kunstunterricht der dritten Klasse verbündet hast, weil ihr beide den Geruch des Fotoklebers nicht ausstehen konntet. Oder dass du den Jungen, in den du in der achten Klasse verknallt warst, zum ersten Mal gesehen hast, als er durch den Schulhof lief, mit der einen Hand einen Fußball hochwarf und mit der anderen seinen iPod Touch bediente.

Aber jeder Segen ist gleichzeitig auch ein Fluch. Mit deinem brandneuen Supergedächtnis müsstest du dich auch an jeden Streit mit deiner besten Freundin erinnern. Und wieder und wieder durchleben, wie oft dein Fußball liebender Schwarm beim Mittagessen neben einer anderen gesessen hat. Mit einem hundertprozentigen Gedächtnis könnte die Vergangenheit auf einmal ziemlich hässliche Züge annehmen. Gibt es jemanden, mit dem du heute verbündet bist? Schau noch mal genau hin – womöglich war sie ja nicht immer so nett zu dir. Hast du eine Freundin, die deiner Erinnerung nach immer zu dir gehalten hat? Ups! Genauer betrachtet wohl doch nicht.

Hätten vier hübsche Mädchen aus Rosewood plötzlich das perfekte Gedächtnis, wüssten sie bestimmt besser, wem sie vertrauen könnten und von wem sie sich besser fernhalten sollten. Es könnte aber auch sein, dass ihre Vergangenheit auf einmal noch weniger Sinn ergäbe als bisher.

Auf das Gedächtnis ist nicht immer Verlass. Und manchmal sind wir dazu verdammt, die Fehler zu wiederholen, die wir vergessen haben.

 

Da stand es. Das große Haus im viktorianischen Stil am Ende der Sackgasse. Um den Zaun rankten sich Rosen, hinten war eine über zwei Ebenen gehende Teak-Terrasse angebaut. Nur ein paar wenige Auserwählte waren jemals drinnen gewesen, aber alle wussten, wer hier wohnte. Das beliebteste Mädchen der Schule. Sie setzte Trends, wurde leidenschaftlich verehrt und konnte mit einem Fingerschnippen Reputationen veredeln oder zerstören. Alle Jungs wollten mit ihr ausgehen, alle Mädchen träumten davon, so zu werden wie sie.

Alison DiLaurentis, natürlich.

In Rosewood, Pennsylvania, einer idyllischen Kleinstadt zwanzig Kilometer von Philadelphia entfernt, war es ein friedlicher Samstagmorgen Anfang September. Mr Cavanaugh, der Alisons Familie gegenüber wohnte, schlenderte in seinen Vorgarten und holte sich die Zeitung. Ein Spaziergänger führte seinen Hund aus, der am Zaun hochsprang und Eichhörnchen anbellte. Jede Blume und jedes Blatt befand sich an seinem Platz … die Ordnung wurde nur durch die vier Mädchen gestört, die zufällig alle zur gleichen Zeit in den Hintergarten der DiLaurentis geschlichen kamen.

Emily Fields versteckte sich zwischen den hohen Tomatenpflanzen und zerrte nervös an den Bändeln ihres Rosewood-Schwimmverein-Sweatshirts. Sie betrat zum ersten Mal unerlaubt ein fremdes Grundstück, und nun auch noch das des hübschesten, beliebtesten Mädchens der Schule. Aria Montgomery verbarg sich hinter einer Eiche und zupfte an der Stickerei auf ihrer Tunika, die ihr Vater ihr von einer seiner unzähligen Kunstgeschichte-Tagungen in Deutschland mitgebracht hatte. Hanna Marin ließ ihr Fahrrad bei einem Steinblock in der Nähe des Geräteschuppens liegen und überlegte sich einen Angriffsplan. Spencer Hastings kroch von ihrem angrenzenden Grundstück herüber, kauerte sich hinter einen sorgfältig gestutzten Himbeerstrauch und atmete tief den süßlich-herben Duft der Beeren ein.

Stumm starrten die vier Mädchen durch das hintere Panoramafenster der DiLaurentis ins Haus. In der Küche bewegten sich Schatten. Aus dem oberen Badezimmer ertönte ein lauter Ruf. Ein Ast zerbrach. Jemand hustete.

Die Mädchen merkten gleichzeitig, dass sie nicht allein waren. Spencer sah Emily am Waldrand herumstolpern. Emily erspähte Hanna, die neben dem Steinblock kauerte. Hanna entdeckte Aria hinter dem Baum. Alle marschierten los, trafen sich in der Mitte von Alis Hintergarten und bildeten einen kleinen Kreis.

»Was macht ihr denn hier?«, fragte Spencer herausfordernd. Sie kannte Emily, Hanna und Aria seit dem Lesewettbewerb für die erste Klasse, den die Bücherei von Rosewood immer veranstaltete. Spencer hatte gewonnen, aber die anderen hatten auch mitgemacht. Die Mädchen waren nicht befreundet. Emily gehörte zu den Schülerinnen, die rot wurden, wenn der Lehrer sie im Unterricht aufrief. Hanna, die jetzt am Bund ihrer ein bisschen zu engen schwarzen Paper-Denim-Jeans zerrte, schien sich in ihrer Haut nie richtig wohlzufühlen. Und Aria – nun ja, offenbar trug Aria heute ein Paar Krachlederne. Spencer war ziemlich sicher, dass sie nur imaginäre Freunde hatte.

»Nichts, wieso?«, schoss Hanna zurück.

»Genau. Nichts«, wiederholte Aria und sah die anderen misstrauisch an. Emily zog nur die Schultern hoch.

»Und was machst du hier?«, fragte Hanna Spencer.

Spencer seufzte. Es war offensichtlich, dass sie alle aus demselben Grund hier waren. Vor zwei Tagen hatte Rosewood Day, die Eliteschule, die sie alle besuchten, den Beginn der lang erwarteten Jagd auf die Zeitkapsel-Flagge verkündet. Jedes Jahr zerschnitt Rektor Appleton eine leuchtend blaue Rosewood-Day-Flagge in viele Stücke, die von den Oberstufenschülern versteckt wurden. Die Lehrer hängten wie bei einer Schnitzeljagd Hinweise darauf, wo die einzelnen Stücke versteckt waren, in den Schulfluren auf. Wer ein Stück fand, durfte es verzieren, und wenn alle Stücke gefunden waren, nähten die Lehrer die Flagge wieder zusammen, ehrten die Sieger bei einer großen Schulversammlung und vergruben die Flagge in einer Zeitkapsel hinter den Fußballplätzen. Schüler, die ein Stück der Zeitkapsel-Flagge fanden, wurden zu Legenden – man sprach noch ewig von ihnen.

Es war schwierig, sich in einer Schule wie Rosewood Day auszuzeichnen, und es war noch schwieriger, ein Stück der Zeitkapsel-Flagge zu finden. Aber es gab ein Schlupfloch, das allen Hoffnung gab: Die Diebstahlsklausel. Sie besagte, dass es erlaubt war, einem glücklichen Finder sein Stück zu stehlen. Vor zwei Tagen hatte eine gewisse schöne junge Dame damit geprahlt, sie habe ein Stück bereits so gut wie sicher.

Und jetzt hofften vier Nobodys darauf, die Diebstahlsklausel auszunutzen, um ihr ihre Beute wieder abzuluchsen.

Die Vorstellung, Alisons Flaggenstück zu stehlen, berauschte sie alle. Erstens, weil sie so in ihre Nähe gelangen konnten. Und zweitens, weil sie die Chance hatten, dem hübschesten Mädchen an der Rosewood Day zu zeigen, dass nicht einmal sie immer gewinnen durfte. Alison DiLaurentis würde es guttun, einmal auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt zu werden.

Spencer starrte die drei anderen wütend an. »Ich war zuerst hier. Die Flagge gehört mir.«

»Ich war vor dir hier«, flüsterte Hanna. »Vor ein paar Minuten habe ich dich aus dem Haus kommen sehen.«

Aria stampfte mit ihrem Fuß auf, der in einem violetten Wildlederstiefel steckte, und starrte Hanna an. »Du bist auch gerade erst gekommen. Da war ich schon lange hier.«

Hanna straffte die Schultern und blickte auf Arias zerzauste Zöpfe und ihre vielen dicken Halsketten. »Und wer soll dir das glauben?«

»Mädels.« Emily deutete mit ihrem spitzen Kinn auf das Haus der DiLaurentis und legte den Finger an die Lippen. Aus der Küche drangen Stimmen.

»Lass das.« Das klang nach Ali. Die Mädchen erstarrten.

»Lass das«, äffte eine zweite hohe Stimme die erste nach.

»Hör auf damit!«, kreischte Ali.

»Hör auf damit!«, wiederholte die zweite Stimme.

Emily verzog das Gesicht. Ihre ältere Schwester Carolyn hatte früher Emilys Stimme genauso quäkend imitiert, was Emily überhaupt nicht ausstehen konnte. Sie fragte sich, ob die zweite Stimme wohl Alis Bruder Jason gehörte, einem Elftklässler an der Rosewood Day.

»Schluss jetzt!«, brüllte eine tiefere Stimme. Es gab einen lauten Knall, bei dem die Wände wackelten. Man hörte Glas zerbersten. Einen Augenblick später wurde die Verandatür aufgerissen und Jason stürmte heraus. Seine Sweatjacke stand offen, seine Schuhe waren nicht zugebunden. Er hatte rote Wangen.

»Scheiße«, flüsterte Spencer. Die Mädchen versteckten sich eilig im Gebüsch. Jason ging schräg über den Rasen in Richtung Wald und blieb stehen, als ihm zu seiner Linken etwas auffiel. Ein wütender Ausdruck breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Die Mädchen folgten seinem Blick. Jason schaute in Spencers Hintergarten. Spencers Schwester Melissa und ihr neuer Freund Ian Thomas saßen am Rand des Whirlpools. Als Ian und Melissa bemerkten, dass Jason sie anstarrte, lösten sich ihre Hände voneinander. Ein paar bedeutungsschwangere Sekunden vergingen. Zwei Tage zuvor hatten sich Ian und Jason kurz nach Alis Prahlerei über das Flaggenstück, das sie angeblich so gut wie sicher hatte, vor der gesamten sechsten Klasse in die Haare gekriegt. Vielleicht war der Streit doch noch nicht wieder beigelegt.

Jason drehte sich stocksteif auf dem Absatz um und marschierte in den Wald. Die Verandatür flog wieder knallend auf, und die Mädchen duckten sich. Ali stand auf der Terrasse und sah sich um. Ihr langes blondes Haar fiel ihr über die Schultern, und ihr tiefrosa T-Shirt ließ ihre Haut besonders frisch und strahlend wirken.

»Ihr könnt rauskommen«, schrie Ali.

Emily riss ihre braunen Augen auf. Aria duckte sich noch tiefer. Spencer und Hanna pressten die Lippen zusammen.

»Ehrlich.« Ali ging die Verandatreppe hinunter und balancierte mühelos auf ihren Keilabsätzen. Sie war die einzige Sechstklässlerin, die sich traute, in hohen Absätzen zur Schule zu gehen – in der Rosewood Day war das eigentlich erst ab der Neunten erlaubt. »Ich weiß, dass ihr euch dort versteckt. Aber wenn ihr wegen meiner Flagge hier seid, habt ihr Pech gehabt. Die hat schon jemand anders geklaut.«

Spencer drängte sich durch die Büsche. Ihre Neugier war einfach zu groß. »Was? Wer?«

Aria tauchte als nächste auf, dann Emily und Hanna. Jemand anderes hatte Ali noch vor ihnen beklaut?

Seufzend ließ sich Ali auf die Steinbank neben dem kleinen Koi-Teich der Familie sinken. Die Mädchen zögerten, aber Ali winkte sie zu sich. Aus der Nähe roch sie nach Vanilleseife und hatte die längsten Wimpern, die sie jemals gesehen hatten. Ali schlüpfte aus ihren Sandalen und vergrub ihre zarten Füße im Gras. Ihre Zehennägel waren leuchtend rot lackiert.

»Keine Ahnung, wer«, antwortete Ali. »Das Stück lag in meiner Tasche, und dann war es auf einmal weg. Ich hatte es schon verziert. Mit einem richtig coolen Manga-Frosch, dem Chanel-Logo und einer Feldhockeyspielerin. Ich habe ewig an dem Louis-Vuitton-Logo gearbeitet und es direkt von der Handtasche meiner Mom abgemalt. Es war perfekt.« Sie machte einen Schmollmund. Ihre saphirblauen Augen waren groß und rund. »Der Loser, der es mir geklaut hat, wird es ruinieren. Davon bin ich überzeugt.«

Murmelnd brachten die Mädchen ihr Mitgefühl zum Ausdruck, und jede war plötzlich froh, dass nicht sie diejenige gewesen war, die Alis Flagge gestohlen hatte – dann wäre nämlich sie der Loser gewesen, über den Ali sich gerade mokierte.

»Ali?«

Alle wirbelten herum. Mrs DiLaurentis betrat die Veranda. In ihrem grauen Diane-von-Fürstenberg-Wickelkleid und den hochhackigen Schuhen hätte sie zu einem schicken Brunch gehen können. Ihr Blick verharrte einen Augenblick lang verwirrt auf den Besucherinnen. Schließlich waren sie zum ersten Mal in Alis Hintergarten. »Wir gehen jetzt, okay?«

»Okay«, sagte Ali, lächelte strahlend und winkte. »Tschüs!«

Mrs DiLaurentis zögerte, als wolle sie noch etwas sagen, aber Ali ignorierte sie und drehte sich wieder um. Sie deutete auf Spencer. »Du bist Spencer, stimmt’s?«

Spencer nickte verlegen. Ali schaute die anderen forschend an. »Aria«, erinnerte Aria sie. Hanna und Emily stellten sich ebenfalls vor, und Ali nickte desinteressiert. Das war ein typisches Manöver – natürlich kannte sie ihre Namen, gab ihnen aber durch die Blume zu verstehen, dass sie in der Hierarchie der sechsten Klasse der Rosewood Day völlig bedeutungslos waren. Sie wussten nicht, ob sie gedemütigt oder geschmeichelt sein sollten. Immerhin erkundigte sich Ali ja jetzt danach, wer sie waren.

»Wo wurde dir denn die Flagge geklaut?«, fragte Spencer, die fieberhaft nach einem Thema suchte, das Alis Aufmerksamkeit noch eine Weile fesseln würde.

Ali blinzelte benommen. »Äh, im Einkaufszentrum.« Sie steckte ihren kleinen Finger in den Mund und begann, auf ihm herumzukauen.

»In welcher Boutique?«, bohrte Hanna weiter. »Tiffany? Sephora?« Vielleicht würde es Ali ja beeindrucken, dass Hanna die Namen der Edelboutiquen des Einkaufszentrums kannte.

»Kann sein«, murmelte Ali. Ihr Blick wanderte in Richtung Wald, als suche sie dort etwas – oder jemanden. Hinter ihnen schlug die Verandatür zu. Mrs DiLaurentis war wieder ins Haus gegangen.

»Ich finde, diese Diebstahlsklausel sollte abgeschafft werden«, sagte Aria und verdrehte die Augen. »Die ist nur … gemein. «

Achselzuckend schob sich Ali das Haar hinter die Ohren. Im oberen Stockwerk des Hauses wurde ein Fenster geschlossen.

»Wo hatte Jason sein Stück denn versteckt?«, versuchte es Emily.

Ali erwachte aus ihrer Trance und erstarrte. »Was?«

Emily zog den Kopf ein. Hatte sie Ali mit ihrem Kommentar irgendwie verärgert? »Du hast vor ein paar Tagen gesagt, dass Jason dir verraten hat, wo er sein Stück versteckt hat. Und dieses Stück hattest du gefunden, stimmt’s?« Eigentlich interessierte sich Emily viel mehr für den lauten Knall, den sie vor ein paar Minuten im Haus gehört hatte. Hatten Ali und Jason sich gestritten? Äffte Jason Ali oft nach? Aber diese Fragen wagte sie nicht zu stellen.

»Oh.« Ali drehte den silbernen Ring, den sie immer an ihrem Zeigefinger trug, schneller und schneller herum. »Stimmt. Genau. Das Stück habe ich gefunden.«

Sie wirbelte herum und schaute zur Straße. Der champagnerfarbene Mercedes, den die Mädchen schon oft gesehen hatten, wenn Ali nach der Schule abgeholt wurde, fuhr langsam die Einfahrt hinunter und rollte in Richtung Kreuzung. Am Stoppschild hielt er an, blinkte und bog rechts ab.

Ali atmete hörbar aus und schaute die anderen irgendwie befremdet an, als habe sie vergessen, dass sie hier waren.

»Also … tschüs dann«, sagte sie. Sie drehte sich um und marschierte ins Haus zurück. Einen Augenblick später ging das Fenster, das vor ein paar Minuten geschlossen worden war, wieder auf.

Das Windspiel auf der Veranda der DiLaurentis klimperte. Ein Erdhörnchen huschte über den Rasen. Die Mädchen standen eine Weile wie zu Salzsäulen erstarrt da. Als klar war, dass Ali nicht zurückkommen würde, verabschiedeten sie sich verlegen voneinander und trennten sich. Emily nahm die Abkürzung durch Spencers Hintergarten und folgte dem Weg zur Straße – sie war schon dankbar dafür, dass Ali überhaupt mit ihnen gesprochen hatte. Aria marschierte in Richtung Wald. Sie ärgerte sich darüber, dass sie hergekommen war. Spencer stapfte zu ihrem Haus zurück. Es war ihr peinlich, dass Ali sie genauso abgefertigt hatte wie die anderen. Ian und Melissa waren nach drinnen gegangen. Wahrscheinlich knutschten sie auf dem Wohnzimmersofa herum – igitt. Und Hanna holte ihr Fahrrad, das neben dem Steinblock in Alis Vorgarten lag. Sie bemerkte ein schwarzes Auto, das mit stotterndem Motor direkt vor Alis Haus an der Straße stand. Sie kniff verwirrt die Augen zusammen. Hatte sie das Auto schon mal irgendwo gesehen? Achselzuckend drehte sie sich um, radelte die Sackgasse entlang und dann die Straße hinunter.

Alle Mädchen fühlten sich klein und gedemütigt. Für wen hielten sie sich eigentlich? Was für eine Schnapsidee, zu versuchen, dem beliebtesten Mädchen der Rosewood Day die Zeitkapsel-Flagge zu stehlen. Wie waren sie überhaupt auf den Gedanken gekommen, das könnte funktionieren? Ali war wahrscheinlich drinnen sofort zum Telefon gestürmt, hatte ihre besten Freundinnen Naomi Zeigler und Riley Wolfe angerufen und sich über die Nulpen lustig gemacht, die in ihrem Hintergarten aufgetaucht waren. Einen flüchtigen Moment lang hatte es ausgesehen, als würde Ali Hanna, Aria, Emily und Spencer die Freundschaft anbieten, aber dieser Augenblick war definitiv vorbei.

Oder … vielleicht doch nicht?

Am folgenden Montag verbreitete sich das Gerücht, Alis Flaggenstück sei ihr gestohlen worden. Und es gab noch ein zweites Gerücht: Ali hatte einen bösen Streit mit Naomi und Riley gehabt. Niemand wusste, worum es gegangen war. Niemand wusste, wer angefangen hatte. Aber alle wussten, dass die populärste Clique der sechsten Klasse auf einmal an Mitgliedermangel litt.

Als Ali sich am folgenden Samstag beim Wohltätigkeitsflohmarkt der Rosewood Day mit Spencer, Hanna, Emily und Aria unterhielt, hielten die vier Mädchen das zuerst für einen bösen Streich. Aber Ali erinnerte sich an ihre Namen. Sie gratulierte Spencer dazu, dass sie wusste, wie man Nippes buchstabierte. Sie bewunderte Hannas brandneue Stiefel von Anthropologie und die Pfauenfedernohrringe, die Arias Dad ihr aus Marokko mitgebracht hatte. Sie staunte darüber, dass Emily problemlos eine schwere Kiste voller Wintermäntel tragen konnte. Bevor die Mädchen es sich versahen, hatte Ali sie zu einer Pyjamaparty eingeladen. Es folgten weitere. Und als Ende September das Zeitkapsel-Spiel endete und alle ihre verzierten Flaggenstücke einreichten, machte ein neues Gerücht in der Schule die Runde: Ali hatte vier neue beste Freundinnen.

Als die Zeitkapsel vergraben wurde, saßen sie bei der Zeremonie in der Aula von Rosewood Day nebeneinander und schauten zu, wie Rektor Appleton jeden Schüler, der ein Flaggenstück gefunden hatte, einzeln auf die Bühne rief. Dann verkündete der Rektor, dass niemand das Stück, das ursprünglich von Alison DiLaurentis gefunden worden war, eingereicht hatte. Damit war dieses Stück nicht mehr zugelassen. Die Mädchen drückten Alis Hand. Das ist nicht fair, flüsterten sie. Das war dein Stück. Du hast dir solche Mühe damit gegeben.

Aber ein Mädchen am Ende der Reihe, das nun ebenfalls zu Alis brandneuen besten Freundinnen gehörte, zitterte so heftig, dass sie ihre Knie mit den Händen festhalten musste. Aria wusste, wo Alis Flaggenstück war. Manchmal wanderte ihr Blick nach der allabendlichen Telefonkonferenz mit ihren neuen besten Freundinnen zu dem Schuhkarton ganz oben in ihrem Schrank. Und dann drehte sich ihr jedes Mal der Magen um. Trotzdem war es besser gewesen, den anderen nicht zu erzählen, dass sie Alis Flagge hatte. Es war auch besser gewesen, sie nicht einzureichen. Ihr Leben war zum ersten Mal richtig toll. Sie hatte Freundinnen. Menschen, mit denen sie zu Mittag essen und am Wochenende Spaß haben konnte. Am besten, sie vergaß, was an jenem Tag passiert war … und zwar für immer.

Kapitel 1Das Mädchen, das »Leiche« schrie

Spencer Hastings zitterte in der kalten Nachtluft und wich dem dornigen Zweig eines Rosenbusches aus. »Hier lang«, rief sie über ihre Schulter und ging tiefer in den Wald hinter dem großen, umgebauten Bauernhaus ihrer Familie. »Hier haben wir ihn gefunden.«

Ihre ehemals besten Freundinnen Aria Montgomery, Emily Fields und Hanna Marin waren dicht hinter ihr. Alle Mädchen wackelten auf ihren hohen Absätzen und hielten die Säume ihrer Abendkleider hoch – es war Samstagabend, und bis vor wenigen Minuten waren sie noch auf einem Wohltätigkeitsball der Rosewood Day gewesen, der bei Spencer stattfand. Emily wimmerte, ihr Gesicht war tränenüberströmt. Arias Zähne klapperten, wie immer, wenn sie Angst hatte. Hanna blieb stumm, aber ihre Augen waren weit aufgerissen und sie hatte sich mit einem riesigen silbernen Kerzenständer bewaffnet, den sie im Speisezimmer der Hastings gefunden hatte. Officer Darren Wilden, der jüngste Polizist der Stadt, folgte ihnen und beleuchtete mit seiner Taschenlampe den schmiedeeisernen Zaun, der Spencers Grundstück von dem Land trennte, das früher den DiLaurentis gehört hatte.

»Er liegt auf dieser Lichtung, hier den Pfad runter«, rief Spencer. Es hatte begonnen zu schneien, zuerst nur leicht, aber jetzt fielen dicke, nasse Flocken vom Himmel. Zu Spencers Linken lag die Scheune ihrer Familie, der letzte Ort an dem sie und ihre Freunde Ali vor dreieinhalb Jahren lebend gesehen hatten. Rechts von ihr befand sich das halb fertig ausgehobene Loch, in dem im September Alis Leiche gefunden worden war. Direkt vor Spencer lag die Lichtung, auf der sie gerade die Leiche von Ian Thomas entdeckt hatte. Ian war der Exfreund ihrer Schwester Melissa, hatte mit Ali eine geheime Affäre gehabt und sie schließlich umgebracht. Vermutlich umgebracht.

Spencer war so erleichtert gewesen, als Ian wegen des Mordes an Ali verhaftet worden war. Alles ergab einen Sinn: Ali hatte ihm ein Ultimatum gestellt: Entweder er machte mit Spencers Schwester Melissa Schluss oder sie würde der ganzen Welt verraten, dass sie eine Affäre hatten. Ian hatte sich an jenem Abend mit Ali getroffen. Er hatte genug von ihren Spielchen. Seine Wut und seine Frustration hatten ihn überwältigt … und er hatte sie getötet. Spencer hatte Ali und Ian am Abend ihres Todes noch zusammen im Wald gesehen, eine traumatische Erinnerung, die sie dreieinhalb lange Jahre verdrängt hatte.

Aber am Tag vor Beginn des Verfahrens hatte Ian gegen seinen Hausarrest verstoßen, sich auf Spencers Veranda geschlichen und sie angefleht, nicht gegen ihn auszusagen. Nicht er, sondern jemand anderes habe Ali getötet, beteuerte er, und er sei gerade dabei, ein verstörendes, unfassbares Geheimnis aufzudecken, das seine Unschuld beweisen würde.

Das Problem war nur, dass Ian Spencer nicht mehr verraten konnte, was dieses Geheimnis war – denn er war vor den Eröffnungsplädoyers seines Verfahrens am letzten Freitag einfach verschwunden. Die gesamte Polizei von Rosewood durchkämmte nun den Bezirk und versuchte, ihn zu finden, und alles, woran Spencer geglaubt hatte, war plötzlich zweifelhaft geworden. Hatte Ian es getan, oder nicht? Hatte Spencer ihn wirklich dort draußen mit Ali gesehen oder war es jemand anderes gewesen? Und vor ein paar Minuten hatte jemand namens Ian_T Spencer eine SMS geschickt: Spencer. Ich warte im Wald auf dich, an der Stelle, an der sie starb. Ich muss dir etwas zeigen.

Spencer war in den Wald gerannt, um endlich die Wahrheit herauszufinden. Als sie bei der Lichtung ankam, schrie sie bei dem Anblick laut auf. Dort lag Ian, aufgedunsen und blau angelaufen, seine Augen waren glasig und leblos. Aria, Hanna und Emily waren in diesem Augenblick ebenfalls eingetroffen, und ein paar Sekunden später hatten sie alle eine identische SMS von der neuen A. bekommen: Er musste weg.

Sie waren zurück ins Haus gerannt, um Wilden zu holen, aber er war nirgends zu finden. Spencer ging noch einmal zu der runden Auffahrt hinaus, als er plötzlich auftauchte. Er stand neben den geparkten Autos. Als er sie sah, schaute er sie so schuldbewusst an, als hätte sie ihn bei etwas Illegalem ertappt. Bevor Spencer ihn fragen konnte, wo er gewesen war, rannten die anderen hysterisch herbei und drängten ihn atemlos, ihnen in den Wald zu folgen. Und hier waren sie nun.

Spencer blieb stehen, als sie den Ort wieder erkannte. Dort war der alte Stumpf. Dort das zertrampelte Gras. Die Luft wirkte gruselig still und sauerstofflos. »Hier ist es«, rief sie den anderen zu. Sie schaute zu Boden und wappnete sich gegen den Anblick.

»Oh mein Gott«, flüsterte Spencer.

Ians Leiche war … verschwunden.

Sie taumelte einen Schritt zurück und griff mit der Hand nach ihrem Kopf. Sie blinzelte heftig und schaute noch einmal hin. Ians Leiche hatte genau hier gelegen, doch nun war an dieser Stelle nur eine dünne Schicht Schnee. Aber … wie war das möglich?

Emily schlug sich die Hand vor den Mund und gurgelte erstickt. »Spencer«, flüsterte sie drängend. Aria stieß eine Mischung aus Stöhnen und Schrei aus.

»Wo ist er?«, schrie sie und schaute sich panisch im Wald um. »Er war gerade noch hier.«

Hanna war leichenblass. Sie sagte kein Wort. Hinter ihnen ertönte ein schrilles Piepen. Alle zuckten zusammen und Hanna packte den Kerzenleuchter fester. Es war nur Wildens Funkgerät an seinem Gürtel. Er betrachtete die Gesichter der Mädchen, dann die leere, verschneite Stelle am Boden.

»Vielleicht war es woanders«, sagte er.

Spencer schüttelte den Kopf. Sie verspürte einen Druck auf der Brust. »Nein. Er lag hier.« Sie taumelte den kleinen Abhang hinab und kniete sich auf das noch halb gefrorene Gras. Stellenweise war es platt gedrückt, als habe etwas Schweres hier gelegen. Sie streckte die Hand nach dem Boden aus, zog sie aber wieder zurück. Irgendwie brachte sie es nicht über sich, eine Stelle zu berühren, an der gerade erst eine Leiche gelegen hatte.

»Vielleicht war Ian nur verletzt und nicht tot.« Wilden fummelte an einer Metallschnalle an seiner Jacke herum. »Vielleicht ist er geflüchtet, als ihr mich geholt habt.«

Spencer riss die Augen auf. Konnte das wirklich sein?

Emily schüttelte entschieden den Kopf. »Er war auf keinen Fall nur verletzt.«

»Er war definitiv tot«, stimmte ihr Hanna mit zitternder Stimme zu. »Er war … blau.«

»Vielleicht hat jemand die Leiche weggeschafft«, meldete sich Aria zu Wort.

»Wir waren ungefähr eine halbe Stunde im Haus. Das wäre genug Zeit gewesen.«

»Es war noch jemand hier draußen«, flüsterte Hanna. »Plötzlich stand jemand vor mir, als ich hingefallen bin.«

Spencer wirbelte herum und starrte sie an. »Was?«

Zugegeben, die letzte halbe Stunde war irre gewesen, aber das hätte Hanna einfach sagen müssen.

Emily starrte Hanna ebenfalls an. »Hast du erkannt, wer es war?«

Hanna schluckte hörbar. »Die Person hatte eine Kapuze auf. Ich glaube, es war ein Junge, aber ich weiß es nicht. Vielleicht hat er Ians Leiche weggebracht.«

»Vielleicht war es A.«, sagte Spencer mit wild klopfendem Herzen. Sie griff in ihre Jackentasche, holte ihren Sidekick heraus und zeigte A.s bedrohliche SMS Wilden.

Er musste weg.

Wilden schaute auf Spencers Telefon und gab es ihr dann zurück. Sein Mund war schmal. »Ich weiß wirklich nicht, wie oft ich es noch sagen soll: Mona ist tot. Diese A. ist nur ein Nachahmer. Es ist schließlich kein Geheimnis, dass Ian geflüchtet ist. Das weiß das ganze Land.«

Spencer wechselte einen besorgten Blick mit den anderen. Im vergangenen Herbst hatte ihre Klassenkameradin Mona Vanderwaal, Hannas beste Freundin, den Mädchen kranke, gemeine Nachrichten unter dem Pseudonym A. geschickt. Mona hatte ihr Leben ruiniert und sogar geplant, sie alle zu töten. Sie hatte Hanna mit ihrem SUV angefahren und Spencer im Floating-Man-Steinbruch beinahe die Felsen hinuntergestoßen. Nachdem Mona selbst in den Tod gestürzt war, hatten sie sich in Sicherheit gewähnt – aber seit letzter Woche erhielten sie wieder bedrohliche SMS und zwar von einer neuen A. Ursprünglich hatten sie geglaubt, Ian sei der Absender, da sie erst begannen, als er auf Kaution freigelassen wurde. Aber Wilden glaubte nicht daran. Das sei unmöglich, sagte er, denn Ian habe keinen Zugang zu einem Handy und er hätte die Mädchen auch gar nicht bespitzeln können, da er unter Hausarrest stand. Also glaubte er, dass es sich nur um einen harmlosen Nachahmungstäter handelte.

»A. ist echt«, protestierte Emily und schüttelte verzweifelt den Kopf. »Vielleicht hat A. Ian ja umgebracht? Und seine Leiche verschwinden lassen?«

»Vielleicht hat A. ja auch Ali getötet«, fügte Hanna hinzu, die immer noch den Kerzenleuchter umklammert hielt.

Wilden leckte sich über die Lippen. Er wirkte durcheinander. Dicke Schneeflocken fielen ihm auf den Kopf, aber er schüttelte sie nicht ab. »Mädels, ihr seid hysterisch. Ian hat Ali umgebracht. Das solltet ihr doch am besten wissen. Wir haben ihn schließlich aufgrund der Beweise verhaftet, die ihr uns geliefert habt.«

»Und wenn Ian hereingelegt wurde?«, beharrte Spencer. »Vielleicht hat A. Ali getötet und Ian hat es herausgefunden?« Und vielleicht hat das die Polizei von Rosewood vertuscht?, hätte sie beinahe hinzugefügt. Das war Ians Theorie gewesen.

Wilden fuhr mit dem Finger über das Rosewooder Polizeiabzeichen, das auf seinem Mantel eingestickt war. »Hat Ian dir diesen Haufen Bockmist erzählt, als er dich am Donnerstag auf deiner Veranda besucht hat, Spencer?«

Spencer rutschte der Magen in die Knie. »Woher weißt du das?«

Wilden starrte sie wütend an. »Ich habe einen Anruf von der Wache bekommen. Wir haben einen Hinweis erhalten. Jemand hat gesehen, wie ihr euch unterhalten habt.

»Wer?«

»Es war ein anonymer Hinweis.«

Spencer war schwindelig. Sie schaute ihre Freundinnen an. Ihnen – und nur ihnen – hatte sie erzählt, dass sie Ian getroffen hatte, aber die Mädchen wirkten geschockt und völlig ahnungslos. Es gab nur noch eine Person, die wusste, dass Ian sie aufgesucht hatte: A.

»Warum hast du uns das nicht sofort gemeldet?« Wilden beugte sich zu Spencer vor. Sein Atem roch nach Kaffee. Seine Augen blitzten wütend. »Wir hätten Ian sofort wieder ins Gefängnis verfrachtet, dann hätte er nicht flüchten können.«

»A. hat mir gedroht«, verteidigte sich Spencer. Sie suchte im Posteingang ihres Telefons nach der Botschaft von A. und zeigte sie Wilden. Frage: Wenn die kleine Miss-Nicht-Mehr-So-Perfekt plötzlich verschwände, würde das überhaupt jemanden interessieren?

Wilden wippte auf den Fersen. Er starrte auf die Stelle, an der Ian vor Kurzem noch gelegen hatte. Dann seufzte er. »Okay. Ich gehe jetzt wieder ins Haus und stelle ein Team zusammen. Aber ihr könnt nicht immer alles auf A. schieben.«

Spencer schaute auf das Funkgerät an seiner Hüfte. »Warum funkst du sie nicht gleich von hier aus an? Sie könnten dich hier treffen, dann geht die Suche schneller los.«

Es sah aus, als sei Wilden die Frage unangenehm. »Lasst mich meine Arbeit machen, Mädels. Wir müssen … uns an die Vorschriften halten.«

»Vorschriften?«, wiederholte Emily.

»Oh mein Gott«, hauchte Aria. »Er glaubt uns nicht.«

»Ich glaube euch, ich glaube euch.« Wilden wich ein paar tief hängenden Zweigen aus. »Aber ihr Mädels solltet wirklich nach Hause gehen und euch ausruhen. Von hier an übernehme ich.« Wilden verschwand im Wald, sie hörten noch kurz das Rascheln des Laubes unter seinen Schritten, dann war Stille.

Der Wind ließ die Äste in den Bäumen knarren. Ein großer schwarzer Vogel kreiste über ihnen. Die Mädchen standen stumm beieinander. Hinter den Nebelschwaden blinkten ein paar Sterne auf. Sekunden später war Wildens Taschenlampe nicht mehr zu sehen. Bildete sich Spencer das nur ein, oder hatte er es sehr eilig gehabt, sie loszuwerden? Machte er sich nur Sorgen, weil Ians Leiche irgendwo in den Wäldern lag … oder hatte sein Verhalten einen anderen Grund?

Sie drehte sich um und starrte auf die leere Lichtung, als könne sie so Ians Leiche wiederauftauchen lassen. Sie würde niemals vergessen, wie sein eines Auge ins Leere geglotzt hatte. Ians anderes Auge war fest geschlossen gewesen. Sein Hals war auf unnatürliche Weise verdreht gewesen, und am Finger hatte er immer noch seinen Rosewood-Day-Schulring aus Platin getragen. Der blaue Stein hatte ganz leicht geschimmert.

Auch die anderen Mädchen starrten auf die leere Lichtung. Dann knackte tiefer im Wald ein Zweig. Hanna packte Spencers Arm. Emily quiekte. Alle erstarrten und lauschten. Spencer schlug das Herz bis zum Hals.

»Ich will nach Hause«, schluchzte Emily.

Alle nickten sofort und tauschten ängstliche Blicke. Solange die Polizei von Rosewood ihre Suche noch nicht begonnen hatte, waren sie hier draußen nicht sicher.

Sie folgten ihren Spuren zurück zu Spencers Haus. Als sie die Lichtung hinter sich gelassen hatten, sah Spencer den dünnen, goldenen Strahl von Wildens Taschenlampe, der über die Baumstämme glitt. Sie blieb stehen. Ihr Herz schlug ihr schon wieder bis zum Hals. »Mädels«, flüsterte sie und deutete auf das Licht.

Kapitel 2Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus

Am folgenden Morgen saß Aria an dem gelben Resopaltisch in der winzigen Küche der Wohnung ihres Vaters in Old Hollis, dem Viertel rund ums Rosewooder College. Sie aß Frühstücksflocken mit Sojamilch und versuchte, den Philadelphia Sentinel zu lesen. Ihr Vater Byron hatte bereits das Kreuzworträtsel gelöst, und die Seiten waren mit Tintenflecken übersät.

Meredith, Byrons ehemalige Studentin und jetzige Verlobte, saß im Wohnzimmer, das direkt an die Küche angrenzte. Sie hatte ein paar Patchouli-Räucherstäbchen angezündet, die ganze Wohnung roch wie ein Headshop. Aus dem Fernseher drang beruhigendes Meeresrauschen, gelegentlich ertönten Möwenschreie. »Atmen Sie zu Beginn jeder Wehe tief und reinigend durch die Nase ein«, sagte eine Frauenstimme. »Formen Sie beim Ausatmen den Laut hiii, hiii. Versuchen wir es gemeinsam.«

»Hiii, hiii«, machte Meredith.

Aria unterdrückte ein Stöhnen. Meredith war im sechsten Monat schwanger und schaute sich seit einer Stunde Lamaze-Videos an, weshalb Aria durch Osmose jetzt alles über Atemtechniken, Geburtsbälle und die Schrecken von PDAs gelernt hatte.

Nach einer größtenteils schlaflosen Nacht hatte Aria frühmorgens ihren Vater angerufen und ihn gefragt, ob sie eine Zeit lang bei ihm und Meredith wohnen dürfe. Dann packte sie ein paar Sachen in ihre norwegische Reisetasche mit Blumenmuster und verließ das Haus, bevor ihre Mutter Ella aufwachte. Aria wollte eine Konfrontation vermeiden. Sie wusste, dass ihre Mutter sich darüber wundern würde, dass sie lieber bei ihrem Dad und seiner Freundin, der Ehezerstörerin, leben wollte, besonders, weil Aria und Ella ihre Beziehung gerade erst repariert hatten. Mona Vanderwaal (als A.) hatte sie beinahe endgültig zerstört gehabt. Außerdem log Aria nicht gerne, und sie konnte Ella schließlich nicht den wahren Grund für ihren Umzug nennen. Dein neuer Freund steht auf mich und ist der Meinung, ich sei in ihn verknallt. Wenn sie das sagte, würde Ella wahrscheinlich nie wieder ein Wort mit ihr wechseln.

Meredith stellte den Fernseher lauter – offenbar übertönte ihre eigene Atmung die Anleitungen. Ein Gong ertönte. »Sie und Ihr Partner werden lernen, wie Sie die Schmerzen einer natürlichen Geburt lindern und den Geburtsvorgang beschleunigen können«, fuhr die Frauenstimme fort. »Zu diesen Techniken gehören Übungen im Wasser, Visualisierungen und durch den Partner herbeigeführte Orgasmen.«

»Oh mein Gott.« Aria legte sich die Hände auf die Ohren. Es war ein Wunder, dass sie noch nicht spontan taub geworden war.

Sie schaute wieder auf die Zeitung. Die Schlagzeile auf der Titelseite lautete: Wo ist Ian Thomas?

Gute Frage, dachte Aria.

In ihrem Kopf drehten sich die Ereignisse von gestern Abend im Kreis. Wie war es möglich, dass Ians Leiche einfach von der Lichtung verschwunden war? Hatte ihn jemand getötet und seine Leiche dann entfernt, als sie zurückgerannt waren, um Wilden zu holen? Sollte Ian zum Schweigen gebracht werden, weil er tatsächlich das riesige Geheimnis aufgedeckt hatte, von dem er Spencer erzählt hatte?

Vielleicht hatte Wilden aber auch recht, und Ian war nicht tot, sondern nur verletzt gewesen. War er in den Wald gekrochen, als sie zurück zum Haus rannten? Aber wenn das der Fall sein sollte, dann war Ian immer noch da draußen. Sie zitterte. Ian hasste Aria und ihre Freundinnen dafür, dass sie ihn ins Gefängnis gebracht hatten. Und er sann mit Sicherheit auf Rache.

Aria schaltete den kleinen Fernseher ein, der in der Küche stand. Sie brauchte Ablenkung. Kanal 6 zeigte eine schlecht gemachte Nachstellung mit Schauspielern von dem Mord an Ali – Aria hatte sie schon zwei Mal gesehen. Sie zappte weiter. Der nächste Sender zeigte den Polizeichef von Rosewood, der mit einem Reporter sprach. Er trug eine dicke, mit Pelz gefütterte marineblaue Jacke und stand vor Kiefern. Es sah aus, als gebe er am Rand von Spencers Grundstück ein Interview.

Am unteren Rand des Bildschirms stand in dicken Lettern: Ian Thomas tot? Aria beugte sich vor, ihr Herzschlag beschleunigte sich.

»Es gibt bislang unbestätigte Berichte darüber, dass Ian Thomas’ Leiche gestern Nacht in diesem Wald gesehen wurde«, sagte der Polizeichef. »Wir haben eine Suchmannschaft zusammengestellt und heute Morgen begonnen, den Wald zu durchsuchen. Aber wegen des Schnees …«

Die Frühstücksflocken brodelten in Arias Magen. Sie griff nach ihrem Handy, das auf dem Küchentisch lag, und rief Emily an. Die hob sofort ab. »Schaust du Nachrichten?«, bellte Aria statt einer Begrüßung.

»Gerade eingeschaltet«, antwortete Emily. Sie klang besorgt.

»Warum haben die bis heute Morgen mit der Suche gewartet? Wilden sagte doch gestern Abend, er wolle sofort eine Suchmannschaft zusammenstellen.«

»Wilden hat irgendwas von Vorschriften gesagt«, flüsterte Emily. »Vielleicht hat es etwas damit zu tun.«

Aria schnaubte. »Als ob Wilden sich jemals für Vorschriften interessiert hätte.«

»Was willst du damit sagen?« Emily klang ungläubig.

Aria zupfte an einem Platzdeckchen, das eine Freundin von Meredith aus Hanf gewoben hatte. Beinahe zwölf Stunden waren vergangen, seit sie Ians Leiche gefunden hatten. In einem so langen Zeitraum konnte in dem Wald eine Menge passiert sein. Vielleicht hatte jemand Beweise entfernt … oder falsche Spuren gelegt. Aber die Polizei – insbesondere Wilden – hatte in diesem Fall ohnehin keine besondere Sorgfalt gezeigt. Wilden hatte nicht einmal einen Tatverdächtigen gehabt, bis Aria, Spencer und die anderen ihm Ians Kopf auf einem Tablett serviert hatten. Er hatte auch irgendwie nicht mitbekommen, dass Ian ausgebrochen war, um Spencer zu besuchen. Und obendrein hatte er ihn auch noch am Tag des Prozessbeginns entwischen lassen. Sicher wollte Wilden genau wie sie alle, dass Ian für seine Tat bezahlte, aber besonders gut aufgepasst hatte er nicht auf ihn.

»Ach, ich weiß nicht«, antwortete Aria schließlich. »Aber komisch ist es schon, dass sie erst heute Morgen mit der Suche angefangen haben.«

»Hast du noch mehr Botschaften von A. bekommen?«, fragte Emily.

Aria erstarrte. »Nein. Du?«

»Nein, aber ich rechne jeden Augenblick damit, dass eine eintrudelt. «

»Wer glaubst du ist die neue A.?«, fragte Aria. Sie selbst hatte keine Ahnung. War es jemand, der Ian tot sehen wollte, Ian selbst oder jemand ganz anderes? Wilden glaubte, die SMS seien Streiche von irgendwelchen Nachahmern. Wahrscheinlich sogar aus anderen Bundesstaaten. Aber A. hatte letzte Woche Aria und Xavier in missverständlicher Pose fotografiert, was bedeutete, dass A. hier in Rosewood sein musste. A. hatte auch von Ians Leiche im Wald gewusst – sie alle hatten eine SMS mit der Aufforderung bekommen, im Wald zu suchen. Warum wollte A. ihnen unbedingt Ians Leiche zeigen? Um ihnen Angst zu machen? Sie zu warnen? Dann war da noch die Person, die Hanna gesehen hatte. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass jemand anderes sich rein zufällig zur gleichen Zeit im Wald befand wie Ians Leiche? Es musste eine Verbindung geben.

»Ich weiß es nicht«, sagte Emily schließlich. »Aber ich will es auch nicht wissen.«

»Vielleicht ist A. ja jetzt weg«, sagte Aria mit betont zuversichtlicher Stimme.

Emily seufzte und verabschiedete sich dann. Aria stand auf, goss sich ein Glas Acai-Beerensaft ein, den Meredith in einem Reformhaus gekauft hatte, und rieb sich die Schläfen. War es möglich, dass Wilden die Suche absichtlich verzögert hatte? Er hatte gestern Abend so unruhig und befangen gewirkt, und war zuerst gar nicht zu Spencers Haus zurückgegangen. Vielleicht verbarg er ja etwas. Aber es konnte genauso gut sein, dass Emily recht hatte und die Verzögerung nur an den Vorschriften lag. Dann war er nur ein Polizist, der sich pflichtbewusst an die Spielregeln hielt.

Aria konnte immer noch nicht fassen, dass Wilden wirklich Polizist geworden war. Noch dazu ein pflichtbewusster. Wilden war in Jason und Ians Jahrgang in der Rosewood Day gewesen. Damals hatte er nur für Ärger gesorgt. Als Aria in der sechsten und die Jungs in der elften Klasse gewesen waren, hatte sie sich in ihren Freistunden oft in das Oberstufengebäude geschlichen, um Jason zu beobachten – sie war schrecklich in ihn verknallt gewesen und hatte seine Nähe gesucht, sooft es ging. Sie schaute durch das Fenster des Technikraums, wo er seine selbst geschnitzten Buchstützen mit Sandpapier abrieb. Sie bewunderte seine muskulösen Beine, wenn er über die Fußballplätze rannte. Aria passte immer auf, dass niemand sie dabei ertappte.

Aber einmal passierte es doch.

Es war ungefähr eine Woche nach Beginn des Schuljahres. Aria hatte vom Flur aus beobachtet, wie Jason in der Bibliothek Bücher auslieh, als sie hinter sich ein Klicken hörte. Dort stand Darren Wilden, das Ohr an eine Spindtür gepresst. Er drehte langsam das Zahlenschloss. Das Spind öffnete sich. Aria sah einen herzförmigen Spiegel an der Tür und eine Packung Damenbinden auf dem oberen Regal. Wildens Hand schloss sich um einen Zwanzigdollarschein, der zwischen zwei Büchern steckte.

Aria runzelte die Stirn, als sie kapierte, was Wilden da machte.

Wilden stand auf und bemerkte sie. Er starrte frech zurück.

»Du hast hier nichts verloren«, zischte er. »Aber ich behalt’s für mich. Dieses Mal.«

Als Aria wieder zum Fernseher blickte, lief gerade Werbung für ein Möbelhaus. Sie starrte auf ihr Handy. Sie musste noch einen anderen Anruf erledigen. Es war beinahe elf Uhr – Ella war sicherlich schon lange wach.

Sie wählte ihre eigene Nummer. Das Telefon klingelte ein Mal, zwei Mal. Dann ertönte ein Klicken und jemand sagte: »Hallo?«

Aria blieben die Worte im Hals stecken. Es war Xavier, der neue Freund ihrer Mutter. Xavier klang fröhlich und entspannt, als habe er jedes Recht der Welt, bei den Montgomerys ans Telefon zu gehen. Hatte er nach der Benefizveranstaltung bei Ella übernachtet? Bäh.

»Hallo?«, sagte Xavier wieder.

Aria war angeekelt und wusste nicht, was sie sagen sollte. Als Xavier gestern Abend auf dem Ball für die Rosewood Day Aria, die sich in Spencers Schlafzimmer geflüchtet hatte, gefolgt war, war Aria noch einen Moment lang der Überzeugung gewesen, er wolle sich dafür entschuldigen, dass er sie vor ein paar Tagen geküsst hatte. Aber offenbar war in Xaviers Wortschatz »Gespräch« gleichbedeutend mit »Grapsch-Attacke«.

Nach ein paar Sekunden Stille atmete Xavier aus.

»Ist da Aria?«, fragte er mit schleimiger Stimme. Aria quiekte leise. »Du musst dich doch nicht vor mir verstecken«, neckte er. »Ich dachte, wir verstehen uns.«

Aria legte schleunigst auf. Xavier hatte ihr nur eines zu verstehen gegeben: Wenn sie Ella erzählte, was für ein Ekel er war, würde er im Gegenzug Ella erzählen, dass Aria eine Nanosekunde lang in ihn verknallt gewesen war. Und wahrscheinlich würde er ergänzen, dass sie ihn angemacht hatte. Und das würde das Verhältnis zwischen Aria und Ella für alle Zeiten zerstören.

»Aria?«

Aria zuckte zusammen und schaute auf. Ihr Vater Byron stand vor ihr. Er trug ein altes Hollis-T-Shirt und sein Haar war wie immer total verwuschelt. Er setzte sich neben sie. Meredith, die ein Umstandskleid im Sari-Stil und dazu Birkenstocks trug, watschelte herein und lehnte sich gegen den Tresen. »Wir wollten etwas mit dir besprechen«, sagte Byron.

Aria faltete ihre Hände im Schoß. Beide sahen sehr ernst aus.

»Erstens findet am Mittwochabend Merediths Baby-Shower statt«, begann Byron. »Nur eine kleine Feier mit unseren Freunden. «

Aria blinzelte. Sie hatten gemeinsame Freunde? Das konnte doch nicht sein. Meredith war Anfang zwanzig und gerade erst mit dem College fertig. Und Byron war … alt.

»Du kannst gerne jemanden mitbringen«, fügte Meredith hinzu. »Und mach dir keine Gedanken wegen eines Geschenks. Ich rechne nicht damit.«

Aria fragte sich, ob Meredith eine Wunschliste bei Sunshine, dem Öko-Babyladen von Rosewood hinterlegt hatte. Dort gab es zum Beispiel aus recycelten Plastikflaschen hergestellte Babyschühchen für hundert Dollar.

»Und stattfinden wird diese Party …« Byron zupfte am Bund seines T-Shirts. »In unserem neuen Haus.«

Es dauerte einen Moment, bis Aria begriff. Sie öffnete den Mund, klappte ihn dann schnell wieder zu.

»Wir wollten es dir erst sagen, wenn es sicher ist«, fuhr Byron eilig fort. »Aber unser Kredit wurde heute bewilligt, und morgen unterzeichnen wir den Kaufvertrag. Wir wollen sofort umziehen und würden uns sehr freuen, wenn du mitkämest.«

»Ein … Haus«, wiederholte Aria. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Hier, in dieser schäbig-schönen 65-qm-Studentenwohnung in Old Hollis hatte sie Byron und Merediths Beziehung irgendwie als surreal betrachten können. Aber ein Haus war richtig erwachsen. Und real.

»Wo ist es?«, fragte Aria schließlich.

Meredith fuhr sich über das pinkfarbene Spinnennetz-Tattoo an ihrem Handgelenk. »In der Coventry Lane. Es ist wirklich schön, Aria – es wird dir gefallen. Eine Wendeltreppe führt zu einem großen Loft-Zimmer unter dem Dach. Das kannst du haben, wenn du willst. Das Licht ist wunderbar zum Malen.«

Aria starrte auf einen Fleck auf Byrons T-Shirt. Der Name Coventry Lane kam ihr irgendwie vertraut vor, aber sie wusste nicht, warum.

»Du kannst ab übermorgen deine Sachen dort hinbringen«, sagte Byron. Er schaute Aria wachsam an, als habe er keine Ahnung, wie sie reagieren würde.

Aria wendete sich abwesend wieder dem Fernseher zu. Die Nachrichten zeigten Ians Fahndungsfoto. Dann erschien seine Mutter auf dem Bildschirm. Sie war blass und sah aus, als habe sie mehrere Nächte nicht geschlafen. »Wir haben seit Donnerstag nichts von Ian gehört«, weinte Mrs Thomas. »Wenn irgendjemand weiß, was mit ihm geschehen ist, soll er sich bitte melden.«

»Moment«, sagte Aria langsam. Ihr fiel etwas ein. »Liegt die Coventry Lane nicht in dem Viertel hinter Spencers Haus?«

»Genau«, strahlte Byron. »Du wohnst dann viel näher bei ihr.«

Aria schüttelte den Kopf. Ihr Dad kapierte überhaupt nichts. »Das ist die Straße, in der Ian Thomas gewohnt hat.«

Byron und Meredith sahen sich an und wurden blass. »Wirklich? «, fragte Byron.

Arias Herz schlug wild. Ihr Vater bekam von Klatsch und Tratsch absolut nichts mit – das gehörte zu den Gründen, aus denen sie ihn so sehr liebte. Aber wie konnte er so etwas nicht wissen? Toll. Von nun an wohnte sie also direkt neben dem Wald, in dem sie Ian Thomas’ Leiche gefunden hatten und in dem Ali gestorben war. Und vielleicht war Ian noch am Leben und trieb sich in genau diesem Wald herum.

Sie schaute ihren Vater an. »Meinst du nicht, dass die Straße ziemlich mieses Karma hat?«

Byron verschränkte die Arme vor der Brust. »Es tut mir leid, Aria. Aber wir haben ein wahnsinnig gutes Angebot für das Haus bekommen, das konnten wir einfach nicht ausschlagen. Es ist riesig und auch für dich sicherlich viel bequemer als … das hier.« Er wedelte mit den Armen und deutete auf das einzige Bad der Wohnung, das sie sich zu dritt teilen mussten.

Aria starrte auf den Totempfahl mit dem Vogelgesicht, den Meredith letzten Monat von einem Flohmarkt angeschleppt hatte. Zu ihrer Mutter konnte sie nicht zurück. Sie hörte immer noch Xaviers neckische Stimme. Du musst dich doch nicht vor mir verstecken. Ich dachte, wir verstehen uns.

»Okay, ich ziehe am Dienstag mit um«, murmelte Aria. Sie sammelte ihre Bücher und ihr Handy ein und zog sich in ihr winziges Schlafzimmer zurück, der hinteren Ecke von Merediths Studio. Sie fühlte sich erschöpft und niedergeschlagen.

Als sie ihren Kram aufs Bett fallen ließ, sah sie etwas vor dem Fenster. Das Studio ging nach hinten und blickte auf eine Gasse und eine verfallene Holzgarage. Ein undeutlicher Umriss bewegte sich hinter den schmutzigen Garagenfenstern. Dann starrten ein Paar Augen Aria an, ohne zu blinzeln.

Kapitel 3Raub mir die Sinne

Am Sonntagabend saß Emily Fields gemütlich in einer kleinen Nische bei Penelope’s, einem netten kleinen Restaurant in der Nähe ihres Hauses. Ihr neuer Freund Isaac saß ihr gegenüber, vor sich die zwei mit Erdnussbutter beschmierten Brotscheiben, die er bestellt hatte. Er zeigte ihr gerade, wie er sein weltberühmtes Erdnussbuttersandwich machte, das ihr Leben verändern würde, wie er prophezeite.

»Der Trick ist«, sagte Isaac. »Honig statt Marmelade zu nehmen. « Er nahm die Flasche in Bärenform, die in der Mitte des Tisches stand. Der Bär gab ein Furzgeräusch von sich, als Isaac Honig auf eine Brotscheibe drückte. »Ich verspreche dir, dein Stress löst sich gleich in Luft auf.« Er reichte ihr das Sandwich. Emily nahm einen großen Bissen, kaute und lächelte.

»Guuht«, sagte sie mit vollem Mund. Isaac drückte ihre Hand, und Emily schmolz dahin. Seine leuchtend blauen Augen waren ausdrucksvoll, und seinen Mund schien immer ein Lächeln zu umspielen. Hätte Emily ihn nicht gekannt, wäre es ihr unmöglich erschienen, dass ein so attraktiver Junge mit jemandem wie ihr ausgehen würde.

Isaac zeigte auf den Fernseher über der Theke. »Hey, ist das nicht das Haus deiner Freundin?«

Emily drehte sich um und sah Mrs McClellan, eine Nachbarin von Spencer, die vor dem Anwesen der Hastings stand. Ihr weißer Königspudel stand angeleint neben ihr. »Ich kann seit Samstag nicht mehr schlafen«, sagte sie gerade. »Die Vorstellung, dass in dem Wald hinter meinem Haus eine Leiche liegen soll, ist unerträglich. Ich hoffe nur, sie wird schnell gefunden. «

Emily rutschte in ihrem Sitz nach unten. Säure stieg ihr in die Kehle. Sie freute sich, dass die Polizei nach Ian suchte, aber jetzt gerade wollte sie nichts davon hören.

Als Nächstes erschien ein Rosewooder Polizist auf dem Schirm. »Die Polizei von Rosewood hat alle nötigen Erlaubnisse eingeholt und die Durchsuchung des Waldes heute begonnen.« Blitzlichter gingen vor seinem Gesicht los. Die Reporter bombardierten ihn sofort mit Fragen. »Warum hat der diensthabende Beamte vor Ort die Suche verzögert?« – »Verbirgt die Polizei etwas?« – »Stimmt es, dass Ian Thomas seinen Hausarrest bereits Mitte letzter Woche verletzt und sich mit einem der Mädchen getroffen hat, die seine Leiche entdeckt haben?«

Emily biss am Nagel ihres Zeigefingers herum. Woher wusste die Presse, dass Ian sich auf Spencers Veranda herumgetrieben hatte? Wer hatte es ihr erzählt? Wilden? Ein anderer Polizist? A.?

Der Polizist hob die Hand und brachte die Meute zum Schweigen. »Wie ich gerade erklärt habe, hat Officer Wilden die Suche keineswegs verzögert. Wir mussten zuerst die nötigen Berechtigungen einholen, um den Wald zu betreten. Er ist in Privatbesitz. Über Mr Thomas’ Verletzung seines Hausarrests möchte ich zu diesem Zeitpunkt nicht sprechen.«

Die Kellnerin schnalzte missbilligend mit der Zunge und schaltete auf eine andere Nachrichtensendung um. Rosewood reagiert stand in dicken Buchstaben am unteren Bildschirmrand. Ein Mädchen war zu sehen. Emily erkannte ihr rabenschwarzes Haar und ihre große Gucci-Sonnenbrille sofort. Jenna Cavanaugh.