Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Gottfried Benns Künstlerfigur lässt sich ein Pferdeauge implantieren, um neue Kunst zu schaffen. Robert Müllers Protagonisten "verwildern" im guyanischen Urwald und bringen im Delirium eine Kunsttheorie hervor, die Gewalt und Tod ästhetisiert. Carl Einstein propagiert die unerreichbare "Negerplastik", bei deren Imitation die zeitgenössischen primitivistischen Künstler:innen nur scheitern können. Die vorliegende Studie analysiert das "Going native" von Paul Gauguin in der Südsee und die Künstlerfiguren und theoretischen Texte der expressionistischen Generation, die diesem grossen Vorbild Tribut zollen. Die Texte diskutieren das Dilemma des "Verwilderns" und die Möglichkeiten künstlerischer Grenzgänge.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 519
Veröffentlichungsjahr: 2022
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Ladina Fessler
Primitivistische Künstlerfiguren im Expressionismus
Der Echoraum von Gauguins „Going native” bei Carl Einstein, Carl Sternheim und Robert Müller
DOI: https://doi.org/10.24053/9783772057625
© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.
Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
ISSN 0067-4508
ISBN 978-3-7720-8762-2 (Print)
ISBN 978-3-7720-0174-1 (ePub)
Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel am 24. 5. 2017 als Dissertation angenommen. Betreut wurde sie von Prof. Dr. Alexander Honold vom Deutschen Seminar und Prof. Dr. Ralph Ubl vom Kunsthistorischen Institut der Universität Basel. Sie entstand im Rahmen eines Sinergia-Projekts des Schweizerischen Nationalfonds, einer Kooperation der Universtität Basel und des Zentrums der Geschichte des Wissens der ETH Zürich. Unter dem Titel „Imitation – Assimilation – Transformation. Epistemologien, Praktiken und Semantiken der Anverwandlung in der Kunst und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts“ versammelte das Projekt mehrere Promotions- und Forschungsvorhaben. Für die Kontakte und Anregungen, die dieser Verbund bot, bin ich sehr dankbar. Meinen Betreuern, Prof. Dr. Alexander Honold und Prof. Dr. Ralph Ubl danke ich für Ihre fachliche und kollegiale Unterstützung. Für die finanzielle Unterstützung in der Abschlussphase der Dissertation bin ich dem Forschungsfonds der Universität Basel sowie der Mathieu-Stiftung Basel für die finanzielle Unterstützung zu grossem Dank verpflichtet. Bedanken möchte ich mich auch beim Dissertationenfonds der Universität Basel sowie dem Max Geldner-Fonds, die mit grosszügigen Druckkostenbeiträgen die Drucklegung der Dissertation ermöglichten. Meinen Freund:innen und Bürokolleg:innen Martina Klemm, Cyrill Feigenwinter, Fabian Grossenbacher, Nina Schimmel, Lukas Gloor, Julia Klebs und Rebecca Lötscher danke ich herzlich für Ihre Anregungen, Ablenkungen und Lektoratsarbeiten. Speziellen Dank geht an meine Freundin Bettina Braun für Ihre fruchtbare kritische Lektüre und Gespräche über meine Arbeit, an meine Eltern und Geschwistern für Ihre Ermunterungen und ihren Rückhalt und besonders an meine Lieben, Felix, Rosanna, Dimitri und Arno.
Februar 2022 Ladina Fessler
Das Bild, das dieser Studie voransteht, stammt von Oskar Kokoschka. Es ist ein expressionistisches erweitertes Selbstporträt von 1923 mit dem Titel „Der Maler und sein Modell II“. Es fällt insbesondere durch die plakative Verwendung von Grundfarben und die Inszenierung der Hände auf und offenbart erst auf den zweiten Blick seine narrative Mehrschichtigkeit. Kokoschka zeigt sich bei der Herstellung eines ,wilden‘ Selbstbildnisses, das als Kommentar zum „Primitivismus“ der 1910er Jahre gelesen werden kann: Das Bild auf der Staffelei entspricht einem seiner frühen Selbstporträts aus den 1910er Jahren, der Periode seines Auftretens als „Oberwildling“1 (s. Abb. 26). Es ist ein doppeltes Selbstporträt, ein Grenzen sprengendes, mit Verweisen spielendes Künstlerbildnis, das durch den Einbezug der Frau, die Blicke aus dem Bild hinaus und den hintersinnigen Titel die (Selbst-)Bespiegelung potentiert. Eine ähnliche „primitivistische“ Selbstbespiegelung zeichnet auch die literarischen „primitivistischen“ Künstlerfiguren aus, die in dieser Studie vorgestellt werden.
„Man braucht nur die Titel all dieser tollwütigen Pinseleien zu lesen, um zu wissen, dass es sich hier wirklich nicht um Malerei, sondern um Kaffeehausliteratur handelt.“1 Diese Aussage des Kunstkritikers Robert Breuer in seiner Rezension des Ersten Deutschen Herbstsalons (1913) im Dresdner Vorwärts ist unüblich. Wohl entspricht dieser Auszug der gängigen Schmähung moderner Kunst und es wird mit dem Bild des tollwütigen Künstlers das eingefahrene Argument psychischer und physischer Devianz aufgerufen, um die „primitivistischen“ Tendenzen in der neuesten bildenden Kunst zu beschreiben.2 Dennoch: Hier steht als primäre Referenz des neuen Kunstverständnisses, das meist über sehr konkrete Imitationsverhältnisse gedacht wurde, für einmal dem bildenden Künstler kein „primitiver“ Indigener, „Wilder“ oder gar Affe gegenüber. Es wird kein exotisches, „rassisch minderwertige[s]“3 Gegenüber aufgerufen, sondern der Kaffeehaus-Literat. Dass jener in den 1910er-Jahren jedoch nicht die erste Referenz für die Beschreibung „primitivistischer“ Kunst ist, zeigt diese Presseschau im Sturm (s. insbesondere den Abschnitt rechterhand unter dem Titel „Lexikon der deutschen Kunstkritik“):4
Die Presse und der Herbstsalon. Eine Gegenüberstellung/Lexikon der deutschen Kunstkritik. In: Der Sturm, Nr. 182/183 (1913)
„Bunthäutige Tölpel“, „Neger im Frack“, „Hottentotten im Oberhemd“, „Horde farbspritzender Brüllaffen“, „Malbotokuden“ – Die kunstkritische Blütenlese, die Herwarth Walden im Oktober 1913 zum Anlass des Ersten Deutschen Herbstsalons sammelt, vermag schön aufzuzeigen, dass die meisten und prägendsten Bilder und Bezeichnungen für den ‚neuen‘ Künstlertypus auf die „primitive“ Kunst und Kultur indigener Stammesgesellschaften referieren.5 Die Bezugsetzung, die im übrigen auch der oben genannte Kunstkritiker Robert Breuer einsetzt, funktioniert in den negativen Polemiken nach der rassendeterministischen Logik der konservativen Modernekritik eines Max Nordau. Dieser polemisierte in seiner populären Schrift Entartung (1892/93) gegen die kranke Gegenwartskunst und charakterisierte die Künstler als „Wilde“:
Sie lallen und stammeln statt zu sprechen. Sie stossen einsilbige Schreie aus, statt grammatikalisch und syntaktisch gegliederte Sätze zu bauen. Sie zeichnen und malen wie Kinder die mit unnützen Händen Tische und Wände beschmutzen. Sie machen Musik wie die gelben Menschen Ostasiens. Sie mischen alle Kunstgattungen durcheinander und führen sie zu den Urformen zurück, die sie hatten, ehe die Entwicklung sie differenziert hat.6
Bekanntlich teilt die moderne und avantgardistische Gegenseite diese Logik der Devianz nicht. Für deren Visionen des modernen „Künstler ausserhalb der Zeit“7 (Herwarth Walden) ist die Auseinandersetzung mit der aussereuropäischen „primitiven“ Kunst und Kultur jedoch zweifellos zentral. Viele Künstler/innen der 1910/1920er-Jahre lassen sich von indigener Kunst inspirieren und wollen zum „Wilden“ werden.8 Franz Marc bezeichnet die Expressionisten im Almanach des Blauen Reiters als „Wilde Deutschlands“. Mit seinen Mitstreitern ruft er darin gleichsam zu einer Transformation zum „Wilden“ auf. Von Paul Gauguin über den einsamen alten Paul Cézanne, der sich selbst um 1903 als „Primitiver“ einer neuen Kunst bezeichnet („le primitif d’un art nouveau“), zu August Strindberg, von dem überliefert ist, dass Gauguin in ihm den Drang ausgelöst hat, ebenfalls zum „Primitiven“ zu werden und eine neue Welt zu kreieren, zu den Futuristen, Expressionisten und Dadaisten – viele Künstler der Moderne sprechen über ein Ziel der „Verwilderung“. Eine wichtige Referenzfigur ist Ihnen dabei Arthur Rimbaud, der ein „primitives Vaterland“ („patrie primitive“) besang und dessen Ausspruch „je suis une bête, un nègre“ viele avantgardistische „Verwilderungen“ in Kunst und Literatur inspirierte. Joachim Schultz fasst in seinem Wörterbuch zum „Primitivismus“ folgendermassen zusammen: „Ein wildes Leben war für viele Schriftsteller und Künstler in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts eine Grundbedingung für eine neue Kreativität.“9 Diese „Grundbedingung“ eines „wilden Lebens“ fand bekanntlich unterschiedliche Auslegung und Umsetzung. Die Künstler orientierten sich an einem äußerst dehnbaren Begriff und Konzept „primitiven“ Lebens, Kultur und Kunst und bezogen sich nicht nur auf aussereuropäische Kunst und Kultur, sondern auch auf europäische Volkskunst, Kunst von Kindern und psychisch Kranken.10 Es ist unbestritten, dass sich der „Primitivismus“ nicht in einem einfachen interkulturellen Imitationsverhältnis erschöpft, wie es viele Bilder für den modernen Künstler suggerieren.
Rudolf Breuer fokussiert bei seiner beiläufig geäusserten Verknüpfung des bildkünstlerischen „Primitivismus“ mit der Literatur auf den europäischen Künstler und argumentiert inneravantardistisch. Er fasst die Entwicklung der Kunst nicht aus der interkulturellen Perspektive und stellt das Schema der Beeinflussung im „Primitivismus“ auf den Kopf, indem er die Malerei von der Literatur her betrachtet. Auch die vorliegende Studie nähert sich dem „Primitivismus“ über eine inneravantgardistische Perspektivierung: Sie fragt nach der Rezeption des bildkünstlerischen „Primitivismus“ in der expressionistischen Literatur der 1910er und 1920er-Jahre und nimmt diesen im Spiegel der Literatur in den Blick. Im Zentrum der Untersuchung stehen fiktive „primitivistische“ Künstlerfiguren.
Ursprünglich orientierte sich die Studie an konventionellen interkulturellen und intermedialen Fragestellungen. Ich fragte: Inwiefern entsteht die avantgardistische Kunst – im spezifischen Fall die expressionistische Literatur – aus der Anverwandlung und Aneignung der sogenannten „primitiven“ Kunst, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts so verehrt wurde? Welcher Art sind die Aneignungsstrategien der Künstler und wie manifestieren sich die interkulturellen Verhältnisse in der Literatur? Solche Fragen, die auf die interkulturelle Anverwandlung zielen, waren für die „Primitivismus“-Forschung lange massgebend. Auch für den Forschungszusammenhang, in welchem die Dissertation entstand, standen solche konventionellen Fragen nach der interkulturellen Interaktion im Vordergrund. Das interdisziplinäre Sinergia-Projekt Imitation – Assimilation – Transformation11 des Schweizerischen Nationalfonds, der Erforschung von „Epistemologien, Praktiken und Semantiken der Anverwandlung in Kunst und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts“ verschrieben, richtete die Aufmerksamkeit auf die Beschreibung der Formen und Funktionsweisen mehr oder weniger konkreter interkultureller Zusammenhänge. Doch von dieser Perspektive auf die Prozesse von Aneignung hat sich das folgende Projekt mehr und mehr gelöst. Ausgangspunkt für die Entwicklung des Rahmens der Studie war dabei das Basler Teilprojekt unter dem Titel „Poetik der Anverwandlung in der ethnographischen Situation“12 mit seinem dezidiert intermedialen und interdisziplinär formulierten Programm. Das Basler Projekt fokussierte die Problematik der Vermittlung der interkulturellen Konzepte und rückte die (intermediale) Reflexion der Prozesse der Anverwandlung ins Zentrum.
Die Forschungsarbeit umgeht mit den literarischen Künstlerfiguren die klassischen Fragen der kunsthistorischen „Primitivismus“-Forschung nach Art und Grad der jeweiligen künstlerischen Anverwandlung aussereuropäischer Kunst. Auch schlägt sie nicht die typischen Pfade der Forschung zum literarischen „Primitivismus“ ein. Es wird in der Studie nicht aufgezeigt, was parallel zum bildkünstlerischen „Primitivismus“ in der Literatur geschieht und dezidiert nicht nach der Aneignung fremder Kunst und „primitiven“ Denkens in der Literatur gefragt. Sie beschäftigt sich nicht mit dem spezifischen Referenzobjekt des literarischen „Primitivismus“13, insbesondere nicht mit dem „Übertragbarkeitsproblem“ des bildkünstlerischen Begriffs auf die Literatur, das noch jüngste Überblicksdarstellungen zum literarischen Primitivismus in Anspruch nahm.14 Untersucht wird hier ein spezifischer Ort intermedialer Auseinandersetzung in der Literatur: das literarische Sprechen über den „primitivierenden“ bildenden Künstler, die „primitivierende“ bildende Künstlerin.15 Die literarischen Künstlerfiguren interessieren als interkulturelle Reflexionsfiguren – als Manifestationen der Auseinandersetzung mit der meist als extrem imaginierten und inszenierten interkulturellen Anverwandlung im bildkünstlerischen „Primitivismus“.16
Mit der Einnahme dieses Blickwinkels wird in dieser Arbeit dafür plädiert, das Phänomen „Primitivismus“ in der modernen Kunst als erweiterte „Faszinationsgeschichte“ zu lesen. In dieser kommt dem europäischen „primitivistischen“ Künstler als potentem Interpreten und Bildgenerator gegenüber dem Faszinations-‚Objekt‘ des/der „Primitiven“ und der „primitiven Kunst“ nicht nur Subjektstatus zu. Der Künstler ist durch seine Aneignung, seine Verkörperung der „primitiven“ Phantasien seinerseits mehrfach als ‚Objekt‘ in die Geschichte des Paradigma des „Primitiven“ eingewoben.17 Claudia Öhlschläger skizziert eine solche breitere „Faszinationsgeschichte“ des „Primitivismus“ im bereits zitierten Sammelband Literarischer Primitivismus von 2013 – ausgehend von der Beobachtung, dass das „primitivistische“ Erweckungserlebnis Wilhelm Worringers im Pariser Trocadéro weder von der „primitiven“ Kunst noch vom Ort für die „primitive“ Kunst herrührte, sondern von dessen Begegnung mit Georg Simmel – also dem europäischen Interpreten des „Primitiven“.18
Die rezeptionshistorische, inneravantgardistische Anlage der vorliegenden Arbeit trägt dem „Primitivismus“ als eurozentrischem Phänomen Rechnung. Sie nimmt die selbstbezügliche Seite der Kunstströmung ernst. Allerdings reproduziert sie gleichzeitig die eurozentrische Perspektive und vernachlässigt zwangsläufig Fragen nach der gewaltsamen Aneignung fremder Kultur und nach den kolonialpolitischen Bedingungen und Konsequenzen des „Primitivismus“. Das Ziel der Arbeit ist jedoch über die inneravantgardistische Selbstbefragung dem interkulturellen „primitivistischen“ Diskurs näherzukommen. Die literarischen Künstlerfigurationen werden als konkrete Hintertür verstanden, um die konventionellen Fragen nach der Vorbildfunktion „primitiver“ Kunst und „primitiven“ Denkens für die moderne und avantgardistische europäische Kunst, die Fragen nach der Art der Aneignung sowie der interkulturellen Konstellation neu zu stellen.19 Es wird davon ausgegangen, dass die Autor:innen mit den literarischen Künstlerfiguren (Selbst-)Reflexion über die modernen interkulturellen Prozesse betreiben. Die Arbeit konzentriert sich also bewusst auf einen spezifischen Ausschnitt des „Primitivismus“-Diskurses und fragt explizit nicht nach „primitivistischen“ Texten. Gegenstand der Untersuchung sind Texte der expressionistischen Moderne,20 die das Phänomen „Primitivismus“ mit der Darstellung „primitivistischer“ Künstlerfiguren diskutieren und die, so die These, für die Fragen nach der Aneignung zwischen den Kulturen und Medien und schließlich für die Definition eines „literarischen Primitivismus“ besonders aufschlussreich sind.
Das Interesse an der Figur des „primitivierenden“ Künstlers entstand aus der Beobachtung, dass der „Primitivismus“ von allen Seiten als extremer Aneignungs- oder Assimilationsvorgang imaginiert wurde, sowie der Beobachtung, dass viele expressionistische Texte diesen Umstand reflektieren. In der expressionistischen literarischen Auseinandersetzung mit dem bildkünstlerischen „Primitivismus“ geht es auch um die Aneignung „primitiver“ Kunst – ein schönes Beispiel hierfür ist der Roman Bass-Bassina-Boulou (1922) des Belgiers Franz Hellens, der sich um einen afrikanischen Fetisch dreht21 – doch der Fokus der Expressionist:innen liegt klar auf dem „Verwildern“ des Künstlers. Gottfried Benn, Carl Sternheim oder Robert Müller, welche später ausführlich behandelt werden, aber auch Else Lasker-Schüler oder Albert Ehrenstein zeichnen extrem agierende Künstlerfiguren, die eine „primitivistische“ Anverwandlung betreiben, welche über die Kunst hinausgreift und Leben und Körper des Künstlers prägt. Damit reflektieren sie das neue Selbstverständnis des avantgardistischen Künstlers sowie die bürgerliche Kunstkritik mit ihren Bildern extremer Aneignung. Fragen drängen sich auf: Inwiefern positionieren sich die expressionistischen Autor:innen22 mit diesen Darstellungen „verwildeter“ bildender Künstler im „primitivistischen“ Diskurs? Welche Kunstkritik formulieren sie mit den literarischen Darstellungen des „Verwilderns“? Sind die Texte Primitivismuskritik und „primitivistische“ Praxis?
Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass dort, wo die Literatur sich explizit mit dem bildkünstlerischen „Primitivismus“ auseinandersetzt, die konstruktiven Beiträge der expressionistischen Autoren zum „primitivistischen“ Diskurs besonders gut fassen lassen müssen. Dies gilt insbesondere für die Künstlerfiguren, welche die Autoren meist wie angedeutet musterhaft extrem zeichnen. Die Künstler erscheinen als Kolonialisten, als Über-Exoten oder selbstzerstörerische Utopisten und scheitern meist grandios. Die These dieser Arbeit lautet, dass die Autoren mit diesen extremen, oft monströsen Künstlerfiguren nicht nur Kritik an den Anverwandlungsstrategien der Bildkunst sowie den Vorstellungen der exoterischen Kunstkritik formulieren, sondern produktive Gegenentwürfe schalten. In ihrer Bestform lassen die hier untersuchten, heuristisch als Künstlertexte apostrophierten Texte einen (selbst)kritischen „Primitivismus“23 erkennen. Dieser beleuchtet die intermedialen und -kulturellen Prozesse des „Verwilderns“ und trägt auch proto-postkoloniale Züge. Mit monströsen Künstlerfiguren wird die Unmöglichkeit des „Verwilderns“ oder „Going native“ (wie das primitivistische Ideal später begrifflich gefasst wird) des europäischen Künstlers demonstriert und ein „Going native“ ‚trotz allem‘ inszeniert. Diese These zur expressionistischen Künstlerfigur zwischen negativer und konstruktiver Kritik formuliere ich in Anlehnung an Erhard Schüttpelz. Schüttpelz orientiert sich zur Charakterisierung des literarischen Primitivismus an der Geschichte der modernen Ethnologie und Anthropologie. Er beschreibt die eng mit dem künstlerischen Primitivismus verschränkte moderne Geschichte der Disziplinen, in der Konstitution und Kritik des Primitivismus untrennbar miteinander verbunden sind und hält diesselbe Bewegung zwischen Konstitution und Kritik auch für die Literatur fest.24
Im Fokus der Studie stehen literarische Texte der ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, welche die Anfangsphase der intensiven künstlerischen und theoretischen Auseinandersetzung dokumentieren, bevor das „Primitive“ und mit ihm der Primitivist endgültig seinen Platz im künstlerischen und populärkulturellen Inventar der 1920er/30er Jahre findet.25 Für die Literatur dieser Jahrzehnte kann zwar im Vergleich zur den Primitivismus begrifflich prägenden Bildkunst keine „ähnlich prägnante Serie von literarischen Praktiken, literaturkritischen Kontroversen und ästhetischen Verallgemeinerungen“26 vorausgesetzt werden, wie Erhard Schüttpelz festhält. Jedoch gibt es zweifellos eine literarische primitivistische Praxis und theoretische Auseinandersetzung. Die expressionistische Literatur partizipiert auf vielfältige Weise am primitivistischen Diskurs, in dessen Mittelpunkt nach der Jahrhundertwende der bildende Künstler steht. Wie Robert Goldwater es früh zusammengefasst hat, waren es die bildenden Künstler, die um die Jahrhundertwende den Diskurs um die „primitive“ Kunst und Kultur von der Anthropologie und Rassenpsychologie ‚übernehmen‘ und dem Begriff des Primitivismus den Stempel aufdrücken:
It has been said […] that in 1905 Picasso and his friends „took over“ […]. From that date on, for several decades, the primitive arts were perforce viewed through the eyes of artists, with all the subjectivity, mistaken emphasis, and romantic speculation that this implied.27
Für den deutschen Rahmen dieses in der Tat von Subjektivität, grosser Emphase und romantischen Vorstellungen geprägten künstlerischen Diskurses, der an die bildkünstlerischen Hauptakteure der Künstlervereinigungen der Brücke und des Blauen Reiters, sowie des Kontexts von Sturm und Aktion gebunden ist, gilt dasselbe wie für den französischen ,Mutterdiskurs’: er findet zeitgleich in Literatur und bildender Kunst statt.28 Die Einflussnahme ist nicht einseitig von der Bildenden Kunst auf die Literatur zu denken, was auch der zeitgenössischen Kunstkritik auffiel, wie das Beispiel Robert Breuer zeigt. Für die Dynamik im Feld primitivistischer Kunst und Literatur kann allgemein festgehalten werden: Die Literatur ist ein nicht immer (und oftmals bewusst nicht) eindeutig einzuordnender Mitspieler im intermedialen und interdisziplinären primitivistischen Diskurs. Was den französischen Primitivismus-Diskurs auszeichnete, nämlich, dass er in den symbolistisch-exotistischen Anfängen gerade durch den Einsatz der Literaten und (literarischen) Kunstkritiker in der Presse seine Gestalt annahm,29 hat auch für den späteren Diskurs in Deutschland Gültigkeit. Literatur, bildende Kunst, Kunstkritik und -theorie sind multidimensional verflochten und insbesondere die sehr diverse publizistische Kunstkritik entscheidet über den Verlauf des primitivistischen Diskurses.
Auf die damaligen kunstkritischen Stimmen zur Gegenwartskunst sowie die Analysen im wissenschaftlichen Bereich nehmen die Literaten der expressionistischen Moderne in ihrem Sprechen über den primitivistischen Künstler mehr oder weniger explizit Bezug. Carl Sternheim setzt sich in seinem als primitivistisches Doppelporträt lesbaren Text Gauguin und van Gogh (1924) beispielsweise mit Julius Meier-Graefes populären Schriften auseinander oder mit Friedrich Markus Huebners Essay Die Belebung des Nichts aus der Tribüne der Zeit (1922).30 Hugo Ball, der das expressionistische Jahrzehnt mit seiner Kritik am Expressionismus stark mitprägt, rezipiert Wilhelm Worringers primitivistisches Angst-Theorem31 und Albert Ehrensteins Satire auf den Primitivismus, Arahar (1912/1926)32, karikiert den primitivistischen Künstler nicht nur in seiner Abhängigkeit vom Kunstmarkt, sondern auch von (pseudo)wissenschaftlicher Theoriebildung und Künstlermythologie. Besonders weit geht die Auseinandersetzung mit der primitivistischen Theorie jedoch bei Carl Einstein, der mit seinen Schriften eine programmatische Vermischung von Kunsttheorie und Literatur angeht.33 Seine 1915 erschienene Negerplastik ist für die avantgardistische Theoretisierung des Primitivismus tonangebend. Der Text wird hier als einflussreiche Folie für die literarischen Konzeptionen gelesen und auf seine direkte Auseinandersetzung mit dem primitivistischen Künstler hin geprüft.
Vorliegende Studie gibt immer wieder Hinweise auf diese Ebene der kunsttheoretischen Auseinandersetzung. Sie deutet die grundsätzlichen Verschiebungen im kunsthistorischen und -kritischen Diskurs der Zeit an und macht auf den Wandel in der Wissenschaftssprache sowie den kolonialgeschichtlichen Zusammenhang aufmerksam. Die diskursgeschichtliche Anbindung kann jedoch lediglich panoramatisch vollzogen werden. Eine systematische Einordnung der Theorien des primitivistischen Künstlers kann die Arbeit nicht leisten. Eine umfassende sozial- und diskurshistorisch fundierte Figurenstudie zum primitivistischen Künstler des Expressionismus müsste die ganze Palette der (Selbst-)Thematisierungen und Theorie des modernen Künstlers miteinbeziehen, um die Interferenzen von Kunstkritik und -theorie und Literatur abzubilden. Berühmte Beispiele programmatischer Selbstdarstellung und Analyse in Bild und Text – allen voran Wassily Kandinskys Schrift Über das Geistige in der Kunst von 1911 und die theoretischen Texte des Almanachs Der Blaue Reiter (1912)34 – müssten den Fremdbeschreibungen in Kunstkritik und Wissenschaft gegenübergestellt werden, um die literarischen Darstellungen in ihrer facettenreichen diskursiven (insbesondere intermedialen und personellen) Verknüpfung ergründen zu können. Ferner gälte es, den kunstethnologischen Rahmen rund um die „ästhetische Verwertung“ und „theoretische Nobilitierung“35 der Stammeskünste miteinzubeziehen, welcher das neue (Selbst-)Verständnis des europäischen Künstlers bestimmt. Die Brücken zum anthropologischen und rassentheoretischen, aber auch dem sozialpolitischen Diskurs der Zeit müssten hergestellt werden, die Bilder und Definitionen für das/den „Primitive(n)“, den „primitiven“ Künstler und den primitivistischen Künstler ständig abgeglichen. Wenn man bedenkt, dass alle avantgardistischen Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Anteil am primitivistischen Diskurs hatten, vom Futurismus, der bekanntlich nicht bloss auf den Maschinenkult zu reduzieren ist, dem Kubismus und Expressionismus bis hin zu Dadaismus und Surrealismus – Carl Einstein redet in seiner Rückschau auf die Entwicklung der Avantgarden in Fabrikation der Fiktionen um 1933/1934 von einer generellen Flucht der Avantgarden „aus der Gegenwart in artistische Primitive“36 – so wird nochmals deutlicher, wie groß eine solche von der Forschung bisher nicht geleistete Arbeit projektiert werden müsste.
Die Studie geht dementsprechend einseitig und punktuell vor. Der Diskurs über den Primitivisten wird anhand exemplarischer Lektüren rekonstruiert. Es wird keine Typologie angestrebt, sondern die Typologisierung einzelner Autoren untersucht und dabei der Fokus auf die binnentextuelle Argumentation gelegt. Dieses Vorgehen ist insofern gerechtfertigt, als sich die intertextuelle Auseinandersetzung der ausgewählten Texte grösstenteils als oberflächlich erweist. Insbesondere gegenüber dem wissenschaftlichen Diskurs lassen die Literaten eine wenig genaue Rezeptionshaltung erkennen. Die Auseinandersetzung mit kunsttheoretischen und -kritischen Texten dient meist dazu, sich radikal über diese hinwegzusetzen. Ihr Beitrag zum Diskurs liegt salopp gesagt ausserhalb des Fahrwassers der Theorien zur Gegenwartskunst und gründet unbedingt, so will die Arbeit vermitteln, in der Analyse des Künstlers und dessen „Going native“. Für den primitivistischen Diskurs allgemein trifft bekanntlich zu, dass er sich von den Tendenzen der Verwissenschaftlichung der Kunst in Naturalismus und Impressionismus distanziert;37 und diese Abwendung wird von den Literaten der expressionistischen Moderne in der Regel kompromisslos weitergeführt.38 Die Untersuchung der Künstlerfiguren kann gut aufzeigen, in welche Richtung die literarische Beschäftigung mit dem „primitiven“ „Ding an sich“ ausserhalb der „Hochmut des Wissens“39 (so Wilhelm Worringer 1908 in Abstraktion und Einfühlung) zielt. Theoriefern gibt sich die Literatur dabei aber auf keinen Fall. Sie lässt sich tendenziell ebenfalls von einem „Fanatismus der Theorien verwilder[n]“, wie Walther Heymann in einem frühen Sturm-Artikel in Bezug auf die expressionistische Bildkunst schreibt.40
Die Arbeit fokussiert den explizitesten und am einfachsten zu fassenden Typus des primitivistischen bildenden Künstlers in der Literatur: den exotischen Primitivisten, Künstlerfiguren, die sich mit indigener Stammeskunst auseinandersetzen. Wie schon erwähnt, lässt sich der Primitivismus nicht auf die Auseinandersetzung mit indigener Stammeskunst aus Übersee beschränken und ist eigentlich treffender mit dem Begriff der „mode archaïsante“41 charakterisiert. Doch hier interessiert gerade die Darstellung des Künstlers in der interkulturellen Extremsituation. Wie fassen die Autoren die Auseinandersetzung der Künstler mit der „primitiven“ Stammeskunst und -kultur? Wie gestalten sie ihre „crise nègre“,42 wie Jean Cocteau die exotische Form des Primitivismus im frühen Rückblick nennt? Welches Potential schreiben sie der extremen Exotik zu, die für viele Intellektuelle und Künstler vor und während des Krieges mehr als Mode war, sondern Mittel radikaler Entwürfe „alternativer modernistischer Ästhetik“?43 Und vor allem: Wie wird das Ideal einer grenzüberschreitenden Annäherung an die fremde(n) Kultur(en) beschrieben? Wie nehmen die Autoren die „Verwilderung“ in den Blick, das von prominenten Künstlern propagierte „Going native“? Was bedeutet es, wenn Einstein und Andere schon früh den Primitivismus als oberflächliche Mode kritisieren? Welche interkulturellen Konzepte schreiben Erzähler und Theoretiker den Künstlern zu und wie positionieren sie sich gegenüber diesen Konzepten? Ein Diskussionspunkt ist für die Beantwortung obiger Fragekomplexe entscheidend: Unterscheiden die Texte zwischen Exotismus und Primitivismus und wenn ja, welchen Primitivismus beanspruchen sie für sich selbst? Die Autoren sind in ihrer Reflexion glücklicherweise ausführlicher als Cocteau, der 1922 auf seine Meinung zur afrikanischen Stammeskunst hin befragt, salopp antwortet: „La crise nègre est devenue aussi ennuyeuse que le japonisme mallarméen.“44
„Wenn wir Kandinsky oder Picasso sagten, meinten wir nicht Maler, sondern Priester, nicht Handwerker, sondern Schöpfer neuer Welten, neuer Paradiese.“
Hugo Ball, Flucht aus der Zeit, 19231
Erstaunlicherweise gibt es in den 1910er und 1920er-Jahren wenige expressionistische Texte, in denen der exotische Typus des „primitivierenden“ Künstlers eine tragende Rolle spielt. Bildende Künstler bevölkern zahlreiche epische, lyrische und dramatische Texte der Zeit. Viele dieser literarischen Künstlerfiguren haben teil an einem primitivistischen Diskurs im weiteren Sinne. In ihnen finden die verschiedenen Spielarten des Exotismus2 und des „primitiven“ Denkens in Kunst und Kultur der Jahrhundertwende Nachhall, welche eng mit der Entstehung des späteren Primitivismus verzahnt sind. Wolfdietrich Rasch oder J. C. Middleton haben bereits in den 1960/70er-Jahren für diese Folie des literarischen Primitivismus sensibilisiert. Motive der Regression, in denen die „Sehnsucht und Rückschau auf ursprüngliche, archaische Zustände“3 Gestalt annimmt, bezeichnet Middleton in Literatur um 1900 als omnipräsent.4 Rasch redet von der „Kategorie der Abweichung“5 als Charakteristikum der Literatur der Jahrhundertwende und Folie für den späteren Primitivismus. Die literarischen Künstlerdarstellungen des expressionistischen Jahrzehnts sind jedenfalls unwiderlegbar beeinflusst von den exotischen und mystischen6 regressiven Visionen der Jahrhundertwende, ihren Bildern für kulturelle und psychische Urgründe und exotischer Gegenwelten. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass in den 1910er und 1920er-Jahren massgebende Stimmen der Jahrhundertwende den Diskurs weiter aktiv mitbestimmen.7 Thomas Mann oder Hugo von Hofmannsthal schaffen zeitgleich zur Generation der um 1890 geborenen Expressionist:innen wichtige Künstlergestalten und leisten Beiträge zur Auseinandersetzung mit der neuesten Gegenwartskunst.8 Pluralität und Simultanität bestimmen das expressionistische Jahrzehnt nicht nur auf stilistisch-programmatischer Ebene.9
Grossen Einfluss auf die expressionistischen literarischen Künstlerdarstellungen haben die künstlerischen Erneuerungsbewegungen um Sezession und Lebensreform. Sie generieren Bilder und Konzepte moderner Künstlerschaft, wobei diejenigen, die um den Typus des prometheischen unverfälschten Künstlers kreisen, der Kunst und Natur in seiner Lebenspraxis versöhnt, besonders nachhaltig wirken. Gerhard Hauptmann, Richard Dehmel oder Rainer Maria Rilke prägen diesen Kontext um Lebensreform und die ersten Künstlerkolonien literarisch:10 Rilkes Worpswede (1903)11, im Untertitel auch „Monographie einer Landschaft und ihrer Maler“ genannt, ist sicherlich das prominenteste Beispiel. Auf die romantischen, an Nietzsche geschulten Visionen einer Vereinigung von Leben und Kunst antwortet beispielsweise auch Eduard von Keyserling mit Wellen (1911). Es ist ein Künstlertext, der die Möglichkeiten und Grenzen der künstlerischen und sozialen Befreiung durchspielt und in seiner Offenheit und Reflexionskraft eine Nähe zu expressionistischen Texten offenbart, denen er jedoch schwerlich zugeordnet werden kann.12 Grundsätzlich gilt, dass im expressionistischen Jahrzehnt die Visionen der Erneuerungsbewegungen weiterverfolgt, entwickelt und kritisiert werden. Die Künstler der Vereinigungen der Brücke und des Blauen Reiters formulieren und praktizieren lebensreformerische Ansätze und spiegeln Elemente davon in ihrer Malerei, und die Literatur partizipiert ihrerseits am Diskurs. Die Keimzelle des expressionistischen Sturm-Kreises ist bekanntlich Herwarth Waldens 1904 gegründeter Verein für Neue Kunst, der aus dem Dunstkreis der lebensreformerischen Neuen Gemeinschaft der Gebrüder Hart am Schlachtensee hervorging.13 Autoren wie Hermann Hesse sind lebensreformerischen Zusammenhängen eng verbunden und schaffen Künstlerfiguren, die einem romantischen Ideal verpflichtet bleiben.14 Es bleibt festzuhalten, dass von diesem Diskurs um Erneuerung und Regression auch die konservative Moderne wie die sogenannte Heimatkunstbewegung zehrt.15
In besonderer Weise spiegelt die expressionistische Generation die exotischen und kolonialen Kontexte der Reformbewegung.16 Die fiktiven Künstler- und Dichterfiguren des Jahrzehnts zeugen davon: und zwar nicht nur die exotischen Künstlerfiguren der später verhandelten Autoren oder prominent die Geschöpfe Else-Lasker-Schülers17, sondern beispielsweise auch die Künstlerfiguren eines Robert Walser18. Die radikalen und oft über-sakralisierten Figuren der expressionistischen Generation lassen sich nicht nur als Antworten auf die Apotheose des Künstlers bei Nietzsche lesen, sondern auch auf die „impressionistische Exotik“19 eines Max Dauthendey oder Bernhard Kellermann.20 Lasker-Schüler und Walser inszenieren beide – auf sehr unterschiedliche Weise – die Unschuld, Exotik und Monströsität eines kompromisslosen Begriffs von Künstlerschaft. Sie nehmen das Künstlertum als genuin abweichende Kategorie in den Blick und agieren als Theoretiker des „Lebenskunst“-Begriffs, respektive von „Verwilderung“.21 Ihre Künstlerfiguren bewegen sich auf radikale Weise ausserhalb der Gesellschaft (Walser) und in einer überexotischen Welt der Imagination (Lasker-Schüler). Mit dem exotischen lebensreformerischen Kontext und der exotistischen Literatur der Jahrhundertwende hat diese Form von Exotismus wenig mehr gemeinsam. Richard Hamann und Jost Hermand halten fest, dass von „[…] farbigen Valeurs, pikanten Erotismen und psychologischen Raffinessen“ der exotistischen Literatur in den Werken der Expressionisten wenig übrigbleibe.22 Aber auch von der vor Ort entstandenen zeitgenössischen expressionistischen Malerei eines Emil Nolde oder Max Pechstein, deren Primitivismus noch deutlich exotistisch-romantische Züge trägt, unterscheidet sich die Exotik Lasker-Schülers oder Walsers deutlich.23
Else Lasker-Schüler schafft eigenständige transkulturelle Welten jenseits exotistischer Konvention. Die meist idyllischen exotistischen und kolonialliterarischen Gegenwelten der Jahrhundertwende, welche gemäss Wolfgang Struck auf „Heilung des Moderne-Schocks in einer verdoppelten Provinz“24 angelegt sind, bürstet Lasker-Schüler mit ihren synkretistischen Künstler- und (Selbst-)Darstellungen gegen den Strich. Sie setzt den romantischen Gegenwelten eine alternative Utopie entgegen, einen Kunstraum, den sie über eine radikale Entrückung und gleichzeitige Vergegenwärtigung des Exotismus realisiert. Die Vergegenwärtigung handhabt sie mittels autobiographischer Strategien, durch den Einbezug des städtischen Kontexts und durch die Bezugnahme auf einzelne historische Künstler – etwa auf den „Oberwildling“ Oskar Kokoschka und prominent Franz Marc, der in ihrer transkulturellen Exotik die Funktion eines Hohepriesters einnimmt. Marc, der bekanntlich kein exotisches „Verwildern“ vor Ort lebte, geht in Lasker-Schülers Kunstraum gewissermassen ein solches „Going native“ ein, beziehungsweise ist Teil einer multidimensionalen „Verwilderung“ vor Ort.25 Diese hat eine stereotype, klar exotistische Seite, ist jedoch voller Brüche und Widersprüche. Es ist ein Exotismus von zweifellos monströser Qualität, ein avantgardistischer Primitivismus, wie in Joachim Schultz beschreibt: „Es geht hier nicht um Idylle und Harmonie, sondern um frenetische, gigantische Wildheit, die einer allzu harmonischen Kultur geradezu entgegengesetzt ist.“26
Es gibt wie gesagt wenige expressionistische Texte, in denen der exotische Typus des „primitivierenden“ Künstlers eine tragende Rolle spielt. Und noch seltener trifft man auf einen extensiv gestalteten exotischen Rahmen für das „Going native“ von Künstlerfiguren, neben Else Lasker-Schüler einzig bei Robert Müller. In seinem Tropen-Roman kollidieren auf einer überexotisch-imperialen Dschungelbühne bildkünstlerisch ambitionierte Protagonisten mit ideell gegenwärtigen (historischen) Künstlerfiguren und einer indigenen Künstlerfigur. Abgesehen von Müller und Lasker-Schüler verknüpfen die Literaten des expressionistischen Jahrzehnts den primitivistischen Künstler demnach historisch korrekt mit dem europäischen und städtischen Kontext. Sie interessieren sich nicht für die reisenden Expressionisten, die sich temporär vor Ort aufhielten (Nolde, Pechstein, Klee, Matisse und Andere).27 Inwiefern für sie der „primitivierende“ Künstler vor Ort aber trotzdem aktuell bleibt, kann in dieser Studie nachgewiesen werden. Sternheim, Benn, Einstein und Müller referieren allesamt auf ein Ideal des „Primitivierens“ vor Ort – und gestalten dieses Ideal interessanterweise durchweg im Bezug auf den Übervater des Primitivismus, auf Paul Gauguin. Sternheims „primitivistischer“ Künstler Posinsky geriert sich in der Erzählung Ulrike (1917) als Gauguins Nachfolger, Müllers Protagonisten im Tropen-Roman (1915) sehen in Gauguin und Paul Altenberg, der im Städtischen eine eigene Form von „Going native“ auslebte, ihre Vorbilder. Und sowohl Einstein als auch Benn setzen sich mit einem primitivistischen Ideal auseinander, das in Bezug auf Paul Gauguin Konturen annimmt.28 Gauguin beschäftigt die Autoren mehr als die Künstler der Gegenwart, mit Ausnahme Kokoschkas29 oder Picassos30. Diese historische Bezugnahme der Autoren respektive ihrer fiktiven Künstlerfiguren ist zweifellos bemerkenswert. Die Studie analysiert diese Referenz auf Gauguin ausführlich und argumentiert, dass Gauguin ein wichtiger Angelpunkt für die primitivistische Praxis der Expressionisten darstellt. Mit Hilfe Gauguins – sowie seines in Belangen der „primitiven“ Lebenskunst ebenso radikalen Zwillingsbruders van Gogh31 – arbeiten die Autoren die Grundfragen einer primitivistischen und interkulturellen Moderne ab und positionieren ihre Kritik an den diversen primitivistischen Tendenzen in der Gegenwartskunst. Sie verfolgen sozusagen den Primitivismus zu seinen Wurzeln zurück und analysieren das grosse Vorbild der Bildenden Künstler in Sachen Primitivismus. Dass Gauguin eine große Relevanz für das Schaffen vieler bildender Künstler besass, steht fest. Gauguin beeinflusste die „bedeutendsten Strömungen des 20. Jahrhunderts“32, im Besonderen den jungen Picasso, die Fauves und die Deutschen Expressionisten. Moritzburg und seine Seen, wo sich die Künstler der Brücke im Sommer aufhielten, wird im Hinblick auf diese Prägung auch als deren „tahitianisches Ersatzparadies“ bezeichnet.33 Stellvertretend hier zwei Bildbeispiele: ein Akt von Ernst Ludwig Kirchner, der offensichtlich Bezug nimmt auf Gauguins berühmtes Gemälde Mana’o tupapa’u (s. Kap. 1.1.2) und eine „freie[n] Hommage[n]“34 an Gauguin von Franz Marc.
Ernst Ludwig Kirchner: Liegender Akt vor Spiegel (1909/10)
Franz Marc: Holzträger (1911)
Während die Bezugnahmen auf Gauguin im bildkünstlerischen Bereich gut erforscht sind, sind die komplexen Verweise der Literaten im Spannungsfeld von Kritik an der Gegenwartskunst und eigenem primitivistischen Entwurf bisher ein Forschungsdesiderat geblieben.
Die Entdeckung der expressionistischen Referenzen hat die Gestalt der vorliegenden Studie kräftig beeinflusst. Sie hatte zur Folge, dass die expressionistischen Prosatexte Carl Sternheims und Robert Müllers mit den Verweisen auf Gauguin (Kap. 3) ins Zentrum des Lektüreteils rückten und dass beispielsweise Else Lasker-Schülers Texte aufgrund des fehlenden Bezugs zu Gauguin nicht in das Korpus aufgenommen wurden. Um trotz dieses Fokus‘ die Breite des primitivistischen Diskurses um die Künstlerfiguren nicht aus dem Blick zu verlieren, wurde mit Gottfried Benns Vermessungsdirigent eine doppelte Ausnahme in die Auswahl eingegliedert. Der Vermessungsdirigent (1919) ist der einzige dramatische Text der Untersuchung und erweist nicht Gauguin, sondern Picasso die Referenz. Der Einbezug Benns ergibt jedoch unbedingt Sinn: Carl Sternheim, Carl Einstein und Gottfried Benn kannten sich und standen während der Kriegsjahre, in denen ihre Künstlertexte entstanden, in einem folgenreichen Austausch. Mit Hilfe des Textes von Benn kann der Kontext der gemeinsamen Kriegsjahre in Brüssel geklärt und der Horizont der Künstlertexte aufgezeigt werden. Benns „Picasso“ ist eine monströse Künstlerfigur, oder ein Faun nach der Terminologie Hugo Balls von um 1916:
In Picasso, dem Faun, und in Kandinsky, dem Mönch, hat unsere Zeit ihre stärksten künstlerischen Nenner gefunden. […] Bei Picasso die Finsternis, das Grauen und die Qual der Zeit, ihre Askese, ihre infernalische Fratze, ihr tiefes Leiden, ihr Stöhnen und Grollen, ihre Hölle und namenlose Trauer, ihr Leichengesicht und den schwarzen Schmerz. Bei Kandinsky ihr Jubel, ihr Festtaumel, ihr Himmelssturm, ihre Erzengelfuge, ihre bunten Donquichoterien, ihre blauroten Marseillaisen, ihr Untergang gesegnet, ihr Aufschwung ein Cherubinenflug von gelb-blauen Fanfaren ins Unendliche gerufen.35
Wie wir sehen werden, ist in Benns Darstellung des „primitivistischen“ Künstlers „Picasso“ aber auch das Mönchische integriert, welches Ball Kandinsky zuschreibt. Das Kurzdrama eignet sich dementsprechend gut dazu, den Spielraum der Transzendierung des Monströsen im Expressionismus darzulegen.36
Paul Gauguin war nicht nur für die Auswahl der zentralen Primärtexte ausschlaggebend. Die Auseinandersetzung mit Gauguin entwickelte sich zum Leitfaden, der die gesamte Arbeit strukturiert. Das erste Kapitel ist ausführlich seinem „Going native“ gewidmet – diesem „Ursprung primitivistischer Präsenz“37 in der Kunst der Moderne, wie Hans-Jürgen Heinrichs Gauguins „Verwilderung“ einordnete. Hier wird der Begriff des „Going native“ eingeführt und die Entstehung des Mythos Gauguin beziehungsweise des Mythos des „primitivierenden“ Künstlers rekapituliert. Anhand einer kursorischen Abhandlung kunsthistorischer Forschung zu Gauguin werden sowohl die sozialgeschichtlichen sowie institutionellen Grundlagen für das im 19. Jahrhundert entstehende Bild des „wilden“ Künstlers referiert, als auch die medialen Bedingungen des „Going native“ des Primitivisten. Wichtig ist hierbei: Die populären Bilder und Vorstellungen zum „Going native“ Gauguins, die dann später in den expressionistischen Darstellungen der Künstler widerhallen, entstehen zur Blütezeit des Kolonialismus. Für Gauguins Kolonialkritik bedeutet dies, dass die Kritik, die er äußert, nur innerhalb des Systems möglich ist, das kritisiert wird. Sein Kunst- und Lebenskonzept, das er mit seinem „Going native“ vorlebt, ist eine unmögliche und paradoxale Utopie. Ein ernsthaftes Bestreben nach interkulturellem Austausch und Anverwandlung ist innerhalb der kulturellen Hierarchien nicht möglich, zudem ist das „Going native“ den verfälschenden Mechanismen von Selbstinszenierung und medialer Stilisierung preisgegeben. Im zweiten Teil des ersten Kapitels wird aufgezeigt, inwiefern Gauguin diese Bedingungen reflektiert hat. In seinem literarischen Reisebericht und Manifest Noa Noa inszeniert er ein multidimensionales „Going native“, das die idealen primitivistischen Verkörperungsphantasien bedient, aber immer wieder mit ihnen bricht. Gauguin übermittelt ein „Going native“ ‚trotz allem‘, und genau darin, so die zentrale These des zweiten und dritten Kapitels, ist er für die avantgardistische Kunstkritik und expressionistische Kunstgeschichte eines Carl Einstein wie auch die expressionistischen Literaten ein Vorbild.
Das zweite Kapitel zeichnet die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ in der Rezeption Gauguins und dem kunsttheoretischen Diskurs zur primitivistischen Gegenwartskunst seit der Jahrhundertwende nach. Dies geschieht mit Hilfe dreier kunsttheoretischer Texte: Julius Meier-Graefes Entwicklungsgeschichteder modernen Kunst (1904), Victor Segalens Exotismuskritik Essai sur l’exotisme (1904/1919, EP 1955), respektive dessen Gauguin gewidmetem literarisch-theoretischen Text Gauguin dans son dernier décor (1904) und Carl Einsteins Negerplastik (1915). Zu Beginn des Kapitels wird mit dem Exkurs zu Julius Meier-Graefe Gauguins deutsche Rezeptionsgeschichte zusammengefasst. Meier-Graefe steht für eine progressive bürgerlich-liberale Kunstkritik und Kunstförderung, die sich vornehmlich dem Impressionismus verschrieben hat. Die Väter des Primitivismus (Gauguin und van Gogh) bezieht Meier-Graefe in seine Bemühungen mit ein, dem zeitgenössischen Primitivismus jedoch begegnet er mit offenem Unverständnis. Für die populäre Rezeption des Primitivismus ist diese Haltung ausschlaggebend. Im expressionistischen Jahrzehnt entsteht eine alternative progressive Kunstkritik und kunsttheoretische Auseinandersetzung mit der primitivistischen Gegenwartskunst, die im Falle Einsteins weit über die bürgerliche Kunstkritik hinausgeht. Dieser alternativen Kunstkritik nähert sich die Arbeit über Victor Segalen. Mit Segalen stellt die Arbeit eine Öffnung zum französischen Diskurs hin sicher und unterstreicht die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ im Bereich von Exotismus und Primitivismus. Der postsymbolistische Autor und Theoretiker Segalen ist ein Vordenker eines neuen Exotismus: einer interkulturellen Kunsttheorie und alternativen „primitivistischen“ Kunstkritik, wie sie Carl Einsteins Negerplastik auszeichnet. Segalen und der anarchistische expressionistische Literat und Kunsthistoriker Einstein, so die Argumentation des Kapitels, betreiben beide eine interkulturelle Kunstkritik, die in einem „Going native“ ‚trotz allem‘ gründet und von der Verbindung von Literatur und Theorie lebt.
Das dritte Kapitel ist den literarischen primitivistischen Künstlerfiguren des expressionistischen Jahrzehnts gewidmet. Der Fokus liegt auf den Darstellungen des „Going native“ der Künstlerfiguren und der Frage nach der primitivistischen Kunstkritik der Texte im Anschluss an die alternative Kunstkritik eines Einstein oder Segalen. Mit Gottfried Benn sowie dem Brüsseler Kontext wird der Auftakt gemacht, darauf folgt eine detaillierte Analyse der Sternheimschen Künstlerfiguren. Im dritten Teil des Kapitels wird das komplexe Netzwerk von Künstlerfiguren in Robert Müllers Tropen-Roman abgehandelt. In der „Primitivismus“-Forschung sind die hier besprochenen Autoren Sternheim, Benn, Einstein und Müller keine Unbekannten, im Gegenteil. Aus kunsttheoretischer sowie interkultureller Perspektive sind deren Werke jedoch wenig bis gar nicht erforscht. Die Re-Lektüre der bekannten Texte – Einsteins Negerplastik, Sternheims Ulrike und Gauguin und van Gogh sowie Robert Müllers Tropen – kann den Diskurs über den literarischen Primitivismus daher besonders gut weiterbringen.
Paul Gauguin verbringt die letzten 10 Jahre seines Lebens auf Tahiti und den Marquesas-Inseln (erster Aufenthalt 1891–1893; darauf 1895 bis zu seinem Tod 1903).1 Er schafft in diesen Jahren die Werke, die längst „Markenzeichen der Populärkultur“2 geworden sind und die in ihrer dekorativen Exotik heute eine Ausstrahlungskraft haben, die derjenigen orientalistisch-exotistischer Kunst des 19. Jahrhunderts nicht unähnlich ist. Dies entspricht jedoch keineswegs der historischen Wirkung seiner Kunst. Dekorativ exotisch wirkten Gauguins Bilder auf das nach Exotismus dürstende bürgerliche Kunstpublikum nur bedingt.3 Das Publikum goutierte seine mit Material, Raum, Farbe und Symbolik experimentierende Kunst nicht.4 Höchstens als Kuriosität habe es Gauguin und seine Kunst wahrgenommen, so berichtet Julius Meier-Graefe in der Entwicklelungsgeschichte der modernen Kunst [sic], die im Jahr nach dem Tod des Künstlers erschien:
Der Erfolg war Null. Das Publikum und zumal die Kundschaft Durant-Ruels fand die Bilder allerdings höchstens kurios, kurios wie ihren Autor, der in seiner auffallenden Tracht, der blau und gelb gestickten Weste, den schweren Ringen an den Fingern und dem eigenhändig geschnitzten feierlichen Stock, dazu mit seinem Hidalgostolz in dem groben Gesicht, überallhin nur nicht auf den Boulevard gehörte.5
Gauguins Technik, Stil und Motive werden vor allen Dingen als Provokation wahrgenommen, als klare Kampfansage an die Salonkunst und die etablierte impressionistische Avantgarde. Mit seinen Gemälden, Zeichnungen, Holzskulpturen, Holzschnitten und Keramiken, für die nach seinem Tod – mithilfe der Kolportage seiner Legende – die Nachfrage schnell steigen wird, reüssiert Gauguin zu Lebzeiten nicht über gewisse Avantgardekreise hinaus. Seine Bildersendungen nach Paris sind wenig einträglich; es gelingt ihm nicht, an seinen mäßigen Erfolg mit den Bretagne-Bildern anzuknüpfen. Während Gauguins temporärer Rückkehr 1893 bis 1895 ist das Interesse der Künstlergemeinschaft an seinen Werken und Erzählungen zwar groß (vor allem bei jungen Anhängern und symbolistischen Dichterkreisen), die Verkaufsausstellungen sind jedoch wenig erfolgreich.6 Doch die Legende Gauguins nimmt Gestalt an – die mit den Gesten der Rebellion gepaarte Exotik wirkt um die Jahrhundertwende nicht nur auf Avantgardekreise verlockend. Beatrice von Bismarck fasst zusammen:
Von einem zunächst vehement angegriffenen, über längere Perioden unbeachteten Künstler entwickelte sich das Bild Gauguins zu dem einer anerkannten Figur der Kunst um die Jahrhundertwende, eines Lehrer einer ganzen Künstlergeneration, eines genialen Menschen.7
Dass Gauguins Traum eines Lebens und Schaffens ohne Nöte in finanziellem und gesundheitlichem Ruin endet, vervollständigt das Bild des Revolutionärs der modernen Kunst. Sein Leben und Sterben in der Südsee wird der Legende vom modernen Künstler, der abseits der Gesellschaft für die Kunst alles auf Spiel setzt und daran zugrunde geht, mehr als gerecht.8 Sein radikal umgesetzter, einerseits geglückter, andererseits kläglich gescheiterter Südseetraum wird das Bild avantgardistischen Künstlers in der Folge massgeblich prägen. Vor allem für die Künstler, die später unter dem Kennzeichen des Primitivismus gefasst werden, wird Gauguins primitivistische Legende Vorbild- und Vergleichsfunktion haben. Gauguins „Going native“ wird zum Massstab, an dem der Einsatz der KünstlerInnen gemessen wird. Das Ideal primitivistischer Kunstproduktion, das Gill Perry als in totaler Hingabe realisierte größtmögliche Ursprünglichkeit beschreibt, verkörpert Gauguin mit seinem künstlerischen und räumlichen „Going away“9 oder eben „Going native“ in vollem Masse. Insofern kann die Legende von Gauguins „Going native“, der Gauguin selbst durch seine Schriften Vorschub geleistet hat, in denen er das „wild Werden“ inszeniert, als grosse Folie betrachtet werden, auf der sich die Geschichte des Primitivismus entrollt. Sie ist die erste einer Folge ambivalenter Erzählungen extremer Assimilation und Emanzipation. Beatrice von Bismarck spricht vom „modernistischen Paradigma“ Gauguins.10 Und dieses Paradigma gründet zweifellos auf der „primitiven“ Dimension seines Lebens und Schaffens, welche von Anfang an im Zentrum der Rezeption steht.11 Gauguins „Primitivität“ bedeutet Steigerung und extreme Verkörperung der Legende des bohèmen Künstlers am Rand der Gesellschaft, des modernen Künstlers als Held und Märtyrer.12 Er ist Initiant und Repräsentant einer neuen Gleichung in der Kunst, welche moderne und die „primitive“ Kunst und Kultur verknüpft und die Bedingungen für die (Selbst-)Wahrnehmung der Künstler verändert.13
Das extreme primitivistische Künstler-Narrativ ist Teil einer an extremen Narrativen reichen Geschichte der Modernen Kunst und Avantgarde. Die Fortschrittserzählung der Modernen Kunst unter dem Signum der Abstraktion baut auf Narrative radikaler Durchbrüche und Neuanfänge. Auch für Wassily Kandinsky als dem „paradigmatische[n] Subjekt“ der Abstraktion beispielsweise gilt das Gesetz der extremen Verkörperung.
[…] Kandinsky [avanciert] als einer ihrer Protagonisten, in dessen Werk sich paradigmatisch der als künstlerischer Fortschritt signifizierte, gemeinhin genannte „Durchbruch zur Abstraktion“ zugleich als eine individuelle Entwicklungsgeschichte ereignet, selbst zu einem solchen „Markenzeichen“.14
So beschreibt Kathrin Heinz die Entwicklung der Heroengeschichte Kandinskys. Leben und Werk, „individuelle Entwicklungsgeschichte“ und historischer „Durchbruch“ werden im Falle Kandinskys wie Gauguins als Einheit betrachtet und zu einer grossen Erzählung natürlicher Analogien und Verkörperung zusammengeführt.
Die Legende von Gauguins „Going native“, dies haben zuletzt Bismarck, Childs, Dagen, Druick, Eisenman, Goddard, Schmidt-Linsenhoff und Andere gezeigt, zeichnet sich dadurch aus, dass sie aus einem unauflösbaren Netz mythischer Narrative gewoben ist: Das Narrativ von Tahiti als der „Liebesinsel“15, dasjenige indigener Lebensart und Kunstschaffens in zeitloser Ursprünglichkeit und des Indigenen als Urahn des zivilisierten Europäers gehen Hand in Hand mit der Legende des modernen Künstlers ausserhalb von Gesellschaft und Tradition und steigern sich im Bild des Künstlers vor Ort. Massgebliche Konsequenz dieser Überlagerung der Projektionsebenen ist wie gesagt eine extreme Verschränkung von Leben und Werk des Künstlers. Beatrice von Bismarck fasst treffend zusammen: „Auf ihn übertrugen sie [die Rezensenten/Kunstkritiker] dieselben vorgefassten Vorstellungen vom Primitiven wie auf seine Motive.“16 Die Verschränkung von Leben und Werk, welche insbesondere die konservative Kunstkritik ins Negative überspannt, ist im „Going native“ selbstverständlich angelegt. Gauguin reizt das Potential der Übertragung in seiner Selbstinszenierung als „Wilder“/„sauvage“ bewusst aus.17 Gerade in der Überbetonung des Lebenskunst-Begriffes gleichen sich die modernistisch-avantgardistischen und konservativen Vorstellungen von Künstlerschaft. Der primitivistische Künstler besetzt sowohl in affirmativen Konzepten wie pejorativen Urteilen eine lebenskünstlerische Sonderposition, die über den traditionellen Begriff des schöpferischen Genies hinausgeht.18
Der französische Militärarzt, Archäologe und Literat Victor Segalen (1878–1919), dessen Schriften im zweiten Kapitel ausführlich behandelt werden, hat diese neue Form von schöpferischem Genie als exotisches und interkulturelles Genie beschrieben, als Genie, das in einer monströsen Lebenskunst Erfüllung findet. In seinem zu Lebzeiten unveröffentlichten Text Hommage à Gauguin schreibt er beispielsweise:
[…] il [Gauguin] contenait en lui-même une sorte de génie d’espèce, impérieux, orgueilleux et gauche, fécond et tumultueux, comme il s’en lève parfois aux temps des origines chez les peuples en formation. Lui le tenait dans son seul individu. Par sa puissance de créer, il équivalait une race entière.19 [Herv. LF]
Segalen krönt Gauguin mit Superlativen und bedient einen klassischen Geniediskurs, über den er jedoch bewusst hinauszuschiessen scheint.20 Das kräftige Bild, dass Gauguin in seiner unermesslichen Schöpfungskraft (wir erinnern uns an die „moving force“) eine ganze Rasse aufwiege, ist im kolonialen Zusammenhang unmissverständlich chauvinistisch und rassistisch, das Bild kippt hingegen in seiner offensichtlichen Überbetonung. Segalens Zugang zu Interkulturalität und Exotismus ist radikal und, wie erörtert werden wird. zeigt sich dies gut in seiner Darstellung Gauguins als Monster und „Exot“. Diesem und anderen Entwürfen der Darstellung des primitivistischen „Going native“ wird weiter nachgegangen.
Für die Gauguin-Forschung bedeutete und bedeutet die extreme Verschränkung von Leben und Kunst in der Südsee die grosse Herausforderung; wobei die sexuelle Dimension seines (künstlerischen) „Going native“ das Problem intensivierte und intensiviert. Seine Forschungsgeschichte lässt sich dementsprechend als Geschichte des Abarbeitens an der mythischen Verschränkung von Lebens- und Werkzusammenhang lesen.21 Grundsätzlich gilt: Die Forschung hat die Erzählung vom „wilden“ Künstler als Grenzgänger und Freigeist entschlüsselt und dekonstruiert, aber immer auch den Mythos verstärkt, indem sie Gauguins Sonderstatus unkritisch reproduzierte. In den 1970er Jahren, zu einer Zeit, als die Dekonstruktion des Mythos Gauguin schon begonnen hatte, schrieb beispielsweise Wayne Andersen:
Gauguin ‚created‘ a style of painting in the sense that he gave it its life force; and the vitality of his art was matched by the potency of his personality, by the loudness of his actions.22
Die Rezeption Gauguins als kraftstrotzender männlicher Erneuerer wurde und wird immer noch fortgeführt. Dieser Heldengeschichte hält die neuere Forschung entgegen – beispielsweise Elizabeth Childs mit folgender lakonischen Zusammenfassung des Mythos Gauguin:
[…] The myth is so seductive that it is nearly impossible not to consider Gauguin as the anointed Adam (or Columbus) of the avant-garde, braving an alternative new world in the fin de siecle, rather than as the disaffected, competitive fellow he was – at times unsure of himself, sometimes uninspired or overwhelmed by homesickness and poverty in his self-imposed exile, working unevenly, without always finding creative success, and constantly looking over his shoulder to check the profile of his reputation back in Paris. The maker of those primitive idylls of tropical harmony and dreamy simplicity actually lived a rather marginal and disjointed existence in Polynesia, where he was neither native nor fully French, and never simply a tourist or a colonial immigrant.23
Die Fragen der kunsthistorischen Primitivismus-Forschung zu Gauguin zielen allesamt ins Herz des „Going native“: Wie ist der/das „Primitive“ zu fassen, dem sich Gauguin verschreibt? Welcherart ist sein Verhältnis zur polynesischen indigenen Kunst und Kultur? Inwiefern sind seine Bildwelten „primitiv/istisch“ und verdanken ihre „Primitivität“ dem Austausch mit den Indigenen? Wie lässt sich der Einfluss von Gauguins Assimilation an das Leben der Indigenen für sein Schaffen messen? Diese Fragen können im Zusammenhang dieser Arbeit mit dem Fokus auf die expressionistische Rezeption nicht beantwortet werden. Indessen hat die Gauguin-Forschung der vergangenen Jahrzehnte aber auch aufgezeigt, dass diese Fragen wenig Sinn machen, denn sie führen ins Uferlose. Gauguins Leben in der Südsee und sein „polynesisches“ künstlerisches Universum sperren sich gegen einfache Antworten. Der Primitivismus seines Werkes erschöpft sich nicht in Motiv und Technik und ist nicht eindimensional.1 Wir haben es mit einer komplexen interkulturellen Figur und ebensolchem Werk zu tun – die Rede von einer extremen Assimilation ist nur in modalisierender Form haltbar.
Die Schwierigkeiten der Kunstgeschichte mit der „primitiven“ Vision Gauguins lassen sich mit der sehr disparaten Interpretationsgeschichte von Mana’o tupapa’u (Der Geist der Toten wacht, 1892) gut illustrieren.2 Der Fall des berühmten Bildes, das Gauguin in mehreren Schriften und Briefen erwähnt (insbesondere in Noa Noa und Cahier pour Aline)3 und dort als massgebendes Bild seiner ersten Südseereise präsentiert, zeigt zudem gut, wie geschickt Gauguin als Inszenator eines „Going native“ agiert, welches sowohl in Bild und Text für verschiedene Interpretationen offen bleibt. Gauguin steuert in seinen Schriften bewusst die Auslegung seiner avantgardistischen Ästhetik. Seine spezifischen Kommentare zu Mana’o tupapa’u siedelt Schmidt- Linsenhoff „im Spannungsfeld von Ethnographie und Pornographie“ an.4
Paul Gauguin: Mana’o tupapa’u (Der Geist der Toten wacht) (1892)
Mit Mana’o tupapa’u bringt Gauguin einen spezifisch „primitiven“ Moment im Leben seiner 13jährigen Geliebten Teha’amana zur Darstellung – einen Moment kindlich-naiver Todes- und Dämonenfurcht. In Noa Noa und Cahier pour Aline